Dieter
Schlesak
ERSTAUNTE AUGENBLICKE
Tagebücher 1989- 2012
Naive Zeit: Die Siebziger Jahre:
Stimmungen
9./15. Mai 1989
SÄTZE ZUR WAHRHEIT NACH
DEM ÜBERHOLTEN ENDE
Mauer, Grenze allein
erzeugt die Sehnsucht. Auch in der Liebe zu Fremden, die werden so nah
gebracht, die Liebsegschichte Ganz stark wiederholt das ganz Ferne wo wirklich,
Schrecken des Abschieds, Tod als gelebt. Gibt es nicht mehr. Dieses Abenteuer.
Das kleinere Übel: Grenze
(ist mir genommen worden) jetzt bleibt das große Übel die Banalität und der
Tod.
Zur WILDEN DESILLUSION
Szenen dazu. Einer erfährt die Wahrheit (zufällig?)
Desillusion auch "alles so , wie es ist" - die
Gedichte dazu.
Dezember
89.
(Auch
aus Essay, Preisfrage)
Es ist
schwer zu glauben nach diesem Jubel, daß 89 ein Einbruh in unsere Zeit
geschehen ist, daß auch dies - für unsere Welt Illusion war. Die erhoffte
Ausnahme nicht gilt. Jene >Front< aus Exkommunisten
und >zufällig< zu ihnen gestoßenen
Revolutionären, die in jenem Machtvakuum die Macht übernahm, im Namen der
Revolution, so schiens, alle trugen Trikolore-Armbinden, hat uns
hypnotisiert. Ich erinnere mich noch,
wie aufgebracht ich war, als ich in der französischen Presse von einem
Staatsstreich las, der von langer Hand vorbereitet, sich nun den Sturm der Revolution zu Nutze
mache, um das zu erreichen, was er bisher nicht gewagt hatte, offen zu tun.
Das Absurde geht um, ist wahr und real. Die
kleine und die große Täuschung? Sie erst schaffen jene notwendige bittere
Distanz zum >Erlebten,< das blind macht.
Es hat sich gezeigt, daß Mauern, Stacheldraht,
Wachtürme, Zensur und Polizei nichts mehr ausrichten können, antiquiert sind.
Ebenso die Existenz eines isolierten Staates, einer Nation, ja einer
Staatengemeinschaft unmöglich ist. Raum und Zeit sind im Zeitalter der
Kommunikation, der elektronischen Medien aufgehoben, es gibt keine Distanzen
mehr. Mit Lichtgeschwindigkeit wird der Ort gewechselt, Nachrichten
überschreiten jede, auch die bewachte Grenze. Die Rumänen, die Ostdeutschen,
die Tschechen waren genau informiert über die revolutionären Prozesse in den
Nachbarländern. Und in Rumänien war dann die Revolution gelenkt worden vom Fernsehen,
dieses war die strategische Zentrale des Aufstandes. Unsere
elektronischen Haustiere haben die Öffnung erzwungen. Auch die
Herrschaftslogik, dann sogar die Logik und das Realitätsbewußtsein in Frage
gestellt; was da geschah, liegt an der Grenze unserer Vorstellung.
Diese Grenze
unserer Vorstellung und unseres
Denkens wird nun auch durch historische
Prozesse wie diese Re-Volutionen deutlich und sichtbar. Das bisher Unmögliche
ist plötzlich möglich. Wir meinen zu träumen. Zeit, Raum, Kausalität, alte
gesicherte "Realitäten" zerbrechen. Was sind sie nun anderes, als nur
noch Phantome. Das Undenkbare wird plötzlich legitimiert durch reales
Geschehen. Man sollte sich auch im eignen Leben darauf einstellen. Bisher war es
der Tod, der daran mahnte. Jetzt ist es auch die Zeit, sogar der Alltag, der
damit umgeht.
Und
plötzlich wird auch Schreiben anderes. Welcher Stil ist jetzt notwendig? Der
extrem infragestellende, sicherlich, wie ich dann bei der Übersetzung der
Paradoxie und des Absurden ins Gedicht, bei unserer Arbeit bei Francesco D.
bemerkte. (Was Alt
IST fällt uns/ Heim, neu wie/ die
Einfachheit , das Leben.// So liest mit
Doppelbrille auf/ der Kummer, /
nicht mehr da zu sein,// was war: und nicht/ vergehen will . // So kommen wir/
im Untergang nach Haus. ) Also der komplizierteste Stil, der Sprache selbst bricht sich, bricht sich auf, um zur
Darstellung dieses historischen Augenblicks zu kommen, der wieder frei ist für
das Unerwartete,für die Überraschung und das
Undenkbare. Dann aber auch der
nüchterne, informative
Realitätsaugenblick, Nachrichten, aus denen eine Struktur entsteht!
