BRETAGNE
31. August. Reise
in die Bretagne. Dol du Bretagne. Austernessen am Austernmarkt. Zum erstenmal
dieses sogenannte Reichenessen von Fischern hier. Für 7 € ein Dutzend. Cancale heißt der berühmte Austernort. Natürlich lauter Deutsche da
, die billig Austern essen, mit Sekt. St. Malo, wo Chateaubriand geboren und
begraben ist. Combourg, das Schloß
seines Vaters haben wir leider nicht gesehen. Doch die romanischen vier Türm sind
aus Fotos bekannt. Ebenso der moorige Teich. Sein Vater war
Sklavenhändler, Seeräuber; mit dem
Ertrag kaufte er sich das Schloß. Beeindruckend der Gedanke des einsamen
Felsengrabes oben auf dem Eiland Grand
Bé, ein großes, namenloses, Steinkreuz, nach dem Grab Napoleons in St.
Helena konzipiert. Ist es nicht eitel, mit der Namenlosigkeit bis in den Tod zu
spielen? Flaubert meinte: Nein. "... wird seine Unsterblichkeit sein wie
sein Leben war: verlassen von den anderen und ganz von Gewittern umgeben. Die
Wogen werden mit den Jahrhunderten lange um diese große Erinnerung
spielen." (Über Feld und Strand.)
Kein Wunder, dass
ihn Cioran sehr mochte, er war gläubig und der skeptischste Mensch zugleich.
Glaubte er an dieses Nichts? Oder im 3. Band Chateaubriand: Ch. über sich
selbst: ein Erlebnis in Combourg, wo er aus seinen Wünschen sich selbst eine
begehrte Frau, die er nicht haben kann, projiziert, ähnlich wie die Tibeter die
Kualpas, ein Phantom.
Dann in Dinard. Nicht viel los, leider sehen
wir die Küste nur oberflächlich zwischen Dinard und St. Briac, Renoir, sogar Picasso haben hier gemalt und Gemälde, die
genau diese Landschaft "sehen", sind dort in Reproduktionen
aufgestellt, seltsame Verdopplung der Blicke.
In Dinan - der alten Stadt ein Volksfest,
wir kommen kaum durch: vor allem Renaissancekostüme, Mönche, Nonnen, Aussätzige
sind zu sehen, sogar einer auf einem kleinen Karren wird gezogen, einer dem man
zur Strafe beide Beine abschlug. In Sack und Asche. Oder ein Wolf auf Stelzen.
Die Polizei muß uns durch die Menschenmenge freie Bahn schaffen. Erst jetzt
merke ich, was ich alles versäumt habe! Doch das Auto ermöglicht und verhindert
alles. Wir finden keinen Parkplatz.
1. September: Ouistreham/
Caen: Sonntag. Ruhetag. Wir sehen uns noch die Kirche (Gottesdienst) und
den Hafen an. Packen, reinigen. Noch
letzte Notizen. Nehmen abends den Abschiedsdrink.
Brocéliande. Merlin und Artus
2. September:
Abfahrt über St. Michel, Rennes, in den
Sagenwald der Broceliande, Merlins Grab. Phantasie, keine Wirklichkeit.
Eben dies: der Jungbrunnen. Alles Projektion. Und der Lorbeerbaum über dem Grab
geht ein, zuviele schwarze Schwingungen der Besucher? Dann der
"Jungbrunnen". Und das Felsentheater der Schwarzen Messen. Man muß an
diese Projektionen glauben. Die Atmosphäre der Krähen. Hundebellen in der
Ferne. Zauberformeln. Ein Kranz wie ein Propeller. Dazu rauscht der Wald im
Wind. Und ein Baum gibt ächzende Töne von sich. Schwarze Messen hier? (Auch den
Film ansehen!) Das Schweigen der Steine. Und ein Megalith-Tisch mit 12 Steinen,
wie bei Brâncuşi. Höhenwind, als wäre es im Gebirge. Tannen, Pinien, Birken,
Buchen, starker Mischwald. Und Grillen: Zirpen. Und ein Flimmern. Verzieht sich
das Lid. Übereinandergelagert die Bilder? L. beklagt sich, sie könne nichts
mehr sehen. Als durchkreuzten sich die Zeiten. Spiegelungen. Unheimlich.
Verhexung?
Dann das "Tal ohne Wiederkehr".
Wir suchen hier eigentlich Phantome und Romanfiguren. Und das Wunder, dass wir
etwas suchen, obwohl es dies gar nicht wirklich gibt. Hier hat Merlin den
Verstand verloren, trank aus dem Bach, und gewann ihn, natürlich, den Verstand
wieder. So wie die Einsamkeit hier heilend wirkt.
Am Jungbrunnen;
angemalt die schwarzen Felsen mit bunten Hexenzeichen. Darunter auch das Schlangenkreuz
der Bretonen, das wie ein Propeller aussieht; Das Schwitzen der Steine in mir.
Nordisch die Stimmung, als würde Sommernachtstraumhysterie ausbrechen, Hexen
verbrannt und Schwarze Messen mit nackten Frauen gefeiert. Die Quelle selbst ist trüb, Neugeborene
sollen hier getauft worden sein. Jungwerden aber ist wieder möglich, und dazu
braucht es kein Mädchenblut, wie bei der Blutgräfin aus Transsylvanien, die
Mädchen schlachten ließ, im DNS gibt es
ein Programm, das die Lebensdauer bestimmt, und das verändert werden kann.
Ein Flimmern in der
Luft, starker Mischwald, Birken, Tannen, Eichen, Buchen, so durcheinander die
Blätter beschrieben, Grillen, Grille, ein Zirpen und Flimmern und Drehen. Und
verzieht sich so das Lid vor lauter Geheimnis, als löse sich der Augen-Schein
auf, es entstehen mehrere Schichten von Bildern, Zeiten die sich durchkreuzen.
Und du sagtest: Siehst du auch so schlecht hier, es wird mir schwarz vor den
Augen, Spiegelungen, viele Spiegelungen, als wären mehrere Gegenden übereinandergelegt.
Das lange westliche Licht ist hier
gefährlich!
Und die bretonische
Märchengegend hier weiß ja von der Kraft des Scheins viel; dass es ein Wunder
ist, nicht durch die Erde zu fallen! Die Erzählungen aus Broceliande wissen
viel von der camera obscura unserer Augen, vom Schein-Werfer unserer Sinne, die
die Welt erfinden. Und so lange wir dem, was alle sehen, diesem Konsensus
folgen, solange brechen wir auch nicht durch die dünne Schicht der gemeinsamen
Halluzination, die Welt genannt wird, durch. So schuf Merlin für Viviane ein Schloß, (Josseline, wir haben es ja gesehen,
und es heißt, das Wirklichere sei seine Spiegelung im See, auf dem Seegrund
also wäre es zu finden!) Und Merlin
zauberte seiner Viviane einen Palast, der für jeden unsichtbar blieb, nur für
die, die dazugehörten nicht, für alle anderen ist dort nur Wasser, der See
eben. Und wer aus Neid oder Haß das Geheimnis verrät, auch für den ist das
Schloß nicht mehr vorhanden, der feste Grund verschwindet, auf dem er bisher
stand, und er sinkt in die Tiefe des Wassers, ertrinkt.
Merlin hatte sein
Unglück, Viviane, an der Barentonquelle
kennengelernt, die wir suchten, aber nicht fanden. Schließlich legten wir uns
an einem Barentoncamping zum Mittagsschlaf hin, unter einen Baum. Wilde Träume
kamen.
An der Treppe
Merlins, wer ein paar Tropfen vom Brunnen darauf fallen läßt, so heißt es,
könne Regen machen, Dampf erhebe sich, verdichte sich zu einer Wolke, die
andere anziehe. Und dann regne es.
Bei den Hopi haben
wir es erlebt, dass solch Regenzauber wirkt. keiner weiß wie. Doch einige
Physiker sind fest davon überzeugt, dass es dieses Phänomen gibt.
Leary deutete die
Hippies als eine Art "keltische Renaissance". Was heißt das?
Menschenopfer zum Wechsel der Jahreszeiten? Doch Meyers Lexikon behauptet, es
seien nur rituelle Verbrecherhinrichtungen gewesen, sie wurden massenhaft in
weitläufige Weidengeflechte gesteckt und verbrannt. Aus den Zuckungen und
Eingeweiden der Opfer las der Druide dann im weißen Gewand und vor einem Altar
mit Eichenlaub bekränzt aus den Bewegungen, die dem Laufe der Sonne folgten,
die "Vorsehung", den "Willen" der "Götter", also
dessen, was sein wird, aber auch Träume dienten dazu, Flug der Vögel, ähnlich
wie bei den Etruskern, lesen auch aus Blitzen, Gestirnen.
Wir stehen am Ort
"Sans retour", stehn am rötlichen Felsen mit großem Rundblick. Sanfte
Sprache der Kindheit, ein Blick hinab zum Tal und zum See. Wie ein Altarraum im Offnen. Werfen die gesammelten
Phantasien der Besucher eine Stimmung aus, die es sonst nirgends so gibt.
Hier soll Merlin
geheilt worden sein von seinem Wahnsinn, in dieser Ruhe. Und wir werden
ebenfalls hier geheilt vom Stadtgift. Verkohlte Felsspitzen erwarten uns unten
am See, ein vergoldeter Stamm, ein Kunstwerk, das hier erwacht.
Der alte Artus,
halb blind, auf der Ile d´Aval, geschlagen nach einer Schlacht, geheilt, doch
nicht verjüngt von der Fee Morgane, und wie einst Odysseus von der Circe von
Morgane gefangen gehalten, bewacht von neun Feen, wollte fort, doch war er alt
und verhext, bat Merlin um Hilfe, zumal Artus auch noch um den Verrat seiner
Frau Genofeva mit Lancelot wußte; er hatte Verleumdungen geglaubt: Mach mich
auf immer wieder jung? Der weise Zauberer Merlin aber, der uneheliche Sohn des
Teufels und einer frommen Mutter, die
ihn aber sofort taufen ließ, so dass er die Kräfte des Vaters behielt, aber nur
zu guten Zwecken verwendete, verweigerte dem alten Artus dies Elixier: „Gib mir
die Jugend und mein Königreich zurück;“ schön dieses Reich der Lebenskrönung,
König als Vereinigung gedacht, als Ruhepunkt des Lebens, wo die Zeit
stillsteht, alles neu ist, weil die Wahrnehmung zugehörig, weil die ganze Welt
zugehörig ist. ("Ich will dir die Krone des Lebens geben", so ein
Psalm. Und das Hebräische weiß von der Vereinigung von König und Königin
Freitag nachts!).
Zu seinem Erstaunen
aber riet ihm Merlin zu Geduld und Verzicht. Und er habe alle seine Kräfte
Viviane gegeben, sei nichts, als ein einfacher Mann, der den Tod erwarte, wie
Artus auch. Von der Liebe zu Viviane gefangen, im unsichtbaren Gefängnis, dem
er nicht mehr entkommen konnte? Und es auch nicht wollte? Weil Liebe Leben für
immer sei, also genau jener Macht entspreche, die wie seine Kunst, den Schein
durchdringt, Mauern durchbricht, jede Gestalt annehmen kann, weil es sie gar nicht
gibt.
Matière de Bretagne
In der Matière de
Bretagne wäre auch Tun aufzugeben, Kampf, denn was sind schon Hände im
unsichtbaren unheimlichen Partikelgestöber, denn wie faßten wir uns an diesen
Händen, so lehr deine Hände schlafen, hätte er sagen können. Oder auch: dein
Auge, dem Nichts stehts entgegen. Es steht zum König. Im Nichts, wer steht da,
der König. Denn Er ist nicht faßbar. So riet Merlin sich zu ihm zu bekennen. Wie er auch Ruhm und
menschliche Liebe aufzugeben, auch Ginevra, seine Frau, und auch das Reich, das
nur Staub und Asche sein wird, schon immer vergangen, wenn es erscheint.
Nein, Ginsterlicht
war nicht zu sehen gewesen, keine Hänge eiterten gen Himmel, doch überall gab
es die Calvaires, ganz oben am Kreuz, da hing Er, meist noch mit den beiden
Schächern an der Seite, die ihn verfluchten, der eine mit hängender Zunge,
verdurstend, wie in Pleyben, als wir Honig kauften, die Kirche aber geschlossen
war, im Angesicht des großen Schmerzes, der Folter, die ein Zeichen der Erlösung
sein soll? Was wär das Kreuz im Leid, nur ein Symbol? Und dass der Körper um
Nichts sich neigt, das arme Kleid - wie in Guéhenno bei Josselin? Stein, Stein
geworden der Schmerz in vielen Figuren, die Ihn umgeben, der nichts mehr ist
als reine Figur, Kreuzpunkt, da wo der Kopf steht, dichtester Ort des Alls. Und
wer verriet? Das Morgengraun die Nacht, wo das Geheimnis ist, das Licht verzerrt?
Die Säule steht mit ihm vor einem Beinhaus, das leer ist, wie jedes Grab, das
nur den Leib enthält, den Schein von der
Gewalt des Hier: man siehts ja deutlich, Geißel, Ring und Strick, die Ruten für
die dünnen blutigen Streifen, der Schnitt ins Fleisch, die Dornenkrone, Schilf,
Nägel, Hammer, Zange: HAEC PASSUS EST PRO NOBIS. Hat er das alles für uns
erlitten - oder für Gott? Der vieles zuläßt, was geschieht, auch Jetzt. Und
überall der Satan, dieser Kopf des großen Nein, Unglaube ohne jede
Verzweiflung, wie wir sie heute finden: und über dem Beinhaus, das dies Niemals
sein soll, da ist das große offne Maul der Sonne, täuschendes Licht, das uns
verschlang. Nur Maria und Magdalena stehen da und weinen, warum, wenn sie doch
glauben können, dass er nicht nichts ist, wiederkehrt, der untot ist, wie jeder! CRAS Resurget steht noch da.
Als läutete tatsächlich dieser Dorn in der Wunde, und viele kleine
Kindergräber, nichts als aufgeschütterer Sand als Hügel des Vergehens,
Vergänglichkeit schön, grüßt dein Gedächtnis und wundert sich, kein Name, kein
Kreuz.
Bretagne. Wo war
es, als das Boot mit "Blutsegel" auf uns zuhielt, Bretagne und
Locmariaquer, ja, als wir zurückkamen von der Megalith-Insel Gavrinis, als der
Fingerabdruck im Stein riesig geworden war, Wellen, Wirbel, Sog drinnen im
Grab, die Spirale, das Labyrinth, das
wir alle an der Fingerkuppe tragen ist die Grundstruktur der Welt,
Spiralnebel, Sterne, Atome und Uhrwerke früher, säumte den dunklen Tunnel der
verschwundenen Toten.
