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Donnerstag, 3. Mai 2012

Reisefieber. Bretagne


                                                BRETAGNE

31. August. Reise in die Bretagne. Dol du Bretagne.  Austernessen am Austernmarkt. Zum erstenmal dieses sogenannte Reichenessen von Fischern hier. Für  7 € ein Dutzend. Cancale heißt der berühmte Austernort. Natürlich lauter Deutsche da , die billig Austern essen, mit Sekt.  St. Malo, wo Chateaubriand geboren und begraben ist. Combourg, das Schloß seines Vaters haben wir leider nicht gesehen. Doch die romanischen vier Türm sind aus Fotos bekannt. Ebenso der moorige Teich. Sein Vater war Sklavenhändler,  Seeräuber; mit dem Ertrag kaufte er sich das Schloß. Beeindruckend der Gedanke des einsamen Felsengrabes oben auf dem Eiland Grand Bé, ein großes, namenloses, Steinkreuz, nach dem Grab Napoleons in St. Helena konzipiert. Ist es nicht eitel, mit der Namenlosigkeit bis in den Tod zu spielen? Flaubert meinte: Nein. "... wird seine Unsterblichkeit sein wie sein Leben war: verlassen von den anderen und ganz von Gewittern umgeben. Die Wogen werden mit den Jahrhunderten lange um diese große Erinnerung spielen." (Über Feld und Strand.)
Kein Wunder, dass ihn Cioran sehr mochte, er war gläubig und der skeptischste Mensch zugleich. Glaubte er an dieses Nichts? Oder im 3. Band Chateaubriand: Ch. über sich selbst: ein Erlebnis in Combourg, wo er aus seinen Wünschen sich selbst eine begehrte Frau, die er nicht haben kann, projiziert, ähnlich wie die Tibeter die Kualpas, ein Phantom.

Dann in Dinard. Nicht viel los, leider sehen wir die Küste nur oberflächlich zwischen Dinard und St. Briac, Renoir, sogar Picasso haben hier gemalt und Gemälde, die genau diese Landschaft "sehen", sind dort in Reproduktionen aufgestellt, seltsame Verdopplung der Blicke.
In Dinan - der alten Stadt ein Volksfest, wir kommen kaum durch: vor allem Renaissancekostüme, Mönche, Nonnen, Aussätzige sind zu sehen, sogar einer auf einem kleinen Karren wird gezogen, einer dem man zur Strafe beide Beine abschlug. In Sack und Asche. Oder ein Wolf auf Stelzen. Die Polizei muß uns durch die Menschenmenge freie Bahn schaffen. Erst jetzt merke ich, was ich alles versäumt habe! Doch das Auto ermöglicht und verhindert alles. Wir finden keinen Parkplatz.

1. September:  Ouistreham/ Caen: Sonntag. Ruhetag. Wir sehen uns noch die Kirche (Gottesdienst) und den Hafen an.  Packen, reinigen. Noch letzte Notizen. Nehmen abends den Abschiedsdrink.

                           
Brocéliande. Merlin und Artus

2. September: Abfahrt über St. Michel, Rennes, in den Sagenwald der Broceliande, Merlins Grab. Phantasie, keine Wirklichkeit. Eben dies: der Jungbrunnen. Alles Projektion. Und der Lorbeerbaum über dem Grab geht ein, zuviele schwarze Schwingungen der Besucher? Dann der "Jungbrunnen". Und das Felsentheater der Schwarzen Messen. Man muß an diese Projektionen glauben. Die Atmosphäre der Krähen. Hundebellen in der Ferne. Zauberformeln. Ein Kranz wie ein Propeller. Dazu rauscht der Wald im Wind. Und ein Baum gibt ächzende Töne von sich. Schwarze Messen hier? (Auch den Film ansehen!) Das Schweigen der Steine. Und ein Megalith-Tisch mit 12 Steinen, wie bei Brâncuşi. Höhenwind, als wäre es im Gebirge. Tannen, Pinien, Birken, Buchen, starker Mischwald. Und Grillen: Zirpen. Und ein Flimmern. Verzieht sich das Lid. Übereinandergelagert die Bilder? L. beklagt sich, sie könne nichts mehr sehen. Als durchkreuzten sich die Zeiten. Spiegelungen. Unheimlich. Verhexung?
     Dann das "Tal ohne Wiederkehr". Wir suchen hier eigentlich Phantome und Romanfiguren. Und das Wunder, dass wir etwas suchen, obwohl es dies gar nicht wirklich gibt. Hier hat Merlin den Verstand verloren, trank aus dem Bach, und gewann ihn, natürlich, den Verstand wieder. So wie die Einsamkeit hier heilend wirkt.

Am Jungbrunnen; angemalt die schwarzen Felsen mit bunten Hexenzeichen. Darunter auch das Schlangenkreuz der Bretonen, das wie ein Propeller aussieht; Das Schwitzen der Steine in mir. Nordisch die Stimmung, als würde Sommernachtstraumhysterie ausbrechen, Hexen verbrannt und Schwarze Messen mit nackten Frauen gefeiert.  Die Quelle selbst ist trüb, Neugeborene sollen hier getauft worden sein. Jungwerden aber ist wieder möglich, und dazu braucht es kein Mädchenblut, wie bei der Blutgräfin aus Transsylvanien, die Mädchen schlachten ließ,  im DNS gibt es ein Programm, das die Lebensdauer bestimmt, und das verändert werden kann.
Ein Flimmern in der Luft, starker Mischwald, Birken, Tannen, Eichen, Buchen, so durcheinander die Blätter beschrieben, Grillen, Grille, ein Zirpen und Flimmern und Drehen. Und verzieht sich so das Lid vor lauter Geheimnis, als löse sich der Augen-Schein auf, es entstehen mehrere Schichten von Bildern, Zeiten die sich durchkreuzen. Und du sagtest: Siehst du auch so schlecht hier, es wird mir schwarz vor den Augen, Spiegelungen, viele Spiegelungen, als wären mehrere Gegenden übereinandergelegt. Das  lange westliche Licht ist hier gefährlich!

Und die bretonische Märchengegend hier weiß ja von der Kraft des Scheins viel; dass es ein Wunder ist, nicht durch die Erde zu fallen! Die Erzählungen aus Broceliande wissen viel von der camera obscura unserer Augen, vom Schein-Werfer unserer Sinne, die die Welt erfinden. Und so lange wir dem, was alle sehen, diesem Konsensus folgen, solange brechen wir auch nicht durch die dünne Schicht der gemeinsamen Halluzination, die Welt genannt wird, durch. So schuf Merlin für Viviane ein Schloß, (Josseline, wir haben es ja gesehen, und es heißt, das Wirklichere sei seine Spiegelung im See, auf dem Seegrund also wäre es zu finden!)  Und Merlin zauberte seiner Viviane einen Palast, der für jeden unsichtbar blieb, nur für die, die dazugehörten nicht, für alle anderen ist dort nur Wasser, der See eben. Und wer aus Neid oder Haß das Geheimnis verrät, auch für den ist das Schloß nicht mehr vorhanden, der feste Grund verschwindet, auf dem er bisher stand, und er sinkt in die Tiefe des Wassers, ertrinkt.

Merlin hatte sein Unglück, Viviane, an der Barentonquelle kennengelernt, die wir suchten, aber nicht fanden. Schließlich legten wir uns an einem Barentoncamping zum Mittagsschlaf hin, unter einen Baum. Wilde Träume kamen.
An der Treppe Merlins, wer ein paar Tropfen vom Brunnen darauf fallen läßt, so heißt es, könne Regen machen, Dampf erhebe sich, verdichte sich zu einer Wolke, die andere anziehe. Und dann regne es.
Bei den Hopi haben wir es erlebt, dass solch Regenzauber wirkt. keiner weiß wie. Doch einige Physiker sind fest davon überzeugt, dass es dieses Phänomen gibt.

Leary deutete die Hippies als eine Art "keltische Renaissance". Was heißt das? Menschenopfer zum Wechsel der Jahreszeiten? Doch Meyers Lexikon behauptet, es seien nur rituelle Verbrecherhinrichtungen gewesen, sie wurden massenhaft in weitläufige Weidengeflechte gesteckt und verbrannt. Aus den Zuckungen und Eingeweiden der Opfer las der Druide dann im weißen Gewand und vor einem Altar mit Eichenlaub bekränzt aus den Bewegungen, die dem Laufe der Sonne folgten, die "Vorsehung", den "Willen" der "Götter", also dessen, was sein wird, aber auch Träume dienten dazu, Flug der Vögel, ähnlich wie bei den Etruskern, lesen auch aus Blitzen, Gestirnen.
               
Wir stehen am Ort "Sans retour", stehn am rötlichen Felsen mit großem Rundblick. Sanfte Sprache der Kindheit, ein Blick hinab zum Tal und zum See. Wie ein  Altarraum im Offnen. Werfen die gesammelten Phantasien der Besucher eine Stimmung aus, die es sonst nirgends so gibt.
Hier soll Merlin geheilt worden sein von seinem Wahnsinn, in dieser Ruhe. Und wir werden ebenfalls hier geheilt vom Stadtgift. Verkohlte Felsspitzen erwarten uns unten am See, ein vergoldeter Stamm, ein Kunstwerk, das hier erwacht.

Der alte Artus, halb blind, auf der Ile d´Aval, geschlagen nach einer Schlacht, geheilt, doch nicht verjüngt von der Fee Morgane, und wie einst Odysseus von der Circe von Morgane gefangen gehalten, bewacht von neun Feen, wollte fort, doch war er alt und verhext, bat Merlin um Hilfe, zumal Artus auch noch um den Verrat seiner Frau Genofeva mit Lancelot wußte; er hatte Verleumdungen geglaubt: Mach mich auf immer wieder jung? Der weise Zauberer Merlin aber, der uneheliche Sohn des Teufels  und einer frommen Mutter, die ihn aber sofort taufen ließ, so dass er die Kräfte des Vaters behielt, aber nur zu guten Zwecken verwendete, verweigerte dem alten Artus dies Elixier: „Gib mir die Jugend und mein Königreich zurück;“ schön dieses Reich der Lebenskrönung, König als Vereinigung gedacht, als Ruhepunkt des Lebens, wo die Zeit stillsteht, alles neu ist, weil die Wahrnehmung zugehörig, weil die ganze Welt zugehörig ist. ("Ich will dir die Krone des Lebens geben", so ein Psalm. Und das Hebräische weiß von der Vereinigung von König und Königin Freitag nachts!).
Zu seinem Erstaunen aber riet ihm Merlin zu Geduld und Verzicht. Und er habe alle seine Kräfte Viviane gegeben, sei nichts, als ein einfacher Mann, der den Tod erwarte, wie Artus auch. Von der Liebe zu Viviane gefangen, im unsichtbaren Gefängnis, dem er nicht mehr entkommen konnte? Und es auch nicht wollte? Weil Liebe Leben für immer sei, also genau jener Macht entspreche, die wie seine Kunst, den Schein durchdringt, Mauern durchbricht, jede Gestalt annehmen kann, weil es sie gar nicht gibt.

                                        Matière de Bretagne

In der Matière de Bretagne wäre auch Tun aufzugeben, Kampf, denn was sind schon Hände im unsichtbaren unheimlichen Partikelgestöber, denn wie faßten wir uns an diesen Händen, so lehr deine Hände schlafen, hätte er sagen können. Oder auch: dein Auge, dem Nichts stehts entgegen. Es steht zum König. Im Nichts, wer steht da, der König. Denn Er ist nicht faßbar. So riet Merlin  sich zu ihm zu bekennen. Wie er auch Ruhm und menschliche Liebe aufzugeben, auch Ginevra, seine Frau, und auch das Reich, das nur Staub und Asche sein wird, schon immer vergangen, wenn es erscheint.

Nein, Ginsterlicht war nicht zu sehen gewesen, keine Hänge eiterten gen Himmel, doch überall gab es die Calvaires, ganz oben am Kreuz, da hing Er, meist noch mit den beiden Schächern an der Seite, die ihn verfluchten, der eine mit hängender Zunge, verdurstend, wie in Pleyben, als wir Honig kauften, die Kirche aber geschlossen war, im Angesicht des großen Schmerzes, der Folter, die ein Zeichen der Erlösung sein soll? Was wär das Kreuz im Leid, nur ein Symbol? Und dass der Körper um Nichts sich neigt, das arme Kleid - wie in Guéhenno bei Josselin? Stein, Stein geworden der Schmerz in vielen Figuren, die Ihn umgeben, der nichts mehr ist als reine Figur, Kreuzpunkt, da wo der Kopf steht, dichtester Ort des Alls. Und wer verriet? Das Morgengraun die Nacht, wo das Geheimnis ist, das Licht verzerrt? Die Säule steht mit ihm vor einem Beinhaus, das leer ist, wie jedes Grab, das nur den Leib enthält, den  Schein von der Gewalt des Hier: man siehts ja deutlich, Geißel, Ring und Strick, die Ruten für die dünnen blutigen Streifen, der Schnitt ins Fleisch, die Dornenkrone, Schilf, Nägel, Hammer, Zange: HAEC PASSUS EST PRO NOBIS. Hat er das alles für uns erlitten - oder für Gott? Der vieles zuläßt, was geschieht, auch Jetzt. Und überall der Satan, dieser Kopf des großen Nein, Unglaube ohne jede Verzweiflung, wie wir sie heute finden: und über dem Beinhaus, das dies Niemals sein soll, da ist das große offne Maul der Sonne, täuschendes Licht, das uns verschlang. Nur Maria und Magdalena stehen da und weinen, warum, wenn sie doch glauben können, dass er nicht nichts ist, wiederkehrt, der untot   ist, wie jeder! CRAS Resurget steht noch da. Als läutete tatsächlich dieser Dorn in der Wunde, und viele kleine Kindergräber, nichts als aufgeschütterer Sand als Hügel des Vergehens, Vergänglichkeit schön, grüßt dein Gedächtnis und wundert sich, kein Name, kein Kreuz.

Bretagne. Wo war es, als das Boot mit "Blutsegel" auf uns zuhielt, Bretagne und Locmariaquer, ja, als wir zurückkamen von der Megalith-Insel Gavrinis, als der Fingerabdruck im Stein riesig geworden war, Wellen, Wirbel, Sog drinnen im Grab, die Spirale, das Labyrinth, das  wir alle an der Fingerkuppe tragen ist die Grundstruktur der Welt, Spiralnebel, Sterne, Atome und Uhrwerke früher, säumte den dunklen Tunnel der verschwundenen Toten.

Tréhorenteuc, wo zwei deutsche Kriegsgefangene die Kirche mit Artussagen bemalten, dann   Josselin,  Pont Aven, Concarneau  bis  zu Qimper und  Douarnenez am Mueumshafen schlafen wir.

3. September     Von Douarnenez über Locronan zum Aussichtspunkt Menez Hom über Crozon  und Carmaret, Pointe de Penhel, von da bis zu den Iles des Morts, wo man bis Brest sehen kann, dann über Pont de Terenz über Cahateaulin  nach Pleyben, wo wir den Honig kauften, die Kathedrale ist leider zu, aber der Calvaire filmbar. Dann nach Quimper bis Auray und Carnac, sehen noch die Menhire,  dann Locmariaquer, sehen dort die Stätte der Menhire. Dann ein schönes Hotel.

4. September:   noch die Pierres Plates, dann die  Insel Gavrinis und schließlich  mittags noch St. Gildas de Rhuys, Abaelards Kloster, und mittags nach  Vannes, essen dort im schönen Park der Mauern, und schließlich über die Grand Brière La Baule und St. Nazaire nach Nantes.

5. September:  von Nantes, über Bordeaux nach Arles
6. September:  Abfahrt von Arles,  Hyères, in der Ferne Porquerolles, dann weiter nach  St. Tropez, noch ein Bad, dann über  Nizza und Genua nach Hause.

                        St. Gildas de Rhuys. Abaelard und Heloise

 Ich erinnre wieder an den 4. September nach einer traumreichen Nacht. In St. Gildas de Rhuys. Besuch in Abaelards Klosterabtei. Da war er zwischen 1128-1136. Vor zehn Jahren ist er zur Strafe (Beziehung mit Heloise) entmannt worden. An Heloise schrieb er im 5. Brief: "Die Glut meiner Gier hatte mich mit dir zusammengeschmiedet; ich dachte nicht mehr an Gott, ich dachte nicht mehr an mein besseres Selbst, so tief untergetaucht war ich in den armseligen Genüssen, die zu schmutzig sind, als dass ich sie ohne Erröten auch nur nennen kann." Da habe Gott in seiner Barmherzigkeit, das Messer, das seinen Leib traf, habe ihn von dem Schmutz befreit. So habe er nur an einem kleinen Teil des Leibes seine Sünde büßen müssen. Ein "Pfahl im Fleisch" . Selbst aber habe er es nicht tun dürfen, ein anderer mußte es tun. Origines sei schuldig geworden, weil er es selbst getan habe.

Und doch wurden sie zusammen bestattet, waren sogar Eheleute gewesen, hatten einen Sohn. Auf dem Pièrre Lachaise schrieb ich:

Weißt du noch: HELOISE UND ABAELARD
Etwas Regen auf dem Père Lachaise.
Versteint. Wir unter Regenschirmen.

Was weint da. Sogar über Steinen. Wir
suchten. Und unter Linden hören wir

ein Flüstern. Laute, wie Tandaradei.
Klang Worte in Höfen. Tage. Und dies Paris

so spät. Kaum Große Herbstzeitlose, die
zur Liebe jetzt auf Gräbern rät. Ein

Liebespaar, wir waren jung, berührt den
Stein. Von unten her. Ein Kind, das weint.

Woher ein Sic et Non, der Erdgeruch mit
deiner Haut im Regenduft vereint, im Schritt

der Kuß unter dem Kleid, ein Blitzen wie
durch Tränen, ein Blick der Tote überholt.

Jetzt stehn sie auf und lachen. Sie sehn
dir unters Kleid, die schwarze Herbst-
Zeitlose die  Sonnen  runterholt.

Heloise, Abaelard: "Was ich begangen, es lebt
so stark in freudiger Süße", riß mir das Herz
entzwei.

Saß sie auf einem Steine, Heloise, Abaelard.
Fließt in die Iris heute
dies Liebespaar.

Und steigt ganz aus dem Wort und nur ins Auge ein.

Der Name sucht durch Todesnacht lichtschnell verborgen dort
im Stein, den nur der Finger anstößt, Kälte fühlt,
als wäre dieses wahr  ("drei Tage sind es drei/ von keinem
                        Schmerz verschont".)
Heloise, Abaelard...

Tod ist ein Liebespaar. Liegt vor uns, geschwärzt
Figur, der Stein. Schmerzlich der Durchgang
mit Bildern und Dornen, durchkreuzen das Auge und
sieh, die Paare, sie wärmen.

Vom Tode denke nichts, und nur auf ein Wort. Steht
Sic et Non - gerade für wen? Daran miß und trau
dem Auge nicht mehr,
               
                       trau denen, die nicht mehr sehn.

Nichts erinnert in der kleinen Abtei, die nur noch seinetwegen besucht wird, an ihn, er selbst floh von hier, der Rauheit und Ungebildetheit, Gesetzeslosigkeit der Mönche. Und doch werden andauernd Abte und Heilige, meist in Form von Grabsteinen, einer sogar im Glassarg mit den heiligen Gebeinen, vorgezeigt. Die Kirche mochte den freien     Abaelard. nicht. Immer wieder wurde er "bestraft" Auch in einem    Kloster bei Soissons, das zugleich Irrenhaus und Kerker war. Und hier nun die heiligen Knochen. Überall in den Kirchen wird also die Materie verehrt.
     Ich mache Aufnahmen davon. Auch von einem großen Schiffsmodell im Nonnenkloster nebenan. Werde verjagt. Und denke an Abaelards "Sic et non": das meinem eigenen Stil entspricht: Jede Aussage zurückzunehmen, nichts stehen zu lassen, weil nichts wahr sein kann, was nur gedacht oder nur Sprache ist.

Denken an Abaelard, den Entmannten. Cioran meint, man sollte wieder Klöster bauen, auch für jene, die an nichts glauebn können. Mönche konnten die Abgründe erproben, ohne gleich als Gestörte zu gelten. Oder als Patienten. Mein Wutausbruch in Ouistram gegen L, die diese "vernünftige" und normale Welt geradezu verkörpert. Und alles, was ins gefährlich Geistige geht, sofort abblockt.

                                                    Hautville

Auf dem Weg von Cherbourg nach Caen sprechen wir über Hautville. Von hier ging die Eroberung Siziliens aus.
Manfred? Die Normannen und Sizilien. Wer war Manfred, wer war Robert Guiscard? Den Kleist zum Vorwurf nahm? Die tiefste Melancholie und der Trübsinn? Manfred viel später: Sohn Friedrichs II und der Lancia, unehelich, Friedrich traute sich mit ihr noch auf dem Totenbett. Manfred: König von Napel und Sizilien. (Geboren 1232). Seine drei Söhne endeten im Kerker.
Guiscard war ein Machtmensch: Sohn  Tancreds von Hautville, zur Zeit Barbarossas geboren. Herzog von Apulien und Kalabrien. Entriss das Land den Griechen, kam bis Saloniki. Gegen Byzanz kämpfte er auch. Sein Bruder Roger eroberte Sizilien von den Sarazenen. Sein Feind war Abaelard? Jedenfalls bei Kleist. Und der todwunde Kleist nahm den Machtmenschen Guiscard als Vorbild, scheiterte daran.

Auf dem Weg  zum Point de Penhir kommen wir nach Crozon. Unterbrechen. In der Kirche das Martyrium der Legion Thebaine: 400 holzgeschnitzte Figuren. Zehntausende wurden gekreuzigt. Unvorstellbar dieser Wald von Kreuzen. Ist es das Verdienst des Cristentums, solches Leid geschaffen zu haben, noch vor der Machtergreifung durch die Kirche? Der Tod dieser Menschen, der mich noch heute beschäftigt… hängt zusammen mit frühchristlichem Fanatismus.

           
                   Honfleur und Arles. Gauguin und Van Gogh

Gestern ein langes Telefon-Gespräch mit unserer Freundin Paula aus Florenz. Als ich von unserer Reise in die Normandie sprach, sagte sie gleich Habt ihr das Haus Monets gesehn. In Honfleur, ja. Das Boudin-Museum. Aus seinen Bildern erfährt man mehr, als aus der Landschaft zu „er-sehen“ ist, vor allem wenn man nur mit dem Auto durch die Landschaft fährt. Unsere Reise wäre sicher ein Mehr gewesen, wenn wir mit Monet hier gewandert wären, lästere ich am Telefon, und  in der Bretagne, oben zwischen  St. Briac und St. Servan gibt es, wie wir wissen, sogar Reproduktionen, so dass Landschaft und Malbild gegenübergestellt werden. Sogar Picasso war hier. St. Malo ist ja auch so, dass man dies Wattenmer, die Burg, die Inseln, und Chateaubriand nicht vergessen kann.

Und dann Pont Aven und Gauguin. Wie kann ich die Erinnerungen sammeln und korrigieren. Die Fetzen, die wie Traumbilder um mich schwirren. Banaler Alltag, Momente werden auf der Rückseite, rückwärts gesehen, zu eigenen Ewigkeitsbildern abgeklärt: die Mühle am Fluß Aven, jetzt Edellokal, in Pont Aven. Ich bin neugierig auf den Videofilm, was hat er "festgehalten"? Hier im Sud Finistère

Warst du Schüler von Pissaro, Gauguin? Impressionist, ein Schimpfwort, von Nord nach Süd, die Normandie, „Houtfleur“ veraltet? Welch ein Stil, das Wort, wenn es zu spät kommt, meines jetzt, nach träglich, nach Pont Aven: zwei Sekunden, die ich jetzt erfüllen muß, auf füllen, füllen, mein Freund, predige ich, an wen? Ihr, die Jungen damals, voller Wut auf den sich abzeichnenden Untergang, ließet den Fluß rauschen, herabhängende Trauerweiden nicht nur, sondern ihr saht rot und grün. Bernard und du, 1888 also, als wüßtet ihr Kant im Gesehenen zu deuten, dass man Dahintersehen muss, der Wahrheit wegen! Ihr schält immer noch, auch heute im Sehen, das Ungesehene heraus, setzt es neu zusammen: die Synthese, ein anderes Ja. September: Zwei Gemälde kamen beim Publikum an. "Bretonin auf der grünen Wiese", wo war das, im Kopf? Ich hungere jetzt noch nach Visionen, die Predigt aber ist tot, in welchen frommen Köpfen hauchfein kommen die Bilder der Engel und Kühe noch an. Du machtest eine Skizze, schicktest sie an Van Gogh, den wir später in Arles auch besuchten, kein Leid mehr, nur die Erinneung an ein abgeschnittenes Ohr. Zieh mich rein, mein Freund, wohin sollen wir noch fliehen, du hattest wenigsten noch  Tahiti, Gauguin !
Mette war Dänin, sie verließ dich. Du Berufsloser, gabst den Bankkaufmann auf, auch in dir: fort von hier. Fest halten, nichts anderes. Völlig statische Figuren. Chock, wie Baudelaire, der Bewegung hasste. Aufhalten, aufhalten die Zeit! Wir sehen das Gasthaus der Angelle Satre, die er malte, die Belle Angèle, bretonisch. So wie ich jetzt ging er spazieren, machte Skizzen, setzte dann alles zusammen, wie ich. Der gelbe Christus, der hat ein Gesicht wie er, nur schmaler, er, der Boxer mit großer Nase. Wir wollten die Kapelle sehen, als wir durch die Stadt irrten, Antiquitätenläden, überall Galerien, jetzt wollen sie dich, jetzt. Hinunter den Fluß, wo die Boote liegen, kleiner Hafen. Nach  Nizon mit dem Calvaire:  Dort  entstand sein "Calvaire": Starr, wie der Schmerz, drei graue Frauen, wie die Nornen, grau der Christus, Geister unterm Stamm, farbig blau, wie das Meer die Bretonin, Mutter, Maria, Magdalena, mit einem schwarzen Schaf an der Hand, als krieche dieses in  sie, oder sie ein Tier schon, weggeneigt, chinesisch fremd schon das Gesicht, rosig das Land, wie Korall, die Insel im Blau, hoffend, frisch, und die Wolken wie Geister oder große Finger, Christus eine leblose Puppe.