8. Januar
90. Das Undenkbare ist wirklich, wir meinen zu träumen. Der Diktator
hingerichtet, jetzt sind seine Schlächter dran, die Securitate. Auch sie, wie
alle Ereignisse der Revolution,
vorgeführt vom Freien Rumänischen Fernsehen, wir nehmen Teil, live. In Sträflingskleidung,
stumpf, apathisch der finstere Blick der Securitateleute in die Kamera, sie
sehen nicht weg, in ihren Augen ist eine angestrengte sadistische Leere. Leer:
so sollte das Land seien, friedhofsleer, einbetoniert; Stacheldraht, Schüsse,
Wachtürme; alles erstarrt, der eingesperrte, der Lügenzustand auch noch bejubelt.
Öffnung aber ist das Gebot der Gegenwart: Gorbatschow war der Katalysator. Die
östliche Enklave der Angst, Enklave der vom Staatsterror verhexten Hirne war
unhaltbar; Fernsehen, Radio sind schneller als jede Polizei, überschreiten
die schärfstbewachten Grenzen, die Erde ist durch die Nachricht eine geworden:
Information war im Osten Revolution.
Nachmittag.
Aufnahme beim lokalen Radio. Es geschieht etwas bisher Undenkbares im Osten,
das auch hier jeden angeht, und berührt in jedem Italiener die Sehnsucht nach radikaler Lebensänderung.
Viel mehr noch als die Leute im
"neuen" Westdeutschland.
Erstaunlich.
"Heimfahrt"
19. März 90
Nach
der Landung in Bukarest war ich erstaunt, daß in Otopeni die Abfertigung so
zivil verlief und ohne jede Reibung vor sich ging, wie an irgendeinem fremden Flughafen, dachte ich. Alles viel zu
trivial. Doch die heiße Welle in mir war da, ich wollte sie auflösen, es trieb
mich zur Telefonzelle. Und ich versuchte
Ioana zu erreichen. Doch niemand hob ab, auch kein Anrufbeantworter
meldete sich. Ich sah Ioanas feines Gesicht vor mir, die langen Wimpern hoben
und senkten sich wie ein großes Insekt, dahinter schimmerten die dunklen Augen,
jene Augenweiße, in der mein Bild fest wird, und mein Blick gleitet vom Haar
ab, den Körper hinab, dies Fluidum, das die Gestalt auflöst, wie eine dichte
Wolke von Parfüm, Iona nur noch in mir, ein Reiz, der sich auf meinen ganzen
Körper verteilt. Ich traf sie dann am nächsten Abend. - Ioana ist schön und sie ist elegant
gekleidet, fast männlich, ein Tailleur, grauer, gestreifter Stoff, wo hat sie
hier nur den Schneider her? Ich trinke schnell ein Glas Wein aus, zwinge mich,
etwas mehr Ausstrahlung zu entwickeln, auf sie einzugehn. Frage sie nach ihren
Erlebnissen während der Revolution. Sie
ist natürlich, kameradschaftlich und warm wie immer. Ja, sagt sie, mich
hat das alles sehr aufgewühlt. Vor allem verändert. Es war ein merkwürdig
doppelgleisiges Bewußtsein im Dezember. Das bisher Gewohnte lief neben einem
neuen Zustand her, ähnlich wie bei einem Todesfall, nur war es ein freudiges
Erschrecken, das nicht abreißen wollte. Die Toten, die kann ich nicht mehr
vergessen. Und ich habe in jenen Nächten viel geträumt. Einer dieser Träume ist
fast prophetisch. Ich war mit drei Freunden auf einem Lastwagen zu einem
"Ereignis" unterwegs. Doch
bevor wir ankamen, begann der Wagen rückwärts zu fahren, schneller und
schneller, ich sah, wie er sich hob, eine schiefe Ebne bildete, und wir mußten
uns an den Seitenplanken festhalten, um nicht herunterzufallen. Doch sie fielen
alle herunter. Und schließlich stand ich allein da. Die andern waren vom eignen
Wagen überfahren worden. Große Tränen rannen ihr über die Wangen.
25.1.
92 Iris Radish in der Zeit über Anderson. Ein "hochmoderner Mensch".
Eben, ohne Skrupel. Ohne Moral. Hocheffizient. Das iost alles. Orwell eben.
Effizienter noch als ein Westmensch und Geschäftsmann. Endler: durch diese
Stais-Auarbeitung wird der DDR-Mensch " für die Gesdchäftswelt
präpariert."
Er wird in den neuen Schriftstellerbervand
nicht eintreten, denn da wird wieder mit neuem Herrschafts- und Geheimwissen
gearbeitet.