Tréhorenteuc, wo
zwei deutsche Kriegsgefangene die Kirche mit Artussagen bemalten, dann Josselin, Pont Aven, Concarneau bis zu
Qimper und Douarnenez am Mueumshafen
schlafen wir.
3. September Von Douarnenez
über Locronan zum Aussichtspunkt
Menez Hom über Crozon und Carmaret,
Pointe de Penhel, von da bis zu den Iles
des Morts, wo man bis Brest sehen
kann, dann über Pont de Terenz über
Cahateaulin nach Pleyben, wo wir den
Honig kauften, die Kathedrale ist leider zu, aber der Calvaire filmbar. Dann
nach Quimper bis Auray und Carnac,
sehen noch die Menhire, dann Locmariaquer, sehen dort die Stätte der
Menhire. Dann ein schönes Hotel.
4. September: noch die Pierres Plates, dann die Insel Gavrinis und schließlich mittags noch St. Gildas de Rhuys, Abaelards Kloster, und mittags nach Vannes,
essen dort im schönen Park der Mauern, und schließlich über die Grand Brière La Baule und St. Nazaire
nach Nantes.
5. September: von Nantes, über Bordeaux nach Arles
6. September: Abfahrt von Arles, Hyères,
in der Ferne Porquerolles, dann weiter nach
St. Tropez, noch ein Bad, dann über
Nizza und Genua nach Hause.
St. Gildas de Rhuys. Abaelard und Heloise
Ich erinnre wieder an den 4. September nach
einer traumreichen Nacht. In St. Gildas
de Rhuys. Besuch in Abaelards Klosterabtei. Da war er zwischen 1128-1136.
Vor zehn Jahren ist er zur Strafe (Beziehung mit Heloise) entmannt worden. An
Heloise schrieb er im 5. Brief: "Die Glut meiner Gier hatte mich mit dir
zusammengeschmiedet; ich dachte nicht mehr an Gott, ich dachte nicht mehr an mein
besseres Selbst, so tief untergetaucht war ich in den armseligen Genüssen, die
zu schmutzig sind, als dass ich sie ohne Erröten auch nur nennen kann." Da
habe Gott in seiner Barmherzigkeit, das Messer, das seinen Leib traf, habe ihn von
dem Schmutz befreit. So habe er nur an einem kleinen Teil des Leibes seine Sünde
büßen müssen. Ein "Pfahl im Fleisch" . Selbst aber habe er es nicht
tun dürfen, ein anderer mußte es tun. Origines sei schuldig geworden, weil er
es selbst getan habe.
Und doch wurden sie
zusammen bestattet, waren sogar Eheleute gewesen, hatten einen Sohn. Auf dem Pièrre
Lachaise schrieb ich:
Weißt du noch:
HELOISE UND ABAELARD
Etwas Regen auf dem
Père Lachaise.
Versteint. Wir
unter Regenschirmen.
Was weint da. Sogar
über Steinen. Wir
suchten. Und unter
Linden hören wir
ein Flüstern.
Laute, wie Tandaradei.
Klang Worte in
Höfen. Tage. Und dies Paris
so spät. Kaum Große
Herbstzeitlose, die
zur Liebe jetzt auf
Gräbern rät. Ein
Liebespaar, wir
waren jung, berührt den
Stein. Von unten
her. Ein Kind, das weint.
Woher ein Sic et
Non, der Erdgeruch mit
deiner Haut im
Regenduft vereint, im Schritt
der Kuß unter dem
Kleid, ein Blitzen wie
durch Tränen, ein
Blick der Tote überholt.
Jetzt stehn sie auf
und lachen. Sie sehn
dir unters Kleid,
die schwarze Herbst-
Zeitlose die Sonnen
runterholt.
Heloise, Abaelard:
"Was ich begangen, es lebt
so stark in
freudiger Süße", riß mir das Herz
entzwei.
Saß sie auf einem
Steine, Heloise, Abaelard.
Fließt in die Iris
heute
dies Liebespaar.
Und steigt ganz aus
dem Wort und nur ins Auge ein.
Der Name sucht
durch Todesnacht lichtschnell verborgen dort
im Stein, den nur
der Finger anstößt, Kälte fühlt,
als wäre dieses
wahr ("drei Tage sind es drei/ von
keinem
Schmerz verschont".)
Heloise,
Abaelard...
Tod ist ein
Liebespaar. Liegt vor uns, geschwärzt
Figur, der Stein.
Schmerzlich der Durchgang
mit Bildern und
Dornen, durchkreuzen das Auge und
sieh, die Paare,
sie wärmen.
Vom Tode denke
nichts, und nur auf ein Wort. Steht
Sic et Non - gerade
für wen? Daran miß und trau
dem Auge nicht
mehr,
trau denen, die nicht mehr
sehn.
Nichts erinnert in
der kleinen Abtei, die nur noch seinetwegen besucht wird, an ihn, er selbst
floh von hier, der Rauheit und Ungebildetheit, Gesetzeslosigkeit der Mönche.
Und doch werden andauernd Abte und Heilige, meist in Form von Grabsteinen,
einer sogar im Glassarg mit den heiligen Gebeinen, vorgezeigt. Die Kirche mochte
den freien Abaelard. nicht. Immer
wieder wurde er "bestraft" Auch in einem Kloster bei Soissons, das zugleich Irrenhaus
und Kerker war. Und hier nun die heiligen Knochen. Überall in den Kirchen wird
also die Materie verehrt.
Ich mache Aufnahmen davon. Auch von einem
großen Schiffsmodell im Nonnenkloster nebenan. Werde verjagt. Und denke an
Abaelards "Sic et non": das meinem eigenen Stil entspricht: Jede Aussage
zurückzunehmen, nichts stehen zu lassen, weil nichts wahr sein kann, was nur
gedacht oder nur Sprache ist.
Denken an Abaelard,
den Entmannten. Cioran meint, man sollte wieder Klöster bauen, auch für jene,
die an nichts glauebn können. Mönche konnten die Abgründe erproben, ohne gleich
als Gestörte zu gelten. Oder als Patienten. Mein Wutausbruch in Ouistram gegen
L, die diese "vernünftige" und normale Welt geradezu verkörpert. Und
alles, was ins gefährlich Geistige geht, sofort abblockt.
Hautville
Auf dem Weg von
Cherbourg nach Caen sprechen wir über Hautville. Von hier ging die Eroberung
Siziliens aus.
Manfred? Die
Normannen und Sizilien. Wer war Manfred, wer war Robert Guiscard? Den Kleist
zum Vorwurf nahm? Die tiefste Melancholie und der Trübsinn? Manfred viel später:
Sohn Friedrichs II und der Lancia, unehelich, Friedrich traute sich mit ihr
noch auf dem Totenbett. Manfred: König von Napel und Sizilien. (Geboren 1232). Seine
drei Söhne endeten im Kerker.
Guiscard war ein Machtmensch:
Sohn Tancreds von Hautville, zur Zeit
Barbarossas geboren. Herzog von Apulien und Kalabrien. Entriss das Land den
Griechen, kam bis Saloniki. Gegen Byzanz kämpfte er auch. Sein Bruder Roger
eroberte Sizilien von den Sarazenen. Sein Feind war Abaelard? Jedenfalls bei
Kleist. Und der todwunde Kleist nahm den Machtmenschen Guiscard als Vorbild,
scheiterte daran.
Auf dem Weg zum Point de Penhir kommen wir nach Crozon.
Unterbrechen. In der Kirche das Martyrium der Legion Thebaine: 400 holzgeschnitzte
Figuren. Zehntausende wurden gekreuzigt. Unvorstellbar dieser Wald von Kreuzen.
Ist es das Verdienst des Cristentums, solches Leid geschaffen zu haben, noch
vor der Machtergreifung durch die Kirche? Der Tod dieser Menschen, der mich
noch heute beschäftigt… hängt zusammen mit frühchristlichem Fanatismus.
Honfleur
und Arles. Gauguin und Van Gogh
Gestern ein langes
Telefon-Gespräch mit unserer Freundin Paula aus Florenz. Als ich von unserer
Reise in die Normandie sprach, sagte sie gleich Habt ihr das Haus Monets
gesehn. In Honfleur, ja. Das Boudin-Museum. Aus seinen Bildern erfährt man
mehr, als aus der Landschaft zu „er-sehen“ ist, vor allem wenn man nur mit dem
Auto durch die Landschaft fährt. Unsere Reise wäre sicher ein Mehr gewesen,
wenn wir mit Monet hier gewandert wären, lästere ich am Telefon, und in der Bretagne, oben zwischen St. Briac und St. Servan gibt es, wie wir
wissen, sogar Reproduktionen, so dass Landschaft und Malbild gegenübergestellt
werden. Sogar Picasso war hier. St. Malo ist ja auch so, dass man dies
Wattenmer, die Burg, die Inseln, und Chateaubriand nicht vergessen kann.
Und dann Pont Aven
und Gauguin. Wie kann ich die Erinnerungen sammeln und korrigieren. Die Fetzen,
die wie Traumbilder um mich schwirren. Banaler Alltag, Momente werden auf der
Rückseite, rückwärts gesehen, zu eigenen Ewigkeitsbildern abgeklärt: die Mühle
am Fluß Aven, jetzt Edellokal, in Pont Aven. Ich bin neugierig auf den
Videofilm, was hat er "festgehalten"? Hier im Sud Finistère
Warst du Schüler
von Pissaro, Gauguin? Impressionist, ein Schimpfwort, von Nord nach Süd, die
Normandie, „Houtfleur“ veraltet? Welch ein Stil, das Wort, wenn es zu spät
kommt, meines jetzt, nach träglich, nach Pont Aven: zwei Sekunden, die ich
jetzt erfüllen muß, auf füllen, füllen, mein Freund, predige ich, an wen? Ihr,
die Jungen damals, voller Wut auf den sich abzeichnenden Untergang, ließet den
Fluß rauschen, herabhängende Trauerweiden nicht nur, sondern ihr saht rot und
grün. Bernard und du, 1888 also, als wüßtet ihr Kant im Gesehenen zu deuten,
dass man Dahintersehen muss, der Wahrheit wegen! Ihr schält immer noch, auch
heute im Sehen, das Ungesehene heraus, setzt es neu zusammen: die Synthese, ein
anderes Ja. September: Zwei Gemälde kamen beim Publikum an. "Bretonin auf der
grünen Wiese", wo war das, im Kopf? Ich hungere jetzt noch nach Visionen,
die Predigt aber ist tot, in welchen frommen Köpfen hauchfein kommen die Bilder
der Engel und Kühe noch an. Du machtest eine Skizze, schicktest sie an Van
Gogh, den wir später in Arles auch besuchten, kein Leid mehr, nur die Erinneung
an ein abgeschnittenes Ohr. Zieh mich rein, mein Freund, wohin sollen wir noch
fliehen, du hattest wenigsten noch Tahiti, Gauguin !
Mette war Dänin,
sie verließ dich. Du Berufsloser, gabst den Bankkaufmann auf, auch in dir: fort
von hier. Fest halten, nichts anderes. Völlig statische Figuren. Chock, wie
Baudelaire, der Bewegung hasste. Aufhalten, aufhalten die Zeit! Wir sehen das
Gasthaus der Angelle Satre, die er malte, die Belle Angèle, bretonisch.
So wie ich jetzt ging er spazieren, machte Skizzen, setzte dann alles zusammen,
wie ich. Der gelbe Christus, der hat ein Gesicht wie er, nur schmaler, er, der
Boxer mit großer Nase. Wir wollten die Kapelle sehen, als wir durch die Stadt
irrten, Antiquitätenläden, überall Galerien, jetzt wollen sie dich, jetzt.
Hinunter den Fluß, wo die Boote liegen, kleiner Hafen. Nach Nizon mit dem Calvaire: Dort
entstand sein "Calvaire": Starr, wie der Schmerz, drei graue
Frauen, wie die Nornen, grau der Christus, Geister unterm Stamm, farbig blau,
wie das Meer die Bretonin, Mutter, Maria, Magdalena, mit einem schwarzen Schaf
an der Hand, als krieche dieses in sie,
oder sie ein Tier schon, weggeneigt, chinesisch fremd schon das Gesicht, rosig
das Land, wie Korall, die Insel im Blau, hoffend, frisch, und die Wolken wie
Geister oder große Finger, Christus eine leblose Puppe.
Fromm sehn die
Frauen mit den großen weißen Hauben uns an, Kapelle von Trémalo: Gelber
Christus, den hat Gauguin von hier mitgenommen, warum gelb? Licht, leuchtend,
so siehst du ihn. So. Wie du den Liebeswald siehst, wo sie sich trafen. Du
kannst ihn bei Sonnenuntergang ganz rot sehn, rot, anstatt ein Negativ, rotes
Negativ. Oder blau - das Meer. So löscht du die Welt aus. Um sie neu zu
erschaffen. Im Hirn als Fotographie der Phantasie oder sichtbar auf einer
Zigarettenschachtel, synthetische Landschaft, Kant, ist es, sichtbar das Ding
an sich, wenn du genug Mut hast! Violett, Zinnoberrot, Veronagrün - die reinsten
Farben, ohne jedes Weiß des Nichts, weil die Augen vor Tiefe glühn.
Das Auge soll ein
Loch sein ins Jenseits, ein Später. Ich auf der Flucht, nur flüchtig in aller
Ewigkeit im Leben, wie jetzt der Augenblick vorbeirast, Fluchtpunkt sieh
zurück!