Fromm sehn die Frauen mit den großen weißen Hauben uns an, Kapelle von Trémalo: Gelber Christus, den hat Gauguin von hier mitgenommen, warum gelb? Licht, leuchtend, so siehst du ihn. So. Wie du den Liebeswald siehst, wo sie sich trafen. Du kannst ihn bei Sonnenuntergang ganz rot sehn, rot, anstatt ein Negativ, rotes Negativ. Oder blau - das Meer. So löscht du die Welt aus. Um sie neu zu erschaffen. Im Hirn als Fotographie der Phantasie oder sichtbar auf einer Zigarettenschachtel, synthetische Landschaft, Kant, ist es, sichtbar das Ding an sich, wenn du genug Mut hast! Violett, Zinnoberrot, Veronagrün - die reinsten Farben, ohne jedes Weiß des Nichts, weil die Augen vor Tiefe glühn.

Das Auge soll ein Loch sein ins Jenseits, ein Später. Ich auf der Flucht, nur flüchtig in aller Ewigkeit im Leben, wie jetzt der Augenblick vorbeirast, Fluchtpunkt sieh zurück!
Und immer wieder kommt er: Heiliger Geist, wie er da sitzt im Kopf der Bretonin. Naiv. So wie SIE ihn sieht, den Kalvarienberg, Gelben Christus: nach der Predigt, die Vision oder Jakobs Kampf mit dem Engel für die kleine Ortskirche, der Pfarrer weist das innere des Heiligen mit Abscheu zurück. Sie, ja, sie sehen es anders, auch als die  primitive Seele der Frauen, mit fliegenden weißen Bretoninnenhauben. Licht in den Dingen, nicht außen, so ist kein Schatten, wie im Hirn, alles Kontur. Hirnsyntax, mein Lieber, so gibt es die roten Bäume aus Blutsonnen. Die Geister wollen uns sehen, so malt er Ideen, die ihnen nah sind, Tote haben Intuitionen in ihm: Selbstbildnis aus Licht gewachsen, ein grüner Apfel klopft an die Stirn, ein roter begleitet alles im roten Himmel, der Kopf wächst aus dem Licht, der leidende Christus,  oder Adam ists, der Heiligenschein wiederholt nur das Vibrieren des Gelben, grün, grün die Schlange die er hält. Kämpft, überall ist Jakob mit dem Engel. Das Bretonische ist ein weißes Gefühlsfliegen, weiß, das zu den Farben wie Vögel nicht passte, außerhalb der Welt war. Was will der gewalttätige Engel von Jakob, die Leiter? Und er soll den Baum nicht sehen, der sie trennt von den betenden Frauen? Nur ein Tier frisst an ihm oder berührt ihn warm mit der Schnauze, eine Kuh, ein Schaf. Und die knienden Bäuerinnen mit den Händen im Schoß, gelegt. In der hektischen Welt hier -  ein stehende Zeitparadies. Sanft, wie seine dreizehnjährige Tahitianerin später, die nach Milch roch und nach Morgen.

Statisch aber die drei Frauen, schwarz unter dem glühenden Abendbaum, dahinter die Kapelle von Aliscans vor Arles. So stehn die Geister, die Toten in uns in der Welt vor dem, was noch ist. Und links eine Fontäne, nein, ein Riesenphantom. Ists schon der Geist von Van Gogh, den er besuchte? 1888 im November? Fontänen von  Gelbrot, wie die Zypressen von Vincent, der schon krank war: in Arles, die Aura, den Wirbel der Atome sah. Ihm schickte Gauguin  in einem Brief die Skizze der Jakobs-Vision, eingeschlossene Konturen, wie eine Landkarte

Und Gauguin  starb am 8. Mai 1903 allein und verlassen in seiner Hütte, im Haus der Freude, unter dme "Gold der Körper", Frauen und Blumen, aber allein, krank verurteilt zu Geldstrafe und Gefängnis. Hiva Oa hieß die Nebeninsel der Marquesas-Inseln.
Wie der Freund Van Gogh - nachdem sein Schuß  im Kornfeld , als er nach einem Motiv suchte (in der Sonne) gefallen war, in den Bauch hatte er sich geschossen. Warum? In Auvers bei Paris war das, Dr. Gachet war da, Theo, der Bruder kam, in dessen Armen starb er dann. "Das Elend wird niemals enden. Jetzt möchte ich himgehn." Am 29. Juli 1890. Ein einziges Bild, der rote Weingarten war  verkauft worden. 400 Franc. Keiner hatte ihn zur Kenntnis genommen.

WAS BLEIBT, wer
stiftet es, dachte ich  heute beim Waldlauf;
und spürte kurzatmig die Zeit auch in mir
laufen.
Wie, du läufst noch, sagt einer: geh
stiften, HIER, der  Stift läuft mit dir
übers Herz Blatt, du Papierene Seele,
und tötet jede Sekunde. Wer
stiftet noch etwas hier:
Las Braun, Kirsten, Czechowski, Haufs
und mich selbst, wohin des Wegs ...?

Draußen aber sägts, und Mähmaschinen schneiden.
Aber die Zeit jede Sekunde (nicht nur Gras)
schneidet ins Fleisch ...
Und du meinst, nur durchs Fenster?
Nein, das mäht und mäht in mir selbst, jede
Zelle tickt. Geräusche draußen, oh, wie harmlos
aufs Blatt hier geworfen:

Was bleibt/ schon dieser Fetzen Papier, nur die Worte
vergilbt, lebt länger, wenn dieser Hand
die Form längst wahr geworden:
knöchern von Erde/ bestimmt,

kommst du wieder? Sagt einer:
„Ist der Tod auch ein Bad nur,
drüben am anderen Ufer
liegt bereit für uns
ein neues Gewand?“

Arles, die Einfahrt an der Mauer. Hektische Nervosität, viele Autos. Die Rhone. Unstimmung,  Sonntagsverkehr. Wir irren durch das Labyrinth der Altstadt. Hotelsuche. Verbiestert, offen keinesfalls. Zum Leid mußt du offen sein. Vorerst ist Vincent gar nicht da. Seit Februar 1888 aus Paris. Die Provence - ein Taumel, er sah die Wirbel der       Atome, die Spiralen überall. Endlich.
Seine Adresse: Place Lamartine 2, vier Zimmer.

Das Blau des Briefträgers Roullin. Und der Sohn. Die einzigen Freunde. Roullin, wallender Bart. Vinzent: Er hat ein Sokratesgesicht. Und so fand ich es wieder auf dem Buchumschlag in einem Buch über die Hohe Rinne des Constantin Noica: Epistolar, Brief, ach, in den achtziger Jahren in meiner Heimat Siebenbürgen/Paltinis. We fern, mein Lieber, von Arles, durch das wir irrten. Und L. sagte: Hier feiern die Zigeuner jährlich ihr Fest. Und es wird viel geklaut.
In der Nähe der rue Hotel de Ville fanden wir ein billiges kleines Hotel mit antikem Hinterhof. Nach langem Suchen und nervös geworden, fanden wir endlich diese Bleibe; das war Arles, und die Arleserin, die ein kretisches Gesicht hat, quick und frech, gibt den Schlüssel, befiehlt, immer  das Hoftor zu schließen, wegen der Diebstähle; wir fahren auf ihren Rat  zum Boulevard Clemenceau in eine Garage, schaffen es noch, ich schleppe im Schweiße meines Angesichts Tasche und Koffer samt Computer. Angst. Kann im Abendlicht gerade noch filmen, den Groll überwinden, Schwitzen, Nervenraub in Arles, anstatt Vincent. Ich kann noch den Place de la République mit dem schönen Rathaus und der Kirche St. Tropisme plus Cloitre filmen. Dann Dunkelheit. In einer einfachen Crêperie Abendessen. Beobachtungen, dass hier eine Art Mafiazentrum ist.

Am nächsten Morgen Aufregung, ich habe die Camera nicht geladen.  Ein kleiner elender Rundgang. Filme trotzdem noch das  römische Amphitheater, ein Art Colosseum. (Stierkämpfe, Spanien ist nah). Dann das Theater. Den Park. Auch diese Stadt wuchs wie Lucca übergangslos aus dem Römischen ins Heute, eine Stadt wurde auf die andere gebaut. Der Blick: auf einer Terrasse, Kirche, aufs "Colosseum". Morgen. Überlagert sind viele andere Blicke von Kirchterrassen, mit Blicken auf die Stadt. Am Theater, ich filme durch das Gitter, reißt L. der Schuhriemen. Ich versuche den Schuh zu reparieren. Solch banale Augenblicke, die man sich merkt.

Jetzt erst denke ich an den Garten in Quistram, wo wir wohnten, mit den Sonnenblumen, wie Köpfe. Dass Van Gogh Gauguin  mit Sonnenblumenbildern im Haus empfing. Malergemeinschaft? Das scheitert immer. Streit. Van Gogh schildert in seinen "Diverses Choses": Dass die Suppe, wie seine Farben, dick, nicht essbar war. Dass sie stritten. dass er auf die Mauer schrieb: "Je suis Saint-Esprit/ Je suis sain d`esprit." (Gesund im Geist!). Eines Abends lag er und schlief. Bleischlaf. Und an einem andern Abend trank er im Café (Place Forum?) Absinth. Warf Gauguin  das Glas an den Kopf. Ein andermal attackierte er ihn mit dem Rasiermesser. An einem anderen Abend ging Gauguin  allein aus. Ein schneller Schritt hinter sich, als er den Platz Victor Hugo überquerte. Vincent stürzt sich mit einem Rasiermesser auf ihn. Gaugins Blick aber hielt ihn ab. Er küsste den Kopf des Freundes, ging weiter. Gauguin  schlief zur Sicherheit in einem Hotel.
In der gleichen Nacht schnitt sich Van Gogh das Ohr ab. Nasse Handtücher um den Kopf. So hat er sich gemalt. So hat er das Ohr dem "Salon" gebracht, einem Mädchen  geschenkt: „Hier ein Geschenk von mir.“ Hatte sie ihn einmal scherzhaft am Ohr gezogen, und gesagt: wenn du mir nicht wenigstens ein Hundert-Sou-Stück geben kannst, dann schenk mir wenigstens dein Ohr!
Laute Stimmen vor dem Rathaus. Fast hundert Bürger fordern Van Goghs Zwangseinweisung. Er kommt nach San Remy.

Gauguin  saß vor ihm, so Bild im Bild, malte den Andern: Sonnenblumen malend. Licht. Und wir sahen noch die Zug-Brücke, uralt, außer Gebrauch. Brücken malte er, ein Hinüber, noch faßbar. Brücke von Longlois, im Bild gelb und gewaltig. Gelb wie die Sonnenblumen, gelb wie der Stuhl, der eine Gestalt hat, die Person Stuhl in seinem Zimmer, wo es keinen Abgrund gab. Gelb die Caféterrasse am Abend, Place du Forum, wo wir auch aßen und  viel Rummel war. Strichmännchen vor dem unermesslichen Nachthimmel, ganz dunkel die Häuser. Gelb auch das Innen, fahl wie Schwefel der Unterwelt, die Hölle. Wie ein verhinderter Schlaf, übernächtig. "Ich habe versucht, die bösen Leidenschaften der Menschen in roten und grünen Farben auszudrücken." Übertrieben groß in der schrecklichen Leere, die Menschen klein unter den kreisenden soghaften Wirbelgloriolen der Petroleumlampen. Fegefeueratmosphäre von bleichem Schwefelgelb".

40 Selbstbildnisse, und eines mit Kopfverband, ohne Ohr.  Verletzt, verwundet, nur halbes Gehör. Wer sieht, hört nicht. Oder: hört Stimmen? Mist. Er will häßlich sein, Backenknochen, rotblondes Haar. Kleine Augen mit blauem flackerndem, irrem Blick. Denn er hört Stimmen.



                                              Paris

Und dann ein Abstecher nach Paris, als wäre diese Reise stärker und melancholischer als alles, was ich erinnern kann, kehrt sie immer wieder:

Auf dem Flohmarkt diese anpreisenden Schwarzen und Araber. Im Zentrum, dem Mittelpunkt des Gerümpelareals Uniformen aus der Revolutionszeit. Auch weiße Hauben, ähnlich wie die Omahaube, die Marie Antoinette bei der Hinrichtung trug, bevor sie ihr Sanson abnahm, sie ans neigbare Brett geschnallt wurde, so dass der Kopf ins runde Loch der Guillotine passte, letztes knirschendes Geräusch, der dumpfe Fall. Ich nahm die Haube und roch daran. Den Dingen entgehst du nicht, dem Geruch nicht, dir nicht. Dem Tod nicht. Und sah damals diese Blumenmädchen, eine Alte gegenüber verkaufte Spitzen, L: nahm sie in die Hand, ihre Hand, die warme, ich fühle sie überall auf meiner Haut. Dazu eine alte Pariser Ziehharmonikamusik, drehorgelhaft. Parì, Parì! Moulin Rouge. Pigalle. Montmartre. Es war einmal. Als ich von zu Hause geflohen war, fuhr ich ja zuerst nach Paris... dann erst kam ich nach Deutschland... Bonn, Hotel Mozart. Damals hatte ich L: noch nicht gekannt. Nichts lässt sich zurückholen, die Erinnerung, die steht, als wäre sie ewig. Nur der Tod rast und löscht auch sie!

Der einmalige Augenblick, der nie mehr wiederkehrende Lebensmoment, jeder Augenblick ist kostbar. Es war einmal, was berührte mich da. Ein Geruch. Und diese Berührung der Haube. Aura ja. Ich saß mit L: auf einer Bank im Bois de Boulogne am See, ein Sonnenstreif im Wasser blendete, eine Ente schnatterte. Es war an einem Samstag, noch in jener uralten Zeit, zu der wir nicht mehr ... doch, zu der wir freilich noch gehören; das ist es ja!  Wochenendler joggten vorbei. Hinter mir rauschten die Autos, keine Stille war möglich. Augenkontakt mit der Erde, ganz nah, ein Junge ruderte in einem Kahn ganz nahe am Ufer vorbei, eine Frau fotografierte ihren kleinen Jungen, der mit einem großen Wolfshund unter einer Linde saß; plötzlich sehe ich jene Haube vor mir, rieche sie….

Klar, Paris. Stimmen die Worte Hemingways, es sei ein „Fest“, und man bekomme da Lust zum Essen, Trinken, Schreiben und Lieben? Als er 1921 nach Paris kam, junger Amerikaner ohne einen Cent, war er und auch die beliebteste Stadt anders, als es der junge Emigrant aus dem roten Osten und Paris im Jahr der Studentenrevolte von 1968 war. Ich kam  aus Luxemburg, hatte in Brüssel meine erste westliche Großstadt gesehen, war davon geschockt, kultur-geschockt, von Bukarest aus dem Securitateland kam ich! Und dieser Zustand ist es, der außer den Zeitschichten meiner Besuche, parallele Vergleiche, die Stadt anders, als diese millionenfache Beschreibung, in Milliarden Worten, gemalt, bedichtet, oder sogar mit Tränen und Nostalgie bedacht, wie mir eine Freundin sagte, dass sie immer weinen musste, wenn sie Paris verließ.

Doch auch das eine Frage: Kann diese glanzvolle, immer glanzvollere Stadt heute solches noch auslösen? Denn ich habe den Eindruck, dass Paris „damals“ 1968 noch bescheidener, zurückhaltender war als dieser fast unverschämte Reichtum, mit dem sie sie sich jetzt präsentiert. Hier die Summe der Welt nach 1989? Und ich weiß nicht, warum ich eigentlich vor Ort über den Ort, wo ich dort eben war, sei es der Louvre oder einfach nur die Metro,  gehemmt war, über sie zu schreiben.  Zu essen  schon, weniger zu trinken, (weniger als in Italien!) und eigentlich auch kaum zu lieben in dieser Hektik. Hinderte mich auch L. daran? Oder das Ältergewordensein? 1968 war das anders gewesen. Da war es freilich auch die erste Erfahrung mit käuflicher Liebe: Pigalle. Das ordinärste flacheste Zentrum zog mich an. Doch auch das war weniger glanzvoll, fast nah und bescheiden privat. Ojah. Pigalle klingt noch nach in meinen Ohren!

Und freilich auch jetzt waren wir „dort“ gewesen, und sahen die Schmuddligkeit! L. wollte schnell weg, auch aus Sacre Coeur. Aus dem ganzen Viertel. Obwohl es doch einmal ein berühmtes Künstlerviertel gewesen war! Und wir fanden nicht einmal den Ort des kleinen Holzhäuschens, wo 1900 die moderne Kunst geboren worden war wieder.  Bateau Lavoir in der rue Ravignan, auf dem Platz Èmile-Goudeau. Ein Brand 1970 vernichtet das Häuschen. Picasso, Braque, und Gris arbeiteten hier. Picasso malte hier Desmoiselles d´Avignon, das den Kubismus einleitete. Max Jakob und Apollinaire revolutionierten die Poesie. Auf der rue Leptic 54 wohnte van Gogh mit seinem Bruder. Und hier liegt auch die letzte Mühle, die ihn und Renoir inspirierten. Moulin de la Galette. Wir sahen sie an und ich fotografierte sie auch.
Nur freilich: das Holzhäuschen war weg, unsichtbar, wie die moderne Kunst es wollte: unsichtbar sein als wirkliche Form, nur die Hintergrundform wird sichtbar durch die Zerstörung der Sichtsbarkeit. Genua wie in der modernen Physik, die genau auch damals entstand: Planck 1901.



Vorher hatten wir die Sacre Coeur und auch den Place du Tertre gesehen und wurden dauernd von Zeichner angequatscht, die eine Karikatur zeichnen wollten.  Ich lehnte ab. Warum? War ich nicht die Karikatur meiner selbst?
Es wqar jetzt spät. L. wollte nicht ble98ben. Und, na ja, wir hatten beide H+ftbeschwerden. Eigentliczh wollten wir noch die Place Vendome sehen. Und es hätte sich sehr gelohnt, auch weil sich Paris in diese Richtung des Reichtums entwickelt hatte, also die berühmten Juweliergecshäfte (hatte Manolescu hier geraubt, Felix-Krull-Vorbl?) und der berühmteste Goldschmidt auch. Ebenso das Hotel Riz, wo Marcel Proust einiges saiener „Suche nahc der verlorenenh Zeit“ gecshrieben hatte, Coco Chanel gewohnt hatte. Und da sieht man , was Prsonenkzult ist, der wu7nderbarste Platz wurde zur Zeit Ludwigs IV. nur antelegt, um einem Reiterstandbild des Angebers eine würdige Umebung zu schafen. Angelegt von Girardon.,  (1687-1720)  Das Denkmal wöhrend der Revolution aber zerstört. Gut so? Schmucklos aber mit vielen Palästen. Nr. 15 Riz, nr. 12 das Haus wo Chopin starb. In der Mitte Erensäule für apoleon. Von hier aus der Rue de Paix mit ihren Luxusgeschäften. Einew der schönsten Pariser Straßen. Nr. 13 ist der Laden von Cartier.

Ich wollte alles „sehen“ und nachfühlen. Was in mir unsichtbar sich verbarg von früher!Was nicht gelang.   Wir gingen anfangs am totalen Kontrast von Vendiome ,an Sexläden vorbei. Nichtmal eine Hure in den Nebenstrassen der hier zu sehn. Die Moulin Rouge wie ein Phantasma ein Klischee! Elend abstrakt alles. Ich filmte. Hier, bitte solch ein Bild:

Wie soll ich die Zeitschnitten schneiden? Von 68 hab ich keine Notizen mehr. Da wars so, dass ich auf dem Flughafen Orly in einer Telefonzelle mein Notizheft mit allen aufzeichnen liegen gelassen hatte.  E war reiner Wahnsinn. Ich wurde nicht akzeptiert von der Fluggesellschaft, weil mein Ost-Pass nicht akzeptiert wurde. Und ich telefonierte mit Dr. Fehr von Inter Nationes, bat ihn, das in Ordnung zu bringen, was auch geschah. Aber der Notizblock war weg. Ich dann eben in Bonn nach 2 Stunden. Es war Nacht in Deutschland, Ende Oktober 1968.

Es ist eigentlich nicht viel zu sagen über meine Erlebnisse damals, sie sind auch merkwürdig abgeblasst, wohl weil es eine ganz andere Epoche war, das Vorvergangene sozusagen. Nichts mehr lässt sich nachvollziehen. Ich weiß nur, dass ich enorm viel zu Fuß ging, dass ich fast täglich im Louvre war, dass ich sonst in Nr. 11 (onze) nahe der Botschaft für 11 Franc in nr. onze kampierte, wahrscheinlich ein Secuhotel, dass ich einige male mit „Nr. onze“ aufgerufen wurde, wenn mich jemand suchte, anscheinend doch einige. Und dass ich von „Salam de Sibiu“, eine ganze Stange, und Rotwein (Vin rouge) lebte. Dass ich Nina Cassian traf, dass wir Celan sehen wollten, er aber schon in der Klapse war.  Dass mir Paris eigentlich eher vertrauter war als heute. Dass  ich mehrere Bekannte, auch einen Deutschen, der in Paris lebte, hatte. Dass mich eine französische Rumänischstudentin, mit deren österreichischen Freundin ich damals in Bukarest ein schönes Verhältnis hatte, mich mit dem Wagen ihres Vaters auf den Flughafen Orly brachte usw. Also doch Menschen wichtiger waren als die Stadt selbst.
Und auch das Pigalle-Erlebnis gehöt dazu:
Ebenso der Klang der Namen, die melancholisch stimmen. Auch „Pigalle“ Oder Champs Elysees. Welches war die Metro, die ich jetzt so sehr vor mir sehe… Das gibt es jetzt nicht mehr. Paris-Sentimentalität ausgetrieben…. Nur noh Gecshäfgt wetrdn damit gemacht. Jaja, ein ganz schönes Foto vor  Sacere-Coeur , die Ziharminica spilte… Hier das Foto, der Ton?


Die Abreise freilich 2009, wo ich zu einem PEN-Kongress vom Goetheinstitut eingeladen worden war, verlief ruhiger. Wir fuhren von Pigalle über Montparnasse nach „Hause“, bezahlten das ziemlich elende Hotel Fred, vorher ein ebenso elendes Mittagessen in einer Bar „Entrecot“ sollte das sein, und fuhren mit einer Taxe nach Orly, ruhiges Einschecken und Flug dann. So viel Zeitverlust aber.

Wenn ich jetzt zurückblicke, bleibt Paris trotzdem ein Fest. Auch wenn der offizielle Auftritt eher jämmerlich war, trotz Einladungen von Goetheinstitut und Botschaft. Mein Lesen war verhallt. Buchverkauf null, außer einer jungen Frau, die unbedingt den „Capesius“ haben wollte, kein Interesse, geschweige denn von den Kollegen. Ich schenkte der jungen Frau  „Landsehen“ mit Widmung. Da war aber noch ein Luxemburger Franzose, der gute Worte zur Lesung fand. Und mir tat es leid, dass ich nicht mit ihm den letzten Abend verbracht hatte, sondern mit dem Botschafter. Der Luxemburger sprach den ähnlichen moselfränkischen Dialekt.
Ich hatte in Paris nun eher Freunde verloren. Und weiß nicht warum.

Wenn ich zurückdenke, war auch die Ankunft so harmlos nach 22 Jahrehn: 1987 zum letzten al hier gewesen!

Damals war für mich die Conciergerie mit den Revolutionsterror der interessanteste Paris-Teil gewesen. Wir gubgebn wider dorthin. Ich wollte vergleichen:


7.Oktober. Wie sich die Zeitschichten nun überschneiden wieder. Wie Paris weiter rückt. Ich überlege, was hatten wir und an qwelchem Tag gesehen:

Am 30. Bis 16.h.
Der Abend im Goetheinstitut, die Lesungen, Bis 7, Gabrielle und dann vom abwesenden Kunert und Fuinkelgruen Texte gelesen.
Dann Pause mit Getränken.  Ich war sltsam aufgekratzt, obwohl ich eigentlich lesen sollte, bis morgen warten muss.
Und dann die langweilige Runde mit Goödschmidt und Honigmann. Langweiloig privat-
Ich revoltierte redend. Das brachte mir: Du hast gestört wie ein Schulbub – ein. Von Nadine, der frechen Münchnerin.
Ab 10 dann  Abendessen Einladung von Goethe. Zurüvck zum Hotel mit dem Taxi. Das war eine schöne Nahctfahrt durch historische Zentrum.

Am1. Vormittags Quartier Latin. Notre Dame. Vor allem aber die Conciergerie. Und der Vergleich mit 1987. (Siehe).
Dann zurück ins Hotel kurzer Mittagsschlaf. Und Vorbereitung zur Lesung heute.
Um 13. uhr mit GA und Nadine. 14 h Bibliothek National.