Anderson. Pathologisch sei es, frei sein zu
wollen. Der Mensch sei nie frei. Ihm ginge es darum, seine "Identität
produktiv zu verlieren." So könnte auch ein SS-Mensch gewesen sein.
Systemvergl.eich geht. Dreigroschenoper, Maifia unTergrund auf sozialistisch.
Der Unterschied: dcer Staat läßt es nicht nur
zu, sondern beauftragt. Im Westen ist der Staat dazu da, um Kontrolle und
Gewaltenteilung zu üben. Trtzdem ist er ebenso mit der Unterwel unappetitlich
verquickt, in Italien besonders. Aber auch USA.
Unterschied im positiven, welche
Mafia-Geschäftswelt könnte an Hand von Künstlern oder gar Lyrikern analysiert
werden!
Und eines bleibt, von mir selbsterlebt: das
Schmierige: aus Angst, sich anzubiedern, nützlich sein zu wollen, zu dienern,
wenn auc nur vorgetäuscht, um zu entkommen!
Zwischen Nathan und Shylock, ein Dialog?
9. Mai 90. Das Datum
entspricht. Es ist die Zeit nach dem Scheitern der Utopie, wo auch "der
Dichter", der bekanntlich Jude ist, nach Martina Zwetajewa, zitiert nach
Paul Celan. kaum Nathan, sondern Shylock wird. Kein Nathan mehr, der er meinte
zu sein, durch Exil und Leid. Etwas zu sagen zu haben.
Plane eine Figur, ein
Alter ego, der meinen Michael Templin aus "Der Verweser" weiterführt.
Auch Tabori in seinem neuen Stück "Weismnann und Rothgdsicht"
(Theater Aalen, 50 Jahre
Machtergreifung) bringt so eine Figur. Einen, der völlig von allen entblößt
ist, wasLeben lebenswert macht, so Sterben als Erlösung erscheint. (Wäre es ausgesetzt
auf offenem Meer. Und so entdeckt er völlig vom Selbstbild frei, daß er zwar
schlimmes ertragen aber selbst auch schlimm ist. Nichts mehr hält ihn. Verteidigt sich nicht mehr.
Wird kleinmütig und böse, unsicher, ohnmächtig und aggressiv.
Illusionen und Märchen
des Exils. Alles wird heute zerstört, auch dies. Emigrant in Pension. Alles in
Pension. Utopie in Pension, Revolution in Pension, Glauben in Rente, Marx
gestorben, alles hin. Und auch das ersehnte Zuhause in langen Jahren des Exils,
banal. Des-Illusion total: der Kalte Krieg hat das Märchen der Trennung, damit
der Sehnsucht, der falschen Heimaten geschaffen, der falschen Freiheiten, der
falschen Leiden als wirkliche Leiden.
.. ohne sie alle bin ich
verloren,
bin ein Niemand, bin nie
geboren.
Chor: In S. schreit der
arme Mann:
wenn du zurückkommst,
denkst du, dann
ist alles wie früher!
Nichts da,
das alles gehört der
Vergangenheit an
drum sei vorsichtig,
Bruder, gib acht.
So sieht es aus in deinem
Land,
drum nimm endlich
Abschied.
Du Luxusenigrant. Und du
bist das Letzte.
Ja, wir sind wirklich die
Letzten, Mann.
Das waren noch schöne
Zeiten, einmal gebrannt
Als Kinder.
3.April
Pastior in Akzente 5/89
Palindrom und "Tunneleffekt", Heisenbergsche Unschärfe. Sprache genau
auch ein "sprachliches Elementarteilchen", aber mit
Überlichtegschwindigkeit. Der" Palindromtext testet den "locus
amoebius" oder "Tunneleffekt", den sie gleichzeitig
nutzen." Und testet "seine Analogie zum Scharnier. Wie beim Lesen eines
Januskopfes, beispielsweise silbenmäßig: Kopfnuß, Januskopf."
Der "locus amoebius" hat auch "jenseits
seiner Barriere eine gewissen Aufenthaltswahrscheinlichkeit": Nie an einem
bestimmten Ort, zeit-verschoben an einem zugleich.
Hier Anknüpfung zum Atomereignis. Sprachgestöber?