Und immer wieder
kommt er: Heiliger Geist, wie er da sitzt im Kopf der Bretonin. Naiv. So wie
SIE ihn sieht, den Kalvarienberg, Gelben Christus: nach der Predigt, die Vision
oder Jakobs Kampf mit dem Engel für die kleine Ortskirche, der Pfarrer weist
das innere des Heiligen mit Abscheu zurück. Sie, ja, sie sehen es anders, auch
als die primitive Seele der Frauen, mit
fliegenden weißen Bretoninnenhauben. Licht in den Dingen, nicht außen, so ist
kein Schatten, wie im Hirn, alles Kontur. Hirnsyntax, mein Lieber, so gibt es
die roten Bäume aus Blutsonnen. Die Geister wollen uns sehen, so malt er Ideen,
die ihnen nah sind, Tote haben Intuitionen in ihm: Selbstbildnis aus Licht
gewachsen, ein grüner Apfel klopft an die Stirn, ein roter begleitet alles im
roten Himmel, der Kopf wächst aus dem Licht, der leidende Christus, oder Adam ists, der Heiligenschein wiederholt
nur das Vibrieren des Gelben, grün, grün die Schlange die er hält. Kämpft,
überall ist Jakob mit dem Engel. Das Bretonische ist ein weißes Gefühlsfliegen,
weiß, das zu den Farben wie Vögel nicht passte, außerhalb der Welt war. Was
will der gewalttätige Engel von Jakob, die Leiter? Und er soll den Baum nicht
sehen, der sie trennt von den betenden Frauen? Nur ein Tier frisst an ihm oder
berührt ihn warm mit der Schnauze, eine Kuh, ein Schaf. Und die knienden Bäuerinnen
mit den Händen im Schoß, gelegt. In der hektischen Welt hier - ein stehende Zeitparadies. Sanft, wie seine
dreizehnjährige Tahitianerin später, die nach Milch roch und nach Morgen.
Statisch aber die
drei Frauen, schwarz unter dem glühenden Abendbaum, dahinter die Kapelle von
Aliscans vor Arles. So stehn die Geister, die Toten in uns in der Welt vor dem,
was noch ist. Und links eine Fontäne, nein, ein Riesenphantom. Ists schon der
Geist von Van Gogh, den er besuchte? 1888 im November? Fontänen von Gelbrot, wie die Zypressen von Vincent, der
schon krank war: in Arles, die Aura, den Wirbel der Atome sah. Ihm schickte Gauguin
in einem Brief die Skizze der
Jakobs-Vision, eingeschlossene Konturen, wie eine Landkarte
Und Gauguin starb am 8. Mai 1903 allein und verlassen in
seiner Hütte, im Haus der Freude, unter dme "Gold der Körper", Frauen
und Blumen, aber allein, krank verurteilt zu Geldstrafe und Gefängnis. Hiva Oa
hieß die Nebeninsel der Marquesas-Inseln.
Wie der Freund Van
Gogh - nachdem sein Schuß im Kornfeld ,
als er nach einem Motiv suchte (in der Sonne) gefallen war, in den Bauch hatte
er sich geschossen. Warum? In Auvers bei Paris war das, Dr. Gachet war da, Theo,
der Bruder kam, in dessen Armen starb er dann. "Das Elend wird niemals
enden. Jetzt möchte ich himgehn." Am 29. Juli 1890. Ein einziges Bild, der
rote Weingarten war verkauft worden. 400
Franc. Keiner hatte ihn zur Kenntnis genommen.
WAS BLEIBT, wer
stiftet es, dachte
ich heute beim Waldlauf;
und spürte
kurzatmig die Zeit auch in mir
laufen.
Wie, du läufst
noch, sagt einer: geh
stiften, HIER,
der Stift läuft mit dir
übers Herz Blatt,
du Papierene Seele,
und tötet jede
Sekunde. Wer
stiftet noch etwas
hier:
Las Braun, Kirsten,
Czechowski, Haufs
und mich selbst,
wohin des Wegs ...?
Draußen aber sägts,
und Mähmaschinen schneiden.
Aber die Zeit jede
Sekunde (nicht nur Gras)
schneidet ins
Fleisch ...
Und du meinst, nur
durchs Fenster?
Nein, das mäht und
mäht in mir selbst, jede
Zelle tickt.
Geräusche draußen, oh, wie harmlos
aufs Blatt hier
geworfen:
Was bleibt/ schon dieser Fetzen Papier, nur die Worte
vergilbt, lebt
länger, wenn dieser Hand
die Form längst
wahr geworden:
knöchern von Erde/
bestimmt,
kommst du wieder?
Sagt einer:
„Ist der Tod auch
ein Bad nur,
drüben am anderen
Ufer
liegt bereit für uns
ein neues Gewand?“
Arles, die Einfahrt
an der Mauer. Hektische Nervosität, viele Autos. Die Rhone. Unstimmung, Sonntagsverkehr. Wir irren durch das Labyrinth
der Altstadt. Hotelsuche. Verbiestert, offen keinesfalls. Zum Leid mußt du
offen sein. Vorerst ist Vincent gar nicht da. Seit Februar 1888 aus Paris. Die
Provence - ein Taumel, er sah die Wirbel der Atome, die Spiralen überall. Endlich.
Seine Adresse:
Place Lamartine 2, vier Zimmer.
Das Blau des
Briefträgers Roullin. Und der Sohn. Die einzigen Freunde. Roullin, wallender
Bart. Vinzent: Er hat ein Sokratesgesicht. Und so fand ich es wieder auf dem
Buchumschlag in einem Buch über die Hohe Rinne des Constantin Noica: Epistolar,
Brief, ach, in den achtziger Jahren in meiner Heimat Siebenbürgen/Paltinis. We
fern, mein Lieber, von Arles, durch das wir irrten. Und L. sagte: Hier feiern
die Zigeuner jährlich ihr Fest. Und es wird viel geklaut.
In der Nähe der rue
Hotel de Ville fanden wir ein billiges kleines Hotel mit antikem Hinterhof.
Nach langem Suchen und nervös geworden, fanden wir endlich diese Bleibe; das
war Arles, und die Arleserin, die ein kretisches Gesicht hat, quick und frech,
gibt den Schlüssel, befiehlt, immer das
Hoftor zu schließen, wegen der Diebstähle; wir fahren auf ihren Rat zum Boulevard Clemenceau in eine Garage, schaffen
es noch, ich schleppe im Schweiße meines Angesichts Tasche und Koffer samt
Computer. Angst. Kann im Abendlicht gerade noch filmen, den Groll überwinden,
Schwitzen, Nervenraub in Arles, anstatt Vincent. Ich kann noch den Place de la
République mit dem schönen Rathaus und der Kirche St. Tropisme plus Cloitre
filmen. Dann Dunkelheit. In einer einfachen Crêperie Abendessen. Beobachtungen,
dass hier eine Art Mafiazentrum ist.
Am nächsten Morgen
Aufregung, ich habe die Camera nicht geladen.
Ein kleiner elender Rundgang. Filme trotzdem noch das römische Amphitheater, ein Art Colosseum.
(Stierkämpfe, Spanien ist nah). Dann das Theater. Den Park. Auch diese Stadt
wuchs wie Lucca übergangslos aus dem Römischen ins Heute, eine Stadt wurde auf
die andere gebaut. Der Blick: auf einer Terrasse, Kirche, aufs
"Colosseum". Morgen. Überlagert sind viele andere Blicke von
Kirchterrassen, mit Blicken auf die Stadt. Am Theater, ich filme durch das
Gitter, reißt L. der Schuhriemen. Ich versuche den Schuh zu reparieren. Solch banale
Augenblicke, die man sich merkt.
Jetzt erst denke
ich an den Garten in Quistram, wo wir wohnten, mit den Sonnenblumen, wie Köpfe.
Dass Van Gogh Gauguin mit Sonnenblumenbildern
im Haus empfing. Malergemeinschaft? Das scheitert immer. Streit. Van Gogh schildert
in seinen "Diverses Choses": Dass die Suppe, wie seine Farben, dick,
nicht essbar war. Dass sie stritten. dass er auf die Mauer schrieb: "Je
suis Saint-Esprit/ Je suis sain d`esprit." (Gesund im Geist!). Eines Abends
lag er und schlief. Bleischlaf. Und an einem andern Abend trank er im Café
(Place Forum?) Absinth. Warf Gauguin das
Glas an den Kopf. Ein andermal attackierte er ihn mit dem Rasiermesser. An einem
anderen Abend ging Gauguin allein aus.
Ein schneller Schritt hinter sich, als er den Platz Victor Hugo überquerte.
Vincent stürzt sich mit einem Rasiermesser auf ihn. Gaugins Blick aber hielt
ihn ab. Er küsste den Kopf des Freundes, ging weiter. Gauguin schlief zur Sicherheit in einem Hotel.
In der gleichen
Nacht schnitt sich Van Gogh das Ohr ab. Nasse Handtücher um den Kopf. So hat er
sich gemalt. So hat er das Ohr dem "Salon" gebracht, einem
Mädchen geschenkt: „Hier ein Geschenk
von mir.“ Hatte sie ihn einmal scherzhaft am Ohr gezogen, und gesagt: wenn du
mir nicht wenigstens ein Hundert-Sou-Stück geben kannst, dann schenk mir
wenigstens dein Ohr!
Laute Stimmen vor
dem Rathaus. Fast hundert Bürger fordern Van Goghs Zwangseinweisung. Er kommt
nach San Remy.
Gauguin saß vor ihm, so Bild im Bild, malte den
Andern: Sonnenblumen malend. Licht. Und wir sahen noch die Zug-Brücke, uralt, außer
Gebrauch. Brücken malte er, ein Hinüber, noch faßbar. Brücke von Longlois, im
Bild gelb und gewaltig. Gelb wie die Sonnenblumen, gelb wie der Stuhl, der eine
Gestalt hat, die Person Stuhl in seinem Zimmer, wo es keinen Abgrund gab. Gelb
die Caféterrasse am Abend, Place du Forum, wo wir auch aßen und viel Rummel war. Strichmännchen vor dem
unermesslichen Nachthimmel, ganz dunkel die Häuser. Gelb auch das Innen, fahl
wie Schwefel der Unterwelt, die Hölle. Wie ein verhinderter Schlaf,
übernächtig. "Ich habe versucht, die bösen Leidenschaften der Menschen in
roten und grünen Farben auszudrücken." Übertrieben groß in der
schrecklichen Leere, die Menschen klein unter den kreisenden soghaften
Wirbelgloriolen der Petroleumlampen. Fegefeueratmosphäre von bleichem
Schwefelgelb".
40 Selbstbildnisse,
und eines mit Kopfverband, ohne Ohr.
Verletzt, verwundet, nur halbes Gehör. Wer sieht, hört nicht. Oder: hört
Stimmen? Mist. Er will häßlich sein, Backenknochen, rotblondes Haar. Kleine
Augen mit blauem flackerndem, irrem Blick. Denn er hört Stimmen.
Paris
Und dann ein
Abstecher nach Paris, als wäre diese Reise stärker und melancholischer als
alles, was ich erinnern kann, kehrt sie immer wieder:
Auf dem Flohmarkt
diese anpreisenden Schwarzen und Araber. Im Zentrum, dem Mittelpunkt des
Gerümpelareals Uniformen aus der Revolutionszeit. Auch weiße Hauben, ähnlich
wie die Omahaube, die Marie Antoinette bei der Hinrichtung trug, bevor sie ihr
Sanson abnahm, sie ans neigbare Brett geschnallt wurde, so dass der Kopf ins
runde Loch der Guillotine passte, letztes knirschendes Geräusch, der dumpfe Fall.
Ich nahm die Haube und roch daran. Den Dingen entgehst du nicht, dem Geruch
nicht, dir nicht. Dem Tod nicht. Und sah damals diese Blumenmädchen, eine Alte
gegenüber verkaufte Spitzen, L: nahm sie in die Hand, ihre Hand, die warme, ich
fühle sie überall auf meiner Haut. Dazu eine alte Pariser Ziehharmonikamusik,
drehorgelhaft. Parì, Parì! Moulin Rouge. Pigalle. Montmartre. Es war einmal.
Als ich von zu Hause geflohen war, fuhr ich ja zuerst nach Paris... dann erst
kam ich nach Deutschland... Bonn, Hotel Mozart. Damals hatte ich L: noch nicht
gekannt. Nichts lässt sich zurückholen, die Erinnerung, die steht, als wäre sie
ewig. Nur der Tod rast und löscht auch sie!
Der einmalige
Augenblick, der nie mehr wiederkehrende Lebensmoment, jeder Augenblick ist kostbar.
Es war einmal, was berührte mich da. Ein Geruch. Und diese Berührung der Haube.
Aura ja. Ich saß mit L: auf einer Bank im Bois de Boulogne am See, ein
Sonnenstreif im Wasser blendete, eine Ente schnatterte. Es war an einem
Samstag, noch in jener uralten Zeit, zu der wir nicht mehr ... doch, zu der wir
freilich noch gehören; das ist es ja!
Wochenendler joggten vorbei. Hinter mir rauschten die Autos, keine
Stille war möglich. Augenkontakt mit der Erde, ganz nah, ein Junge ruderte in
einem Kahn ganz nahe am Ufer vorbei, eine Frau fotografierte ihren kleinen
Jungen, der mit einem großen Wolfshund unter einer Linde saß; plötzlich sehe
ich jene Haube vor mir, rieche sie….
Klar, Paris. Stimmen die Worte
Hemingways, es sei ein „Fest“, und man bekomme da Lust zum Essen, Trinken,
Schreiben und Lieben? Als er 1921 nach Paris kam, junger Amerikaner ohne einen
Cent, war er und auch die beliebteste Stadt anders, als es der junge Emigrant
aus dem roten Osten und Paris im Jahr der Studentenrevolte von 1968 war. Ich
kam aus Luxemburg, hatte in Brüssel
meine erste westliche Großstadt gesehen, war davon geschockt, kultur-geschockt,
von Bukarest aus dem Securitateland kam ich! Und dieser Zustand ist es, der
außer den Zeitschichten meiner Besuche, parallele Vergleiche, die Stadt anders,
als diese millionenfache Beschreibung, in Milliarden Worten, gemalt, bedichtet,
oder sogar mit Tränen und Nostalgie bedacht, wie mir eine Freundin sagte, dass
sie immer weinen musste, wenn sie Paris verließ.
Doch auch das eine Frage: Kann diese
glanzvolle, immer glanzvollere Stadt heute solches noch auslösen? Denn ich habe
den Eindruck, dass Paris „damals“ 1968 noch bescheidener, zurückhaltender war
als dieser fast unverschämte Reichtum, mit dem sie sie sich jetzt präsentiert.
Hier die Summe der Welt nach 1989? Und ich weiß nicht, warum ich eigentlich vor
Ort über den Ort, wo ich dort eben war, sei es der Louvre oder einfach nur die
Metro, gehemmt war, über sie zu
schreiben. Zu essen schon, weniger zu trinken, (weniger als in
Italien!) und eigentlich auch kaum zu lieben in dieser Hektik. Hinderte mich
auch L. daran? Oder das Ältergewordensein? 1968 war das anders gewesen. Da war
es freilich auch die erste Erfahrung mit käuflicher Liebe: Pigalle. Das
ordinärste flacheste Zentrum zog mich an. Doch auch das war weniger glanzvoll,
fast nah und bescheiden privat. Ojah. Pigalle klingt noch nach in meinen Ohren!