                                                   WIEN

IRRE

Alexander hatten wir in jener kleinen Stadt bei Wien besucht, von wo aus man den Weissen Berg sieht, die Schlacht liest du dann nach.
In einem Wiener Privatzimmer geschlafen. Dr. N., der Psychiater, empfing uns nach einer unruhigen Nacht (Verkehr vor dem Fenster, zu dicke Federbetten), empfing uns in seinem Zimmer, vor dem drängelten sich die Patienten wie vor den Himmelspforten die Verdammten. Keine Einlassung, sondern Entlassung, flüsterte mir einer ganz plötzlich ins Ohr, dass die Stimme in der Muschel kitzelte und tiefen Eingang fand.
Als wir dann Alexander kennen lernten und auch seinen Mitpatienten O.T. (der einst Funker bei Generalfeldmarschall Paulus gewesen war) – jetzt im Irrenarzt-Zimmer, da dachte ich, die haben sich selbst im Kessel zurückgelassen. Die Schlacht war anders. Und das kann selbstverständlich dem Verstand reichen.
Alexander saß vor uns mit vorgeschobenem Unterkiefer, er sah wie ein abgetauchtes Fischmaul aus. Oder wie ein uraltes Kind mit einem zu großen Kopf, in dem die ganze vergangene Welt drin liegen geblieben ist und freilich auch das Ende . So stand er nun vor uns und sagte etwas, das mich sehr anging:
In der Schule war ich froh
In der Klasse war ich immer so
Gelernt habe ich sehr viel
Zuhause und in zivil.*

War das nicht wie mein eignes Damalstehengebliebensein, das auch Alexander in dauernde Trauer versetzt? Wie ein Elternhaus, das lange, das für immer verlassen wird, Spinnweben überziehn es wie die Jahrzehnte, ein ganzes Leben in der Anstalt! Alles nun so alt und wie versteinert!
Im Park vor dem grünen Männerpavillon saßen wir (ziemlich verlegen) mit diesem kleinen Mann, der seine Linke so hielt, als stütze er sich andauernd auf einen unsichtbaren Spazierstock. Ein Teich vor uns, darauf Enten, die manchmal (für uns völlig unmotiviert) aufflogen, ein Leichenwagen, der sich im Wasser spiegelt und, wie ich meinte, das Wasser schwärzer kräuselte. Patienten in Anstaltskleidung kehrten die Wege, die alle hier zusammenzutreffen schienen, wo wir saßen, nein, wo wir mühsam an Sätzen bauten, denn ich meinte, so stumm zu werden wie er.
Waren Sie auch einmal Patient? Fragte er überraschend. Und ich: Nein, aber ich habe Angst, Patient zu werden. Er: Keine Ursache. Die Dinge und Menschen sind leider nur sächlich. Früher, da wurden sie schön gelöst: von Kunst und Gebet.
Ich merkte, dass er jenen unsichtbaren Halt, den ich für einen Spazierstock gehalten hatte, wirklich besaß; er meinte später, es hänge mit seiner innern Frau zusammen, die sitze in der linken Brustgegend. Jeder habe eine innere Frau, mit der müsse sich jeder Mensch verständigen und vereinigen, dann erst sei Gott vorhanden, jederzeit: Gott hat gesagt, seid einst einig, seid Einverständnis zeigend, dass die Liebe erwacht… und was Adam in sich trägt und vorhat, den Geist erweckt, zu sagen: vielleicht habe ich den Mut, vielleicht auch nicht, Gott zu gehorchen, und einen Sohn, eine Tochter zu malen, aufzuschreiben, so wie es damals war!
Ich schob alles auf den Kessel, in dem er einmal gewesen war, ein Kreisen, eine Spirale, ein Dröhnen muss es gewesen sein. Vom Jüngsten Gericht aber redete er nie. Er machte uns nur darauf aufmerksam, dass die Vögel im Park, z.B. Amseln, reden könnten. Sehr mitteilsam manchmal, sagte er: Amseln pfeifen heer im Wind. Alles sei Klang. Wichtig sei es, dies im Wissen zu hören. Die Vögel singen fast ohne Bewusstsein, sagte er. Es singe einfach aus ihnen heraus. Und so würden sie sich wundern über die STIMME, die sie zwar fühlen, aber nicht verstehen könnten. Auch wir müssten uns darüber wundern. Wir aber tun so, als wüssten wir Bescheid. Daraus entstehe der Krieg. Und die Sprache sperre die Seele in ihre Käfige, wie es auch mit den armen Vögeln geschehe, die nicht nur Patienten seien. Buchstaben aber: vertrocknete Tränen. Wissen Sie das? Er sah mich durchdringend an: Jedes Ding ist nur ein zweideutiges Etwas… diese Leichtigkeit des Dinges, ein anderes Wort dafür einzusetzen. Ich: Die feste Welt… Und er:… durch Kauf, ja. Und dass der Mann draußen sozusagen die Wahrheit stempelt und beiseite schiebt, die Wahrheit, die Ware wird, weil sie ja nicht mehr ist, sie wird aufgehoben durch die Währung und die Kraft des Geldes.
Und leise, fast unverständlich, was am Ausgesprochenen (ich nahm’s auf mit dem Magnetohr) zu entdecken und entziffern war:
Ich bin da,
aber/ ich weiß nicht
wann
ich kommen werde.
Das Denken der Ungewissheit
habe ich
wie mein Bruder.
Für die Ewigkeit besteht
das Licht
meines und seines.

Zögernd nur dürfen wirs
Hören, sehen
Nicht.
Der Klang allein ist in die
Wege geleitetes Zentrum.




                INTERMZZO. Der erlebte Augenblick als Reisegeschenk                                     

HEIMFAHRT. AM CISA. PASS

Mehr nicht, als diesen Augenblick
aufbauen, als ginge es ums Leben. Das geht.
Mehr nicht. Als diese Morgenwiese
lachhaft naiv die Augen sehen lassen
mit Freudentränen. Mehr nicht

als leben, jetzt.

So warte ich, die Sonne
scheint noch immer, und bricht
die Strahlen, nicht das Herz, den Satz.

Ich möchte leben,
nicht nur schreiben müssen, als wär es
ein Ersatz für diese Fahrt. 

Sie steht noch in den Sternen. Steht
und wartet.

Und doch, zu ihre gehört auch diese Erinnerung, das Glück der Sinne: Heute liegt es wie Glück in der Luft; der Morgen ist taufrisch und jung, und Ich hatte plötzlich wie als Kind Lust zum Barfußgehen im Morgengras; Duft und Klang, es riecht nach Pinien und nach frischer Frühlingsluft, nach Berg und nach Kaminrauch. Langsam, alles ganz langsam tun, mit vielen Pausen und ruhigen Atemzügen. Nur manchmal das Tier mit vier Füßen, schwer atmend, schnaubend und hechelnd im Rhythmus der gemäßen Natur und den hochschießenden wunderbaren Säften. In Transsylvanien roch es nach Erde, Heu, Zwiebeln, Kaminrauch, und sauer nach Schweiß, nach festem Boden, und nach einem andauernd sicheren Glück. Das Kind hatte kaum sprechen gelernt, kaum laufen, wie sollte es da etwas vom schnellen Zeitempfinden wissen können, hie und da ein stinkender Uraltford auf staubiger Landstraße, der wie ein Ungetüm krachend und hupend dahinkroch und 20 Kilometer in der Stunde zurücklegte, da war noch im Geruchssinn, und am stärksten nackt in der Sonne und im Frühjahrsgras einer Blumenwiese, eine so starke Wahrnehmung des flüchtigen Daseins auch im Parfüm seiner Mutter, nur außen schlugen manchmal Uhren mit langen Pendeln, sogar Kuckucksuhren mit einem bunten Holzvogel, der vor Schmerz zu schreien schien, dass schon wieder eine Stunde vergangen war, wenn er dort im Türchen erschien; ein Tag war eine Ewigkeit, lang, lang, wie heute ein Jahr. Und ein starkes, fast zu lautes Gefühl für sich selbst dort in der Öffnung und im Haar, erinnerte Ich sogar heute noch, er erinnerte sich, und blitzartig kamen die Empfindungen, taten fast weh, und er wußte, dass er durch ein haariges, stark riechendes Tier, durch einen Schlauch im Dunkeln rausgestoßen worden war, mit klebrigem Blut hinaus ins Kalte. Und dass er vorher in einer ganz anderen, einer großen Stadt gelebt hatte, wo man fliegen konnte, und jeder Gedanke sofort zu einem Ding oder zu einem Menschen wurde, und dass man sich hier auf der Erde lebenslang wie nach einem verlorenen Zuhause sehnte, und nur nachts manchmal im Traum dort in jener Stadt sein durfte. Früher, da tat er nie etwas anderes, nur das, was er sah, jetzt aber waren seine Augen müde, Einsamkeit der Augen, hatte jemand gesagt, und er hatte nun auch hier in diesem toskanischen Bergdorf, wohin er seiner Kindheit nachgezogen war, etwas Neues geübt, zaghaft und langsam an die Dinge heranzugehen, als würden sie sich wieder in ihr Inkognito zurückziehen können, die Bekanntheit, die ihn fluchen ließ, aufgeben, und sie so, wie als Kind aus der Sprache fallen lassen, scheues Auftreten angesichts des unfaßbaren Abgrundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus. Erleuchtung der Langsamkeit, dachte er: Nie, nie schnell werden. Anstatt nur Erinnern, lieber wirkliche Pausen; Zartheit, Zärtlichkeit, schon mit den einfachsten Dingen und durch sie, wenn wir es merken, scheint etwas Undenkbares hindurch. Und er legte die Hand auf den angewärmten Stein der Treppe, auf dem er saß, und tastete die Vertiefungen und Rillen dieser Landkarte einer steingewordenen Erinnerung von Milliarden Jahren nach, ließ dann auch den Stein seine Finger abtasten, den warmen Körper, die Waden. Und die Katze schmiegte sich mit zwei ihrer Jungen, reizenden flaumig geschmeidigen Geschöpfen, die keine Schwerkraft zu kennen schienen, an ihn, und sprangen in kurzen hohen Sätzen dem Spiel der Sonne und der Schatten nach. 

                   Augenblicke in den Alpi Apuane. Stazzema

Die Wolkenwand sahen wir von Westen kommend schon bei Pietrasanta, ja, es wird kein schöner Tag werden, es ist einer jener Tage hier, der schön mit blauem Himmel begonnen hat, und mit Blitz und Donner endet, beginnlos ein Fest, und werden in Pietrasanta am Markt vorbei fahren, werden lauter Schwarze sehen, einer auf einem Fahrrad kommt uns entgegen, am Ausgang von Pietrasanta ein Gladiator als Standbild, Muskelpaket von Botero. Und ich sagte zu L.: Jetzt reicht´s mir, ich fühle mich schlecht, ich fühl´s wie ein Gift in mir, tue andauernd, was ich nicht will. Rut sagt immer: Laß die Kopfarbeit, überlaß dich deinen Intuitionen, jetzt aber reicht´s mir, sagte ich zu L., wir nabeln uns ab.
     Und in Stazzema stiegen wir aus und wanderten. Am besten mit den Sinnen leben, so nah alles, wie jetzt, wenn ich Circel, den kleinen Hund, warm im Arm halte, der alt ist und getragen werden muß; nasses Fell, Geruch aus dem Maul, an der Schnauze, er war in eine Quelle gestiegen, um zu trinken, mit allen vier Pfoten in die Quelle gestiegen, wir sammelten Kiefernzapfen oben am Rifugio Forte dei Marmi, allein, kein Mensch da, und während ich an den harzigen, duftenden Fingern roch, sie an einer Buchrinde abrieb, die Buche umarmte wie einen Bruder, dachte ich an die Quelle mit dem Gedenkstein für Pepe, wohl ein Köhler, jetzt wenn der Tag wieder durch mich durchgeht, ist der Hl. Franz von Assisi und frate acqua auf dem Stein für Pepe in mir wiederauferstanden ins Zukünftige: die Amici della Montagna hatten ihn dem Toten hier aufgestellt zum Gedenken und dazu geschrieben: flora protetta auf Holztäfelchen und irgendein Gesetz aus dem Jahr 1982 dazu, überall Vignetten an den Pflanzen, beschriftet, sogar Edelweiß, schaurig als wären die Armen aufgespießt, die Namen löschen sie aus, L. sagte zu diesem Haus: >pütscherig<, schöner das Haus vorher, großzügig herrschaftlich, eine Villa und nur ein Spruch an der Wand hora quiete, überall werden Geranien sein. Zeit löst sich dann im Bewußtsein auf, alle Formen werden gleich: oben die Wolkenwand - zieht immer noch auf, nebelt den Forato und den Procinto ein, zwei Gesichter aus unserer Vorstellung: der Procinto ein Grieche und ein Halbprofil mit langer Nase am Rifugio, aber hochragend steil die Wand zum Matanna, so sieht das Unübersteigbare gefährlich aus, und Schweiß an den Händen, trocken auf einer Bank, trinken wir dann den letzten Schluck Weißwein und essen Schokolade, der Hund springt dazu auf die Holzbank. Ich aber habe vom gestrigen Weißwein Entzugserscheinungen, bin auch atemlos, Schwere beim Aufstieg, ich denke, mein Lieber, bald ist es aus, die Kräfte lassen nach, spürst es an den Knien, und werde an meine Mutter denken, die bei dem Passo della Croce auch nicht weiter konnte, mein Herz, sagte sie, und es flimmerte ihr vor den Augen. Luca, der Musiker, der wird nun auch bald fünfzig, sagt L.. Ist sie in ihn verliebt? In Sardinien, als wir losgingen zum alten heiligen Areal, kam er nicht mit, da wollte ich die Führung übernehmen, er aber ging schneller und schneller, nahm Abkürzungen, er hatte sich um zehn Jahre jünger gemacht. L. sagte, das ist ihm aber auch gelungen, in dem Alter sieht man mal gut, mal schlecht aus, je nach Stimmung, der gute Tag und eine Art Selbsthypnose machen Verjüngungen möglich. Ich aber hatte jetzt Angst, daß bei mir Aids ausbricht, nachgerechnet, und überlegte mehrmals, ob die Blutuntersuchung positiv wäre, aber du wartest lieber auf das Verhängnis: und Violetta spukt im Hirn, ein Handtuch um den Bauch ...
     Bevor ich dann mit L. aufsteigen werde, wird es diese Natur und beflügelnden Momente in Stazzema geben, da sehe ich eine Dorfschöne die Dorfstraße hinabgehen, geht an uns vorbei, das Auto ist auf dem Platz geparkt, doch nicht nahe genug, das Mädchen flüchtig, vorbei, ein Blick nur durchs Autofenster, der mich trifft, sie geht dann zur Mauer, ich sehe ihr vom Regen zerzaustes strähniges Haar, schmales Gesicht, und von hinten ihren Gang, ein Mantel über einer Trainingshose, sie geht an der Bar vorbei, küßt sich dort mit einem hochgewachsenen Jungen, auch der hat langes Haar, oder ist es ein Mädchen? Er sieht wie ein Mädchen aus, und sie schäkern dann beide, sitzen auf der Mauer, und ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sich nachher sicher lieben werden, denn wozu sonst dieser Kuß, diese Zunge im Mund des andern, der den Akt selig nachahmt, noch näher am Kopf. Und der Dorftrottel, der ein schönes Haus hat, das seine Frau in Ordnung hält, fragt, "woher kommt ihr?" "Stuttgart", sage ich.
     "Und welchen Beruf hat er", fragt er weiter. L. antwortet: "Er schreibt."
     "Was schreibt er denn? "
     "Nun eben auch dies, was wir gerade erleben, aber sonst lebt er andauernd in seinen Büchern."
     "Aha, Carducci", sagt der Dorftrottel.
     Und wir sehen hinab ins Tal des Poeten Carducci, drüben am Berg Häuser, und ich sage: "Schau L., lauter ausgedehnte, nun bald blühende Kastanienwälder, jetzt noch kahl; ein Datum? wozu ein Datum? Es ist falsch, jedes Datum ist falsch." Denn als wir dann vorbeigehen am uralten Torre con orologio von 1564, denke ich: das Todesjahr Michelangelos, und sogar der 18. Februar stimmt, vor einigen Wochen, sein Todestag, da schlägt immer noch die alte Uhr von damals. "Ja, wenn man sie gut ölt und säubert, hält wohl das Uhrwerk noch viel länger als bis ins Jahr zweitausendundeins", sagt L.. "Und ist doch ein Mirakel solch ein Uhrwerk am Stundenturm meiner Heimatstadt S.", sag ich, "das ist fast so alt und geht auch immer noch", und stelle mir vor, wie dieser Stundenlauf jahrhundertelang alles hätte sehen können, was gewesen ist, und die Form spielt überhaupt keine Rolle, und wie diese Uhr alles überstanden hat, aber auch einmal gewesen sein wird, geht und geht jetzt noch, und die Leute sterben wie hier auch, sehe hinauf, als könnte ich diese Seelen dort auf der Tanne sehen, nein, zwei Tannen, riesige Bäume, wie alt wohl diese Tannen am Haus des Dorftrottels sind, von der Frau instand gehalten, die Frau ging eben über den Hof, Unmengen von Blumen, und im Tal rauscht ein Bach, Tannen, denke ich da an die Tannen in S., Bäume meines Großvaters, an unsere Tannen in Aliano, Tannen am Waldrand, denke ich, an unsere Weihnachtsbäume, der erste ist auch schon 10 Meter hoch, dies Gefühl, wie beschreibst du das heute, und beim Eingang zum Haus des Dorftrottels steht der Dorftrottel da mit Schlapphut, grinst und zeigt auf das Winterholz: Hier das Holz, sagt er, das schlepp ich jetzt rein, es wird kalt, woher kommt ihr denn? Stuttgart, sagt L.. Aha, die große Kirche in Deutschland, der Dom, Gotik, sagt er: steht er noch ... oder waren es die Bomben?
     Der hat für alles eine Antwort, sage ich zu L., und sie: daher ist er ja auch irr.
      Wir stehn dann am Platz des alten Mediceerbrunnens, sechzehntes Jahrhundert, L. will trinken, es sind drei Hahnen, und ein Hahn ohne Schrift, ich trinke lieber von keinem, sagt L., und wir gehen in die Dorfbar, trinken dort einen Kaffee und Mineralwasser, der Mann an der Bar ist mürrisch, kann die Flasche nicht öffnen. Als käme da etwas Ungewöhnliches aus der Flasche, wer weiß. Wohltuend der Alltag, reicht mir die Flasche, ich öffne sie, nur ja keine zusammenfassenden Bilder mehr, weder Flasche noch Geist zusammenbringen, und der Mann wurde gleich freundlich, hier, er zeigt auf seinen Daumen, da tut es mir weh, so geht's nicht, jaja, sag ich, oder die Hand ist fettig, passiert mir auch oft, wunderbar angenehm das Normale und Kleine, kaufe ein paar Ansichtskarten vom Haus des Dorftrottels, das schönste am Platz, Fotos von der Kirche, dem Uhrturm und dem Forato, und wir werden dann endlich steil hochgehen, sehe dabei in meiner Phantasie Trauben an rötlichen Stöcken hängen, L. ist hungrig, sie nimmt ein Stück Focaccia und bricht`s Brot ironisch, ich nehme das Brot für euch, und wäre es September, ginge ich doch sicher und holte die Trauben, weiße und rote, als bräuchte man die für ein eingebildetes Abendmahl; wir essen aber jetzt nur Brot; also Körper, kein Geist? ..."




                                        EINE EHEMALIGE OST-WESTGRENZE

                                           Böhmen. Krumlow



Es ist unheimlich, welch Spiegel sie für mich sein konnte. Hatte ich nicht mehr gelernt von und durch sie, als sie durch mich? Wie schön war unser erster Ausflug in die Böhmischen Dörfer. Ich erinnere noch sehr genau die Fahrt nach Krumlow in Tschechien: Wir kamen an die Grenze … den Pass bitte. Mein Gott, ich war wieder einmal im Osten. Sofort veränderte sich alles, die Landschaft schien wilder, unberührter, auch die Menschen. Alles „primitiver“. Auch Hel sagte es. Die Orte weniger hergerichtet und zu Tode renoviert, vieles ganz verfallen, abbröckelnder Putz, die Strassen trister, weniger Farben, Grau in Grau.
Dann der Weg nach Krumlow an der Moldau entlang,  Menschenansammlungen und in der Moldau viele Kajaks, bunt, Wimpel und Volksfeste am Ufer, Und muss jetzt an die vielen aufgehäuften Steine in der Mitte des Flusses, wie Pfähle und Kreuze und jüdische Grabmäler, wo sich die Erinnerungssteine häufen, doch auch an archaische Indianermale inmitten der Moldau, die wir nach Krumlow entlanggefahren waren, denken.
Melancholie an der schwarzen Moldau. Und du sagtest mir, was ich für ein Gesicht hätte; etruskisch wirke es, klare Linien, doch durchscheine ein mystisches Licht, Kubismus auch - sei da drin - und Expressionismus von innen,  aber auch Mittelalterliches und etwas Asketisches  findest du in ihm, und übersetzt in Musik: Zwölfton, doch auch Mahler und viel Beethoven. Und ich versuchte ein Gegengeschenk, war aber unvorbereitet und spürte dir gegenüber einen Mangel an übersetzbarer Bildungsphantasie, doch du warst vorbereitet, hattest schon all das aufgeschrieben, schreibst heimlich an einem Ich über uns. Und ich hatte dir ja vorgeschlagen etwas gemeinsam zu schreiben, vielleicht  ein Gespräch über Generationen. „Nein, da ist es doch viel interessanter, unsere Liebesgeschichte aufzuschreiben“, sagtest du schnell. „Einen Ich zusammen?“ „Nein, das muss jeder für sich tun; die Perspektiven sind zu verschieden.“
Ich weiß, du möchtest es für dich in deiner Einsamkeit bewahren, und da darf nicht einmal ich eintreten. Und es hat dir leid getan, dass du mir deine nur für dich gedachte Schilderung unserer  Begegnung beim Götz  geschickt hast. Ich hatte ja auch „komisch“ darauf reagiert, weil wieder zu viel von A. darin die Rede war, auch eure Tage in Krumlow mit dem Königslied aus dem „Hochwald“, das mich an die Moldausteine erinnert, die wie Totenköpfe sein können:
„Es war einmal ein König, 
Er trug ne goldne Kron’.
Der mordete im Walde
Sein Lieb- und ging davon.

Da kam ein grüner Jäger:
„Gelt, König, suchst ein Grab?
Sieh da die grauen Felsen,
Ei springe flugs hinab.“

Und wieder war ein König,
Der ritt am Stein vorbei:
Da lagen weiße Gebeine,
Die goldene Kron’ dabei.“

Zum Plöckensteinsee kamen wir nicht, der  im Dreiländereck liegt, und mal die Ostwestgrenze war, keinen Übergang und keine Strasse nach „drüben“ hat, nur einen Fußweg heute zum Stifter-Denkmal und See am „Grenzknoten“, Höhen über tausend Meter, jenes Blau der Berge, die wie Feenhöhen auch aus deinem Elternhaus als Fernweh zu sehen sind, und auch in Krumlow, der „grauen Witwe der verblichene Rosenberger“ schien uns jenes Stück Dämmerblau und Dunkel herein, das leicht und schwermütig zugleich stimmt, weil das Land so tiefdunkel wie die Mitternacht ist und auch zu schön und zu weit ist für unseren Blick, der übrigens auch all das, was seit dem Krieg hier geschehen ist, samt Vertreibung wie wir alles Zeitüberschichtete und wie das ewig Bergüberschichtete genau so nicht fassen können, auch wenn es wie grausamsanfte Ferne der Schönheit herüberleuchtet in Mutzendorf und im böhmischen Dorf Oberplan und in Krumlau. Ach, ja, Krumlau und sein Schloss, damals noch grau-unberührt vom großen Zeitenbruch als Stifter hier seine unsäglichen „Pflichtliebesbriefe“ an seinen Besen, die hartknochig kaltherzige Putzmacherin Mali, Tochter eines in Serbien stationierten Unteroffiziers schrieb, die in Linz in der von ihm fluchtartig verlassenen Wohnung für Ordnung sorgte.
Dunkel ja alles, und Abgründe auch beim angeblich Harmonischen, von der Mali in die Lebensverzweiflung dick gefütterten Poeten-Bürokraten, der auch die nur in unserem Fernwehblick erreichte blaue Wand am See dort, „einsam und traurig“ findet, wenn man sie wirklich betritt, DORT IST, in den dichten Waldbeständen der eintönigen Fichten und Föhren, die stundenlang im Moldautale emporführen, wir streiften sie ja nur, vor allem im „offenen Lande“ am See, als dann der Rogenbogen über Friedberg aufging, und den verstreuten Dörfern, unter denen auch Oberplan, und am Seeende Friedberg, heut Frymburk, wo Stifter verstoßen von ihrer Familie, seine junge Liebe ließ, um verzweifelt in Malis Fängen zu landen. Oh, Friedberg, und das „offene Land“  wie sein Leben eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend als aus tiefschwarzer Erde, dem dunklen Totenbett tausendjähriger Vegetation des Vergessens, und doch da, auf dem viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel, sich abhebend vom modernden Untergrund, und vom Regen bloßgelegt wurden, gewaschen und rund gerieben. Und auch das weiße Gerippe eines gestürzten Baumes dazwischen und die angeschwemmten Klötze aus dem Seebach mit Eisenwasser. Und keine Spur, immer noch, keine Spur von Menschenhand, weißer Ort, jungfräuliches Schweigen. „Da lagen weiße Gebeine,/ Die goldne Kron dabei.“ Nur diese Ferne, die Nähe dort siehst  du aus deinem großen Fenster am Telefontisch nicht:  das unheimliche Naturauge, von keinem Windhauch im Talkessel bewegt, starr schwarz, der schwarze Glasspiegel, Nichts zu Wasser geworden, umsäumt von herabgestürzten zu Gebein gewordenen Bäumen, die die Felswand nicht hielt, in „grässlicher Verwirrung“ in „traurigem, weiss leuchtendem Verhack.
„Da lagen weiße Gebeine,
Die goldene Kron’ dabei.“