KRANICHSTEIN 1989 (Vgl.
dazu Briefe und Vorwort Vendg.kra
Ja, so war das damals gewesen, lang her und doch
wie heute, auch wenn der Zustand heute ein ganz anderer ist. Jann würde
sich sofort an die Piazza an der Kirche Santa Croce in Florenz erinnern:
sie weiß es, wie ich es weiß und erinnere:
ich habe dazu keine Tagebuchnotiz, obwohl ich seit 68 regelmäßig
Tagebuch führe und einen ganzen Kasten davon besitze, habe ich die Szene nirgends mehr gefunden,
doch das Gedächtnis ist relativ genau: Wir traten damals aus der Kirche ins
Freie, eine Zigeunerin bedrängte uns; wir wandten uns ab; als wir unten an der Treppe standen, kam die
Zigeunerin wieder, überreichte zeremoniös den "gefundenen"
Geldbeutel, und erhoffte Belohnung, die sie auch bekam; die Piazza war wie eine
Stube, ein Hof mit fußballspielenden Kindern, Liebespaaren, Spaziergängern,
tröstlich die Stimmen an jenem Nachmittag, der Platz umgeben von sienafarbenen
Häusern. Und dabei fiel mir auch das sonnige Bischofgärtchen an der Nôtre Dame
in Paris ein und die im Mondschein ballspielenden Kinder hinter dem Dom San
Martino in Lucca. Es fällt mir ein Platz in Venedig ein, wo abends die Schritte
auf dem Pflaster fern in einem sonderbaren Mauerecho hallten, und sich nur
drei späte Spaziergänger flüsternd unterhielten, wie eine kurze Erleuchtung war
der Augenblick, ein Widerschein der innern Außenwelt, die mit den Jahren in
uns, in ihr, in mir gewachsen ist, und sogar damals in der Kirche Santa Croce,
als ich gemeinsam mit ihr, und dies nicht zum ersten Mal, auf den toten und
noch lebenden Christus des Cimabue gesehen hatte, war es auch eine gemeinsame
Erinnerung, als ich den Blick mit hinausnahm auf den Platz. Und als wäre der
Kreuzweg mitten in diesem Moment unseres Leben, wie ein Licht des Empyreums,
das die Sekunden berührt.
Nach jenen
Erinnerungsaugenblicken gingen wir in eine Tavola calda, und das Inferno
begann, der Riß und Bruch, auch mit ihr, als wäre sie ganz plötzlich brutal zur
Außenwelt geworden; und ich weiter innen geblieben, außen ein Idiot, und nur und lächerlich. Es mußte so kommen. Ich versuchte natürlich, ihr aus dem Mantel
zu helfen, fand aber den Kleiderhaken nicht, drehte mich verzweifelt im
Kreis. Nur ruhig sagte sie. Ja, genau so war es auch: Nur ruhig, sagte sie, der
Haken ist über deinem Kopf; blickte aufwärts, dort war der Haken, rasch den
Mantel, und setzte mich aufatmend an den Tisch, setzte mich auf den Mantelsaum,
riß den Mantel herab, sie kicherte, ich wurde unter dem Mantel vergraben, die
Wut stieg in mir hoch. Was nimmst du, höre ich ihre Stimme von
"draußen", sie kann sich das Lachen kaum verbeißen. Der Kellner
wartet, ich weiß. Aber sonst bestellt
ja sie, über meinen Kopf hinweg, warum heute diese Rücksicht? Doch ich wickelte
und wickelte, vielleicht hatte sie das Mitleid gepackt für diesen Wickelmenschen,
der aus sich nicht herausfindet. Verlegenheit und Unsicherheit, zu langsame
Reflexe und mangelhaftes "Auftreten" von zu Hause mitgebracht;
Klotz, du Transsylvan. Dabei ist Florenz doch eine Stadt voller Ticks und
Psychopathen, aber der elegante Tick verlangt das selbstbewußte Auftreten, er
ist nur mit erhobenem Kopf erlaubt, mit nonchalanten Gesten, nicht geduckt,
gefangen und in Schweiß gebadet, verwirrt von Angst und Scham, sich lächerlich
zu machen. Endlich hatte ich es geschafft. Nach einer Weile, wir hatten den Antipasto schon hinter uns, crostini warm, Leberpastete auf geröstetem Brot, Gallo Nero, sah ich zum Nebentisch: da saß ein Menschenkoloß mit
vornübergebeugtem Biberkopf, der Mann trommelte mit seinen Fingern matt auf
dem Teller, in der anderen hielt er in Menschenfresserposition aufrecht die
Gabel, er benahm sich also genau so, wie ihm zumute war. Er benimmt sich, wie
ihm zumute ist, murmelte ich vorwurfsvoll in Richtung der Westdeutschen.
Ich
spüre es heute auch. Zusammensein mit den andern, (sogar Luca rief
ausgerechnet heute an) heute das Gespräch mit dem jungen Maler Ginannini, der
unser Haus Decken etc, in Ordnung bringt, der "gefühlte Bilder" malt.
Luca, der von einer "Entität" verfolgt wird, der gesammelten Energie
der Realität, der "Trennung", wie er sagt, der ihm seine Evolutiion
abschneiden will.
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