Und freilich auch jetzt waren wir
„dort“ gewesen, und sahen die Schmuddligkeit! L. wollte schnell weg, auch aus
Sacre Coeur. Aus dem ganzen Viertel. Obwohl es doch einmal ein berühmtes
Künstlerviertel gewesen war! Und wir fanden nicht einmal den Ort des kleinen
Holzhäuschens, wo 1900 die moderne Kunst geboren worden war wieder. Bateau Lavoir in der rue Ravignan, auf dem
Platz Èmile-Goudeau. Ein Brand 1970 vernichtet das Häuschen. Picasso, Braque,
und Gris arbeiteten hier. Picasso malte hier Desmoiselles d´Avignon, das den
Kubismus einleitete. Max Jakob und Apollinaire revolutionierten die Poesie. Auf
der rue Leptic 54 wohnte van Gogh mit seinem Bruder. Und hier liegt auch die
letzte Mühle, die ihn und Renoir inspirierten. Moulin de la Galette. Wir sahen
sie an und ich fotografierte sie auch.
Nur freilich: das Holzhäuschen war
weg, unsichtbar, wie die moderne Kunst es wollte: unsichtbar sein als wirkliche
Form, nur die Hintergrundform wird sichtbar durch die Zerstörung der
Sichtsbarkeit. Genua wie in der modernen Physik, die genau auch damals
entstand: Planck 1901.
Vorher hatten wir die Sacre Coeur und
auch den Place du Tertre gesehen und wurden dauernd von Zeichner angequatscht,
die eine Karikatur zeichnen wollten. Ich
lehnte ab. Warum? War ich nicht die Karikatur meiner selbst?
Es wqar jetzt spät. L. wollte nicht
ble98ben. Und, na ja, wir hatten beide H+ftbeschwerden. Eigentliczh wollten wir
noch die Place Vendome sehen. Und es hätte sich sehr gelohnt, auch weil sich
Paris in diese Richtung des Reichtums entwickelt hatte, also die berühmten
Juweliergecshäfte (hatte Manolescu hier geraubt, Felix-Krull-Vorbl?) und der
berühmteste Goldschmidt auch. Ebenso das Hotel Riz, wo Marcel Proust einiges
saiener „Suche nahc der verlorenenh Zeit“ gecshrieben hatte, Coco Chanel
gewohnt hatte. Und da sieht man , was Prsonenkzult ist, der wu7nderbarste Platz
wurde zur Zeit Ludwigs IV. nur antelegt, um einem Reiterstandbild des Angebers
eine würdige Umebung zu schafen. Angelegt von Girardon., (1687-1720)
Das Denkmal wöhrend der Revolution aber zerstört. Gut so? Schmucklos aber
mit vielen Palästen. Nr. 15 Riz, nr. 12 das Haus wo Chopin starb. In der Mitte
Erensäule für apoleon. Von hier aus der Rue de Paix mit ihren Luxusgeschäften.
Einew der schönsten Pariser Straßen. Nr. 13 ist der Laden von Cartier.
Ich wollte alles „sehen“ und
nachfühlen. Was in mir unsichtbar sich verbarg von früher!Was nicht gelang. Wir gingen anfangs am totalen Kontrast von
Vendiome ,an Sexläden vorbei. Nichtmal eine Hure in den Nebenstrassen der hier
zu sehn. Die Moulin Rouge wie ein Phantasma ein Klischee! Elend abstrakt alles.
Ich filmte. Hier, bitte solch ein Bild:
Wie soll ich die Zeitschnitten
schneiden? Von 68 hab ich keine Notizen mehr. Da wars so, dass ich auf dem
Flughafen Orly in einer Telefonzelle mein Notizheft mit allen aufzeichnen
liegen gelassen hatte. E war reiner
Wahnsinn. Ich wurde nicht akzeptiert von der Fluggesellschaft, weil mein
Ost-Pass nicht akzeptiert wurde. Und ich telefonierte mit Dr. Fehr von Inter
Nationes, bat ihn, das in Ordnung zu bringen, was auch geschah. Aber der
Notizblock war weg. Ich dann eben in Bonn nach 2 Stunden. Es war Nacht in
Deutschland, Ende Oktober 1968.
Es ist eigentlich nicht viel zu sagen
über meine Erlebnisse damals, sie sind auch merkwürdig abgeblasst, wohl weil es
eine ganz andere Epoche war, das Vorvergangene sozusagen. Nichts mehr lässt
sich nachvollziehen. Ich weiß nur, dass ich enorm viel zu Fuß ging, dass ich
fast täglich im Louvre war, dass ich sonst in Nr. 11 (onze) nahe der Botschaft
für 11 Franc in nr. onze kampierte, wahrscheinlich ein Secuhotel, dass ich
einige male mit „Nr. onze“ aufgerufen wurde, wenn mich jemand suchte,
anscheinend doch einige. Und dass ich von „Salam de Sibiu“, eine ganze Stange,
und Rotwein (Vin rouge) lebte. Dass ich Nina Cassian traf, dass wir Celan sehen
wollten, er aber schon in der Klapse war.
Dass mir Paris eigentlich eher vertrauter war als heute. Dass ich mehrere Bekannte, auch einen Deutschen,
der in Paris lebte, hatte. Dass mich eine französische Rumänischstudentin, mit
deren österreichischen Freundin ich damals in Bukarest ein schönes Verhältnis
hatte, mich mit dem Wagen ihres Vaters auf den Flughafen Orly brachte usw. Also
doch Menschen wichtiger waren als die Stadt selbst.
Und auch das Pigalle-Erlebnis gehöt
dazu:
Ebenso der Klang der Namen, die
melancholisch stimmen. Auch „Pigalle“ Oder Champs Elysees. Welches war die
Metro, die ich jetzt so sehr vor mir sehe… Das gibt es jetzt nicht mehr.
Paris-Sentimentalität ausgetrieben…. Nur noh Gecshäfgt wetrdn damit gemacht.
Jaja, ein ganz schönes Foto vor
Sacere-Coeur , die Ziharminica spilte… Hier das Foto, der Ton?
Die Abreise freilich 2009, wo ich zu
einem PEN-Kongress vom Goetheinstitut eingeladen worden war, verlief ruhiger.
Wir fuhren von Pigalle über Montparnasse nach „Hause“, bezahlten das ziemlich
elende Hotel Fred, vorher ein ebenso elendes Mittagessen in einer Bar
„Entrecot“ sollte das sein, und fuhren mit einer Taxe nach Orly, ruhiges
Einschecken und Flug dann. So viel Zeitverlust aber.
Wenn ich jetzt zurückblicke, bleibt
Paris trotzdem ein Fest. Auch wenn der offizielle Auftritt eher jämmerlich war,
trotz Einladungen von Goetheinstitut und Botschaft. Mein Lesen war verhallt.
Buchverkauf null, außer einer jungen Frau, die unbedingt den „Capesius“ haben
wollte, kein Interesse, geschweige denn von den Kollegen. Ich schenkte der
jungen Frau „Landsehen“ mit Widmung. Da
war aber noch ein Luxemburger Franzose, der gute Worte zur Lesung fand. Und mir
tat es leid, dass ich nicht mit ihm den letzten Abend verbracht hatte, sondern
mit dem Botschafter. Der Luxemburger sprach den ähnlichen moselfränkischen
Dialekt.
Ich hatte in Paris nun eher Freunde
verloren. Und weiß nicht warum.
Wenn ich zurückdenke, war auch die
Ankunft so harmlos nach 22 Jahrehn: 1987 zum letzten al hier gewesen!
Damals war für mich die Conciergerie
mit den Revolutionsterror der interessanteste Paris-Teil gewesen. Wir gubgebn
wider dorthin. Ich wollte vergleichen:
7.Oktober. Wie sich die Zeitschichten
nun überschneiden wieder. Wie Paris weiter rückt. Ich überlege, was hatten wir
und an qwelchem Tag gesehen:
Am 30. Bis 16.h.
Der Abend im Goetheinstitut, die
Lesungen, Bis 7, Gabrielle und dann vom abwesenden Kunert und Fuinkelgruen
Texte gelesen.
Dann Pause mit Getränken. Ich war sltsam aufgekratzt, obwohl ich
eigentlich lesen sollte, bis morgen warten muss.
Und dann die langweilige Runde mit
Goödschmidt und Honigmann. Langweiloig privat-
Ich revoltierte redend. Das brachte
mir: Du hast gestört wie ein Schulbub – ein. Von Nadine, der frechen
Münchnerin.
Ab 10 dann Abendessen Einladung von Goethe. Zurüvck zum
Hotel mit dem Taxi. Das war eine schöne Nahctfahrt durch historische Zentrum.
Am1. Vormittags Quartier Latin. Notre
Dame. Vor allem aber die Conciergerie. Und der Vergleich mit 1987. (Siehe).
Dann zurück ins Hotel kurzer
Mittagsschlaf. Und Vorbereitung zur Lesung heute.
Um 13. uhr mit GA und Nadine. 14 h
Bibliothek National.
WIEN
IRRE
Alexander hatten wir in jener kleinen Stadt bei Wien besucht, von wo aus man den Weissen Berg sieht, die Schlacht liest du dann nach.
In einem Wiener Privatzimmer geschlafen. Dr. N., der Psychiater, empfing uns nach einer unruhigen Nacht (Verkehr vor dem Fenster, zu dicke Federbetten), empfing uns in seinem Zimmer, vor dem drängelten sich die Patienten wie vor den Himmelspforten die Verdammten. Keine Einlassung, sondern Entlassung, flüsterte mir einer ganz plötzlich ins Ohr, dass die Stimme in der Muschel kitzelte und tiefen Eingang fand.
Als wir dann Alexander kennen lernten und auch seinen Mitpatienten O.T. (der einst Funker bei Generalfeldmarschall Paulus gewesen war) – jetzt im Irrenarzt-Zimmer, da dachte ich, die haben sich selbst im Kessel zurückgelassen. Die Schlacht war anders. Und das kann selbstverständlich dem Verstand reichen.
Alexander saß vor uns mit vorgeschobenem Unterkiefer, er sah wie ein abgetauchtes Fischmaul aus. Oder wie ein uraltes Kind mit einem zu großen Kopf, in dem die ganze vergangene Welt drin liegen geblieben ist und freilich auch das Ende . So stand er nun vor uns und sagte etwas, das mich sehr anging:
In der Schule war ich froh
In der Klasse war ich immer so
Gelernt habe ich sehr viel
Zuhause und in zivil.*
War das nicht wie mein eignes Damalstehengebliebensein, das auch Alexander in dauernde Trauer versetzt? Wie ein Elternhaus, das lange, das für immer verlassen wird, Spinnweben überziehn es wie die Jahrzehnte, ein ganzes Leben in der Anstalt! Alles nun so alt und wie versteinert!
Im Park vor dem grünen Männerpavillon saßen wir (ziemlich verlegen) mit diesem kleinen Mann, der seine Linke so hielt, als stütze er sich andauernd auf einen unsichtbaren Spazierstock. Ein Teich vor uns, darauf Enten, die manchmal (für uns völlig unmotiviert) aufflogen, ein Leichenwagen, der sich im Wasser spiegelt und, wie ich meinte, das Wasser schwärzer kräuselte. Patienten in Anstaltskleidung kehrten die Wege, die alle hier zusammenzutreffen schienen, wo wir saßen, nein, wo wir mühsam an Sätzen bauten, denn ich meinte, so stumm zu werden wie er.
Waren Sie auch einmal Patient? Fragte er überraschend. Und ich: Nein, aber ich habe Angst, Patient zu werden. Er: Keine Ursache. Die Dinge und Menschen sind leider nur sächlich. Früher, da wurden sie schön gelöst: von Kunst und Gebet.
Ich merkte, dass er jenen unsichtbaren Halt, den ich für einen Spazierstock gehalten hatte, wirklich besaß; er meinte später, es hänge mit seiner innern Frau zusammen, die sitze in der linken Brustgegend. Jeder habe eine innere Frau, mit der müsse sich jeder Mensch verständigen und vereinigen, dann erst sei Gott vorhanden, jederzeit: Gott hat gesagt, seid einst einig, seid Einverständnis zeigend, dass die Liebe erwacht… und was Adam in sich trägt und vorhat, den Geist erweckt, zu sagen: vielleicht habe ich den Mut, vielleicht auch nicht, Gott zu gehorchen, und einen Sohn, eine Tochter zu malen, aufzuschreiben, so wie es damals war!
Ich schob alles auf den Kessel, in dem er einmal gewesen war, ein Kreisen, eine Spirale, ein Dröhnen muss es gewesen sein. Vom Jüngsten Gericht aber redete er nie. Er machte uns nur darauf aufmerksam, dass die Vögel im Park, z.B. Amseln, reden könnten. Sehr mitteilsam manchmal, sagte er: Amseln pfeifen heer im Wind. Alles sei Klang. Wichtig sei es, dies im Wissen zu hören. Die Vögel singen fast ohne Bewusstsein, sagte er. Es singe einfach aus ihnen heraus. Und so würden sie sich wundern über die STIMME, die sie zwar fühlen, aber nicht verstehen könnten. Auch wir müssten uns darüber wundern. Wir aber tun so, als wüssten wir Bescheid. Daraus entstehe der Krieg. Und die Sprache sperre die Seele in ihre Käfige, wie es auch mit den armen Vögeln geschehe, die nicht nur Patienten seien. Buchstaben aber: vertrocknete Tränen. Wissen Sie das? Er sah mich durchdringend an: Jedes Ding ist nur ein zweideutiges Etwas… diese Leichtigkeit des Dinges, ein anderes Wort dafür einzusetzen. Ich: Die feste Welt… Und er:… durch Kauf, ja. Und dass der Mann draußen sozusagen die Wahrheit stempelt und beiseite schiebt, die Wahrheit, die Ware wird, weil sie ja nicht mehr ist, sie wird aufgehoben durch die Währung und die Kraft des Geldes.
Und leise, fast unverständlich, was am Ausgesprochenen (ich nahm’s auf mit dem Magnetohr) zu entdecken und entziffern war:
Ich bin da,
aber/ ich weiß nicht
wann
ich kommen werde.
Das Denken der Ungewissheit
habe ich
wie mein Bruder.
Für die Ewigkeit besteht
das Licht
meines und seines.
Zögernd nur dürfen wirs
Hören, sehen
Nicht.
Der Klang allein ist in die
Wege geleitetes Zentrum.