Wir fuhren an der Moldau entlang. Und du sagtest nur Gutes über mich, als sollte ich das Andere sein können und sogar müssen, das Liebe bringt, Wärme, Wärme und nicht diese Kälte und Einsamkeit und Todesnähe des Vergessens. Und spultest es wie eine Liebeslitanei, wie ein eingelerntes Gebet herunter, als müsste es sich häufen, zusammenkommen in EINEM, den du in dir trägst, all die Eigenschaft, ein Mann mit Eigenschaften eben:  Du bist großzügig, schnell, flink sogar, ich mag das nicht, wenn jemand so träge und taaaa-ta—taaaa-taaaata daherkommt, bist väterlich-besorgt, was ich so sehr an dir mag, Du bist ein Stück Heimat. Und du analysierst und reflektierst auch alles so tief und weißt dann Bescheid. Und bist auch so vital, soviel Kraft strahlt aus dir, und deine Präsenz nimmt ein, für dich, nimmt alles ein, du schaffst Umgebung, die deinen Stempel trägt. Mit dir kann man Pferdestehlen, du machst alles mit, man kann lustig sein mit dir,  alles mit dir machen.  Überall passt du dich wunderbar an, als wärst du überallundnirgends zu Hause, jaja, du hast etwas von einem transsylvanischen Zigeuner … Ich hatte dir ja vom Ahnenpass erzählt, dass die Vorfahren doch auch aus Böhmen kämen, und hierher aus Schlesien eingewandert seien in die böhmischen Dörfer, dann Transsylvanien, das Vielvölkerland, wo in jedem ein ungeheures Blutgemisch sei, und im Ahnenpass gäbe es nicht nur Ungarn und Deutsche, sondern auch ein Zigeunerblut im 17. Jahrhundert.
Und dann kamen schon deine Fragen, als wäre alles nur eine Vorbereitung gewesen. Sag, wie ist das mit diesem Rosenstock-Huessy und seine Eschatologie, sagtest du, das kann doch nicht wahr sein… Da ist doch keine Wissenschaft dabei, dieser Lauf zum Zeitende und zur Apokalypse hin… Und dann der Tod als Auferstehung… ein neues Leben?
Apokalypse heißt doch „Augenöffnung“, warf ich ein. Und nicht „wissenschaftlich“ das Ende der Zeit in unserer gewohnten Welt? Es ist  doch so, dozierte ich: Zukunfts-Metamorphose ins Jenseits unserer Vorstellungen, (Ende der Zeit und des Raumes)? Eine Überschreitung der sogenannten "Naturkonstanten", (wie bei jedem Paradigmenwechsel); die wichtigste "Naturkonstante" unseres Weltbildes aber ist die Lichtgeschwindigkeit. Jenseits dieser 300.000 km pro Sekunde aber lösen sich alle festen Körper in Licht auf; es gibt nur noch das Immaterielle, Geistige. Denken wir nur an unsere "elektronischen Haustiere," Compu­ter, Radio, Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedanken­blitze" wie in der Kunst,  aus einem großen kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das Nicht-Ma­terielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse ma­chen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte. Für sie gilt weder Zeit noch Raum. Und am Ende wird es Licht sein, in das sich alles „auflöst“. Zukunft (immer in Richtung des Endes und des Todes als ÜBERGANG, ist das Undenkbare, Unvorhersehbare, Unberechen­bare, Junge, Immeranfängliche, die Überraschung des Augenblicks in dem noch niemand war, er geschieht in Einem fort, Nichts ist abgegriffen, alles ist „jeder-zeit“ NEU…Für Eugen Rosenstock-Huessy ist das Christentum  „keine dekadente Anbetung des Todes“, nein: dieser Einschluss des Todes ins Leben IST das unauflösbare „Geheimnis“ und Rätsel des sich ständig erneuernden Daseins zur „Erlösung“ hin.
Man könnte zu diesem wartenden alt/neuen Erlösungsparadigma  den vor kurzem verstorbenen Physiker-Philosophen, Mitstreiter der Göttinger Achtzehn, Carl Friedrich von Weizsäcker zitieren:  Dass die christliche Eschatologie ein vorausgeworfenes Zeichen in der Geschichte sei. Eugen Rosenstock-Huessy: „Noch gehört doch wohl der Weltuntergang zum rechten Glauben, und das Leben im neuen Äon auch.“ Ja, es ist und bleibt für uns als Menschen, die leben, nicht mehr wissen und wissen können, ein ungläubiges Kreuz  mit der Auferstehung vom Tode als rätselhafte  Hoffnung.
Aber es ist doch die Liebe … sagte sie, die ist wirklich und gibt Zukunft… und ist das Überraschende, Prickelnde.
Und wieder reichte sie ihre Hand herüber auf meinen Schenkel. Und die Luft knisterte erotisiert. Und, lachte sie, du küsst mich… und so überwinden wir auch den Tod.
So viel geschah bei dieser Fahrt. Auch Kritik kam, dass ich zu laut rede oft, nicht immer offen sei, und hielte die Wahrheit gern zurück, rücke schwer mit ihr raus.
Und dann gestand sie, dass sie über unsere Geschichte schreibe. Beide schreiben wir also? Jeder mit seinem Blick.
War es dort am Wirtshaus-Tisch am Ufer der Moldau, wo junge Leute in ihren Kajaks am Wehr und den Stromschnellen ihre Kapriolen schlugen, umschlugen, wieder auftauchten gegen die Strömung anruderten,  dass du wieder vom „Letzten“ sprachst? Wie ich mich filmen sollte auf der Toilette, etwas, was ich noch nie jemandem gezeigt hatte, ihr zu zeigen? Die Scham zerstören, die letzte? Und in ihrem Brief vom 2. September mit der lustigen Zeichnung, wie da einer auf dem Klo sitzt, steh ganz schön blasphemisch: Gibt es eine Kloeschatologie? Wieso spricht sie immer wieder vom Erlebnis in einem Restaurant nach dem Aufstieg zum Donon, bei der ersten Begegnung, als ich krank war, Fieber hatte, und sie mich auf der Toilette unfreiwillig belauschte, da die Wand zur Damentoilette ganz dünn war, und sie es nicht wagte, etwas zu sagen, sich auch nur zu bewegen, weil es mir hätte peinlich sein können. Immer wieder habe sie das Geräusch, „oft fürchterlich laut“ meiner Winde gehört; und damals daran gedacht, einfach davon zu laufen, zu verschwinden. Nachher aber war sie dann rührend meine Krankenschwester. Was ist das für eine Anziehung des Vegetalen beim Lieben, der heimlichsten, verborgendsten Körperfunktionen und der Intimität; ist es noch eine kindliche Neugierde an diesem Geheimnis des Andern, und so erotisch, weil es ein Tabu ist, fast wie die Züchtigung und das tiefste Bekenntnis, die Beichte? Ein Seelenentblößen, wie die geheimste und einsamste Körperentblößung, das Letzte, das nur uns allein gehört?
Hatte sie aber nicht heute Morgen schon gesagt, dass wir auch etwas anderes tun müssten, nicht immer nur dasselbe, uns unseren Körper überlassen, die eine ungeheure Attraktion einer auf den andern ausüben, so gut zusammenpassen, dass wir uns nicht wehren können, sondern zum Streicheln und Berühren, zu  zärtlichen Hautsinfonien getrieben werden?
Wo war es, doch nach Oberplan, wo wir das Stifterhaus besuchten, dann aber am riesigen  grünblauen Moldaustausse gleich am Ortsausgang eine fahrbare Bude mit Fischverkauf und Bier fanden,  und Hecht und Forelle kauften, Bier tranken, und ich mich ein wenig ärgerte, als sie mich nicht bestellen ließ, nichts sagen ließ, sondern alles an sich riss, sie hat diese Art bei Einkäufen, aber auch sonst wenn wir mit Menschen umgingen, etwas erfragten etc.; und ich sagte ihr dann auch nachher, als wir ins Reden kamen, sie mich fragte, was mich an ihr am meisten störe, dass sie immer die erste Geige spielen wolle, und ich sei leider auch so einer, und zwei erste Geigen gehen eben nicht gut zusammen. oOder gerade? Wenn sie beide gleichlaut und gleichschön spielen?
Wir fuhren weiter, und in der Ferne tauchte über dem See und dem Wald ein großer breit gefächerter Regenbogen wie eine wunderbare Fata Morgana auf, und Hella (wie ich Hel oft nannte, weil es so weich klang!) war entzückt und staunte wie ein Kind über das Naturwunder, „wie schön“! Ein merkwürdiger Kontrast zwischen der so wunderschönen Landschaft und den Menschen, die so hart und mürrisch wirkten, auch die Bedienung dort an der Moldau war unhöflich und unwirrsch,  so dass Hella mal über das Mädchen, das uns die zähen Gerichte brachte, sagte, „die würde bei uns sofort rausfliegen, Mädchen, Mädchen, musst noch lernen!“ Nur die Fischverkäuferin, sie sprach deutsch, erzählte von der Fischerei und den Fischen, war freundlich und aufgeschlossen. Vielleicht, sagte ich zu Hella, ist es der alte Hass auf die Deutschen, und auch unbewusst die Angst, dass sie diese ehemaligen deutschen Gegenden zurückfordern würden, obwohl die Grenzen und die Grenzziehung längst klar und abgesichert sind.
 Das ernsteste und tiefste Gespräch ging los, als Hella auf meine Frage, was sie am meisten beschäftige, loslegte… Dass das Leben trotz allem schön sei, und wir uns durch die Verbrechen anderer nicht irre machen lassen dürften… Nein, Welt- und Lebensvertrauen, das lasse sie sich nicht nehmen…
Und ich wusste, dass ich genau dieses von ihr zu lernen angefangen hatte, und hörte mit meinen Belehrungen auf, schwor mir, mein Kopfgift und das furchtbare „Downerprogramm“ aufzugeben…



DEUTSCHLAND. Schwarzwald. Todtnauberg. Die Heideggerhütte



                               Liebe auf Reisen. Todtnauberg

In Freiburg tankten wir, Ich stand am Zapfhahn und ich kaufte noch Kaugummi, dann ging es weiter. Todtnau war schon angeschrieben und wir waren fast enttäuscht, dass das Abenteuer des Kartenlesens schon vorbei war, bevor es richtig begann. Manchmal durchblitzte mich der Gedanke, dass es der letzte Tag war. Aber irgendwie war alles noch weit weg und die Hinfahrt war einfach zu schön und zu lustig.

Aber es verbindet sich ja nun die Zeit in einem einzigen Punkt, alles fließt zusammen, und manchmal glaub ich, verrückt zu werden. Begann jetzt nicht das Schönste, ich mit der Karte auf den Knien, die Linke in deiner Rechten, ab nach Todtnauberg. Und leitete dich über Breisach, Freiburg, Kirchenzarten zu unserer Liebesnacht in Todtnauberg. Und diese Landschaft des Südschwarzwaldes um uns, eine Himmelslandschaft mit Almen, Tannenwäldern. Nebel. Regen, nur manchmal kam die Sonne durch und beleuchtete fast geisterhaft-außerweltlich die Höhen. Und ich erzählte dir die Geschichte von Celan und Heidegger und ihrem gescheiterten Treffen in Todtnauberg.
Und immer wieder stehst du wie eine leuchtende Erscheinung  duftend vor mir, so nah, als könnte ich dein Gesicht streicheln, küssen, wir sitzen ja im glücklichen JETZT, in jenem Heute, dem 11. 11., das nicht vergehen kann, sitzen im Auto, fahren die Serpentinen nach Todtnauburg hinauf, Nebel im Tal, wie ein Wolkengesicht, das nur manchmal wie ein Blitz von der Sonne gespalten wird, auch unsere Gesichter erhellt, du frierst, ich gebe dir meine Pelzweste, du hast eisige Hände, ich reibe sie, wärme sie,

Aber „JETZT“ in unserem Jetzt, sind wir doch noch am Ortsschild von Todtnauberg; die Tage müssen stehnbleiben, auch dieser Augenblick darf nie mehr vergehen… nie sich dem Ende zu bewegen… und ich nahm den Plan des Ortes, und wir fuhren, wir lebten, wir fühlten uns, wir sahen die Landschaft, wir sahen uns an, wir waren neugierig, alles war ALLTAG, All Tag? Nichts Aufregendes, Alltag? Und ganz einfach alles, fast schon gewohnt, zusammen ein Wir. Wir fuhren zuerst zum Hotel „Enzian“
Die zierliche, fast zerbrechliche Wirtin mit dem  kantigen und wetterfesten Vogelgesicht führte uns in den Frühstücksraum, und dann gleich hinauf zur Besichtigung der Zimmer,  erzählte auch gleich, und fragte, ob wir denn zum Heidegger-Kongress gekommen seien. Wir blickten erstaunt, denn tatsächlich waren wir ja auch wegen Heidegger und Celan hier, und fragten neugierig, was es denn für ein Thema sei, und wo? Sie wusste nichts Genaues, sie könne sich aber erkundigen. Die beiden Einzelzimmer, die sie uns dann zeigte, waren ganz annehmbar, sie gefielen auch dir, hatten auch etwas Aussicht auf die Täler im Nebel wie in Watte vor uns und den Wäldern, Wiesen und Höhen, die in den Wolken lagen. Freilich, du wolltest wieder ganz weit weg, am liebsten in einem Gelass in der Mansarde, direkt unterm Dach.
Wir fuhren noch zum größten Wasserfall Deutschlands, hörten das Tosen und Rauschen kurz vor dem Eingang des Ortes, fanden den Zugang nicht gleich, auch war es schon fast dunkel, und wir scheuten uns hinabzusteigen. Nahmen uns vor, es vielleicht morgen früh vor der Abfahrt nochmals zu versuchen; doch so schien es für uns, waren wir weniger an Naturwundern interessiert als an Kultur?

Am Morgen dann.
Es war sehr spät, schon nach acht, und um 12 ging mein Zug von O. wieder ab; wir sprangen beide fast gleichzeitig erschrocken aus dem Bett. Und ich sagte, dass ich mich sehr schnell fertig machen kann. „Ich auch“, sagtest du und gingst mit dem Bettzeug schnell in dein Zimmer. Ich hatte noch ein Faltblatt „Heidegger in Todtnauberg“ gestern gelesen, nahm jetzt eines auch mit.
 Mit den gepackten Sachen dann zum Frühstück. Das war schon gedeckt. Und die Wirtin von gestern grüsste, brachte auch gleich den Anmeldeschein und die (bescheidene) Rechnung. Stellte quasi die Dame am Nebentisch vor, sie sei eine Teilnehmerin der Heidegger-Tagung. Man merkte, wie beflissen die Wirtin war. Sie erzählte von der Bekanntschaft der Familie mit Heidegger. Und auch ihre Tochter sei ja in dieser Branche tätig, Buchhänd­lerin bei Witwer  am Bahnhof.  Er wirkte peinlich dieser Minderwertigkeitskomplex. Ich begann die  Tischnachbarin auszufragen, sie wirkte irritiert, vielleicht hatte sie unsere Nacht mitbekommen.  Ich erzählte von Heidegger und Celan hier. Sie meinte, es ginge bei der Tagung nur um Heidegger und Trakl „Auf dem Weg zur Sprache“, mehr um Linguistisches! Sagte immer nur „Ja“ oder „Nein“ oder „Ich weiß nicht“. Und fragte nur: „Sind sie auch sein Landsmann?“. „Wieso, hört man es denn?“ „Ja, den leicht singenden melodiösen Ton!“ Und ich fragte dich dann auch noch etwas irritiert: „Hört man das denn so?“ Und du: „Ja, schon das Melodiöse, den Singsang. Ich mag das sehr an dir. Und ich mag auch deine Sprachsicherheit.“
Wir blickten von unserem Tisch aus zum Fenster hinaus, endlich schönes Wetter, blauer Himmel, Sonne blitze über die Wiesen und Höhen in ein wunderschönes Tal.
 Ich wollte dir noch schnell die versprochenen Fotos aus der Kindheit zeigen, und auch die aus der Brieftasche:  Mutter, Michi, den du lang ansahst, stumm. Fast mit Widerwillen aber das Foto meines Hauses in C.
Von den Kinderfotos aber warst du entzückt, fast hättest du in die Hände geklatscht. Ich gab dir ein Bild mit meiner Schwester als Fünfjähriger und mit großen dunklen Augen. Und ein lachendes Foto als Student. Das liebst du, und auch  ein Foto aus C. mit Lederhut, wo ich lachte, hattest du gern, weil man dort meine Hände gut sieht, die Streichelhände mit den  weißen pigmentlosen Vitiligoflecken. 
Gott, wie die Zeit jetzt wieder rast, unaufhaltsam weg von uns; und wann sagtest du: Ich hab mich wieder in dich verliebt?! Am ersten Tag schon, am Bahnhof schon?
Aber ich spürte es, wie du kaum reden und kaum schlucken konntest, wahnsinnig traurig warst; ich versuchte, das nicht hochkommen zu lassen, auch dich zum Lachen zu bringen, fröhlich zu wirken.

Mit einem Geschenk, einer Art Saunabürste verließen wir am nächsten Tag das gastliche Haus „Enzian“. Für immer? Stiegen ins Auto und fuhren zur Heideggerhütte. Du hattest dich erkundigt, bis nach O. braucht man nur eine Stunde und zehn Minuten. Es war neun, halb elf mussten wir abfahren. Also anderthalb Stunden Heidegger. Auf dem großen Parkplatz stellten wir das Auto ab, gingen zu Fuß weiter auf dem beschilderten Heideggerweg. Eine herrliche Aussicht über Wolken und Berge hin bis zu den Vogesen. Der Pfad war unser Liebespfad, Hand in Hand immer, und der Abschied drängte uns zusammen, als könnten wir ineinander eintauchen, immer wieder blieben wir stehen, um uns zu streicheln und zu küssen.
Und dann juckte uns der Hafer als wir an einer Bank und einem Hinweisschild mit Heideggerbild und ein Bild seiner Elfriede vorbeikamen. Ich hinterließ mit deinem Lippenstift  die denkwürdige Inschrift auf dem Heideggerhinweisschild: „Du schreibst – wir leben das Sein!“
Und lachten, lachten, lachten. Mokierten uns über ihn, der da stand mit komischem Hut, auf den Wanderstab gestützt, visionär weit in die Ferne blickend! Und treu seine Gattin mit ähnlichem Blick daneben.
Und dazu sein Gedicht über das Land hier:

Wälder lagern
Bäche stürzen
Felsen dauern
Regen rinnt.

Fluren warten
Brunnen quellen
Winde wohnen
Segen sinnt.

Wir gingen zu weit auf diesem Pfad, eine Art via dell amore! Suchten überall die Hütte, in jedem Transformatorenhäuschen, jeder Heuhütte, Almenhüttchen. Ich filmte mit persiflierendem lachendem und rufendem Kommentar alles. Und wir fanden dann die umgestürzte Tafel, das Hinweisschild zur echten Heideggerhütte, der legendären. Ja, da war sie. Mein Gott, ein popeliger armseliger Schuppen, ein Jägerhüttchen  war das mit geschmacklosen grünen Farben, einem winzigen Vorplatz mit Bäumchen, naja wenigstens der Schwengelbrunnen mit fließendem Gebirgsquellwasser war urig und echt, an dem sich auch der Meister mit unnachahmlicher Pose hatte fotografieren lassen. Und hier also soll der größte Teil seines Werkes entstanden sein? Hier sollte man vor Ehrfurcht niederknien? War auch  der pathetische Celan hier vor Ehrfurcht gestorben, nein, der eben nicht, und hatte sich nur im Hüttenbuch, wo sich ja große Namen verewigt hatten, eben auch Nazis,  eingetragen, woraus dann sein Gedicht „Todtnauberg“ entstanden war. Und am Brunnen fielen mir seine Zeile ein: „Arnika, Augentrost, der/ Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf.// In der Hütte..“
Celan war 1967 hier gewesen und dieser Besuch hatte seine Spuren auch in uns hinterlassen… Es hieß ja, dass Celans Gedicht „Todtnauberg – das Gedicht einer epochalen Begegnung, das Beschwören einer Hoffnung, ein Bekenntnis, welches einen Welthorizont aufreißt …“ sei, so der Augenzeuge und Celan-Freund Gerhart Baumann: „Dieses Gedicht, eine unbedingte Forderung, ein unerhörter Anspruch … Stimme zu einem benennbaren Du… musste auf ein ´ungesäumt kommendes´ Wort pochen, auf das Geständnis eines unsühnbaren Irrtums, einer Schuld …“

 Und hätte ich jetzt mein Gedicht, den beiden Kontrahenten, dem Juden und dem ehemaligen Nazirektor gewidmet, vorlesen sollen? Ich dachte nicht daran, ich hatte es    aber mit dabei. Und eigentlich fehlte jetzt etwas hier, nämlich der Heidegger-Celan-Spaziergang im  nahen Hochmoor von Horbach.
Und ich hatte mir vorgestellt, dass unsere Liebe, unser Liebesflüstern hier wie ein Blitz alles reinigen könnte, vor allem die Sprache. War ich     größenwahnsinnig oder fühlte ich diese Reinigung so stark,  weil unsere Liebe bis in den Himmel reichte? Und ich hatte das Gedicht DIR gewidmet. Und das ging so:

1
Hol dich ein in der Hütte mit dem Dichter/ und dem Denker
der stumm Nichts wissen wollte vom Unheil

Der Dichter aber
Ein Jude war so spät
unterwegs zur Sprache geworden …

Von der ermordeten Mutter
Und forderte auf den Deutschen
in der Hütte:  Bekenne was wahr ist!

Braun das verwelkende Laub des Vergangenen
Herbst/ Herbstzeitlosen fehlende Jahre/ Jahrtausende
Nass die Sekunde

Dachten wir beide hier auch an ein Nachhausekommen? Ja, wir wussten es, zusammen sind wir zu Hause.
Und sagten es uns immer wieder, immer wieder, dass es ein Heimkommen ist!

2
Und wir ein Ja du und ich
Wir mit unserer Liebe im Reinen
Können wir sie früh am Morgen
schön waschen die Sprache
Und liebend erwecken?

Hier: kann sie mit uns auferstehn!?

Lass uns die Zeiten vermischen
Wie unsere Glut die in uns zittert
Lass uns die Worte oben mischen
Mit denen die Mörder das Töten befahlen
Lass uns sie waschen im Liebesgeflüster
Lass sie uns jung in die Lippen tauchen
In Küssen so zur Welt
Gebracht/ sie und uns
Liebste zu einer neuen Geschichte. 

Umarmten und küssten wir uns hier? Nein, wir fassten uns nicht einmal an den Händen?!  Schlechtschlecht! Die Realität war nicht so hochfliegend, ja, war sogar recht enttäuschend. Warum küssten wir uns ausgerechnet  hier nicht? War die Aura hier, der genius loci nicht danach?  Gab es etwas stark Zerreissendes hier, einen Widerspruch, der fühlbar wurde? Vielleicht das ausgesprochen Antiethische in seinem Denken,  das ihn auch daran hinderte, irgend eine Schuld einzusehen?  War es vielleicht tatsächlich so, dass es keine Verantwortung gab, weil etwas unsere Taten bestimmte, gegen das  kein Kraut gewachsen war? Oder war es die Anwesenheit Paul Celans hier? Wir schufen uns wohl etwas Luft, es gab ein Ventil, das „Lästern“: Und küssten wir uns so nicht,  weil wir wieder viel zu lästern hatten! Du filmtest mich lachend mit Heideggerpose am Brunnen. Und ich  filmte das Hüttchen plus die Nähe des Dorfes. Kaum fünf Minuten vom Dorfrand entfernt lag diese „Welteinsamkeit“ des Denkers. In fünf Minuten konnte man wohl den Bäcker erreichen. Und auch  Hotel „Enzian“ war zu sehen, wir hätten es zu Fuß in zehn Minuten erreichen können!
Eine Art Leichtigkeit erlaubten wir uns. Und erst später kamen wieder die schweren Gedanken, die dieses Zweischneidige hier, auch das Unreine, das Aufgeblasene, das Unnatürliche, das sich im „Natürlichen“ versteckte, unerträglich intensiv empfand, wohlgemerkt, bei beiden, die Anmaßung  auch bei Celan, gleichzeitig mit der Bewunderung, was da alles in diesem Hüttchen in einem Menschenhirn vorgegangen war!

Und dann mussten wir los. Ein Drang überfiel mich aber plötzlich  wieder, ausgerechnet jetzt; war es eine unbewusste starke Erregung? Vielleicht gehörte das jetzt als  die natürlichste Blasphemie der Welt  dazu. Und so praktisch wie du auch in  vitalen und organischen Dingen bist, sagtest du ganz einfach: „setzt dich doch da unter die große Tanne, ich geh weiter.“ Und so tat ich’s mit heruntergelassenen Hosen und Tempotaschentüchern von dir mit Blick auf die wichtigste Philosophenhütte Deutschlands in diesem Jahrhundert…
Du wartetest auf der Heideggerbank mit unserer Inschrift, die ja jetzt da bleibt; wir aber mussten dem Abschied entgegen fahren, stiegen ins Auto, hatten noch genau anderthalb Stunden zusammen-Sein.

                  Und Zum Reisen gehört immer  der Abschied
Sie schrieb am Dienstag, den 12.11:  Nun ja, jetzt ist es eben doch passiert. Er ist nicht mehr da, das Leben geht weiter. Lustig immer wieder: Es geht auch weiter, wenn man gar nicht will, dass es weitergeht. Ich wusste natürlich, dass es diesen Moment geben würde. Ich hoffte trotzdem, er käme nicht. Dass es irgendwann mal keine Abschiede mehr geben würde, habe ich gehofft. Idiotisch, wie man immer wieder daran festhält! Er ist in den Zug gestiegen und gefahren. Das heißt, der Zug stand und der Ich stieg ein. Ich hielt noch seine Hand, in die ich den Stein und das Seidentuch mit den Rosen gelegt hatte. Überhaupt dachte ich, es würde genügen, seine Hand zu nehmen, und dann, Abrakadabra, bleibt er für immer da. Manchmal habe ich noch so kindliche Anflüge von debiler Naivität, dass ich mich über mich selbst wundere. Zum Auto bin ich wegen dem Stein und dem Tuch noch zurückgelaufen, weil ich in der aufgewühlten, nach außen aber verhaltenen Stimmung wirklich alles vergessen habe, grad dass der Kopf noch auf den Schultern saß. Unterm Laufen stellte ich mir vor, dass Ich, auf dem Bahnsteig zurückbleibend, eigentlich jetzt denken könnte, ich würde versuchen, dem Abschied auf diese Weise zu entwischen. „Ich komm gleich wieder! Ich habe etwas im Auto vergessen!“ Als ich zurückkam, stand er aber ruhig wartend da, naja „ruhig“ ist ein Wort, nein, er war schon etwas in Sorge, ich sah es an seiner Körperhaltung und wir fielen uns ein letztes Mal in die Arme. Das letzte Mal nach drei Tagen des ersten Mals. Ich habe ihn so gespürt, seinen Körper, in den ich mich verliebt habe, sein Gesicht an meinem, seinen weichen Atem, seinen Rücken, den meine Hände nackt und heiß gespürt hatten und ich dachte mir, dass alles in ihm funktioniert, die Organe Blut pumpen, sein Hirn speisen, sein Herz, dass die Knochen ihn tragen, auch jetzt bei der letzten Umarmung auf dem Bahnsteig, und dass ich diesen Mann liebe und nicht will, dass er geht. Romans Kuss, unser Kuss, leidenschaftlicher Kuss, tiefer Kuss, brannte noch auf meinen Lippen, als er schließlich in den Zug stieg. Ich lachte, weil ich mir vorgenommen hatte zu lachen und nicht zu weinen, das kann ich auch nachher noch machen, habe ich mir gedacht. Und etwas anderes ist passiert. Romans kraftvolle Energie und Hoffnung sind in dieser klassischen Abschiedsszene auch auf mich übergesprungen, oder wir riefen diese Hoffnung gemeinsam ins Leben, keine Ahnung. Die Hoffnung – oder eher das Wissen – alles würde gut. So oder so. Aus zwei wird drei.

Die Abschiedssekunde kam wie sie immer kommt, auch wenn man sich in Sicherheit wähnt und im Glauben, die Zeit ausgetrickst zu haben. Die     Ewigkeit ist genauso endlich wie die Unendlichkeit und ich kenne die Schlusslichter der Züge, die rotglühenden Augen am Tag und in der Nacht und das Hochklappen des Mantelkragens so gut, dass mir schlecht wird. Es ist unmenschlich, sich in dem Moment zu trennen, wo es mit dem Küssen klappt. Und wenn sich die Wesen ineinander verstrickt haben. Jetzt liegen die Maschen aufgetrennt um mich herum und mit den Worten versuche ich sie aufzurollen zu einem Knäuel der Erinnerung. Na toll. Da kann ich mir dann einen Pulli draus stricken, oder Handschuhe, Fäustlinge, Fingerlinge. Mir kommt’s so vor als hätte ich nichts, woran ich mich festhalten könnte, außer diesem Kopf da und dem traue ich auch nicht. Schon gar nicht, seitdem ich in Romans Augen gesehen habe. Das Herz, ein bisschen weiter links, ist sowieso keine große Hilfe. Es braucht ständig Zuspruch vom irritierten Oben, sonst ersäuft es mir. Ich muss an die südamerikanischen Scharlatane denken, die so tun, als würden sie einem die Organe bei lebendigem Leib herausnehmen und statt des Krebsgeschwürs eine tropfende Schweineleber zu Demonstrationszwecken hochhalten. Ich stelle es mir unheimlich befriedigend vor, einen Kiesel dort hineinzulegen, wo einmal das Herz gewesen ist. Eine Hand, die drüberstreicht bis Haut sich unversehrt über Wunden schließt. Und dann frage ich mich auch, weshalb ich eigentlich noch Lippen und Augen habe, wenn ich Ich nicht mehr küssen und sehen kann. Zum Sprechen und Lesen, Hella. Ach so?