Alexander hatten wir in jener kleinen Stadt bei Wien besucht, von wo aus man den Weissen Berg sieht, die Schlacht liest du dann nach.
In einem Wiener Privatzimmer geschlafen. Dr. N., der Psychiater, empfing uns nach einer unruhigen Nacht (Verkehr vor dem Fenster, zu dicke Federbetten), empfing uns in seinem Zimmer, vor dem drängelten sich die Patienten wie vor den Himmelspforten die Verdammten. Keine Einlassung, sondern Entlassung, flüsterte mir einer ganz plötzlich ins Ohr, dass die Stimme in der Muschel kitzelte und tiefen Eingang fand.
Als wir dann Alexander kennen lernten und auch seinen Mitpatienten O.T. (der einst Funker bei Generalfeldmarschall Paulus gewesen war) – jetzt im Irrenarzt-Zimmer, da dachte ich, die haben sich selbst im Kessel zurückgelassen. Die Schlacht war anders. Und das kann selbstverständlich dem Verstand reichen.
Alexander saß vor uns mit vorgeschobenem Unterkiefer, er sah wie ein abgetauchtes Fischmaul aus. Oder wie ein uraltes Kind mit einem zu großen Kopf, in dem die ganze vergangene Welt drin liegen geblieben ist und freilich auch das Ende . So stand er nun vor uns und sagte etwas, das mich sehr anging:
In der Schule war ich froh
In der Klasse war ich immer so
Gelernt habe ich sehr viel
Zuhause und in zivil.*
War das nicht wie mein eignes Damalstehengebliebensein, das auch Alexander in dauernde Trauer versetzt? Wie ein Elternhaus, das lange, das für immer verlassen wird, Spinnweben überziehn es wie die Jahrzehnte, ein ganzes Leben in der Anstalt! Alles nun so alt und wie versteinert!
Im Park vor dem grünen Männerpavillon saßen wir (ziemlich verlegen) mit diesem kleinen Mann, der seine Linke so hielt, als stütze er sich andauernd auf einen unsichtbaren Spazierstock. Ein Teich vor uns, darauf Enten, die manchmal (für uns völlig unmotiviert) aufflogen, ein Leichenwagen, der sich im Wasser spiegelt und, wie ich meinte, das Wasser schwärzer kräuselte. Patienten in Anstaltskleidung kehrten die Wege, die alle hier zusammenzutreffen schienen, wo wir saßen, nein, wo wir mühsam an Sätzen bauten, denn ich meinte, so stumm zu werden wie er.
Waren Sie auch einmal Patient? Fragte er überraschend. Und ich: Nein, aber ich habe Angst, Patient zu werden. Er: Keine Ursache. Die Dinge und Menschen sind leider nur sächlich. Früher, da wurden sie schön gelöst: von Kunst und Gebet.
Ich merkte, dass er jenen unsichtbaren Halt, den ich für einen Spazierstock gehalten hatte, wirklich besaß; er meinte später, es hänge mit seiner innern Frau zusammen, die sitze in der linken Brustgegend. Jeder habe eine innere Frau, mit der müsse sich jeder Mensch verständigen und vereinigen, dann erst sei Gott vorhanden, jederzeit: Gott hat gesagt, seid einst einig, seid Einverständnis zeigend, dass die Liebe erwacht… und was Adam in sich trägt und vorhat, den Geist erweckt, zu sagen: vielleicht habe ich den Mut, vielleicht auch nicht, Gott zu gehorchen, und einen Sohn, eine Tochter zu malen, aufzuschreiben, so wie es damals war!
Ich schob alles auf den Kessel, in dem er einmal gewesen war, ein Kreisen, eine Spirale, ein Dröhnen muss es gewesen sein. Vom Jüngsten Gericht aber redete er nie. Er machte uns nur darauf aufmerksam, dass die Vögel im Park, z.B. Amseln, reden könnten. Sehr mitteilsam manchmal, sagte er: Amseln pfeifen heer im Wind. Alles sei Klang. Wichtig sei es, dies im Wissen zu hören. Die Vögel singen fast ohne Bewusstsein, sagte er. Es singe einfach aus ihnen heraus. Und so würden sie sich wundern über die STIMME, die sie zwar fühlen, aber nicht verstehen könnten. Auch wir müssten uns darüber wundern. Wir aber tun so, als wüssten wir Bescheid. Daraus entstehe der Krieg. Und die Sprache sperre die Seele in ihre Käfige, wie es auch mit den armen Vögeln geschehe, die nicht nur Patienten seien. Buchstaben aber: vertrocknete Tränen. Wissen Sie das? Er sah mich durchdringend an: Jedes Ding ist nur ein zweideutiges Etwas… diese Leichtigkeit des Dinges, ein anderes Wort dafür einzusetzen. Ich: Die feste Welt… Und er:… durch Kauf, ja. Und dass der Mann draußen sozusagen die Wahrheit stempelt und beiseite schiebt, die Wahrheit, die Ware wird, weil sie ja nicht mehr ist, sie wird aufgehoben durch die Währung und die Kraft des Geldes.
Und leise, fast unverständlich, was am Ausgesprochenen (ich nahm’s auf mit dem Magnetohr) zu entdecken und entziffern war:
Ich bin da,
aber/ ich weiß nicht
wann
ich kommen werde.
Das Denken der Ungewissheit
habe ich
wie mein Bruder.
Für die Ewigkeit besteht
das Licht
meines und seines.
Zögernd nur dürfen wirs
Hören, sehen
Nicht.
Der Klang allein ist in die
Wege geleitetes Zentrum.
INTERMZZO.
Der erlebte Augenblick als Reisegeschenk
HEIMFAHRT.
AM CISA. PASS
Mehr
nicht, als diesen Augenblick
aufbauen,
als ginge es ums Leben. Das geht.
Mehr
nicht. Als diese Morgenwiese
lachhaft
naiv die Augen sehen lassen
mit
Freudentränen. Mehr nicht
als
leben, jetzt.
So
warte ich, die Sonne
scheint
noch immer, und bricht
die
Strahlen, nicht das Herz, den Satz.
Ich
möchte leben,
nicht
nur schreiben müssen, als wär es
ein
Ersatz für diese Fahrt.
Sie
steht noch in den Sternen. Steht
und
wartet.
Und
doch, zu ihre gehört auch diese Erinnerung, das Glück der Sinne: Heute liegt es
wie Glück in der Luft; der Morgen ist taufrisch und jung, und Ich hatte
plötzlich wie als Kind Lust zum Barfußgehen im Morgengras; Duft und Klang, es
riecht nach Pinien und nach frischer Frühlingsluft, nach Berg und nach
Kaminrauch. Langsam, alles ganz langsam tun, mit vielen Pausen und ruhigen
Atemzügen. Nur manchmal das Tier mit vier Füßen, schwer atmend, schnaubend und
hechelnd im Rhythmus der gemäßen Natur und den hochschießenden wunderbaren
Säften. In Transsylvanien roch es nach Erde, Heu, Zwiebeln, Kaminrauch, und
sauer nach Schweiß, nach festem Boden, und nach einem andauernd sicheren Glück.
Das Kind hatte kaum sprechen gelernt, kaum laufen, wie sollte es da etwas vom
schnellen Zeitempfinden wissen können, hie und da ein stinkender Uraltford auf
staubiger Landstraße, der wie ein Ungetüm krachend und hupend dahinkroch und 20
Kilometer in der Stunde zurücklegte, da war noch im Geruchssinn, und am
stärksten nackt in der Sonne und im Frühjahrsgras einer Blumenwiese, eine so
starke Wahrnehmung des flüchtigen Daseins auch im Parfüm seiner Mutter, nur
außen schlugen manchmal Uhren mit langen Pendeln, sogar Kuckucksuhren mit einem
bunten Holzvogel, der vor Schmerz zu schreien schien, dass schon wieder eine
Stunde vergangen war, wenn er dort im Türchen erschien; ein Tag war eine
Ewigkeit, lang, lang, wie heute ein Jahr. Und ein starkes, fast zu lautes Gefühl
für sich selbst dort in der Öffnung und im Haar, erinnerte Ich sogar heute
noch, er erinnerte sich, und blitzartig kamen die Empfindungen, taten fast weh,
und er wußte, dass er durch ein haariges, stark riechendes Tier, durch einen
Schlauch im Dunkeln rausgestoßen worden war, mit klebrigem Blut hinaus ins Kalte.
Und dass er vorher in einer ganz anderen, einer großen Stadt gelebt hatte, wo
man fliegen konnte, und jeder Gedanke sofort zu einem Ding oder zu einem
Menschen wurde, und dass man sich hier auf der Erde lebenslang wie nach einem
verlorenen Zuhause sehnte, und nur nachts manchmal im Traum dort in jener Stadt
sein durfte. Früher, da tat er nie etwas anderes, nur das, was er sah, jetzt
aber waren seine Augen müde, Einsamkeit der Augen, hatte jemand gesagt, und er
hatte nun auch hier in diesem toskanischen Bergdorf, wohin er seiner Kindheit
nachgezogen war, etwas Neues geübt, zaghaft und langsam an die Dinge
heranzugehen, als würden sie sich wieder in ihr Inkognito zurückziehen können,
die Bekanntheit, die ihn fluchen ließ, aufgeben, und sie so, wie als Kind aus
der Sprache fallen lassen, scheues Auftreten angesichts des unfaßbaren
Abgrundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus.
Erleuchtung der Langsamkeit, dachte er: Nie, nie schnell werden. Anstatt nur
Erinnern, lieber wirkliche Pausen; Zartheit, Zärtlichkeit, schon mit den
einfachsten Dingen und durch sie, wenn wir es merken, scheint etwas Undenkbares
hindurch. Und er legte die Hand auf den angewärmten Stein der Treppe, auf dem
er saß, und tastete die Vertiefungen und Rillen dieser Landkarte einer
steingewordenen Erinnerung von Milliarden Jahren nach, ließ dann auch den Stein
seine Finger abtasten, den warmen Körper, die Waden. Und die Katze schmiegte
sich mit zwei ihrer Jungen, reizenden flaumig geschmeidigen Geschöpfen, die
keine Schwerkraft zu kennen schienen, an ihn, und sprangen in kurzen hohen
Sätzen dem Spiel der Sonne und der Schatten nach.
Augenblicke in den Alpi Apuane. Stazzema
Die Wolkenwand
sahen wir von Westen kommend schon bei Pietrasanta, ja, es wird kein schöner
Tag werden, es ist einer jener Tage hier, der schön mit blauem Himmel begonnen
hat, und mit Blitz und Donner endet, beginnlos ein Fest, und werden in
Pietrasanta am Markt vorbei fahren, werden lauter Schwarze sehen, einer auf
einem Fahrrad kommt uns entgegen, am Ausgang von Pietrasanta ein Gladiator als
Standbild, Muskelpaket von Botero. Und ich sagte zu L.: Jetzt reicht´s mir, ich
fühle mich schlecht, ich fühl´s wie ein Gift in mir, tue andauernd, was ich
nicht will. Rut sagt immer: Laß die Kopfarbeit, überlaß dich deinen
Intuitionen, jetzt aber reicht´s mir, sagte ich zu L., wir nabeln uns ab.
Und in Stazzema stiegen wir aus und
wanderten. Am besten mit den Sinnen leben, so nah alles, wie jetzt, wenn ich
Circel, den kleinen Hund, warm im Arm halte, der alt ist und getragen werden
muß; nasses Fell, Geruch aus dem Maul, an der Schnauze, er war in eine Quelle
gestiegen, um zu trinken, mit allen vier Pfoten in die Quelle gestiegen, wir
sammelten Kiefernzapfen oben am Rifugio Forte
dei Marmi, allein, kein Mensch da, und während ich an den harzigen,
duftenden Fingern roch, sie an einer Buchrinde abrieb, die Buche umarmte wie
einen Bruder, dachte ich an die Quelle mit dem Gedenkstein für Pepe, wohl ein Köhler,
jetzt wenn der Tag wieder durch mich durchgeht, ist der Hl. Franz von Assisi
und frate acqua auf dem Stein für
Pepe in mir wiederauferstanden ins Zukünftige: die Amici della Montagna hatten ihn dem Toten hier aufgestellt zum
Gedenken und dazu geschrieben: flora
protetta auf Holztäfelchen und irgendein Gesetz aus dem Jahr 1982 dazu,
überall Vignetten an den Pflanzen, beschriftet, sogar Edelweiß, schaurig als
wären die Armen aufgespießt, die Namen löschen sie aus, L. sagte zu diesem
Haus: >pütscherig<, schöner das Haus vorher, großzügig herrschaftlich,
eine Villa und nur ein Spruch an der Wand hora
quiete, überall werden Geranien sein. Zeit löst sich dann im Bewußtsein
auf, alle Formen werden gleich: oben die Wolkenwand - zieht immer noch auf,
nebelt den Forato und den Procinto ein, zwei Gesichter aus unserer Vorstellung:
der Procinto ein Grieche und ein Halbprofil mit langer Nase am Rifugio, aber
hochragend steil die Wand zum Matanna, so sieht das Unübersteigbare gefährlich
aus, und Schweiß an den Händen, trocken auf einer Bank, trinken wir dann den
letzten Schluck Weißwein und essen Schokolade, der Hund springt dazu auf die
Holzbank. Ich aber habe vom gestrigen Weißwein Entzugserscheinungen, bin auch
atemlos, Schwere beim Aufstieg, ich denke, mein Lieber, bald ist es aus, die
Kräfte lassen nach, spürst es an den Knien, und werde an meine Mutter denken,
die bei dem Passo della Croce auch
nicht weiter konnte, mein Herz, sagte sie, und es flimmerte ihr vor den Augen.
Luca, der Musiker, der wird nun auch bald fünfzig, sagt L.. Ist sie in ihn
verliebt? In Sardinien, als wir losgingen zum alten heiligen Areal, kam er
nicht mit, da wollte ich die Führung übernehmen, er aber ging schneller und
schneller, nahm Abkürzungen, er hatte sich um zehn Jahre jünger gemacht. L.
sagte, das ist ihm aber auch gelungen, in dem
Alter sieht man mal gut, mal schlecht aus, je nach Stimmung, der gute Tag
und eine Art Selbsthypnose machen Verjüngungen möglich. Ich aber hatte jetzt
Angst, daß bei mir Aids ausbricht, nachgerechnet, und überlegte mehrmals, ob
die Blutuntersuchung positiv wäre, aber du wartest lieber auf das Verhängnis:
und Violetta spukt im Hirn, ein Handtuch um den Bauch ...