Als der Zug sich in Bewegung setzte, rief Ich noch: „Ich bin froh, dass der Abschied SO ist und Du lachst!“ und ich meinte mit fester Stimme „Es war viel zu schön mit Dir, als dass ich jetzt unglücklich sein könnte!“ Und das stimmt. Verrückt! Es war eigentlich alles viel zu schön, um traurig zu sein. Ist es nicht wunderbar, dass wir uns haben?! Ich lief noch ein wenig neben dem Zug her und winkte zur Freude der Bahnreisenden mit meiner schwarzen Kappe, bis die Schlusslichter hinter der Biegung am Horizont verschwunden waren. Ich winkte mit seiner Mütze zurück, bis er sich als Pünktchen aufgelöst hatte. Ich wollte sie nicht haben, seine Mütze, weil sie ihm so gut gestanden hat. Und jetzt habe ich gar nichts von ihm. Nichts. Nicht mal ein Haar. Nichts. Doch, auf meinem schwarzen Mantel haben sich weiße Haare im Kaschmir verfangen. Soll ich die jetzt rausfischen und in einen Schrein legen, Räucherstäbchen anzünden und mich bekreuzigen? Meine Hände fallen dauernd ins Leere. Ich habe nichts zum Anfassen von ihm. Ich kann ihn nicht mehr streicheln und weiß nicht, wie das Leben jetzt einfach so weitergehen soll, einfach so, nach dieser Körpernähe, die sich mit der Herznähe verbunden hat. Wie kann man nur so leichtsinnig sein und den Zug abfahren lassen? Noch daneben herzulaufen und lachend zu winken, kommt mir jetzt wie ein Verbrechen vor.

Als ich unter den Gleisen hindurch in Richtung Auto ging, war Vakuum in meinem Hirn. Man stakst wie unter einer Glasglocke auf Wattebauschen, die Geräusche vermischen sich zu einem Flirren, alles wird mechanisch. Und dann dachte es in mir: „Die Gegenwart ist soeben auf den Schienen davon und an der Herzseite zieht’s.“ Der Satz: „Die Gegenwart ist soeben auf den Schienen davon.“ brachte mich zum Lachen, als mein Blick auf den leeren Platz vor dem Haupteingang fiel, wo ich ihn vor drei Tagen mit klopfendem Herzen und flatternder Freude abgeholt hatte. Ich kann eigentlich nicht sagen, dass ich traurig gewesen bin, als ich ins Auto stieg. Die Sonne schien wie im Frühling und ich war eben wieder allein. Ich bin wieder allein. Nein. Ich bin ohne ihn. Kaum zu glauben. Er ist nicht mehr da. Er war da. Vor zwei Tagen, vor einem Tag und gestern. Heute ist er wieder gefahren. Eine Odyssee bis zum Flughafen und zurück nach Italien zu seiner Frau, seinem Haus, seinem Hund, seiner Katze, seinem Boot, seinem Garten, seiner Natur, seinen Freunden, seinem Schreibtisch, seinen Büchern, seinem Leben, seinem Wein. Die Reihenfolge ist variabel und erweiterbar. Aber sie ist auf jeden Fall ohne mich. Ich bin hier, visiblement. Huhu, zwick’ mich doch mal. Jaja, die Wahrheit? Aber zum Jammern habe ich auch keine Lust. Diese lamentierenden Jeremiaden. Was soll’s? La vie est maintenant. Aber es gibt uns nur EIN MAL. Und DAS, dieses so glasklare Bewusstsein, dass es ihn und mich, 68 und 31 nur JETZT noch so gibt und die Zeit nicht stehen bleibt und auf uns wartet, dass Züge abfahren und nicht umkehren, wühlt mich plötzlich auf, macht mich unruhig, würde mich nicht unruhig machen, hätte ich nicht die Tiefe unseres Rundwesens gespürt. Das Schicksal hat uns angesehen, oder das Leben, wie man es auch nennen mag. Und darin lag Sinn. Ein tiefer Sinn. Es gab plötzlich einen SINN, ein „So muss es sein.“. Wir waren sinnvoll. Nun gut. Wenn es wirklich so ist, dann wird es auch so werden. Und jetzt? Die Zeiten vermischen und überschneiden sich.




       



                                                    KATALONIEN





31.12.99
Zum Werk gehört auch die
- Psychiatrie, Erfahrungen mit Klosterneuburg, Arezzo. Die Sendungen, Hörspiel. Tagebuch.
Adalgisa Conti.
- Die Reisen. Mexiko vor allem.

Und was bedeutet diese hier jetzt in Katalonien?
Barcelona: Picassos Vs, der Mann-Voyeur! seine Kopien, seine Umwandlungen ins Eigne. Und so meine Werke auch gestalten, wie er die Las Meninas. Degas und die Huren! Illustrationen mener Poesia erotica.
Der unmögliche Gala-freund, sein „Schloß“ in Figueres.
Dann aber Walter Benjamin in Portbou und der Kontrast zu diesem Dollarmaler mit seinem Cadillac. Ein Scharlatan. Dali.

Dann aber VIC, die Totenkirche mit em Michelangelonachahmungen des katalanischen Muralisten, dann Juan Rulfo mit dem Totenroman Pedro Páramo, Transsylvanisches als Vater-Totengespräch.

Vater fragte mich, wieso ich denn überhaupt zu dieser Geschichte gekommen sei, und ich sagte zu ihm, Ja, Tata, bevor ich ganz naiv werde, was ich am liebsten möchte, als wäre ich wieder ein Knd in unserer Stadt,  sag ichs so, weil ich jetzt so bin:
Nachdem ich in den letzten Tagen des vergangegenen Jahrtausends das Picasso-Museum in der via ... Barcelona mit den zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez  und den umgewamndelten erotischen Huren-Zeichnungen von Degas zu  picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich whnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mir mit den Worten: Hier, sieh, das ist genau dein Thema,  in die Hand gedrückt hatte, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in dr Düsternis plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film über das, was umsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu entschlopssen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, mit Hilfe des Mexikaners wiederauferstehen zu lassen.
     Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm? (Viellleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem Arbeitszimmer Toten­stimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus dem Zimmer flüchten, wel sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
     Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als GedächtnisStütze  verwenden wollte.         

     Denn auch mußte es immer wieder tun, immer wieder, wie unter Zwang, als hätte ich dort wirklich etwas Unersetzliches, Kostbares verloren, das nirgends anders zu bekommen war als in Siebenbürgen. Ich fuhr also nach Hause,  S. (sprich ES) heißt der Ort, und hier sollte mein Vater immer noch leben. Niemand würde es mir glauben, nicht mal meine Mutter, mein Bruder oder meine Schwester schon gar nicht – wenn, ja, wenn es die vielen Erinnerungen nicht gäbe, von denen unsere alte Stadt Schäßburg, die so leer wirkt, dicht besiedelt ist; also dann kannst du es mir ruhig glauben, würde ich ihnen sagen: er lebt immer noch hier, wie Großvater oder die Ami hier leben, und natürlich alle die andern, dazu mußt du gar nicht auf den Bergfriedhof gehen, die findrest du doch in dir selbst, samt ihrer vertrauten Stimme! Doch nein, alle tun so, als gäbe es sie nirgends mehr, vielleicht noch auf Fotos!
     Auch Mutter, die ihnen eigentlich am nächsten stehen müßte, verschließt sich ganz, lebt ganz hier, die Fotowand mit den vielen Familienbildern, den Gesichtern und vertrauten Köpfen, alle tun so, als gäbe es sie dort an der Wand noch wirklich, scheinen ihr zu genügen; nur manchmal wird die Erinnerung übermächtig, dann ist auch Mama nicht mehr da, und dann erst ist sie wieder die alte, als hätte sie sich bisher auch ganz vergessen.
So gab es eines Tages eine ernste Stunde, die wir  fürchten, sie mußte in die Klinik, und alle dachten wir, das Schlimmste könnte eintreten. Da hatte Mama mich ganz überraschend gebeten, meinen Vater aufzusuchen. Und ich drückte ihre Hände, versprachs, und sie schien schon etwas verwirrt, denn sie sagte, er heißt Victor. und wird sich sicher freuen, dich „so“ kennenzulernen! Was heißt so, und wieso Victor, Vater hieß doch Erwin K. und er kennt mich doch, dachte ich, nahm aber Rücksicht auf Mamas Zustand, sagte nichts mehr versprachs nur immer wieder. Sie murmelte  noch: Meine alte Liebe! Und laß es ihn teuer zu stehen kommen, mein Sohn, daß er es getan hat!
 Ja, ich will fahren, Mutter! Und fragte nicht mehr.

Es war seltsam;  ich glaubte nicht daran, und doch begann es in mir u arbeiten, und s etwas wie Hoffnung entstand, die meine Träume nährte, die immer häufiger Kindheitsträume waren. Und zugleich einen bösen Zwiespalt in sich trugen zwischen diesem Victor und meinem Vater; und schließlich kam eine makabre Neugierde dazu, und auch Angst, was für ein Geheimnis wohl dahintersteckte, in jeder Familie gibt es ja so grauenhafte Heimlichkeiten, ja, sogar verschwiegene Verbrechen. Und diese Unsicherheit kam dazu: Wer war dann eigentlich mein Vater, was würde geschehen, wenn es nicht jener meiner Erinnerungen war? (Padre incero est?) Und die geliebte Stadt, wohin ich mich vielleicht noch zu allerletzt zurückziehen konnte, wenn im Leben alles schief gehen würde, und eine Menge war schon schief gelaufen, zurückziehen könnte, wenn dieser letzte Ort auf dieser Welt,  dann endgültig verschwinden würde?
Immer noch bin ich da, und das war am Friedhof mit dem Grab der Dichterin in Romanyá de la Selva, das ich durch Gitter hindurch filmte, und der kalte Wind sauste und wird dann auch zu Hause im Fernsehen zu hören       sein, und es stimmte genau, was ich sie jetzt hier oben flüstern hörte: Das Geheimnis dieser Last, die ich in mir trage und die mich nicht atmen läßt. Auch die Welt war nicht da und war mehr da denn je! Und wie bei ihr ist es egal, wo ich jetzt anfange, zu meinem Leben kann ich nichts mehr hinzufügen, nichts mehr wegnehmen, es ist unausweichlich abgeschlossen ...

Wichtig sind noch Reisen. Heute war das Tossa de Mar, erinnerte auch Vik nördlich von Barcelona,  als wärs eine Fahrt nach Rostock und Warnemünde und dann Stralsund, wo Onkel A. im Krieg gewesen war, den der Spieß doch damals so busereirt hatte; genau in Stralsund vor Jahren mit Thorsten erinnerte ich es, denn in Vik gibt’s ähnliche Häuser „modernista“-Häuser, und die Totenkirche in Vik, ach, hieß der andere, den ich in Mamas Auftrag zu Hause suchen sollte, nicht auch Vik, der, den ich suchen sollte, ja, Vater, es ist eine Totenerinnerung, ich bin gestorben und weiß es nicht, suche aber weiter, du hockst in der Erinnerung, wachst manchmal auf und fühlst mich? Hörst du mich? Lassen wir die andern, die da durcheinanderreden!
     Hab ich mich verirrt? Komm doch jetzt nach Hause? Erstaunlich, alles steht noch da; und muß kaum suchen, Vater steht ja da im Stadthaus, im Speisezimmer, an den schwarzen Kachelofen gelehnt, denn es doch gar nicht mehr gibt, das Hochwasser der Kokel hatte es weggerissen! und sagt, Du bist schon da, bist schon zu uns gekommen? Es geht ein wenig durcheinander bei uns, das macht aber nichts, es ist ja wie ein Traum: so lebt man eben als Toter (Senkwos. Sendung dazu). Und wenn ich das Papier rascheln höre, sind es alte Schulhefte ...

Durcheinander Schlaf/Todesebene/ Transsylvanien/
VT-MSK.


Es ist eine Ewigkeit vergangen. Und wir sind auch schon längst zurück aus unserem Urlaub  in Katalonien, und der Feste, und mehr oder weniger Feste mit den Familien in Deutschland, wo es vor allem um Lindes alten Vater und meine alte Mutter ging, und die Brüder und Schwestern , die sonst antreten müssen, mal zu entlasten.
Wir haben  mit der Meerfahrt noch Glück gehabt, die 17Stunden von Genua nach Barcelona waren ruhig, in der Außenkabine haben wir wunderbar geschlafen,  ein paar Tage später kam ja der Orkan mit Windstärke 11 und 12, das riesige Schiff ist dabei fast untergegangen und mußte nach Marsaille ausweichen.
Bei den Freunden in Mont-ras, an der Costa Brava hatten wir intensive Gespräche, es ist mein erster Lektor in Deutschland 1970 bei Fischer, und sogar arbeiten konnte ich da, hab an meinem neuen Geichtband geschrieben und den fertigen verabschieded mit pr-Texten. Zu Walter Benjamin, den wir in Port Bou „besucht“ haben, es ist ja da nur ein leeres Grab, aber ein sehr schönes Denkmal von einem israelischen Künstler, hab ich dann noch mein schon fertiges Gedicht überholt und umgeschrieben, der Eindruck war sehr sehr stark mit den schwarzen Felsen, und vor allem dem Kunstwerk, ein Schacht, der steil mit Treppen hinab zum Abgrund des Meeres führt, wobei eine Glasplatte die Gestalt des Besuchers spiegelt, er geht quasi sich selbst zu. Dieser so schmerzhaften Aufforderung, sich in die Zeiten und die Schuld zu versenken, steht in dieser Landschaft das Amoralische und die Scharlatenerie des faschisierenden Dalí entgegen, der übrall die Gegend besetzt hält, vor allem in Cadaquaes, in Figueres mit seinem unsäglichen Museums-Theater, im Zentrm ein amerikanisches Großauto mit Kitschmusik und D, als Schaufensterpuppe, Mister Dollar, wie er auch genannt wurde.
Wir haben von all dem auch Filme gedreht, leider scheint der Apparat beschädigt zu sein, gestern haben wir versucht ihn Freunden hier zu zeigen, und die Bilder sind mit weißen Streifen überlagert! Vielleicht eine Dali-Magie, daß man seine Schande, so nah an Benjamin, nicht sehen soll!
       Nun ja,

Das Leben ist zu kurz, um es in Deutschland (oder wie ich in Italien) zu verbringen. Doch wohin? Nach Transsylvanien? "Nach Hause"? Ich höre, du fähst wieder dahin. Ich reise vorerst vor allem "im Geiste".  Und ich sehe, Du bist auch damit zugange. Vielleicht erleben wir nach dem Tode unser blaues Wunder. Ich schwör auf die "Transkommunikation" mit der ich mich beschäftigt habe.


Nachdem ich in den letzten Tagen des vergangenen Jahrtausends das Picasso-Museum in Barcelona mit den zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez  und den umgewandelten erotischen Huren-Zeichnungen von Degas zu  picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich wohnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mit den Worten: Hier, sieh, das ist genau dein Thema,  in die Hand gedrückt hatten, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in der Düsternis plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film über das, was unsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, wiederauferstehen zu lassen.
    Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm? (Vielleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem Arbeitszimmer Toten­stimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus dem Zimmer flüchten, weil sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
    Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als Gedächtnisstütze  verwenden wollte.  


Es ist eine Ewigkeit vergangen. Und wir sind auch schon längst zurück aus unserem Urlaub in Katalonien, und der Feste, und mehr oder weniger Feste mit den Familien in Deutschland, wo es vor allem um Lindes alten Vater und meine alte Mutter ging, und die Brüder und Schwestern , die sonst antreten müssen, mal zu entlasten.
Wir haben mit der Meerfahrt noch Glück gehabt, die 17Stunden von Genua nach Barcelona waren ruhig, in der Außenkabine haben wir wunderbar geschlafen, ein paar Tage später kam ja der Orkan mit Windstärke 11 und 12, das riesige Schiff ist dabei fast untergegangen und mußte nach Marsaille ausweichen.
Bei den Freunden in Mont-ras, an der Costa Brava hatten wir intensive Gespräche, es ist mein erster Lektor in Deutschland 1970 bei Fischer, und sogar arbeiten konnte ich da, hab an meinem neuen Geichtband geschrieben und den fertigen verabschieded mit pr-Texten. Zu Walter Benjamin, den wir in Port Bou „besucht“ haben, es ist ja da nur ein leeres Grab, aber ein sehr schönes Denkmal von einem israelischen Künstler, hab ich dann noch mein schon fertiges Gedicht überholt und umgeschrieben, der Eindruck war sehr sehr stark mit den schwarzen Felsen, und vor allem dem Kunstwerk, ein Schacht, der steil mit Treppen hinab zum Abgrund des Meeres führt, wobei eine Glasplatte die Gestalt des Besuchers spiegelt, er geht quasi sich selbst zu. Dieser so schmerzhaften Aufforderung, sich in die Zeiten und die Schuld zu versenken, steht in dieser Landschaft das Amoralische und die Scharlatenerie des faschisierenden Dalí entgegen, der übrall die Gegend besetzt hält, vor allem in Cadaquaes, in Figueres mit seinem unsäglichen Museums-Theater, im Zentrm ein amerikanisches Großauto mit Kitschmusik und D, als Schaufensterpuppe, Mister Dollar, wie er auch genannt wurde.
Wir haben von all dem auch Filme gedreht, leider scheint der Apparat beschädigt zu sein, gestern haben wir versucht ihn Freunden hier zu zeigen, und die Bilder sind mit weißen Streifen überlagert! Vielleicht eine Dali-Magie, daß man seine Schande, so nah an Benjamin, nicht sehen soll!
Nun ja,

Das Leben ist zu kurz, um es in Deutschland (oder wie ich in Italien) zu verbringen. Doch wohin? Nach Transsylvanien? "Nach Hause"? Ich höre, du fähst wieder dahin. Ich reise vorerst vor allem "im Geiste". Und ich sehe, Du bist auch damit zugange. Vielleicht erleben wir nach dem Tode unser blaues Wunder. Ich schwör auf die "Transkommunikation" mit der ich mich beschäftigt habe.


Nachdem ich in den letzten Tagen des vergangenen Jahrtausends das Picasso-Museum in Barcelona mit den zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez und den umgewandelten erotischen Huren-Zeichnungen von Degas zu picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich wohnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mit den Worten: Hier, sieh, das ist genau dein Thema, in die Hand gedrückt hatten, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in der Düsternis plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film über das, was unsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, wiederauferstehen zu lassen.
Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm? (Vielleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem Arbeitszimmer Toten­stimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus dem Zimmer flüchten, weil sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als Gedächtnisstütze verwenden wollte.





                     UMBRIEN. ROM. SIZILIEN, GRIECHENLAND



UMBRIEN/ ASSISI
In der Eremitei Dei Carceri und auf dem Berg Alverna da merkte ich, daß es tatsächlich einen genius loci gibt, der unvergänglich zu sein scheint. Eichen und ein härenes Gewand. Tagebuch, 1977

Sei gelobt, mein Herr
Durch unsere Schwester, die leibliche Frau Tod.
Selig die, welche sie findet einverstanden
Mit deinem heiligsten Willen.
Ihnen kann der zweite Tod nicht schaden.
        Aus dem „Sonnengesang“ des Franziskus




                                                               ROM



Bevor sie am nächsten Morgen nach Rom gefahren waren, gab es diese spürbare Stille auf dem Berg im alten Bauernhaus von Aliano, dieser Moment Stille... nur ein Auto hatte gehupt, die Wildschweinhunde vom Kanal am Brunnen hatten plötzlich ein höllisches Geheul und Gebell angestimmt.

     Sie waren also an jenem Tag gegen sieben Uhr früh nach Viareggio zur kleinen Bahnstation gefahren, warteten drei Stunden auf dem Bahnsteig, anonyme Anrufer hatten Bombenattentate angekündigt.

     "Reisen, das ist doch wunderschön", sagte Cris: "anstatt ein paar Seiten lesen, reisen. Jetzt. Wir werden die Sixtina sehen, nicht? Von der Schöpfung zur Erschöpfung der Welt."
      "Immer weiter, den Rücken dem Unendlichen zugekehrt", sagte Templin.


     Über den Köpfen am Bahnhof eine Uhr, die Bahnhofsuhr, über dem Kopf das Bahnhofsschild VIAREGGIO, doch fast unerreichbar dieser Ort, wo wir uns doch immer befinden: das tiefe Dunkel des Augenblicks, aus ihm tickt träge die nächste Sekunde.


    Auf dem Gleis Züge, Warten. Im Fenster Blicke, Augenweiße. Und es war tatsächlich so, als sei der Bahnsteig vor allem mit Gepäck, Koffern, Schachteln, Tragtaschen, vor allem mit Augen überfüllt, die wegsehen, sich nie begegnen, die aus dem Zufall herausbrennen, zu Liebesblicken schmelzen können, wenn sie sich treffen, heiß, "gekocht", cotto, sagen die Italiener zum Zustand des Verliebtseins: Zeit, zusammengedrängt draußen, im Fenster nur das Vorübergehen, Ausschnitte der Ewigkeit, dachte Templin, die wir hier im Gedränge vergessen, mit Hüten, Mänteln verdecken, die den nackten Körper, in dem wir noch vibrieren und uns nach einem andern nackten Körper sehnen, verstecken.


     Endlich der Zug. Die Vier stiegen ein, suchten einen Platz. Ein junger bärtiger Schaffner kam, verlangte die Karten. Er hatte müde Augen. Gegenüber im Abteil saß ein älterer Italiener, Beamtentyp, er las "Il Tempo", das Gesicht von der Zeitung verdeckt, seine Nachbarin, eine dickliche Blonde, las einen Giallo. Templin hätte aus Protest am liebsten Stalin gelesen! Oder Bakunin. Aber er hatte nur das "Tibetanische Totenbuch" bei sich. Und dieses Buch, in dem wir uns eben  befinden, natürlich auch.


     Im Zug Streit mit L., weil Templin wieder schlechter Laune  war, mürrisch in die Welt sah. Der "Wirklichkeit" sei jetzt Genüge getan! sagte er.


     Der Zug fuhr endlich los. Bei Grosseto fuhr er am Meer entlang; es glänzte nah, Templin wollte es sehen. Er war unwillkürlich aufgestanden.


     Cris sagte, es sei doch komisch, wie die Zeit zwar mit dem Zug abgekürzt werde, und doch so langsam vergehe. Und komisch sei auch, wie man da merke, wie Zeit und Raum, der schneller überwunden werde, zusammenhängen.


         "Und es läßt es sich auch auf unsere Körper und die Lebenszeit übertragen", sagte Templin: "Unter dem Einfluß der vergehenden Zeit ist dein Körper nicht mehr der, der er vor einem halben Jahr gewesen war."


         "Es sind ganz neue Zellen, die ihn in diesem Augenblick möglich machen," sagte Cris: "Das Erscheinungsbild aber ist da, nach einem bestimmten Wissen in einem Muster gespeichert, das zu deinem Körperbild gehört, und dieses dann herstellt. Dieses Muster weiß dich, weiß den Körper, hat ihn in sich und kann ihn als Erscheinungsbild immer wieder neu herstellen.. Und in diesem ´Wissen´ ist nicht nur das gespeichert, was gewesen war, sondern auch das, was sein wird. Und was angeblich gewesen war, gibt es immer noch in jenem Wissen, das gleichzeitig alle Muster im Sinn behalten kann."
     "Das ist schwierig, kaum zu verstehen", sagte L..


     "Ja", mischte sich die schweigsame Rut ein, "das Rätsel, das letzte Rätsel ist darin enthalten, wir werden nah an dieses Rätsel herangeführt, und das Blatt scheint sehr dünn geworden zu sein. Unser Freund Luca, der Musiker, hat es erlebt, und ich erinnere mich noch, als wir vor einem Jahr gemeinsam in Carcassone gewesen waren, es gab dort ein Künstlerfestival, und ich hatte eine Ausstellung, er aber bereitete ein Konzert mit eigenen Kompositionen vor, da ist ihm in Carcassone alles bekannt und vertraut vorgekommen, obwohl er noch nie in Carcassone gewesen war. So wußte er zum Beispiel, als wir in die Altstadt kamen, ganz genau Bescheid, als wir in einer kleinen Gasse um die Ecke bogen, kannte er die Gassen, was für Häuser da stehen, und als er Durst bekam und wir in eine alte Herberge der Altstadt gingen, um ein Glas Wein zu trinken, begann sein Herz vor Aufregung heftig zu klopfen, und zu uns, es waren noch zwei Schauspieler mit dabei, sagte er erregt: Paßt auf, jetzt geht es gleich drei Stufen abwärts, und dann seht ihr dort im Hintergrund rechts eine wunderschöne Holztreppe. Lieber Gott, sagte er aufgeregt, mir ist jetzt, als wäre ich nach vielen Jahren endlich heimgekehrt. Nie zuvor war Luca in Carcassone gewesen, und doch hatte er ein Gedächtnis von Carcassone. Wir trafen dann tatsächlich auf die schöne Holztreppe, er erkannte die Verzierungen an den rauchgeschwärzten Deckenbalken wieder, und den Geruch, ja, den Geruch nach Bier und Asche und Abort. Das war vorerst alles. Doch dann, ein paar Monate später fuhren wir nach Rom, da war Cris mit dabei. Erinnerst du dich Cris?" "Natürlich, das war doch als Luca diesen gräßlichen Unfall hatte." "Ja, wir waren ausgelassen, Luca hatte mit seinem Konzert auch in Florenz großen Erfolg gehabt. Wir hatten die ganze Nacht gefeiert, und waren dann, Gottseidank jeder mit seinem Wagen, da wir früher zurückkommen wollten, nach Rom gefahren, wir fuhren zu schnell, Luca fuhr wie ein Besessener. In einer Kurve kam sein Wagen ins Schleudern, prallte gegen ein entgegenkommendes Fahrzeug, wir konnten gerade noch rechtzeitig bremsen, Luca aber wurde vom Sitz geschleudert und verlor das Bewußtsein. Die Erste Hilfe war sofort da. Aber als er in der Klinik erwachte, schrie er vor Schmerz, er hatte viele Knochenbrüche und eine Gehirnerschütterung. Schock und dann der Spätschaden. Dieses Tasten der Augen, des Bewußtseins, in der Gegenwart anzukommen, was mißlingt, muß scheußlich gewesen sein; man muß sich das vorstellen: Immer wieder legt sich ein weißer Nebelschleier über das Bild. Die schöne feste und beruhigende Alltagshalluzination ist durchbrochen, ein Spalt reißt auf, da fällst du durch. Die Nachricht, daß seine Freundin Anita, die mit im Wagen gesessen hatte, tot war, berührte Luca kaum noch. Ich weiß, ich weiß, murmelte er, ich bin ihr drüben begegnet. Drüben? wurde er gefragt. Ja. Das waren auch die vorläufig letzten Worte, die er sprach, mehrere Monate lag er im Koma. Und ich habe mich oft gefragt, was träumt oder denkt solch ein Patient, der monatelang mit zerschmetterten Knochen in einem Klinikbett im Koma liegt und künstlich ernährt wird. Seither jedenfalls hat er einen Persönlichkeitswandel durchgemacht, Spießer könnten auch sagen, der spinnt. Ich vergaß zu sagen, daß Luca, der sich oft in Frankreich, meist in Paris aufhielt, bei solchen Aufenthalten im Marais-Viertel, Nähe Notre-Dame, einen unerklärlichen Druck, einen dumpfen Schmerz verspürte, als sei er nun einsam und verlassen in diesem Viertel, im Schatten der alten Häuser, als habe er hier einen lieben Freund verloren, als trauere er, als könne er etwas Unfaßbares nicht fassen, den Tod eines Freundes vielleicht. Doch gelang es ihm nie, sich zu erinnern, um welchen Freund es sich da eigentlich handelte. Sein erster Weg aber, als er wieder, wenn auch mit Krücken, gehen konnte, führte nach Paris, dort ließ er sich von einer Taxe in ein altes Hotel im Quartier Marais fahren. Und er ging dann gezielt in den Innenhof eines dieser alten Häuser; wir waren ja wieder mit dabei, Cris und ich, er hatte uns gebeten mitzukommen, und ich kann es bezeugen, Cris auch, daß Luca wieder gezielt, als käme er nach Hause, auf ein Fenster zuging, mit der Handfläche den dicken Staub von der marmornen Fensterbank wischte und auf ein mit einem Messer eingeritztes kleines Kreuz starrte. Wir sahen das kleine Kreuz ebenfalls. Seht ihr´s, das Kreuz, seht, es ist da, sie hat also ihr Versprechen gehalten. Nichts, nichts ist vergangen!