Bevor ich dann mit L. aufsteigen werde,
wird es diese Natur und beflügelnden Momente in Stazzema geben, da sehe ich
eine Dorfschöne die Dorfstraße hinabgehen, geht an uns vorbei, das Auto ist auf
dem Platz geparkt, doch nicht nahe genug, das Mädchen flüchtig, vorbei, ein
Blick nur durchs Autofenster, der mich trifft, sie geht dann zur Mauer, ich sehe
ihr vom Regen zerzaustes strähniges Haar, schmales Gesicht, und von hinten
ihren Gang, ein Mantel über einer Trainingshose, sie geht an der Bar vorbei,
küßt sich dort mit einem hochgewachsenen Jungen, auch der hat langes Haar, oder
ist es ein Mädchen? Er sieht wie ein Mädchen aus, und sie schäkern dann beide,
sitzen auf der Mauer, und ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sich
nachher sicher lieben werden, denn wozu sonst dieser Kuß, diese Zunge im Mund
des andern, der den Akt selig nachahmt, noch näher am Kopf. Und der
Dorftrottel, der ein schönes Haus hat, das seine Frau in Ordnung hält, fragt,
"woher kommt ihr?" "Stuttgart", sage ich.
"Und welchen Beruf hat er", fragt
er weiter. L. antwortet: "Er schreibt."
"Was schreibt er denn? "
"Nun eben auch dies, was wir gerade
erleben, aber sonst lebt er andauernd in seinen Büchern."
"Aha, Carducci", sagt der
Dorftrottel.
Und wir sehen hinab ins Tal des Poeten
Carducci, drüben am Berg Häuser, und ich sage: "Schau L., lauter
ausgedehnte, nun bald blühende Kastanienwälder, jetzt noch kahl; ein Datum?
wozu ein Datum? Es ist falsch, jedes Datum ist falsch." Denn als wir dann
vorbeigehen am uralten Torre con orologio
von 1564, denke ich: das Todesjahr Michelangelos, und sogar der 18. Februar
stimmt, vor einigen Wochen, sein Todestag, da schlägt immer noch die alte Uhr
von damals. "Ja, wenn man sie gut ölt und säubert, hält wohl das Uhrwerk
noch viel länger als bis ins Jahr zweitausendundeins", sagt L.. "Und
ist doch ein Mirakel solch ein Uhrwerk am Stundenturm meiner Heimatstadt
S.", sag ich, "das ist fast so alt und geht auch immer noch",
und stelle mir vor, wie dieser Stundenlauf jahrhundertelang alles hätte sehen
können, was gewesen ist, und die Form spielt überhaupt keine Rolle, und wie
diese Uhr alles überstanden hat, aber auch einmal gewesen sein wird, geht und
geht jetzt noch, und die Leute sterben wie hier auch, sehe hinauf, als könnte
ich diese Seelen dort auf der Tanne sehen, nein, zwei Tannen, riesige Bäume,
wie alt wohl diese Tannen am Haus des Dorftrottels sind, von der Frau instand
gehalten, die Frau ging eben über den Hof, Unmengen von Blumen, und im Tal
rauscht ein Bach, Tannen, denke ich da an die Tannen in S., Bäume meines
Großvaters, an unsere Tannen in Aliano, Tannen am Waldrand, denke ich, an
unsere Weihnachtsbäume, der erste ist auch schon 10 Meter hoch, dies Gefühl,
wie beschreibst du das heute, und beim Eingang zum Haus des Dorftrottels steht
der Dorftrottel da mit Schlapphut, grinst und zeigt auf das Winterholz: Hier
das Holz, sagt er, das schlepp ich jetzt rein, es wird kalt, woher kommt ihr
denn? Stuttgart, sagt L.. Aha, die große Kirche in Deutschland, der Dom, Gotik,
sagt er: steht er noch ... oder waren es die Bomben?
Der hat für alles eine Antwort, sage ich zu
L., und sie: daher ist er ja auch irr.
Wir
stehn dann am Platz des alten Mediceerbrunnens, sechzehntes Jahrhundert, L.
will trinken, es sind drei Hahnen, und ein Hahn ohne Schrift, ich trinke lieber
von keinem, sagt L., und wir gehen in die Dorfbar, trinken dort einen Kaffee
und Mineralwasser, der Mann an der Bar ist mürrisch, kann die Flasche nicht
öffnen. Als käme da etwas Ungewöhnliches aus der Flasche, wer weiß. Wohltuend
der Alltag, reicht mir die Flasche, ich öffne sie, nur ja keine
zusammenfassenden Bilder mehr, weder Flasche noch Geist zusammenbringen, und
der Mann wurde gleich freundlich, hier, er zeigt auf seinen Daumen, da tut es
mir weh, so geht's nicht, jaja, sag ich, oder die Hand ist fettig, passiert mir
auch oft, wunderbar angenehm das Normale und Kleine, kaufe ein paar
Ansichtskarten vom Haus des Dorftrottels, das schönste am Platz, Fotos von der
Kirche, dem Uhrturm und dem Forato,
und wir werden dann endlich steil hochgehen, sehe dabei in meiner Phantasie
Trauben an rötlichen Stöcken hängen, L. ist hungrig, sie nimmt ein Stück Focaccia und bricht`s Brot ironisch, ich
nehme das Brot für euch, und wäre es September, ginge ich doch sicher und holte
die Trauben, weiße und rote, als bräuchte man die für ein eingebildetes
Abendmahl; wir essen aber jetzt nur Brot; also Körper, kein Geist? ..."
EINE
EHEMALIGE OST-WESTGRENZE
Böhmen. Krumlow
Es
ist unheimlich, welch Spiegel sie für mich sein konnte. Hatte ich nicht mehr
gelernt von und durch sie, als sie durch mich? Wie schön war unser erster
Ausflug in die Böhmischen Dörfer. Ich erinnere noch sehr genau die Fahrt nach
Krumlow in Tschechien: Wir kamen an die Grenze … den Pass bitte. Mein Gott, ich
war wieder einmal im Osten. Sofort veränderte sich alles, die Landschaft schien
wilder, unberührter, auch die Menschen. Alles „primitiver“. Auch Hel sagte es.
Die Orte weniger hergerichtet und zu Tode renoviert, vieles ganz verfallen,
abbröckelnder Putz, die Strassen trister, weniger Farben, Grau in Grau.
Dann
der Weg nach Krumlow an der Moldau entlang,
Menschenansammlungen und in der Moldau viele Kajaks, bunt, Wimpel und
Volksfeste am Ufer, Und muss jetzt an die vielen aufgehäuften Steine in der
Mitte des Flusses, wie Pfähle und Kreuze und jüdische Grabmäler, wo sich die
Erinnerungssteine häufen, doch auch an archaische Indianermale inmitten der
Moldau, die wir nach Krumlow entlanggefahren waren, denken.
Melancholie
an der schwarzen Moldau. Und du sagtest mir, was ich für ein Gesicht hätte;
etruskisch wirke es, klare Linien, doch durchscheine ein mystisches Licht,
Kubismus auch - sei da drin - und Expressionismus von innen, aber auch Mittelalterliches und etwas
Asketisches findest du in ihm, und
übersetzt in Musik: Zwölfton, doch auch Mahler und viel Beethoven. Und ich
versuchte ein Gegengeschenk, war aber unvorbereitet und spürte dir gegenüber
einen Mangel an übersetzbarer Bildungsphantasie, doch du warst vorbereitet,
hattest schon all das aufgeschrieben, schreibst heimlich an einem Ich über uns.
Und ich hatte dir ja vorgeschlagen etwas gemeinsam zu schreiben,
vielleicht ein Gespräch über
Generationen. „Nein, da ist es doch viel interessanter, unsere Liebesgeschichte
aufzuschreiben“, sagtest du schnell. „Einen Ich zusammen?“ „Nein, das muss
jeder für sich tun; die Perspektiven sind zu verschieden.“
Ich
weiß, du möchtest es für dich in deiner Einsamkeit bewahren, und da darf nicht
einmal ich eintreten. Und es hat dir leid getan, dass du mir deine nur für dich
gedachte Schilderung unserer Begegnung
beim Götz geschickt hast. Ich hatte ja
auch „komisch“ darauf reagiert, weil wieder zu viel von A. darin die Rede war,
auch eure Tage in Krumlow mit dem Königslied aus dem „Hochwald“, das mich an
die Moldausteine erinnert, die wie Totenköpfe sein können:
„Es
war einmal ein König,
Er
trug ne goldne Kron’.
Der
mordete im Walde
Sein
Lieb- und ging davon.
Da
kam ein grüner Jäger:
„Gelt,
König, suchst ein Grab?
Sieh
da die grauen Felsen,
Ei
springe flugs hinab.“
Und
wieder war ein König,
Der
ritt am Stein vorbei:
Da
lagen weiße Gebeine,
Die
goldene Kron’ dabei.“
Zum
Plöckensteinsee kamen wir nicht, der im
Dreiländereck liegt, und mal die Ostwestgrenze war, keinen Übergang und keine
Strasse nach „drüben“ hat, nur einen Fußweg heute zum Stifter-Denkmal und See
am „Grenzknoten“, Höhen über tausend Meter, jenes Blau der Berge, die wie
Feenhöhen auch aus deinem Elternhaus als Fernweh zu sehen sind, und auch in
Krumlow, der „grauen Witwe der verblichene Rosenberger“ schien uns jenes Stück
Dämmerblau und Dunkel herein, das leicht und schwermütig zugleich stimmt, weil
das Land so tiefdunkel wie die Mitternacht ist und auch zu schön und zu weit
ist für unseren Blick, der übrigens auch all das, was seit dem Krieg hier
geschehen ist, samt Vertreibung wie wir alles Zeitüberschichtete und wie das
ewig Bergüberschichtete genau so nicht fassen können, auch wenn es wie
grausamsanfte Ferne der Schönheit herüberleuchtet in Mutzendorf und im
böhmischen Dorf Oberplan und in Krumlau. Ach, ja, Krumlau und sein Schloss,
damals noch grau-unberührt vom großen Zeitenbruch als Stifter hier seine
unsäglichen „Pflichtliebesbriefe“ an seinen Besen, die hartknochig kaltherzige
Putzmacherin Mali, Tochter eines in Serbien stationierten Unteroffiziers
schrieb, die in Linz in der von ihm fluchtartig verlassenen Wohnung für Ordnung
sorgte.
Dunkel
ja alles, und Abgründe auch beim angeblich Harmonischen, von der Mali in die
Lebensverzweiflung dick gefütterten Poeten-Bürokraten, der auch die nur in
unserem Fernwehblick erreichte blaue Wand am See dort, „einsam und traurig“
findet, wenn man sie wirklich betritt, DORT IST, in den dichten Waldbeständen
der eintönigen Fichten und Föhren, die stundenlang im Moldautale emporführen,
wir streiften sie ja nur, vor allem im „offenen Lande“ am See, als dann der
Rogenbogen über Friedberg aufging, und den verstreuten Dörfern, unter denen
auch Oberplan, und am Seeende Friedberg, heut Frymburk, wo Stifter verstoßen
von ihrer Familie, seine junge Liebe ließ, um verzweifelt in Malis Fängen zu
landen. Oh, Friedberg, und das „offene Land“
wie sein Leben eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts
bestehend als aus tiefschwarzer Erde, dem dunklen Totenbett tausendjähriger
Vegetation des Vergessens, und doch da, auf dem viele einzelne Granitkugeln
liegen, wie bleiche Schädel, sich abhebend vom modernden Untergrund, und vom
Regen bloßgelegt wurden, gewaschen und rund gerieben. Und auch das weiße
Gerippe eines gestürzten Baumes dazwischen und die angeschwemmten Klötze aus
dem Seebach mit Eisenwasser. Und keine Spur, immer noch, keine Spur von
Menschenhand, weißer Ort, jungfräuliches Schweigen. „Da lagen weiße Gebeine,/
Die goldne Kron dabei.“ Nur diese Ferne, die Nähe dort siehst du aus deinem großen Fenster am Telefontisch
nicht: das unheimliche Naturauge, von
keinem Windhauch im Talkessel bewegt, starr schwarz, der schwarze Glasspiegel,
Nichts zu Wasser geworden, umsäumt von herabgestürzten zu Gebein gewordenen
Bäumen, die die Felswand nicht hielt, in „grässlicher Verwirrung“ in
„traurigem, weiss leuchtendem Verhack.
„Da
lagen weiße Gebeine,
Die
goldene Kron’ dabei.“
Wir
fuhren an der Moldau entlang. Und du sagtest nur Gutes über mich, als sollte
ich das Andere sein können und sogar müssen, das Liebe bringt, Wärme, Wärme und
nicht diese Kälte und Einsamkeit und Todesnähe des Vergessens. Und spultest es
wie eine Liebeslitanei, wie ein eingelerntes Gebet herunter, als müsste es sich
häufen, zusammenkommen in EINEM, den du in dir trägst, all die Eigenschaft, ein
Mann mit Eigenschaften eben: Du bist
großzügig, schnell, flink sogar, ich mag das nicht, wenn jemand so träge und
taaaa-ta—taaaa-taaaata daherkommt, bist väterlich-besorgt, was ich so sehr an
dir mag, Du bist ein Stück Heimat. Und du analysierst und reflektierst auch
alles so tief und weißt dann Bescheid. Und bist auch so vital, soviel Kraft strahlt
aus dir, und deine Präsenz nimmt ein, für dich, nimmt alles ein, du schaffst
Umgebung, die deinen Stempel trägt. Mit dir kann man Pferdestehlen, du machst
alles mit, man kann lustig sein mit dir,
alles mit dir machen. Überall
passt du dich wunderbar an, als wärst du überallundnirgends zu Hause, jaja, du
hast etwas von einem transsylvanischen Zigeuner … Ich hatte dir ja vom
Ahnenpass erzählt, dass die Vorfahren doch auch aus Böhmen kämen, und hierher
aus Schlesien eingewandert seien in die böhmischen Dörfer, dann Transsylvanien,
das Vielvölkerland, wo in jedem ein ungeheures Blutgemisch sei, und im
Ahnenpass gäbe es nicht nur Ungarn und Deutsche, sondern auch ein Zigeunerblut
im 17. Jahrhundert.
Und
dann kamen schon deine Fragen, als wäre alles nur eine Vorbereitung gewesen.
Sag, wie ist das mit diesem Rosenstock-Huessy und seine Eschatologie, sagtest
du, das kann doch nicht wahr sein… Da ist doch keine Wissenschaft dabei, dieser
Lauf zum Zeitende und zur Apokalypse hin… Und dann der Tod als Auferstehung…
ein neues Leben?
Apokalypse
heißt doch „Augenöffnung“, warf ich ein. Und nicht „wissenschaftlich“ das Ende
der Zeit in unserer gewohnten Welt? Es ist
doch so, dozierte ich: Zukunfts-Metamorphose ins Jenseits unserer
Vorstellungen, (Ende der Zeit und des Raumes)? Eine
Überschreitung der sogenannten "Naturkonstanten", (wie bei jedem
Paradigmenwechsel); die wichtigste "Naturkonstante" unseres Weltbildes
aber ist die Lichtgeschwindigkeit. Jenseits dieser 300.000 km pro Sekunde aber
lösen sich alle festen Körper in Licht auf; es gibt nur noch das Immaterielle,
Geistige. Denken wir nur an unsere "elektronischen Haustiere,"
Computer, Radio, Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal
"Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche
"Gedankenblitze" wie in der Kunst,
aus einem großen kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das
Nicht-Materielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles,
was geschieht, mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte.
Für sie gilt weder Zeit noch Raum. Und am Ende wird es Licht sein, in das sich
alles „auflöst“. Zukunft (immer in Richtung des Endes und des Todes als
ÜBERGANG, ist das Undenkbare, Unvorhersehbare, Unberechenbare, Junge,
Immeranfängliche, die Überraschung des Augenblicks in dem noch niemand war, er
geschieht in Einem fort, Nichts ist abgegriffen, alles ist „jeder-zeit“ NEU…Für
Eugen Rosenstock-Huessy ist das Christentum
„keine dekadente Anbetung des Todes“, nein: dieser Einschluss des Todes
ins Leben IST das unauflösbare „Geheimnis“ und Rätsel des sich ständig
erneuernden Daseins zur „Erlösung“ hin.
Man
könnte zu diesem wartenden alt/neuen Erlösungsparadigma den vor kurzem verstorbenen
Physiker-Philosophen, Mitstreiter der Göttinger Achtzehn, Carl Friedrich von
Weizsäcker zitieren: Dass die
christliche Eschatologie ein vorausgeworfenes Zeichen in der Geschichte sei.
Eugen Rosenstock-Huessy: „Noch gehört doch wohl der Weltuntergang zum rechten
Glauben, und das Leben im neuen Äon auch.“ Ja, es ist und bleibt für uns als
Menschen, die leben, nicht mehr wissen und wissen können, ein ungläubiges
Kreuz mit der Auferstehung vom Tode als
rätselhafte Hoffnung.
Aber
es ist doch die Liebe … sagte sie, die ist wirklich und gibt Zukunft… und ist
das Überraschende, Prickelnde.
Und
wieder reichte sie ihre Hand herüber auf meinen Schenkel. Und die Luft
knisterte erotisiert. Und, lachte sie, du küsst mich… und so überwinden wir
auch den Tod.
So
viel geschah bei dieser Fahrt. Auch Kritik kam, dass ich zu laut rede oft,
nicht immer offen sei, und hielte die Wahrheit gern zurück, rücke schwer mit
ihr raus.
Und
dann gestand sie, dass sie über unsere Geschichte schreibe. Beide schreiben wir
also? Jeder mit seinem Blick.
War
es dort am Wirtshaus-Tisch am Ufer der Moldau, wo junge Leute in ihren Kajaks
am Wehr und den Stromschnellen ihre Kapriolen schlugen, umschlugen, wieder
auftauchten gegen die Strömung anruderten,
dass du wieder vom „Letzten“ sprachst? Wie ich mich filmen sollte auf
der Toilette, etwas, was ich noch nie jemandem gezeigt hatte, ihr zu zeigen?
Die Scham zerstören, die letzte? Und in ihrem Brief vom 2. September mit der
lustigen Zeichnung, wie da einer auf dem Klo sitzt, steh ganz schön
blasphemisch: Gibt es eine Kloeschatologie? Wieso spricht sie immer wieder vom
Erlebnis in einem Restaurant nach dem Aufstieg zum Donon, bei der ersten
Begegnung, als ich krank war, Fieber hatte, und sie mich auf der Toilette unfreiwillig
belauschte, da die Wand zur Damentoilette ganz dünn war, und sie es nicht
wagte, etwas zu sagen, sich auch nur zu bewegen, weil es mir hätte peinlich
sein können. Immer wieder habe sie das Geräusch, „oft fürchterlich laut“ meiner
Winde gehört; und damals daran gedacht, einfach davon zu laufen, zu
verschwinden. Nachher aber war sie dann rührend meine Krankenschwester. Was ist
das für eine Anziehung des Vegetalen beim Lieben, der heimlichsten,
verborgendsten Körperfunktionen und der Intimität; ist es noch eine kindliche
Neugierde an diesem Geheimnis des Andern, und so erotisch, weil es ein Tabu
ist, fast wie die Züchtigung und das tiefste Bekenntnis, die Beichte? Ein
Seelenentblößen, wie die geheimste und einsamste Körperentblößung, das Letzte,
das nur uns allein gehört?
Hatte
sie aber nicht heute Morgen schon gesagt, dass wir auch etwas anderes tun
müssten, nicht immer nur dasselbe, uns unseren Körper überlassen, die eine
ungeheure Attraktion einer auf den andern ausüben, so gut zusammenpassen, dass
wir uns nicht wehren können, sondern zum Streicheln und Berühren, zu zärtlichen Hautsinfonien getrieben werden?
Wo
war es, doch nach Oberplan, wo wir das Stifterhaus besuchten, dann aber am
riesigen grünblauen Moldaustausse gleich
am Ortsausgang eine fahrbare Bude mit Fischverkauf und Bier fanden, und Hecht und Forelle kauften, Bier tranken,
und ich mich ein wenig ärgerte, als sie mich nicht bestellen ließ, nichts sagen
ließ, sondern alles an sich riss, sie hat diese Art bei Einkäufen, aber auch
sonst wenn wir mit Menschen umgingen, etwas erfragten etc.; und ich sagte ihr
dann auch nachher, als wir ins Reden kamen, sie mich fragte, was mich an ihr am
meisten störe, dass sie immer die erste Geige spielen wolle, und ich sei leider
auch so einer, und zwei erste Geigen gehen eben nicht gut zusammen. oOder
gerade? Wenn sie beide gleichlaut und gleichschön spielen?
Wir
fuhren weiter, und in der Ferne tauchte über dem See und dem Wald ein großer
breit gefächerter Regenbogen wie eine wunderbare Fata Morgana auf, und Hella
(wie ich Hel oft nannte, weil es so weich klang!) war entzückt und staunte wie
ein Kind über das Naturwunder, „wie schön“! Ein merkwürdiger Kontrast zwischen
der so wunderschönen Landschaft und den Menschen, die so hart und mürrisch
wirkten, auch die Bedienung dort an der Moldau war unhöflich und
unwirrsch, so dass Hella mal über das Mädchen,
das uns die zähen Gerichte brachte, sagte, „die würde bei uns sofort
rausfliegen, Mädchen, Mädchen, musst noch lernen!“ Nur die Fischverkäuferin,
sie sprach deutsch, erzählte von der Fischerei und den Fischen, war freundlich
und aufgeschlossen. Vielleicht, sagte ich zu Hella, ist es der alte Hass auf
die Deutschen, und auch unbewusst die Angst, dass sie diese ehemaligen
deutschen Gegenden zurückfordern würden, obwohl die Grenzen und die
Grenzziehung längst klar und abgesichert sind.
Das ernsteste und tiefste Gespräch ging los,
als Hella auf meine Frage, was sie am meisten beschäftige, loslegte… Dass das
Leben trotz allem schön sei, und wir uns durch die Verbrechen anderer nicht
irre machen lassen dürften… Nein, Welt- und Lebensvertrauen, das lasse sie sich
nicht nehmen…
Und
ich wusste, dass ich genau dieses von ihr zu lernen angefangen hatte, und hörte
mit meinen Belehrungen auf, schwor mir, mein Kopfgift und das furchtbare
„Downerprogramm“ aufzugeben…
DEUTSCHLAND. Schwarzwald. Todtnauberg.
Die Heideggerhütte
Liebe auf
Reisen. Todtnauberg
In Freiburg tankten wir, Ich stand am
Zapfhahn und ich kaufte noch Kaugummi, dann ging es weiter. Todtnau war schon
angeschrieben und wir waren fast enttäuscht, dass das Abenteuer des Kartenlesens
schon vorbei war, bevor es richtig begann. Manchmal durchblitzte mich der
Gedanke, dass es der letzte Tag war. Aber irgendwie war alles noch weit weg und
die Hinfahrt war einfach zu schön und zu lustig.
Aber
es verbindet sich ja nun die Zeit in einem einzigen Punkt, alles fließt
zusammen, und manchmal glaub ich, verrückt zu werden. Begann jetzt nicht das
Schönste, ich mit der Karte auf den Knien, die Linke in deiner Rechten, ab nach
Todtnauberg. Und leitete dich über Breisach, Freiburg, Kirchenzarten zu unserer
Liebesnacht in Todtnauberg. Und diese Landschaft des Südschwarzwaldes um uns,
eine Himmelslandschaft mit Almen, Tannenwäldern. Nebel. Regen, nur manchmal kam
die Sonne durch und beleuchtete fast geisterhaft-außerweltlich die Höhen. Und
ich erzählte dir die Geschichte von Celan und Heidegger und ihrem gescheiterten
Treffen in Todtnauberg.
Und
immer wieder stehst du wie eine leuchtende Erscheinung duftend vor mir, so nah, als könnte ich dein
Gesicht streicheln, küssen, wir sitzen ja im glücklichen JETZT, in jenem Heute,
dem 11. 11., das nicht vergehen kann, sitzen im Auto, fahren die Serpentinen
nach Todtnauburg hinauf, Nebel im Tal, wie ein Wolkengesicht, das nur manchmal
wie ein Blitz von der Sonne gespalten wird, auch unsere Gesichter erhellt, du
frierst, ich gebe dir meine Pelzweste, du hast eisige Hände, ich reibe sie,
wärme sie,
Aber
„JETZT“ in unserem Jetzt, sind wir doch noch am Ortsschild von Todtnauberg; die
Tage müssen stehnbleiben, auch dieser Augenblick darf nie mehr vergehen… nie
sich dem Ende zu bewegen… und ich nahm den Plan des Ortes, und wir fuhren, wir
lebten, wir fühlten uns, wir sahen die Landschaft, wir sahen uns an, wir waren
neugierig, alles war ALLTAG, All Tag? Nichts Aufregendes, Alltag? Und ganz
einfach alles, fast schon gewohnt, zusammen ein Wir. Wir fuhren zuerst zum
Hotel „Enzian“
Die
zierliche, fast zerbrechliche Wirtin mit dem
kantigen und wetterfesten Vogelgesicht führte uns in den Frühstücksraum,
und dann gleich hinauf zur Besichtigung der Zimmer, erzählte auch gleich, und fragte, ob wir denn
zum Heidegger-Kongress gekommen seien. Wir blickten erstaunt, denn tatsächlich
waren wir ja auch wegen Heidegger und Celan hier, und fragten neugierig, was es
denn für ein Thema sei, und wo? Sie wusste nichts Genaues, sie könne sich aber
erkundigen. Die beiden Einzelzimmer, die sie uns dann zeigte, waren ganz annehmbar,
sie gefielen auch dir, hatten auch etwas Aussicht auf die Täler im Nebel wie in
Watte vor uns und den Wäldern, Wiesen und Höhen, die in den Wolken lagen.
Freilich, du wolltest wieder ganz weit weg, am liebsten in einem Gelass in der
Mansarde, direkt unterm Dach.
Wir
fuhren noch zum größten Wasserfall Deutschlands, hörten das Tosen und Rauschen
kurz vor dem Eingang des Ortes, fanden den Zugang nicht gleich, auch war es
schon fast dunkel, und wir scheuten uns hinabzusteigen. Nahmen uns vor, es
vielleicht morgen früh vor der Abfahrt nochmals zu versuchen; doch so schien es
für uns, waren wir weniger an Naturwundern interessiert als an Kultur?
Am
Morgen dann.
Es
war sehr spät, schon nach acht, und um 12 ging mein Zug von O. wieder ab; wir
sprangen beide fast gleichzeitig erschrocken aus dem Bett. Und ich sagte, dass
ich mich sehr schnell fertig machen kann. „Ich auch“, sagtest du und gingst mit
dem Bettzeug schnell in dein Zimmer. Ich hatte noch ein Faltblatt „Heidegger in
Todtnauberg“ gestern gelesen, nahm jetzt eines auch mit.
Mit den gepackten Sachen dann zum Frühstück.
Das war schon gedeckt. Und die Wirtin von gestern grüsste, brachte auch gleich
den Anmeldeschein und die (bescheidene) Rechnung. Stellte quasi die Dame am
Nebentisch vor, sie sei eine Teilnehmerin der Heidegger-Tagung. Man merkte, wie
beflissen die Wirtin war. Sie erzählte von der Bekanntschaft der Familie mit
Heidegger. Und auch ihre Tochter sei ja in dieser Branche tätig, Buchhändlerin
bei Witwer am Bahnhof. Er wirkte peinlich dieser
Minderwertigkeitskomplex. Ich begann die
Tischnachbarin auszufragen, sie wirkte irritiert, vielleicht hatte sie unsere
Nacht mitbekommen. Ich erzählte von
Heidegger und Celan hier. Sie meinte, es ginge bei der Tagung nur um Heidegger
und Trakl „Auf dem Weg zur Sprache“, mehr um Linguistisches! Sagte immer nur
„Ja“ oder „Nein“ oder „Ich weiß nicht“. Und fragte nur: „Sind sie auch sein
Landsmann?“. „Wieso, hört man es denn?“ „Ja, den leicht singenden melodiösen
Ton!“ Und ich fragte dich dann auch noch etwas irritiert: „Hört man das denn
so?“ Und du: „Ja, schon das Melodiöse, den Singsang. Ich mag das sehr an dir.
Und ich mag auch deine Sprachsicherheit.“
Wir
blickten von unserem Tisch aus zum Fenster hinaus, endlich schönes Wetter,
blauer Himmel, Sonne blitze über die Wiesen und Höhen in ein wunderschönes Tal.
Ich wollte dir noch schnell die versprochenen
Fotos aus der Kindheit zeigen, und auch die aus der Brieftasche: Mutter, Michi, den du lang ansahst, stumm.
Fast mit Widerwillen aber das Foto meines Hauses in C.