     Wir gingen ins erstbeste Lokal, Luca schien verwirrt, es war Mittag, wir aßen, bestellten keinen Wein, aßen nur eine Kleinigkeit, Luca aber war zu erregt, er bestellte eine ganze Flasche Rotwein und trank sie aus. Er versuchte zu erzählen, er wollte sich befreien, zuerst ging alles durcheinander, dann hatte er Momente der Leere und fand den Faden nicht wieder. Man könne nicht allzulange dort sein, sagte er, der Druck wachse nämlich, die Differenz zwischen beiden menschlichen Fähigkeiten, hier und dort zu sein, gleichzeitig, also zu träumen und zu wachen, solch ein Zustand sei kaum möglich. Luca machte den Eindruck, als habe er Angst, wahnsinnig zu werden, da die Motive, hier weiterzumachen so eklatant abnähmen, sagte er, nach dieser langen Bewußtlosigkeit, sagte er, da diese sogenannte Wirklichkeit unseren Wahrnehmungen nun zu eng werde. Es sei eine Reise, und die beginne in jenem Zustand, der vielleicht dem Sterben nahekomme, und da mußte ich, als Cris vorhin von jenem weißen Licht sprach, das zu sehen, zu spüren sei, an Luca denken, denn der hatte damals erzählt, er habe schon bei seinem Unfall, als er seinen Körper verlassen mußte, den alten abgelegten sichtbaren Körper wie aus der Vogelperspektive unten auf dem Feld sehen können, und später als Endphase des Ganzen, nach einem Tunnel, den er habe durchfliegen müssen, ein blendend weißes Licht gesehen, unvorstellbar hell, alles durchdringend, das auf ihn zugekommen sei. Naja. Dieses Licht blende die Augen nicht, sondern sei so etwas wie ein unbekanntes großes und intelligentes Wesen. Und gleichzeitig habe er das Bersten und Krachen des Zusammenstoßes wie an hundert Wänden widerhallen gehört. Doch alle Schmerzen seien wie weggewischt gewesen. Man fühle sich frei. Und er habe sich am Unfallort befunden wie ein Zuschauer, habe den blutenden Körper, der da unten lag, wie einen völlig fremden Gegenstand liegen gesehen, und sei eher neugierig gewesen, gleichgültig; wie ein alter abgetragener Rock, den man liegenlassen kann, sei dieser alte Körper gewesen, und er, Luca, sei darüber geschwebt. Und er habe einen neuen Körper aus einem ganz anderen leichteren und angenehmeren Material gehabt, und da sei eine enorme Weitsicht gewesen, Sehen und Hören seien viel intensiver als je gewesen, die Farben fast schmerzend, und die Szene ganz nah: Blaulicht, Ärzte, Herumstehende, Gaffer, und gleichzeitig neben ihm sonst Unsichtbare, transparente Wesen, Schwebende, Bekannte in Weiß. Sogar seinen Vater habe er erkennen können; du bist da federleicht, durchdringst Mauern und Personen, bist aber eine Feder, die weggeblasen werden kann, sagte Luca: Eine kleine Wolke bist du. Willst den Leuten da unten etwas sagen, doch keiner hört dich. Aber das Licht holt dich heim, es läutet, es klingt alles wie schöne Musik. Man müßte die Musik aufschreiben, und da weiterkomponieren, erwog Luca, mehr und mehr schien er absent zu sein, uns völlig zu vergessen. Wie Wärme und Glück sei alles gewesen. Keine Spur von Angst. Oh, wunderbar, sollte es stimmen! Und hörte wie durch einen Vorhang eine weinende Stimme, vielleicht war es die tote Anita. Luca wollte zu ihr, sie umarmen, doch das schien unmöglich, es gab eine unsichtbare Schranke, die nicht zu überwinden war, er konnte nicht hinüber, und sie konnte nicht mehr zurück, sie entfernte sich immer mehr, und entschwand bald wie ein weißer Punkt, sie war nun von hier für immer fortgegangen - und trat in eine Gegend über, die nie vergeht. Doch dann begann es..."
     "Was begann?" fragten alle.


Ein Abstecher nach Frankreich.         "Nun, die Reise, der Flug, als wäre es jetzt eben gewesen", setzte nun Cris Ruts Erzählung fort, Cris, der gespannt zugehört hatte, "ein Sog", sagte er, "ein Wirbel war es gewesen ... Und so weit ich Lucas Erzählung verstanden habe, war er dann ohne jeden Übergang plötzlich in einer Herberge. Als wäre die Zeit ausgelöscht, oder nie vorhanden gewesen, befand er sich in einem ganz anderen Zustand. Er spürte die gedrückte Stimmung in einem verrauchten Wirtshausraum. Ringsum die Freunde. Soldaten, Ordensbrüder. Katharer in weißen Gewändern mit Kreuz. Und plötzlich sprang die Tür auf: einer in weißschwarzer zerrissener Kutte, blutverschmiert, wankte herein. Die Katzen, die Wurfmaschinen haben in die Mauer eine Bresche geschlagen, schrie er: Sie kommen sie kommen, Simon de Montfort ... Die Gesänge verstummten. Ja, ich war jener Mönch, sagte Luca mit einem verwunderten Blick, ich lag blutend am Boden, schleppte mich zur Kellertür; nicht Gott hat die sichtbare Welt erschaffen, nicht Gott hat sie erschaffen, sondern sein Widersacher hat uns hier eingesperrt. Te deum laudamus. Die Seele aber ist unsichtbar, sie lebt. Und ich werde hochgehoben. Die Kraft. Te deum laudamus. Da dringen sie ein, die Mörder des Innozenz, sie dringt ein, die Kirche des Teufels. Und strömt jetzt, so spät in mich, die Tür, die Tür, dachte er, nur ab, abheben vom Boden. Waffen und Rüstungen, Eisen auf Eisen, Schläge, Röcheln, kurzer Kampf. Ich rolle die finstere Kellertreppe hinab, stürze, falle, kaum Schmerzen mehr. Frösteln, naßkalte Steine. Weingeruch. Und kenne den Ausgang, den Geheimgang, hinaus aus Carcassone. Und muß von jenseits des Flusses ohnmächtig mit ansehen, betend, leise singend, den Hymnus, wie Roger und die Freunde brennen, lebende Fackeln, lange, lange. Der Geist ist Gott. Nur Aschenflocken noch, nehmt jetzt die Sterne. Kein Wort. Erde versagt. So über Nacht auf Sternen, letzte Sicht, wo Körper sich entfernen."
    "Und Paris, was ist mit Paris und dem Kreuz?" fragte Templin.


     "Ja, nun die andere Revolution", sagte Cris: "Tote, immer die Toten, der Himmel ist voller Opfer, Tote, Tote, sagt ihr, ich glaube es nicht, ich habe es zumindest im Traum erlebt: es gibt die Toten nicht, die Gräber sind leer. Ihr vergötzt alles Sichtbare, ihr vergötzt diesen Körper, die Uhr, die mechanische und die Körperuhr vergötzt ihr. Für mich aber ist sie wirklich, diese Unbekannte, die schöne Frau mit dem langen schwarzen Haar."


      "Madame Roland?" "Jaja, lacht nicht, es ist Madame Roland", sagte Cris. "Und wir standen vor kurzem, es war ein Jetzt nach 200 Jahren im Innenhof ihres Hotels. Tanja war auch dabei. Paris ja, Paris war ihre Sehnsucht. Und sie sagte: Unsere erste Parisfahrt!


    "Luca war mit dabei gewesen, Luca hatte nachher die Memoiren der Madame Roland gelesen; und ich habe sie auch gelesen, jetzt erst," sagte Rut, "ich hatte nämlich von ihr sehr lebhaft geträumt. Und wir alle hatten von ihr geträumt. Vielleicht hatte uns nur die Lektüre so beeindruckt. Doch ich glaube es nicht! Jetzt erst lerne ich diese Zusammenhänge ein wenig besser begreifen: 1792, 1793, sie war der gute Geist der Girondisten, Manon Roland. Nun, ich gebe zu, Luca hatte unsere seltsamen Träume mit Hilfe der Memoiren erzählbar gemacht. Doch dort in jener kleinen Brasserie im Marais-Viertel wirkte alles wie eine plötzlich aufgebrochene spontane Erinnerung. Lesen, ein Buch, genau wie dieses auch, wo wir eben sind, kann stark beindrucken und lebenlassen wie ein Traum!! Ich sah die letzte Umarmung Manons wirklich, es muß ein sehr schmerzlicher Abschied gewesen sein: Manon, die Feste, Selbstbeherrschte hatte Tränen in den Augen Alles vorbei? Aus? Die Revolution, das Ende. Nichts mehr. Die Not. Die Armut. Die Sansculotten. Die Intervention. Der Druck. Nur oben, ganz oben diese Falschheit: Tugend als Ziel, Robespierres grande terreur. Manon und Jean- Marie. Sie kommt, läuft auf ihn zu, ihr entschlossenes Gesicht ist vorn, als wäre sie ein Mann, denkt er, Jean-Marie, Jakobiner-Gegner, auch er ist hart, Innenminister, die Hand zitterte ihm bei jedem Todesurteil, das er unterschreiben mußte, und sie, Manon, sie machte ihm Mut, auch jetzt macht sie ihm Mut, ihr großes Gesicht kommt auf ihn zu, er steht im Hof, er wartet, ihr Wort, ihre Altstimme im Ohr, und ein Sommerwind in den Platanen, Vögel, Wolkengesichter in Blau, Paris. Jean-Marie hat schon das Pferd gesattelt, sie stehen neben dem schnaubenden Pferd. Jean-Marie bittet sie mitzukommen. Sie aber drängt, geh, geh. Flieh nach Rouen. Wenn sie mich verhaften, ritze ich hier ein Kreuz in den Stein, hier auf die Fensterbank, sagt sie entschlossen wie immer: - dann wirst du mich nie mehr wiedersehen. Geh jetzt, geh. - Er kehrt sich ihr noch einmal zu, küßt sie, geht zum Pferd, reitet davon. Winkt. Blickt zurück, dann ist er um die Ecke der Straße verschwunden. Sie bleibt. Paris 1793. Juni. Am 8. November steht sie vor der Guillotine. Ihr Mut. Ihre klangvolle Stimme. Sie bittet den Henker, ihr das lange Haar zu lassen, es nicht abzuschneiden. Schreckliche Qualen erwarten Sie, sagt der Henker, wenn das Messer behindert wird. Dann schnitt also die Schere zuerst. Und dann kam der Wagen angefahren, hielt. nein, es war weder Danton, noch Camille dabei gewesen, aber das Blutgerüst wartete. Es war nur der arme Lamarche dabei gewesen, der vor Todesfurcht zitterte, krampfhafte Schauer. Sie aber, sie hatte nur ein verächtliches Lächeln gehabt, fast Ekel. Und stützte den Haltlosen. Nur Mut. Dieses ist nicht das erste, nicht das letzte Leben. Und das Ende ist kurz, das Sterben schnell, bricht den Blick zwischen zwei Augenblicken, die Iris wird schwarz, die Lidspalte vergeht.

     Den armen Lamarche aber mußte der Scharfrichtergehilfe stützen. Und sie sagte: Gehen Sie zuerst, mein Armer. Dabei hätte sie das Vorrecht gehabt, den Tod nicht auch noch sehen zu müssen, den dumpfen Fall des Messers, hochaufspritzend das Blut. Sie sah es nun, furchtlos. Und gefaßt, weil sie wußte. Was wußte sie? Das Kreuz war längst geritzt, in die Fensterbank geschrieben, das Todeszeichen, und dies Todeszeichen wartete zweihundert Jahre auf jenen späten Blick Lucas; niemand kannte das Geheimnis, und auch in den Memoiren gab es keinen Anhaltspunkt dafür, also wollte Manon dies Geheimnis des Wiedererkennens bis heute wahren. Heute? Wann war das? Und wer war Luca gewesen - vielleicht gar Jean-Marie...? - Manon sah den Kopf des armen Feiglings Lamarche fallen, sie sah auch die kolossale Freiheitsstatue auf dem Place de la Révolution, es war ein andauerndes Vergessen da auf dem Platz, und ein Volksfest dröhnte, Volksfest, und davor der abgehauene Kopf, der in die Kiste rollte. Lautes Auflachen: O Freiheit, wie hat man dir mitgespielt hat! Sie stieß die Henkersknechte zurück, wie ein Mann, diese Kraft! stieß die Knechte zurück und verneigte sich vor der Freiheit. Nur kurz. Dann ließ sie sich aufs geneigte Brett schnallen." "Das Beil, halb verrostet", sagte Cris, "das gibt es noch, wir haben es in der Concièrgerie gesehen; auch Luca hat es gesehen. Man kann daran fassen, es ist wirklich noch da, man kann es berühren, und die Erinnerung ist unwirklich wie ein erinnerter Blutgeruch. - Am Abend des 9. November 1793 erreichte die Nachricht von der Hinrichtung Manons ihren Mann Jean-Marie in Rouen. Kaum jemand hörte den Schuß. Die Kugel drang durch die Schläfe und trat wieder aus, prallte an die Wand der Herberge und fiel dann müde zu Boden. Von einem in die Fensterbank eingeritzten Kreuz wußte nun niemand mehr. Luca war der erste, der es sah und seine Bedeutung begriff. War dies ein Beweis?"


ROM




Wir fanden ein erstaunlich billiges Hotel an der Piazza Vittorio Veneto, aßen nach all dem Kraut und den Knödeln in Schwaben wieder einmal italienisch und tranken viel Rotwein.
Beim Aufwachen im matrimoniale, dem ersten Bewusstseinsschimmer: Wo bin ich? Blick aus dem Fenster auf die von rötlichen hohen alten Häusern umgebene Piazza, Kulisse zu einer Oper. Die Uhr auf dem Rathaus drehte den Eindruck nicht schneller. Der Rückblick am besten vom Cottolengo aus, der größten Irrenanstalt Italiens.
Heute aber empfinde ich Ekel sogar am Colosseum





Nehmen wir ROM, BLICKE vom toten Brinkmann. (Muss versuchen, mit ihm Tonbandkontakt zu bekommen!). Prall ist sein Buch: Fotos, krude Realität, Fotzeneingänge, Briefe an seine Frau Marleen. Tagebuch. Wie er lebte. Komm mir daneben dünn, schon tot vor. Der hat Nervenblicke ringsum, raue Materie. Las und stärkte sich an H.H. Jahn: „Träume, diese Blutergüsse der Seele.“ Brinkmann in der Unterwelt. Wo ist das?

Bei unserem Besuch der frühchristlichen Katakomben in Rom, es war vor etwa drei Jahren, sagte L., ich höre sie deutlich: Die hatten es besser. Da kam ihr Rätsel in Menschengestalt zu ihnen, sehr fremd und doch vertraut, erinnert daran, dass Heimat etwas ist, wo noch niemand war, Menschensohn, ein Besuch aus jener Ferne durch seinen Tod, seine Hinrichtung (vertikal auf horizontal) noch einmal betont, was so unerträglich ist, nicht aussagbar, auch wenn etwas geschehen ist, an das wir nicht glauben könnten. Dieses Fremde, das ich besser kenne als alles andere in mir, hat bei jenen Katakombenmenschen noch eine Erwartungsstelle, beinahe körperlich durch diesen Mann berührt. Bei uns schmerzt sie weiter und sucht nach allen möglichen Heilmitteln. Und als wir in der Galerie der Vatikanischen Bibliothek mit Hunderten von Inschriften waren, suchten wir nach Marcion, der damals diese Gedanken aufgeschrieben und von der merkwürdigen Ankunft dieses „Ganzanderen“ gesprochen hatte, seine „Antithese“ und seine Wut gegen das „Gesetz“ der Welt und deren Herren., In der Katakomben-Galerie gabs auch das Relief eines Mädchens, das diesen Herren verflucht, weil er sie mit zwanzig sterben ließ, und keiner sagte mehr: Stehe auf!, wie es eigentlich natürlich gewesen wäre. Weißt du noch, sagte ich zu L., in Toledo mussten wir daran denken, wie gefährlich es auch heute wäre, wenn der wirkliche Herr nun einfach das „Gesetzt des Herren“ aufheben würde. Ein Russe, wer denn sonst, hat das gedacht. Ich glaube daran, dass es diese unsichtbare innere Ordnung gibt. Man kann es doch ablesen an ganz einfachen „Zufällen“. Weshalb aber glauben alle an diese grauenhafte Ersatzordnung, die dann auch noch Fortschritt genannt wird.

PARIS ROM im März 1981. Ein Kontrast.
Ich erinnere mich an unsere Rom-Fahrt im März 1981 damals zu Luce d’Eramo. L. sollte eine Übersetzung besprechen, dort trafen wir auch die Huren-Spezialistin Pike Biermann in hohen Stiefeln, die in ihrer Aufmachung seltsam zur blassen Luce im Rollstuhl kontrastierte. Von einer herab fallenden Hauswand in Frankfurt am Main während eines Bombardements 1945 wurde Luce gelähmt, war in Dachau als Gefangene, schrieb darüber ein Buch: Der Umweg.
In ihrer Wohnung tauften wir mit Veuve Cliquot meinen eben erschienenen Gedichtband nachts um eins. Gestern schrieb ich:
Was mir aber bleibt, ist der vergangene und der kommende Krieg
die Auferstehung im verkehrten Schacht
wenn die Erde birst / wie eine faule Frucht
und die, seit ich sie kenne: immer nur vergehende Sekunde endlich rafft
die andere Seite aber der Ewigkeit dieses fünfte Rad im Kommen
das kleine Einmaleins zieht dann mit uns um
die Tage die unserem Licht hier bleiben / sind schon gezählt
doch keiner zählt mit / und hofft auf ein Wunder
jener große Schatten über uns
ein Strudel / der dröhnt
trichterförmig wirbeln darin
unsre restlichen Tage / Glasuhrpilz und verkehrt
Sand.

Damals bei Luce hatte ich zur „Taufe“ gelesen: Die Rettung sag / ist sie nicht schön / Die Flucht nach vorn / und vorwärts unvergessen / Parolen sind ein Zaun vor dem Tod / Dies unverdiente Glück ließ aus Ideen grüßen.

Heute ist ein Brief von Paul Goma angekommen. Und vor einigen Tagen kam auch sein Manuskript „Die Hunde von Pitesti“ an
Lieber Dieter, wahrscheinlich hast du erfahren, dass mich Ceausescu wegen meiner „Aktivitäten“ schon einige Male versucht hat zu liquidieren – im buchstäblichen Sinn. Der letzte Versuch – durch Gift, trägt das Datum des vergangenen Sommers… Dieser gehetzte Aspekt meines Lebens ist Fleisch und Geist meines Buches, das in den nächstenTagen bei Hachette erscheinen wird.“
Dieses Buch ist bis heute in Agliano nicht angekommen, dafür aber die schreckliche Foltergeschichte aus dem ehemaligen Zuhause, die Paul erlebt hat, im schönen Ort Pitesti. Ich kenn ihn, ich habe rührende Erinnerungen an den Ausflugsort Trivale, Spaziergänge mit Maria und ihrem Bruder. Dort nahm ich Puius Kinder Huckepack, sonntags. Vom Gefängnisfenster sieht man Trivale. (Maria und ich schrieben dort Gedichte.)
Wie die Bulgaren mit Curare in Regenschirmen ihre Ausgereisten und Ausgerissenen durch geschulte Sicherheitsleute mit leichten Stichen ins Bein in der Menge (o Pardon!) umlegten, so haben es auch die Seculeute mit Paul versucht, doch war die Giftspritze sehr sinnbewusst ein - Füllhalter, mit dem bei einem offiziellen Empfang ein Oberst in Zivil dem Ungewünschten ein Spezialpräparat ins Partyglas tropfen sollte. Der Oberst aber war dem Verbrecher an der Staatsspitze nicht gewachsen, er fürchtete für sein Seelenheil und entdeckte dich dem französischen Geheimdienst CGT. Der inszenierte nun (der Innenminister und der Präsident der Republik Mitterand waren informiert) selbst die Vergiftungsszene. Paul wusste davon, der Oberst spritzte das Gift, ein französischer Agent aber, der den Verehrer Pauls mimte, ein Autogramm wollte, stieß den eben vorbereiteten Giftbecher um (O Pardon!). Diese misslichen Tücken der Objekte! Der Oberst fuhr heim und nahm seinen Orden in Empfang und den dankbaren Handschlag des Anstifters auf dem roten Thron im ehemaligen Königspalast.
Nach dem Essen lagen wir in der Sonne in Liegestühlen. Und ich schäme mich: Inzwischen ist der Zustand des Anfangs von mir abgefallen, ich habe mich angepasst, vergessen. Paul hatte das Glück, dass sie ihn daran hinderten.


      In Rom wohnten wir oft auch  in der Villa Massimo, Spottpreis: zwanzigtausend Lire die Nacht, und auf dem bläulichen Schein das bärtige Gesicht Michelangelos, es kam direkt von der Banca D`Italia. Im Hof hörten sie zuerst nur den Kies, da wurde L. von Hunden der Frau Wolfen überfallen, sie zerrissen, zerbissen ihr fletschend den Jackenärmel, und wollten ans Fleisch; als wäre nur jener Satz des Hundes wahr, brutal, zerfetzt er etwas, immer wieder der Sprung, Cave canem stand auf einer antiken Kachel, darauf gemalt der bellende Hund. Wolfshunde, Sklavenjagden, Lagerjagden im Moor. Und dazu flimmerte die Luft draußen schon, obwohl es dem Kalender nach erst eine Woche nach Pfingsten war; die ersten Zikaden am Rande des Gehörs zwischen den Silben und Stimmen. Roman dachte, sie sind unermüdlich, eine Einsame geigt da ganz nahe, als beobachte sie uns; Zirpen im großen Park der ersten Zikade, schwächer die Antwort der zweiten. "Die müssen nichts zu sich nehmen, wie die Hunde, die Menschen, sie zirpen bis sie sterben. Erinnerst du dich an die schöne Legende", sagte Roman zu L., zu Rut, Rut, die sich nun mit einem Schulterblick umwandte: "Die Zikaden", sagte Roman, "hören uns zu, berichten dann im Himmel. Sie sollen ja einmal Menschen gewesen sein, die sich in der Poesie vergaßen, sagt die alte Legende, sie lagen verzückt im Vers und starben vor Hunger, den sie gar nicht bemerkten."

     Cris lachte über diese "altmodische Poesie" und wollte den Freunden unbedingt das andere Rom, nämlich das Physikalische Institut mit "dem Goldfischteich" zeigen, hier sei der Zerfall erprobt worden, schon vor 1933; 1932 da gab es die Entdeckung des Neutrons. "Und dann erst das Wunderjahr 1934! damals hatte der junge Enrico Fermi, weil ihm die Zeitschrift Nature eine Arbeit über Betastrahlen, den Betazerfall von Atomkernen, abgelehnt hatte", sagte Cris, "da hatte Fermi einfach so aus Spaß und per Zufall die erste Kettenreaktion der Welt ausgelöst, er hatte aus Langeweile ein Element nach dem anderen mit Neutronen bombardiert, bei Fluor tickte der Geigerzähler; nur eine Minute lang dauerte die Strahlung, so daß Fermi und sein Kollege D`Agostino in ihren langen ölverschmierten Mänteln wie Sprinter zu den am andern Ende des Korridors gelegenen Messinstrumenten rennen mußten."

      Und da die Sache mit den Zikaden nicht näher untersucht werden konnte, waren die Freunde dann am Colosseum vorbei, zu jenem denkwürdigen Ort gepilgert, der so redselige Cris führte die Freunde zur Via Panisperma, wo Fermi jene erste Kettenreaktion künstlich ausgelöst hatte: "Ha", lachte der Lange und sah Rut und dann auch L. an: "Panisperma." Erstaunlich sei auch die Jahreszahl 1933/34. Gott würfele nicht. Rut war amüsiert. Sie mag diesen jungenhaften Cris, der Unsinn treibt, darin spürt sie seine Freiheit. Cris zeigte auf das Straßenschild PANISPERMA: "Pulverisierung, Explosion. In der Sixtina das Jüngste Gericht"; Templin sagte: "Die Sixtina müßt ihr unbedingt sehen."

      "An einem Montag also waren wir in Rom angekommen", notierte Roman später in sein Tagebuch: "Wir hatten den Abend gemeinsam im Biotheater verbracht. Dann waren wir in einem Lokal gewesen: redend, redend, redend. Am nächsten Tag mit dem Bus zum Bahnhof, von dort mit der Linie 106 zum Vatikan. Wir waren kurz vorher ausgestiegen, am Tiber entlang gegangen, den Blick in gelbem Brackwasser, Grasflecken schwammen oben, Platanenzweige, die nach unten hingen, stachlige Früchte an dünnen steifen Zweigen. Wir spannten den Schirm auf, Nieseln und etwas Gemütlichkeit, weil die Lichter angingen, späte Platanenblätter, ein raschelndes nasses Gehen, halb vegetal und gedämpft. - Vom Corso dann auf den Ponte Vittorio Emanuele, geflügelte Wesen auf dem Geländer, die mühsam ihre Kreuze schleppten, den Rücken uns zugewandt, als stürzten sie sich in den Tiber, schräg links aber das Ospedale Santo Spirito, und rechts die Piazza. Mole Adriana, Castel Sant` Angelo ... Museum ABENDLAND, JETZT. Die ENGELSBURG, o wie alt: Hadrians Mausoleum, ach, nein, das Mausoleum des Abendlandes, da liegst du begraben, du Schöne, Europa. Und dazu Sirenengeheul des Unfallwagens oder der Polizei, Blaulicht, Sirene. Rom: Castel Sant` Angelo, das Todeskastell: Pest mit dem Papst Gregor, hör ihn, den monotonen Gesang in Katakomben, und Beten, der Engel aber oben auf der Zinne steckt verlogen sein Schwert in die Scheide. Frauen kommen und gehen und schwätzen so/ Daher von Michelangelo, mit Stöpseln im Ohr, akustische Führung. Wie reimen wir weiter, Sonette in Kasematten, unten Verliese. Hier in den Verliesen hatte Bruno vor der Verbrennung, man stelle sich vor: Zelle um Zelle im Feuer, - in der Folter gelegen, und oben über ihm der Prunk der Päpste. Es ist noch Zeit, ja, für Zeugung, Mord, Zeit für Werk und Hand. Säle Clemens` VII., und dann die östliche Hälfte der Terrasse, Ölhof mit der Zisterne Alexanders, des Borgia, Öl - und Getreidespeicher sind zu besichtigen und die Hinrichtungsstelle. Hier wurde enthauptet, gehängt, erwürgt, ersäuft, erdrosselt, verbrannt, lebendig begraben, sagte Rut, die auch den Horror fotografiert, fast fröhlich sagte sie es, denn sie weiß vom Tode viel, und arbeitete gerade an der Fotomontage eines riesigen zerfressenen Totengesichtes. Ich aber meinte schon einmal hier gewesen zu sein und redete sehr schnell, als müßte ich darüber hinwegkommen, als täte es weh und dachte an Nicco, als wäre er dabei: Häretiker, Philosophen, Dichter, und Giordano Bruno wurden gefoltert, ließen sich nicht brechen.Und überlegte, warum wohl die Herrn Bischöfe und Päpste solche Angst vor den freien Energien des Geistes hatten. Wehe es wäre wahr, was wahr ist: und es wird wirklich, was tatsächlich wirklich ist: das Jüngste Gericht, gemalt schon an der Altarwand der Sixtina.

     Ich blieb zurück, wollte allein sein, sah die Alpträume in den Schlafzimmern an die Wand gemalt, festgehalten: Libellen mit Frauengesichtern kamen aus der alten Mauer, aus ihrem Gedächtnis: dort eine Frau mit einer Brust in der Leistengegend, und ich legte verstohlen die Hand auf einen Buckligen mit einem pompösen Phallus, meinte, meine Hand da nicht mehr herausziehen zu können, mit der Wand zu verschmelzen, durch sie mit dem Finger durchzustoßen wie durch Butter. In Sälen, Kammern, Treppen, Gängen des alten Mausoleums gab es ein perfektes Labyrinth, und unsichtbar gab es da ein Ungeheuer, brüllend, verirrt, wohl der Stier der schönen Europa. Und ein Faun überreicht auf ausgestreckter Hand der Unersättlichen seinen großen Penis, den er sich, heftig tropfend, amputiert hatte; Entsetzen hier im Grab verdunkelt, zugeschütetet die Augen, Lächeln auf den Lippen. Träumender Geist, aufgelöst das Grauen? Wie die vegetalen beinlosen Mädchen aufgereiht und aus Blumen sprießend. Rückerinnert, der Schock; doch der hat sich gemildert, es wird zum Traum, was Tod war, die Grenze wird überschritten, die Höhle, um aufzusteigen.

     Da stieß mich L. an und sagte lachend ironisch: du träumst ja! Ich sah mich um, als wäre ich ganz unbefangen und zufällig hier: Weiß ja, es ist die Engelsburg, wo wir uns eben gerade befinden, das hatte ich keinen Augenblick vergessen können; steigst auch jetzt so hinan zur Loggia Paul III, von A. Sangallo d.J., und durchschreitest eine Galerie rechts, die zur Loggia Julius II führt. Aus dem Girlanden-Kabinett über eine Treppe wieder ins Gefängnis, zum Luxusgefangenen Cagliostro, dann aber wieder zu den Eingemauerten und Lebendigbegrabenen, herzzerreißender Schrei, bevor die Erde über den Sarg fällt, dies noch eine Vergünstigung, das scharfe Urteil ließ ein Luftloch zu, zur Qual. Und andere Verliese; weiter links in den Delphin-Saal (die Marter wird Kunst: Christus unter dem Kreuz); nun zurück zur Bibliothek, von da in ein Vestibül, schmale Treppe zur Oberen Terrasse. Herrlicher Rundblick über Rom. Ich aber sah wenig, sah jenen Mann mit dem Rundkopf vor mir, Granucci, und es schien mir, als hätte ich ihn hier schon einmal gesehen."

     Am nächsten Morgen Besuch in der Sixtina. Ja, die Sixtina. L. freute sich auf die überschäumend bunten Bilder, die sie "Diademe" nannte, sie hatte sie schon oft gesehen; alte Bekannte. Sie brauchte nicht wie Templin Namen und ein ganzes kompliziertes Gespinst von Deutungen dazu. Sie entzückte einfach das Blau Marias. Oder das Grün des Zacharias. Das Feuerrot des zornigen Engels oder das vielfarbige Schimmern der Schlange. Nur die Leute störten sie, das Gefilme und Fotografieren, das Gesumme und Gestoße. Die Sixtinische Kapelle aber ist eine Sache für sich, hatte Templin entschieden. Und L. lächelte darüber, als wäre das nicht sowieso klar. Für uns in diesem Augenblick, nur für uns, hätte sie gerne gesagt, doch sie wußte, daß Templin damit die eifersüchtige Einsamkeit des Buonarroti meinte. Erst jetzt konnten die zwei Meter hohen Figuren: wie entweiht ganz nah: vom Gerüst aus nun auch von fremden Augen betrachtet werden. Den Papst Julius hatte der Buonarroti fast vom Gerüst geworfen. Von unten sah man weniger, die Propheten und Heiligen waren dort oben, zwanzig Meter hoch, nur klein wie sich Entfernende, Entschwebende wahrzunehmen.


     Die Vier staunten, sahen die "Diademe" dort oben an der Decke, redeten allerlei Quatsch dazu, fast schadenfroh notierte Templin jeden Unsinn, den sie von sich gaben, weil sie gar nichts begreifen konnten. Hier ist´s besonders deutlich sichtbar geworden, daß man nur sieht, was man weiß, dachte er. Aber gehend weiß man oft besser Bescheid: Im Kapellenraum gingen die Vier jetzt dem Altar zu; Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung - Zeitenende am Altar und dahinter das Jüngste Gericht. "Du gehst zugleich auch dem Urlicht, der Erschaffung der Welt zu", sagte Templin: "Seht, ist es nicht ein merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn: Grenze der Welt. Seht, an der Decke die Erschaffung des Lichtes, der Pflanzen, der Sterne, die Erschaffung Adams, Evas, und immer weiter hinab dem Ausgang, der Außenwelt Roms zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. Damals konnte etwa die Tragik, nicht zu Gott, zum Einen zu kommen, noch symbolisch dargestellt werden. Sogar die Trunkenheit des Schmerzes, der Teilung. Immer wieder erscheint dazu in der Malerei der Renaissance und des Manierismus Poros, der trunkene Gott der unerschöpflichen Fülle und des Reichtums, nur wenn wir unser kleines Ego und die dazugehörige Uhrzeit samt Zeitplanung aufgeben, uns öffnen, können wir daran teil-nehmen! Als müßte alles, was die Tradition zu bieten hat, aufgeboten werden, um sich jenem Einen, sich Gott, dem Licht anzunähern. Neun Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer größere Entfernung von Gott und dem Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen. Das verwirrt. Logik und Wirklichkeit werden an der Decke buchstäblich auf den Kopf gestellt, die Figuren stehn Kopf, den Himmel als Abgrund über sich. Seht nur, wenn ihr die imaginäre Architektur als eine Perspektive seht, dann die Vorfahren Christi in den Lünetten, weiter die Decke mit der Urgeschichte, dann den Gang zum Altar, mehrere Perspektiven kreuzen sich an der Decke in vier Blickpunkten. Aufgelöst wird auch jede Chronologie und Richtung in einem Riesengeflecht eines Konkordanzsystems der Bedeutungen im Kapellenraum. Um alle Allegorien und Verweise zu begreifen, müßten wir Renaissancemenschen sein..."
      "Vielleicht ist dieses Konkordanzsystem nur noch abstrakt heute  in der Mathematik möglich", warf Cris ein.
     "Es sind Gleichnisse, nach Ortega Schöpfungsgeräte, das Gott im Innern seiner Geschöpfe vergessen hat", sagte Rut.


     "Ausgangspunkt der Sixtina ist ja die hebräische Bibel", sagte Templin, "wo jeder Buchstabe zugleich Zahl ist, ein Zahlensystem also, Zahlensymbolik, ein Ideengeflecht des Lichtes, Proportion gemalt."
     "Lichtmetaphysik? Ich denke da an die Biophotonen!"


     "Ja, genau, Lichtmetaphysik. Zahl, Ton, Maß, Maße, Rhythmus: Die Wellen stellen Zeiten, Räume, Dinge, Schichtontologien her. Michelangelo war Neuplatoniker, das Licht ist Gott: die Eins, das Eine. Hier, seht, da strahlt es vom Altar her. Seht ihr dort oben an der Decke in der vierten Sequenz die Erschaffung Adams durch die Fingerberührung der Eins: Digitus paternae dexterae. Und nur wer sich auf die renaissance-theologische Allegorese, vor allem auf die Zahlensymbolik einläßt, kann eindringen und begreifen. Ohne dieses Deutungsmuster bleibt vieles unverstanden. Warum wird Adam in der vierten Sequenz erschaffen? Was bedeutet überhaupt Adam? Wir müssen es hebräisch lesen, denn die Bibel ist in dieser Urschrift geschrieben, wir müssen alles auch als Zahl verstehen, da im Hebräischen jeder Buchstabe einen Zahlenwert hat, nur so sind die schönen naiven Geschichten vom Paradies, von Adam und Eva usw. als Schöpfungsgeschichte und nicht als naive Kindergeschichte deutbar. Adam: Eins und Vier, die vier Elemente, die sich mit Gott, der Eins, oder auch dem theologisch verstandenen Nichts, wenn man will, verbinden. Michelangelo kannte  diese Deutungen der biblischen Bildert im Werk Scechina des damaligen Hoftheologen beim Papst Julius II Ägidius von Viterbo, Julius II ist der Papst, der die Sixtina in Auftrag gegeben hatte, Ägidio hatte die Kabbalah gedeeutet, jenen einzelnen hebräischen Buchstaben; die Kabbalah ist zur Deutung der Sixtina unverzichtbar. So z.B. das Wort Adam, es wird hebräisch a-d-m geschrieben. Die Vokale, außer a (1), durften nicht geschrieben, nur gedacht werden. Sie sind die Gnade Gottes in unserem Kombinationsvermögen. Die Konsonanten sind der Körper, dem dieser Geist noch eingehaucht werden muß, wie es Gott, mit Adams Körper tat. A ist Er, die Eins, Aleph, d, Daleth, ist die Vier (Elemente), m, Mem, die Vierzig, das Wasser oder die Zeit. Durch Adam bindet Gott sich an die Elemente (Körper) und an die Zeit. Das alles aber ist nicht abstrakt, Michelangelo übersetzt es in Farbklänge und Figurengeflechte, er verbindet diesen "Sinn" wieder mit dem schmerzhaft Sinnlichen des Körpers, will den Bruch heilen, der nach dem Sündenfall eingetreten war, wo Gott Adam die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis isolieren, abreißen läßt. Essen heißt hebräisch a-chol. A ist die Eins, chol heißt ´alles´, das Viele (auch Klang, der in allem gespeichert ist). Sonst ist das Essen also ein Verbinden von Einem und Vielem, Gott (A) und den Elementen. Bei Adam aber ist es eben ein Trennen, ein Abreißen. Daher der Tod ab jetzt, und jedes Herstellen mit dieser abgerissenen Frucht (der Erkenntnis) vermehrt die Unzahl, die Entropie, würde man heute sagen, also den Tod."


     Rut, die die Kapelle nach der Renovierung noch nicht gesehen hatte, schwieg. Es schien, als hörte sie Templin gar nicht zu, als wäre sie für sich mit den Ansturm der Bilder beschäftigt. Dann sagte sie hart:


     "Ich kenne eine ganz andere Sixtina, Roman. Ich gebe zu, dieses Changeant kommt deiner Licht-Deutung sehr nahe, ja ihr entgegen, du hast mir früher auch schon einiges erzählt. Doch vielleicht literaturisierst du zu sehr... und dann, ganz ohne jede Einschränkung möchte ich diese Popfarben nicht gutheißen, sie sind mir manchmal zu kindlich- knallig und wie nackt. Ist da nicht auch einiges von den Schatten abgewaschen worden, wie der Professor Beck aus den USA behauptet?"

     Templin sah Rut an, als habe sie etwas Verbotenes gesagt: "Ich habe das Glück gehabt, oben auf dem Gerüst und ganz nahe den Gestalten der Kapelle etwas von Michelangelos äußerst intensiver schmerzlicher Sinnlichkeit zu spüren", sagte er laut, fast schreiend, daß sich ein japanisches Paar, das eben filmte, entrüstet umwandte; Templin war unangenehm davon berührt, daß ausgerechnet Rut seinen Enthusiasmus zu stören wagte, ja sein Wissen nicht würdigen wollte. "Es schien mir", sagte er heftig und ein wenig gekränkt: "Es schien mir, als breche endlich einmal schmerzhaft Realität durch die Mattscheiben unserer Wahrnehmung! Unsere Sinne sind atrophiert, so daß wir nicht einmal mehr das Furchtbarste, den Glaubensverlust, den Michelangelo noch als schrecklichste Krankheit empfunden hat, wirklich als Unglück und Verlust empfinden können, sonst wüßten wir nicht nur, sondern empfänden es mit allen Sinnen, was mit Utopieverlust gemeint ist. Und diese neu entdeckten Farben sind eine enorme Provokation, als würde dich ein elektrischer Schlag treffen: 500 Jahre fallen plötzlich zusammen, jene unheimlich starken Farben berühren distanzlos dein Auge. Wir sind dafür nicht gewappnet. Unsere Lebensumstände sind so, wir registrieren nur, anstatt wahrzunehmen, es dringt nichts mehr wirklich in unsere Sinne. Ja, besonders deutlich habe ich diese Atrophie der Sinne oben auf dem Gerüst gefühlt, als die jungen frischen Farben, die enorme sinnliche Spannung des genialen Renaissancemenschen Buonarroti wie Wahrnehmungsschläge auf mich eindrangen, ich die riesige Sinnen-Distanz plötzlich spürte, und diese Farben am liebsten mit der Zunge berührt hätte! Symbole erschienen als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transzendenz, Kräfte, die auch im Leben und in der Geschichte heute wahrscheinlich noch stärker als damals akut wirken, wir sind aber unfähig, sie zu empfinden, gar, danach zu handeln, obwohl jetzt möglicherweise ein Jahrtausendebruch stattfindet. Man sieht nur, was man weiß. In der Sixtina aber sind die Bild- und Farbkräfte noch originärer Art, bewegen sich in einem langsamen und großen Farbrhythmus, sie berühren in unserem Seelenhaushalt vielleicht jene Schichten, die durch den Glaubensverlust und die Hektik lahmgelegt worden sind. Hier aber an der Decke der Sixtina wird versucht, das Quälende, Zerschlagene zusammenzufügen, zum Einen zu kommen. Jene Schichten in uns scheinen aufwachen zu können. Ich empfand eine sehr starke Erregung, jenes mysterium tremendum wohl, ein Zittern überfiel mich dort oben: Todesbilder, die ich in Zeitlupe sah, alle aber im Gesamtkomplex Kapelle in Richtung Altar, Licht, Erlösung, dahinter: das Jüngste Gericht. Und alles ist überwölbt vom Flug, Flug der kleinen Taube, dort im Fenster der Arche, über die ganze Decke bis hin zu Jonah fliegt diese weiße Taube, und Jonah heißt auf hebräisch TAUBE: Flug des befreiten ´Heiligen Geistes´, der in unserem Körper eingesperrt ist, der Astralleib, der uns einmal in den Himmel führen wird."

     "Also, wenn ich ehrlich bin", sagte Cris, "mir hat eigentlich die alte Sixtina mit den grauen diskreten Figuren besser gefallen in ihrem Schleier, als wäre da das Geheimnis besser gewahrt gewesen, als in diesem nackten Farbenrausch. Der Sinn ist nicht das Sehen, freilich der FLUG. Ist er nun nicht zu nackt?"

     L., die Schweigsame, tat etwas, was sie sonst nie tat, sie sagte Cris ins Gesicht: "Du verstehst gar nichts davon, Herr Physiker." Legte eine Pause ein, und meinte dann besänftigend: "Ich kann den ersten Eindruck nicht vergessen, vor allem als wir einmal dabei waren, wie ein Fenster geöffnet, also eine Probe aus der verschmutzten Decke herausgewaschen wurde, wir standen da, die Decke schwarz wie die Decke eines alten Bahnhofs, und da brach plötzlich wie durch ein geöffnetes Fenster der Frühling ein."
     "Und ist wirklich nichts abgewaschen worden?" fragte die Fotografin mit der ihr eigenen Skepsis in der Stimme...

     "Doch, schon", gab Templin rasch zu. "Aber es gab ja wenige Ritocchi, Nachbesserungen mit Tempera, Michelangelo hat alles ganz allein, die riesigen Flächen allein ausführen müssen, da hatte er keine Zeit für Schattierungen. Allerdings beim Gesicht der Schlange war ich selbst entsetzt, früher war's ein recht verruchtes Gesicht gewesen, und nun wirkt es wie das rosige Gesicht einer braven Hausfrau. Vor allem aber ist diese Patina, also die Zeitarbeit von fünfhundert Jahren abgewaschen worden, das geben die Restaurateure selbst zu."

     Der Streit dauerte nicht lang. Rut, die Templin ganz nah fühlte, sah auf ihn, war erregt; L. aber war mit Cris vorausgegangen, auch sie hatte ihre Erfahrungen mit der Sixtina und erzählte dem Physiker davon, wies nach oben, erklärte ihm die vielen Figuren. Sie war jedesmal mit auf dem Gerüst gewesen, die sinnvollste Zeit ihres gemeinsamen Lebens mit Templin. Gewesen? Und sie erzählte Cris, lachte und sagte: "Damit ist es nun leider vorbei, endgültig. Aber der starke, unvergessliche Eindruck bleibt, eine AURA, die dein Leben von nun an bestimmt, und auch einiges Wissen bleibt. Weißt du, worauf Eva so erschrocken sieht, warum sie sich nach der Vertreibung an Adams Brust duckt? Nicht etwa auf den drohenden Feuerengel der Vertreibung sieht sie, sondern auf Adams Schulter, wo der übermütige junge Buonarroti einen Riesenphallus eingeritzt hat; ihr Schrecken ist dieser Knüppel." Und am liebsten hätte sie gesagt, und das saugende Loch, der Abgrund dieses Lebens und aller kommenden, davor müßtet ihr Männer auch Angst haben. Schwieg aber. Erzählte vom verrückten Bruno, dem kleinen Heiligen, dem Restaurator mit dem brennenden Blick eines Mönchs, der am findigsten gewesen war.


     Plötzlich lachte ich laut und bitter auf, es war wie ein scheppernder Klang auf Blech, zeigte auf eine Lünette nahe am Altar, auf Ruth und den verbiesterten Alten am Krückstock, Booz, ihren Pseudomann, sie, die Witwe eines Jüngeren und deshalb Freien. Templin, der sich als Alter fühlte, täglich die Jahre in sich wie eine Krankheit wachsen spürte, die unheilbar in ihn eingebrannt waren, sagte bissig zu Rut, die stumm neben ihm herging, den Hals schmerzhaft hochgereckt in Richtung der Lünette: "Nicht jede ist so sanft wie jene geschlagene junge Frau Ruth, zärtliche Linien im kommenden Licht da oben. Und die Ruth, sieh, wie sanft sie dort oben ist, trat anscheinend sinnlos aus dem Leben und aus der Erscheinung zurück in die Majestät des Absurden mit diesem alten Ehemann, denn nur so kam sie zum alten Booz. Weißt du, was ich dazu geschrieben habe, in der dreibändigen Sixtina-Dokumentation, die ich dir geschenkt habe, du kannst es zu Hause nachlesen? Der Alte (das Alter) nimmt sie, rettet sie nach dem Tod des Jungen. So stellt sich ihr hoffnungsloses Leben wieder her..." Templin erschrak, hatte er zuviel gesagt, es ist fast anzüglich, dachte er, was ich da sage! Und er sah jetzt erst wieder diese zurückgehaltene Trauer in Ruts feinem Gesicht, dessen Blick sich in die Figuren verlor; die Fotografin begriff jetzt erst, was sie längst gesehen und in sich aufgenommen hatte, seit Jahren. Langsam, wie unbeabsichtigt entfernte sie sich von Templin, ging genau zwischen ihm und Cris, der ihr den Rücken zuwandte, so daß nur sie ihn sehen konnte, er war nun weit entfernt, abwesend für sie, sie in einem leeren Zwischenraum, den nur manchmal einer der Besucher überquerte.

Vergangene Zeit wie ein Gespinst, Sehgespenst: Trauer der Bilder im Kopf. Überall das Brennende, alttestamentarische FRAUEN, Michelangelos grausame und krude Sinne, Schmerzen, zu heftige Sinne, die die Blässe der Gedanken durchbrachen. Oben auf dem Gerüst das flammende Gelbrot der Joatham-Lünette, Gewänder der Mutter Joathams: Durchbruch durch die Zeit, Schwindel, der Sog, Wirbel aus Rot: überlebensgroß die FRAU, Stromstoß von Gefühlen, mußte sich am Gerüst krampfhaft festhalten, Angst, vom Gerüst in die Tiefe zu fallen, diese Flamme einer unbekannten Leidenschaft, als Farbe berührt, als Geruch, Fallen der Farben ins Herz, Rotmusik, gelber Pinselschlenker - das Rotbraun der Schulter in heftiger Bewegung: Faltenwurf, Kreuz und zuckender Blitz. Großer Rhythmus - feuerrot, ein viel zu starker Blick, ein Sog, ein Strudel, Rot, er glüht, als wäre er verliebt... fällt der Grund einer ganzen Himmelswelt in seine Netzhaut? Alltagsblick, Bilderknecht; am besten die Nacht: DU BRICHST DAS MATTE DENKEN AB... DU HEILST DIE SCHWACHE FLEISCHLICHE GESTALT ...

Der einzige Freiraum der Raum der früheren Massaker: Colosseum, Forum Romanum. In einer Kneipe dahinter bei Frascati Gespräche mit L. über meine erste Ankunft in Deutschland. Die Abfahrten aber nehmen nicht ab. Leben: Zwischen Abfahrt und Ankunft? Überall in den Olenaderbüschen die Liebespaare. Abends aber der Philoktet von Sophokles, Glauco Mauro in der Hauptrolle im Teatro Argentina Leute in Alltagskleidung im Prachtheater.  Denke an Heiners Stück. Schreibe noch nachts in den Thermen des Caracalla bei Vollmond:
Der Bogen ist die Wunde des Philoktet
 (Tagebuch, 5.Mai 1975)
An einem Montag also waren wir in Rom angekommen, no­tierte ich später im Tagebuch:  Wir hatten den Abend gemein­sam im  Biotheater verbracht. Dann waren wir in ei­nem Lokal  gewesen: redend, redend, redend. Am nächsten Tag mit dem Bus zum Bahnhof, von dort mit der Linie 106 zum Vatikan. Wir waren kurz vorher aus­gestiegen, am Tiber ent­lang gegangen, den Blick in gelbem Brackwas­ser, die hohe Mauereinfassung gesehen, Gras­flecken schwammen oben, Platanenzweige, die  nach unten hin­gen, stachlige Früchte an dünnen steifen Zweigen. Wir spannten den Schirm auf, Nieseln und etwas Ge­mütlichkeit, weil die Lichter angingen, späte Platanen­blätter, ein ra­schelndes nasses Gehen, halb vegetal und ge­dämpft. -  Vom Corso dann auf den Ponte Vit­torio Emanuele, geflügelte Wesen auf dem Ge­länder, die mühsam ihre Kreuze schleppten, den Rücken uns zugewandt, als stürzten sie sich in den Tiber, schräg links aber das Ospedale Santo Spirito, und rechts die Piazza. Rut, da stehst du davor: Mole Adriana, Castel Sant‘ Angelo ... Museum ABENDLAND, JETZT.  Die EN­GELSBURG, o wie alt: Hadrians Mausoleum, ach, nein, das Mauso­leum des Abendlandes, da liegst du begraben, du Schöne, Europa. Und dazu Sirenengeheul des Unfallwagens oder der Polizei, Blaulicht, Sirene. Rom: Castel Sant‘ Angelo, das Todeska­stell: Pest mit dem Papst Gre­gor, hör ihn, den monotonen Ge­sang in Katakomben, und Beten, der En­gel aber  oben auf der Zinne steckte verlogen sein Schwert in die Schei­de. Frauen kommen und gehen und schwät­zen so/ Daher von Miche­l­angelo, mit Stöpseln im Ohr, akustische Führung. Wie rei­men wir wei­ter, Sonette in Kasematten, unten Verliese:  Als ich mit Sie dann am Campo di Fiore stand, an Brunos Todes­platz, be­gann ich zu zittern, hier in den Verliesen hatte Bruno vor der  Verbrennung, man stelle sich vor: Zelle um Zelle im Feuer, - in der Folter gelegen, und oben über ihm der Prunk der Päpste. Es ist noch Zeit, ja, für Zeugung, Mord, Zeit für Werk und Hand. Säle Clemens‘ VII., und dann die östliche Hälfte der Terrasse, Ölhof mit der Zister­ne Alexanders, des Borgia, Öl - und Ge­treidespeicher sind zu besichtigen und die Hinrich­tungs­stelle. Hier wurde  enthauptet, gehängt, er­würgt, ersäuft, erdrosselt, ver­brannt, lebendig be­gra­ben, sagte Rut, die auch den  Horror fotografiert, fast fröhlich sagte sie es, denn sie weiß vom Tode viel, und arbeitete gerade an der Foto­montage eines riesigen zer­fressenen Toten­gesichtes. Ich aber meinte schon einmal hier gewesen zu sein und redete  sehr schnell, als müßte ich darüber hinwegkommen, als täte es weh und dachte doch an Nicco, als wäre er dabei: Häreti­ker, Philosophen, Dichter, und Giordano Bruno wurden gefoltert, ließen sich nicht bre­chen.Und überlegte, warum wohl die Herrn Bischöfe und Päpste solche Angst vor den freien Energien des Geistes hatten.  Wehe es wäre wahr, was wahr ist: und es wird wirklich, was tat­sächlich wirklich ist: das Jüngste Gericht, gemalt schon an der Altarwand der Sixtina.In Sälen, Kammern, Treppen, Gän­gen des alten Mausoleums ein perfektes Labyrinth, und unsichtbar ein Ungeheuer, brüllend, verirrt, wohl der Stier der schönen Europa. Und ein Faun überreicht der Unersättlichen  auf ausgestreckter Hand seinen großen Penis, den er sich, heftig tropfend, amputiert hat;  Entsetzen in den Augen, Lächeln auf den Lippen, hier im Grab. Träumender Geist, aufgelöst das Grauen? Wie die vegetalen beinlosen Mädchen, aufgereiht und aus Blumen sprießend. Rückerinnert, der Chock:   aber er hat sich gemildert, es wird Traum, was Tod war, die Grenze überschreitend, die Höhle, um aufzusteigen,
Das Jenseits der Zeit jeden Textes  und Fragmentes aus der anderen Zone von Mög­lich­keiten jenseits des Todes ist fruchtbar:  Spiegel des Un-Wirklichen, das wir heute ertra­gen müssen. Und solch eine Fiction ist wirk­licher als der Schein, der  sich Leben nennt. (Mai, 1988)






X
enhaus bringen.

Kürzlich wurde die Decken-Restaurierung von Michelangelos Sixtina beendet, ihr schon manieristisch changierender Farbkosmos, als Widerschein jenes Lichts des undenkbaren "Einen", eines der gewaltigsten Kunst-Dokumente dieser vormodernen Melancholia und Transzendenz-Suche im ersten Zusammenbruch einer festgefügten Ordo-Welt aufgedeckt. Doch in den "wissen- schaftlichen" Kommentaren heute wird nur "Technik" untersucht; es fehlt jeder Hinweis auf die eigentlichen Inhalte im Zwischen des Symbolgeflechts, das Genesis und Kabbala, Antike und Mysterien zusammenführt, um auf dem Hintergrund der florentinischen Idea- Lehre Ficinos und von Picos Pansophie den zerbrochenen kosmischen Spiegel mit kompliziertesten Mitteln (auch der Zahlenmagie der Kabbala) neu zusammenzusetzen. Noch wirkten fast zwingend die Harmonievorstellungen der Renaissance, doch das Schwanken zwischen Glauben und Unglauben, dem Selbstbewußtsein, das Absolute spiegeln zu können, und der Verzweiflung und Schwermut ausgesetzt zu sein, der unsicheren Natur von Liebe und Tod und dem brutalen Wahnsinn der Geschichte, zeigt den Übergang zu einem neuen Zeitalter. Das war 1512. Anderthalb Jahrzehnte später, 1527, der Schrecken des Sacco di Roma, plündernde, mordende Sodateska Karls V. Leichenhaufen, Leichengeruch über Rom, dann die Pest, und schließlich die Flammen der Scheiterhaufen, Gott als Tod, Alltag als gnadenloser Abgrund, Gefahr und Schmerz, lösten wie in unserem Jahrhundert den Schönheitsbegriff und jeden sichern Begriff auf. Zur Sixtina gehört die erst 1541 gemalte Altarwand des grausigen "Jüngsten Gerichts," am unteren Rand Michelangelo als Heiliger Bartholomäus mit abgezogener Haut.
Sein Endzeitwissen und sein tragisches Lebensgefühl am Beginn der Neuzeit, seine Ahnung der Katastrophen, seine künstlerische Prophetie, jene "gottlose" Epoche der Abgründe zwischen Mittelalter und Neuzeit sind heute hochaktuell.
Michelangelos Sixtina ist eine paradoxe und komplizierte Sinn- und Gottsuche. Ich habe das Glück gehabt, oben auf dem Gerüst, ganz nah den Gestalten in der Kapelle, etwas davon zu spüren. Symbole als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transszendenz: In Richtung Altar - Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung - Zeitenende und hinter dem "Grenzstein der Welt", dem Altar, das Jüngste Gericht. Doch geht der Blick zugleich auch dem Urlicht, der Erschaffung der Welt zu, merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn. Von da dem Ausgang, der Außenwelt Roms zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. 9 Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer größere Entfernung vom Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen. Logik und Wirklichkeit werden an der Decke auf den Kopf gestellt. Die Figuren haben den Himmel als Abgrund über sich.
 
 
Es ist auch unser, nun noch akuter gewordenes metahistorisches Bild der Geschichte, das ganz nah herangerückt ist, aber andauernd verdrängt wird.



8.12. 85. Was geschah eben an diesem Tag? Die Deutsche Welle sagt, Rumänien habe die Meistbegünstigungsklausel verloren. Im Vatikan geht eine Bischofssitzung zu Ende. Und noch rauscht in mir die Autobahn. Von Rom kamen wir her, Bocca della Verita. Und du küßtest mich wirklich auf den Mund.. Ich hatte mich rasiert und mir die Haare gewaschen, das tue ich morgens sonst nie ...


 ... dieses Heft, lange nach dem Krieg geschrieben, "hätte gut niemandes Heft sein können: so tief unterhalb menschlicher Wege und Reisen liegt der Sinn eines Menschenlebens verborgen ..." (René Char).


In Sorrent fragte ich damals nach dem Preis des Hotels "Syrene". "Damals" wars/ hoch über dem Steilufer/ Palmengarten/ schöne Räume der "Villa Pompejana"/ zu teuer/ vor drei Tagen war sie geschlossen. Zimtgeruch und wie ein Wunder/ die alten Lampen über uns. Sägen und ein Geräusch wie aus der Kindheit in Transsylvanien (Herr Nagel und mein Kopf!) /Und der wahnsinnige Tasso kam mir entgegen. Langher.


Auch unser Leben ist langher gewesen: 1972, damals Dezember: "Orangen reif und leuchtend über dem Meer. Kein Tourist." Es war auf der Rückfahrt von Amalfi und Positano: "Bei Nacht noch schöner der Golf. Drüben liegt Neapel und der Vesuv." Lang her, gewesen


Begegnete dem Dichter Andres in Positano/ und las dazu Tassos Gerusalemme, samt irren Briefen an seine Schwester. Langher./ Und Parsifal aus dem Radio (eine Kassette im verzauberten Garten (des Klingsors. kam aus Siebenbürgen)/ War er müde und erschöpft/ kein nervum rerum?/sah Herbst und Reif/ kam die Sonne wie auf der Mole von Amalfi/ die Liebe überwinden und mit den Sinnen wie im Tod ganz hinübersein/ das Mantra am Morgen: diese Ruhe im Hotel "Magna Graecia" und  um 6 aufgestanden/ sah Eleas Unbewegtheit vor mir.


In Sorrent aber Tasso/ von Stimmen umgeben: So fühlte er die Angst vor der Inquisition: Einer war da, sagte ich zu L. auf dem Spaziergang zur Marina Piccola durch tiefe Tuffschichten: Einer war da in Tasso/ der glaubte- / der andere aber/ die Skepsis/ spaltete ihm das Hirn./ Es zeigte ihn an jener der glaubte...


Die Steilwand in Positano/ als rutschte man von ganz oben ab von der riesigen Höhe/ wie im Traum/ und dort hat Er vielleicht zu Tassos Zeit/ noch einen Blick herab geworfen/ jetzt sind wir geteilt/ bald völlig getrennt/ Wolken seh ich/ und wir gingen zu Fuß die lange Treppe hinab/ das Auto stand auf dem Hauptplatz/ wo die Geneis der Muße hier saßen und redeten/ der Wirt unseren kleinen Hund vertrieb.


Terrassen auch auf Capri/ mein Gott von 1957/ wann war das: 1943!/ "Leben am Rande der Ereignisse/ hier versteckte sich damals Anders. Auch er schon längst tot!/ Erzählte es deutschen Kriegsgefangenen: "Fatamorganen in der Wüste der Echolosigkeit"./ Das kleine Buhc "Positano" aber blieb, wie dieses Echo hier!

Welcher Krieg tobt in meinem Innern/ 40 Jahre danach/ und gestern
waren wir in Montecassino/ Ursprung aller Klöster/ und drei Tage vorher in Positano und Amalfi/ die kleine Stadt mit Klingsors verwildertem Garten/ Blicke von der in den  Felsen gehauenen Straße/ von Sorrent am Kap/ aus der "Villa Maria" neben einem Ospedale/ blau der Himmel, nein, azur wie bei Campana:/ "göttliche Küste also/ frei der Tag/ nur das Herz wund/ allen Ernstes. Und könnten die Zeit so brauchen - zurückgestellt und verflossen die Uhr!


Von Rom kamen wir her, Bocca della Verita. Und du küßtest mich wirklich auf den Mund.. Ich hatte mich rasiert und mir die Haare gewaschen, das tue ich morgens sonst nie ...
... dieses Heft, lange nach dem Krieg geschrieben, „hätte gut niemandes Heft sein können: so tief unterhalb menschlicher Wege und Reisen liegt der Sinn eines Menschenlebens verborgen ...“ (René Char).
In Sorrent fragte ich damals nach dem Preis des Hotels „Syrene“. „Damals“ wars/ hoch über dem Steilufer/ Palmengarten/ schöne Räume der „Villa Pompejana“/ zu teuer/ vor drei Tagen war sie geschlossen. Zimtgeruch und wie ein Wunder/ die alten Lampen über uns. Sägen und ein Geräusch wie aus der Kindheit in Transsylvanien (Herr Nagel und mein Kopf!) /Und der wahnsinnige Tasso kam mir entgegen. Langher.
Auch unser Leben ist langher gewesen: 1972, damals Dezember: „Orangen reif und leuchtend über dem Meer. Kein Tourist.“ Es war auf der Rückfahrt von Amalfi und Positano: „Bei Nacht noch schöner der Golf. Drüben liegt Neapel und der Vesuv.“ Lang her, gewesen
Begegnete dem Dichter Andres in Positano/ und las dazu Tassos Gerusalemme, samt irren Briefen an seine Schwester. Langher./
Und Parsifal aus dem Radio (eine Kassette im verzauberten Garten des Klingsors. der kam aus Siebenbürgen/ War er müde und erschöpft/ kein nervum rerum?/sah Herbst und Reif/ kam die Sonne wie auf der Mole von Amalfi/ die Liebe überwinden und mit den Sinnen wie im Tod ganz hinübersein/ das Mantra am Morgen: diese Ruhe im Hotel „Magna Graecia“ und  um 6 aufgestanden/ sah Eleas Unbewegtheit vor mir.
In Sorrent aber Tasso/ von Stimmen umgeben: So fühlte er die Angst vor der Inquisition: Einer war da, sagte ich zu L. auf dem Spaziergang zur Marina Piccola durch tiefe Tuffschichten: Einer war da in Tasso/ der glaubte- / der andere aber/ die Skepsis/ spaltete ihm das Hirn./ Es zeigte ihn an jener der glaubte...
Die Steilwand in Positano/ als rutschte man von ganz oben ab von der riesigen Höhe/ wie im Traum/ und dort hat Er vielleicht zu Tassos Zeit/ noch einen Blick herab geworfen/ jetzt sind wir geteilt/ bald völlig getrennt/ Wolken seh ich/ und wir gingen zu Fuß die lange Treppe hinab/ das Auto stand auf dem Hauptplatz/ wo die Genies der Muße saßen und redeten/ der Wirt unseren kleinen Hund vertrieb.Terrassen auch auf Capri/ mein Gott vor 1957/ wann war das: 1943!/ Leben am Rande der Ereignisse/ hier versteckte sich damals Anders. Auch er schon längst tot!/ Erzählte es deutschen Kriegsgefangenen: „Fatamorganen in der Wüste der Echolosigkeit“./ Das kleine Buch „Positano“ aber blieb, wie dieses Echo hier!
Welcher Krieg tobt in meinem Innern/ 50 Jahre danach/ und gestern waren wir in Montecassino/ Ursprung aller Klöster/ und drei Tage vorher in Positano und Amalfi/ die kleine Stadt mit Klingsors verwildertem Garten/ Blicke von der in den  Felsen gehauenen Straße/ von Sorrent am Kap/ aus der „Villa Maria“ neben einem Ospedale/ blau der Himmel, nein, azur wie bei Gino Campana:/ „göttliche Küste also/ frei der Tag/ nur das Herz wund/ allen Ernstes. Und könnten die Zeit so brauchen - zurückgestellt und zerflossen die Uhr!

Mai 1983


Sog der schwarzen Löcher.  Welle und Körper, wie gesagt. Und deine Logoreia, dafür kommst du in die Hölle. f a e b d c  -  Kepler hat es als „fame, miseria, fame“ ausgelegt,   Hadyn, Die „Schöpfung“! Und Ich hörte es wie Sphären­musik in der Ferne...  die ersten Geigen durch f (fame) un-vollständiger Dominant­septakkord, der sich nach C-Dur  löst, denn es ist ja noch Nichts fertig, sondern die Melodie in den Violinen geht über fis, als Leitton verkappt, leer nach g. Ist aber nur scheinbar ruhend aufgelöst.

Jeden Au­genblick kann etwas Ungewöhnliches geschehen, Und der Leitton quält. Alles immer unvollständig und drängt in der Schwebe weiter. Unfertige Auflösung, denn das Orchester verläßt die ersten Geigen, die spielen oben weiter, schwächliches Thema als Kadenz nach Es-Dur. (Fame, miseria, fame, e aber als Es. Mein Gott: ES). Diesen Akkord hatte schon Johannes Kepler in der Sphärenmusik des Alls  als Schwingungsakkord der  Erde ausgemacht.
Kepler lebte, als sein Elend begann, in Linz; er war, weil er geforscht und geschrieben hatte, einsam und heimatlos. Bis zum Tode Kaiser Rudolf II. hatte er als Hofastronom in Prag  gewirkt, mit Tycho Brahe die Epheremiden erforscht  und Sterntafeln aufgestellt.   
„Es gibt nichts, was ich lieber erforschen und wissen möchte als dieses,“ schrieb er aus Linz an einen Freund nach Straßburg: Kann ich Gott, den ich bei der Betrachtung des Weltalls geradezu mit Händen greife, auch in mir selber finden? Ich habe mich lange und schwer mit diesen Sorgen herumgeschlagen, das Jahr ... war jammervoll und auf allen Seiten verderblich. Vor allem erhielt ich vom Hof keinerlei Zahlung. Meine Frau... wurde von Melancholie ergriffen, erkrankte zu Ende 1610 am ungarischen Fieber, Krämpfen und Irresein. Kaum besserte sie sich, als im Jänner 1611 drei meiner Kinder von den Pocken befallen wurden. Inzwischen besetzte Erzherzog Leopold mit einem Heeresteil die (Prager) Kleinseite jenseits des Flusses.“
Hör, das Mißlingen dazu: 3 Mal versucht es das Orchester, die Flöten­töne gehen  klagend hoch. Ins Unmögliche, sagen wir. Wie läßt sich Unten und Oben zusammenbringen, ihr fühlt es in euch solange ihr lebt und im Körper seid, es ist noch da, dies Furchtbare, die Spaltung, das Unerlöste: Schwebendes Zögern, Holz, Celli, Fagott gehn erfolglos hoch, das Chaos wabert in der Tiefe, gurgelt, dreimali­ges ergreifendes c-moll, Warten, Schreien nach Erlösung von unten. Schmerz des Ungeformten, des sinnlosen Banalen, des Vielen da.  Ein UNISONO wie­der, Pianissimo.
Zur selben Zeit starb mein Lieblingssohn... Er glich ganz der Mutter... Man konnte ihn eine morgendliche Hyazinthe in den ersten Frühlingstagen nennen, deren zarter Duft das Zimmer...füllt. Der Junge hing so sehr an seiner Mutter, daß man nicht sagen konnte, beide seien „krank vor Liebe“; beide waren rasend vor Liebe. Ich mußte mit ansehen wie meine Frau in der Blüte ihres Alters ganze drei Jahre lang von den wütenden Säften in ihrem Körper heimgesucht, erschüttert und schließlich zerrüttet wurde, so daß sie nicht selten geistig verwirrt und von Sinnen war... (Sie war) bis in die Tiefe ihres Herzens durch den Tod des kleinen Jungen getroffen...Von den wüsten Ausschreitungen der Soldaten und von dem Anblick des Kampfes in der Stadt betäubt... Schließlich kamen österreichische Haufen hinzu, die ansteckende Krankheiten mitbrachten. In melancholischer Mutlosigkeit, der traurigsten Geistesverfassung unter der Sonne, gab meine Frau schließlich ihre Seele dahin.“ So mußte er arbeiten; von den meisten für irr gehalten, Spinner mit dem „Schwindelhirnlein“. Er aber hielt die andern um sich, die Alltagsmenschen und nur am Faßbaren Interessierten für wahnsinnig. So wünschte auch Kaiser Rudolf II von seinem Hofmathematikus eine Berechnung der Nativität Mohameds und Kaiser Augustus, das nach Horoskopen zu erwartende Schicksal des türkischen Reiches usw. Alle waren an seiner Arbeit höchstens noch  aus rein egoistischen Gründen interessiert, vor allem Horoskope mußte er stellen; alle wollten sie hören, ob sie reich werden oder krank werden, Glück oder Unglück haben, wie sie ihre Feinde besiegen, ihre Nachbarn übervorteilen können: „Item hat es unter dem gemeinen Mann, ja wohl auch unter den Schreibern und unter den Hofleuten so viel  grobe unverständige Knebel  (im Hirn), daß sie immerzu einem Sternseher in den Ohren liegen, und meinen sie sollen ihnen viel von künftigen Dingen sagen... Gleich als wenn die Werke Gottes anders nicht würdig wären, das man sie anschauen und ihnen nachrechnen sollte...Er komme sich oft wie ein Irrenarzt vor, der einem Kranken eine Medizin verordnet, schrieb er in einem Brief: daß seine Umgebung...In Worten und in Gebärden dem wirren Gerede geistig Gestörter gleicht.“ Und dem unpassenden Spott entgehe er, indem er den Leuten „den blinden Hinterkopf“ zeige. Wer aber nun wirklich wahnsinnig war, er oder die andern, das  ist ja wohl nun undiskutabel!
Er war an keinem Nutzen interessiert, wie ein Kind: Musik der Sphären, musikalische Gesetze und Formen als Mathematik: Gesetz der Welt - daran glaubte er, und daß es sie gibt, das war ihm Rettung. Auch vor dem furchtbaren Leben. Im Kleinen gelang ihm nichts. Konnte er den Alltag nicht mathematisch angehn, scheiterte er, wurde umständlich, wie Dostojewskijs Idiot. Wo es aber gelang, da meisterte er für immer ein Problem, auch für uns.
Das kindliche Staunen selbst, da zu sein, und dann ein Her­vorbrechen: Licht, das nun schon Form  ist, Jubel, Strahlen C-Dur-Fortissimo.  „Die wilde Welt der Todten“ ists. Bevor die Zeit einfiel, und wir in sie. Und war das Ungebundene,  begriffslos. Da ist auch heute kein Ab-Leben, du weißt.


ÜBERFAHRT


Dann standen wir oben auf dem Berg
Kalabriens und sahen hinüber
Richtung Catania. Wie ein altes Märchen
ließ uns Sizilien das neurotische Herz
wieder höher schlagen.

Auf der Autostrada del Sole
kurz nach der Überfahrt (Ulyss hatte auf dem Wasserso komisch gelacht) kam es bei Messina zum Autounfall (ohne jede Schrecksekunde)
Scylla und Carybdis



Porticello/ bei Palermo
Gänsehaut. Fieber vom Scirocco. Gerüche in der Nacht dazu: Jasmin, Orangen. Endlich das Hotel. Im Fernsehraum ist es wieder furchtbar laut. Überhaupt dröhnt es hier stärker in den Ohren als in Frankfurt oder Köln. Autos, Motorräder, Lautsprecher, Fernseher. Das Geschrei, die lauten Stimmen der Leute. Alles auch viel brutaler, greller: der kleine Liftboy, Hotelsklave ist erst zehn,  und arbeitet zwölf Stunden am Tag; niemanden stört das. Er klopft schon 6h20 , fragt , ob wir Kaffe wollen.Und es ist doch heimaltlich, Balkanerinnerungen, die Walachei.Marcello erzählt, wie er in der Schweiz gezwungen wurde, anders zu reagieren als hier, z.B. leiser zu sprechen, seine Freude weniger stürmisch und herzlich zu äußern! 
Heute und gestern waren wir vom Scirocco so dumpf, daß wir fast nichts von der Landschaft wahrnahmen. Außer in Messina und Umgebung, wo die üppige Vegetation ins Auge stach. Ja, und wir waren ja unserer Sehsucht nachgefahren, anders zu sehen als gewohnt. Lernen Ptolemaeus zu vergessen, zu sehn, was wir wissen, daß nicht die Sonne, sondern die Erde täglich untergeht. Doch die Kleider kleben uns fiebrig am Leib. Fieberträume Realität. In der Ferne sind die Liparischen Inseln zu sehen, wie eine Verheißung, en Horizont erreichst du nie... (17. Mai)


SPÄTER GELA/ Sizilien
Aeschylos starb hier wie eine Halluzination
Sein Leben/ Occident, ein verschrobenes Irren Land, Gott  es ist wahr,
Aeschylos starb hier, weil sein Kahlkopf einen  Adler blendete,
der flog,  welch ein tragischer Zufall gerade Jetzt
über ihn, den Erfinder des Trauerspiels kopfwärts
hinweg/ das Herz war von oben ja nie zu sehen
nur der blendende Kopf;: ach, der geblendete Adler oben
warf die Schildkröte (auf der ja bekanntlich die Welt ruht)wie einen ein goßen Stein vom Himmel also brachteden Kahlkopf um, er uns immer noch blendet:
 Und du sagst, es gäbe kein Leben nach dem Tod?


Und dann Palermo, Siculina Marina, Agrigen und Empedokles, Palma und die Riviera des Ghattopardo mit der Donna Fugata, Caltanisetta, Piazza Armerina, Ragusa mit dem gewaltigen Canon. Noto. Syrakus mit der Grasblüte des Papyrus. Archimedes in Erinnerung. Und am 1. Juni „Medea“ im Griechischen Theater. Exil und Schrecken der Liebe: (Das furchtbarste in der Welt ist das Vaterland zu verlieren!) – Dann Catania. Aci Trezza (La terra trema!) Der Ätna und die Todesgefühle in der brennenden Steinwüste. Taormina. Tropea. Ach, Sizilien, in Eraclea Minoa, seltsamster Hafen des Mittelmeeres, entstand  Sizilien: eine Handvoll Kreter kamen da an Land, zerrten die Insel so ins grelle Licht der Geschichte.
Und passend zur Logik des Occidents oder ists schon die Levante: Ein Kreter sagt, alle Kreter lügen, also lügt er auch, also sagen alle Kreter die Wahrheit: wo begann unsere Paranoia, hier? Oder langher im Minoischen Labyrinth?
Und dann wieder der Stiefel: Tarent. Brindisi: Der Tod des Vergil (Broch). Die Überfahrt. (8. Juni)

Patras. Korinth. Fahrt durch den engen Isthmus. Die harzige Luft.  Das Meer blauer, die Luft flimmernder. Die Landschft karger. Wie ein Traum, kann kaum erwachen. An Eleusis vorbei. Ist das mögliche, da vorbeizufahren? Piräus. Einschiffung nach Kreta mit der „Minos“. Ach. Von der Souda Bucht nach Agios  Nikolaos. Sitia. Dann zurück nach Kritsa. Und zur Dike-Höhle. Malia. Und Knossos.

Es begann in der Kindheit: als Kind war ich ein Einzelgänger, immer allein, und alle Zimmer des Hause waren von den Eltern, von den Großeltern, von den Geschwistern besetzt, in der Diele aß man, im Vorzimmer war immer große Bewegung, so richtete ich mich meist zwischen den Zimmern, auf der Schwelle ein.  Also immer auf Übergängen kam es mir vor, daß ich nach   „ Hause“ kam, mich wohl fühlte, an Orten, den die anderen kaum beachteten,  der für sie gar nicht existierte, leer war, übersehen wurde; da ging man schnell darüber hinweg, um in einem Zimmer und damit wirklich in einem Raum zu sein. So ein Zwischenraum des Übergangs, eine Art Fluchtort und Vorläufigkeit ist aber auch ein Flug, ist jede Reise.

Wie die Schwelle trennt die Reise uns vom Alltag, vom Selbstverständlichen, ja ist ein Zustand im „Tapetenwechsel“, der Abenteuer, der aber auch  Schock sein kann.

... und wohin man jetzt jettet
mit der vermehrung der nullen
                auf den schweizer konten
stimmen sie ein ins vertrauliche
                                      gemauschel
über kitzbühl, st. Moritz und
                       lagerfeld
denn das ist ihre welt
und sonst gar nichts
Elfriede Gerstl, Vor der ankunft


die fahrpläne wissen bescheid
voll einverständnis
                tuschelt die sftware
rollbahnen sind ausgelegt
die krähen sind mit dem tower
                            im bunde
unauffällig schleppe ich mein köfferchen
während in meinen synapsen                 die hölle los ist
elfriede gerstl, vor der ankunft


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