Von
den Kinderfotos aber warst du entzückt, fast hättest du in die Hände
geklatscht. Ich gab dir ein Bild mit meiner Schwester als Fünfjähriger und mit
großen dunklen Augen. Und ein lachendes Foto als Student. Das liebst du, und
auch ein Foto aus C. mit Lederhut, wo
ich lachte, hattest du gern, weil man dort meine Hände gut sieht, die
Streichelhände mit den weißen
pigmentlosen Vitiligoflecken.
Gott,
wie die Zeit jetzt wieder rast, unaufhaltsam weg von uns; und wann sagtest du:
Ich hab mich wieder in dich verliebt?! Am ersten Tag schon, am Bahnhof schon?
Aber
ich spürte es, wie du kaum reden und kaum schlucken konntest, wahnsinnig
traurig warst; ich versuchte, das nicht hochkommen zu lassen, auch dich zum
Lachen zu bringen, fröhlich zu wirken.
Mit
einem Geschenk, einer Art Saunabürste verließen wir am nächsten Tag das
gastliche Haus „Enzian“. Für immer? Stiegen ins Auto und fuhren zur Heideggerhütte.
Du hattest dich erkundigt, bis nach O. braucht man nur eine Stunde und zehn
Minuten. Es war neun, halb elf mussten wir abfahren. Also anderthalb Stunden
Heidegger. Auf dem großen Parkplatz stellten wir das Auto ab, gingen zu Fuß
weiter auf dem beschilderten Heideggerweg. Eine herrliche Aussicht über Wolken
und Berge hin bis zu den Vogesen. Der Pfad war unser Liebespfad, Hand in Hand
immer, und der Abschied drängte uns zusammen, als könnten wir ineinander
eintauchen, immer wieder blieben wir stehen, um uns zu streicheln und zu
küssen.
Und
dann juckte uns der Hafer als wir an einer Bank und einem Hinweisschild mit
Heideggerbild und ein Bild seiner Elfriede vorbeikamen. Ich hinterließ mit
deinem Lippenstift die denkwürdige
Inschrift auf dem Heideggerhinweisschild: „Du
schreibst – wir leben das Sein!“
Und
lachten, lachten, lachten. Mokierten uns über ihn, der da stand mit komischem
Hut, auf den Wanderstab gestützt, visionär weit in die Ferne blickend! Und treu
seine Gattin mit ähnlichem Blick daneben.
Und
dazu sein Gedicht über das Land hier:
Wälder
lagern
Bäche
stürzen
Felsen
dauern
Regen
rinnt.
Fluren
warten
Brunnen
quellen
Winde
wohnen
Segen
sinnt.
Wir
gingen zu weit auf diesem Pfad, eine Art via dell amore! Suchten überall die
Hütte, in jedem Transformatorenhäuschen, jeder Heuhütte, Almenhüttchen. Ich
filmte mit persiflierendem lachendem und rufendem Kommentar alles. Und wir
fanden dann die umgestürzte Tafel, das Hinweisschild zur echten Heideggerhütte,
der legendären. Ja, da war sie. Mein Gott, ein popeliger armseliger Schuppen,
ein Jägerhüttchen war das mit
geschmacklosen grünen Farben, einem winzigen Vorplatz mit Bäumchen, naja
wenigstens der Schwengelbrunnen mit fließendem Gebirgsquellwasser war urig und
echt, an dem sich auch der Meister mit unnachahmlicher Pose hatte fotografieren
lassen. Und hier also soll der größte Teil seines Werkes entstanden sein? Hier
sollte man vor Ehrfurcht niederknien? War auch
der pathetische Celan hier vor Ehrfurcht gestorben, nein, der eben
nicht, und hatte sich nur im Hüttenbuch, wo sich ja große Namen verewigt
hatten, eben auch Nazis, eingetragen,
woraus dann sein Gedicht „Todtnauberg“ entstanden war. Und am Brunnen fielen
mir seine Zeile ein: „Arnika, Augentrost, der/ Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf.// In der Hütte..“
Celan
war 1967 hier gewesen und dieser Besuch hatte seine Spuren auch in uns
hinterlassen… Es hieß ja, dass Celans Gedicht „Todtnauberg – das Gedicht einer
epochalen Begegnung, das Beschwören einer Hoffnung, ein Bekenntnis, welches
einen Welthorizont aufreißt …“ sei, so der Augenzeuge und Celan-Freund Gerhart
Baumann: „Dieses Gedicht, eine unbedingte Forderung, ein unerhörter Anspruch …
Stimme zu einem benennbaren Du… musste auf ein ´ungesäumt kommendes´ Wort
pochen, auf das Geständnis eines unsühnbaren Irrtums, einer Schuld …“
Und hätte ich jetzt mein Gedicht, den beiden
Kontrahenten, dem Juden und dem ehemaligen Nazirektor gewidmet, vorlesen sollen?
Ich dachte nicht daran, ich hatte es
aber mit dabei. Und eigentlich fehlte jetzt etwas hier, nämlich der
Heidegger-Celan-Spaziergang im nahen
Hochmoor von Horbach.
Und
ich hatte mir vorgestellt, dass unsere Liebe, unser Liebesflüstern hier wie ein
Blitz alles reinigen könnte, vor allem die Sprache. War ich größenwahnsinnig oder fühlte ich diese
Reinigung so stark, weil unsere Liebe
bis in den Himmel reichte? Und ich hatte das Gedicht DIR gewidmet. Und das ging
so:
1
Hol
dich ein in der Hütte mit dem Dichter/ und dem Denker
der
stumm Nichts wissen wollte vom Unheil
Der
Dichter aber
Ein
Jude war so spät
unterwegs
zur Sprache geworden …
Von
der ermordeten Mutter
Und
forderte auf den Deutschen
in
der Hütte: Bekenne was wahr ist!
Braun
das verwelkende Laub des Vergangenen
Herbst/
Herbstzeitlosen fehlende Jahre/ Jahrtausende
Nass
die Sekunde
Dachten
wir beide hier auch an ein Nachhausekommen? Ja, wir wussten es, zusammen sind
wir zu Hause.
Und
sagten es uns immer wieder, immer wieder, dass es ein Heimkommen ist!
2
Und
wir ein Ja du und ich
Wir
mit unserer Liebe im Reinen
Können
wir sie früh am Morgen
schön
waschen die Sprache
Und
liebend erwecken?
Hier:
kann sie mit uns auferstehn!?
Lass
uns die Zeiten vermischen
Wie
unsere Glut die in uns zittert
Lass
uns die Worte oben mischen
Mit
denen die Mörder das Töten befahlen
Lass
uns sie waschen im Liebesgeflüster
Lass
sie uns jung in die Lippen tauchen
In
Küssen so zur Welt
Gebracht/
sie und uns
Liebste
zu einer neuen Geschichte.
Umarmten
und küssten wir uns hier? Nein, wir fassten uns nicht einmal an den
Händen?! Schlechtschlecht! Die Realität
war nicht so hochfliegend, ja, war sogar recht enttäuschend. Warum küssten wir
uns ausgerechnet hier nicht? War die
Aura hier, der genius loci nicht danach?
Gab es etwas stark Zerreissendes hier, einen Widerspruch, der fühlbar
wurde? Vielleicht das ausgesprochen Antiethische in seinem Denken, das ihn auch daran hinderte, irgend eine
Schuld einzusehen? War es vielleicht
tatsächlich so, dass es keine Verantwortung gab, weil etwas unsere Taten
bestimmte, gegen das kein Kraut gewachsen
war? Oder war es die Anwesenheit Paul Celans hier? Wir schufen uns wohl etwas
Luft, es gab ein Ventil, das „Lästern“: Und küssten wir uns so nicht, weil wir wieder viel zu lästern hatten! Du
filmtest mich lachend mit Heideggerpose am Brunnen. Und ich filmte das Hüttchen plus die Nähe des Dorfes.
Kaum fünf Minuten vom Dorfrand entfernt lag diese „Welteinsamkeit“ des Denkers.
In fünf Minuten konnte man wohl den Bäcker erreichen. Und auch Hotel „Enzian“ war zu sehen, wir hätten es zu
Fuß in zehn Minuten erreichen können!
Eine
Art Leichtigkeit erlaubten wir uns. Und erst später kamen wieder die schweren
Gedanken, die dieses Zweischneidige hier, auch das Unreine, das Aufgeblasene,
das Unnatürliche, das sich im „Natürlichen“ versteckte, unerträglich intensiv empfand,
wohlgemerkt, bei beiden, die Anmaßung
auch bei Celan, gleichzeitig mit der Bewunderung, was da alles in diesem
Hüttchen in einem Menschenhirn vorgegangen war!
Und
dann mussten wir los. Ein Drang überfiel mich aber plötzlich wieder, ausgerechnet jetzt; war es eine
unbewusste starke Erregung? Vielleicht gehörte das jetzt als die natürlichste Blasphemie der Welt dazu. Und so praktisch wie du auch in vitalen und organischen Dingen bist, sagtest
du ganz einfach: „setzt dich doch da unter die große Tanne, ich geh weiter.“
Und so tat ich’s mit heruntergelassenen Hosen und Tempotaschentüchern von dir
mit Blick auf die wichtigste Philosophenhütte Deutschlands in diesem
Jahrhundert…
Du
wartetest auf der Heideggerbank mit unserer Inschrift, die ja jetzt da bleibt;
wir aber mussten dem Abschied entgegen fahren, stiegen ins Auto, hatten noch
genau anderthalb Stunden zusammen-Sein.
Und Zum Reisen gehört immer der
Abschied
Sie schrieb am Dienstag, den 12.11: Nun ja, jetzt ist es eben doch passiert. Er
ist nicht mehr da, das Leben geht weiter. Lustig immer wieder: Es geht auch
weiter, wenn man gar nicht will, dass es weitergeht. Ich wusste natürlich, dass
es diesen Moment geben würde. Ich hoffte trotzdem, er käme nicht. Dass es
irgendwann mal keine Abschiede mehr geben würde, habe ich gehofft. Idiotisch,
wie man immer wieder daran festhält! Er ist in den Zug gestiegen und gefahren.
Das heißt, der Zug stand und der Ich stieg ein. Ich hielt noch seine Hand, in
die ich den Stein und das Seidentuch mit den Rosen gelegt hatte. Überhaupt
dachte ich, es würde genügen, seine Hand zu nehmen, und dann, Abrakadabra,
bleibt er für immer da. Manchmal habe ich noch so kindliche Anflüge von debiler
Naivität, dass ich mich über mich selbst wundere. Zum Auto bin ich wegen dem
Stein und dem Tuch noch zurückgelaufen, weil ich in der aufgewühlten, nach
außen aber verhaltenen Stimmung wirklich alles vergessen habe, grad dass der
Kopf noch auf den Schultern saß. Unterm Laufen stellte ich mir vor, dass Ich,
auf dem Bahnsteig zurückbleibend, eigentlich jetzt denken könnte, ich würde
versuchen, dem Abschied auf diese Weise zu entwischen. „Ich komm gleich wieder!
Ich habe etwas im Auto vergessen!“ Als ich zurückkam, stand er aber ruhig
wartend da, naja „ruhig“ ist ein Wort, nein, er war schon etwas in Sorge, ich
sah es an seiner Körperhaltung und wir fielen uns ein letztes Mal in die Arme.
Das letzte Mal nach drei Tagen des ersten Mals. Ich habe ihn so gespürt, seinen
Körper, in den ich mich verliebt habe, sein Gesicht an meinem, seinen weichen
Atem, seinen Rücken, den meine Hände nackt und heiß gespürt hatten und ich
dachte mir, dass alles in ihm funktioniert, die Organe Blut pumpen, sein Hirn
speisen, sein Herz, dass die Knochen ihn tragen, auch jetzt bei der letzten Umarmung
auf dem Bahnsteig, und dass ich diesen Mann liebe und nicht will, dass er geht.
Romans Kuss, unser Kuss, leidenschaftlicher Kuss, tiefer Kuss, brannte noch auf
meinen Lippen, als er schließlich in den Zug stieg. Ich lachte, weil ich mir
vorgenommen hatte zu lachen und nicht zu weinen, das kann ich auch nachher noch
machen, habe ich mir gedacht. Und etwas anderes ist passiert. Romans kraftvolle
Energie und Hoffnung sind in dieser klassischen Abschiedsszene auch auf mich
übergesprungen, oder wir riefen diese Hoffnung gemeinsam ins Leben, keine
Ahnung. Die Hoffnung – oder eher das Wissen – alles würde gut. So oder so. Aus
zwei wird drei.
Die Abschiedssekunde kam wie sie immer
kommt, auch wenn man sich in Sicherheit wähnt und im Glauben, die Zeit ausgetrickst
zu haben. Die Ewigkeit ist genauso
endlich wie die Unendlichkeit und ich kenne die Schlusslichter der Züge, die
rotglühenden Augen am Tag und in der Nacht und das Hochklappen des
Mantelkragens so gut, dass mir schlecht wird. Es ist unmenschlich, sich in dem
Moment zu trennen, wo es mit dem Küssen klappt. Und wenn sich die Wesen ineinander
verstrickt haben. Jetzt liegen die Maschen aufgetrennt um mich herum und mit
den Worten versuche ich sie aufzurollen zu einem Knäuel der Erinnerung. Na
toll. Da kann ich mir dann einen Pulli draus stricken, oder Handschuhe,
Fäustlinge, Fingerlinge. Mir kommt’s so vor als hätte ich nichts, woran ich
mich festhalten könnte, außer diesem Kopf da und dem traue ich auch nicht.
Schon gar nicht, seitdem ich in Romans Augen gesehen habe. Das Herz, ein
bisschen weiter links, ist sowieso keine große Hilfe. Es braucht ständig Zuspruch
vom irritierten Oben, sonst ersäuft es mir. Ich muss an die südamerikanischen
Scharlatane denken, die so tun, als würden sie einem die Organe bei lebendigem
Leib herausnehmen und statt des Krebsgeschwürs eine tropfende Schweineleber zu
Demonstrationszwecken hochhalten. Ich stelle es mir unheimlich befriedigend
vor, einen Kiesel dort hineinzulegen, wo einmal das Herz gewesen ist. Eine
Hand, die drüberstreicht bis Haut sich unversehrt über Wunden schließt. Und
dann frage ich mich auch, weshalb ich eigentlich noch Lippen und Augen habe,
wenn ich Ich nicht mehr küssen und sehen kann. Zum Sprechen und Lesen, Hella.
Ach so?
Als der Zug sich in Bewegung setzte, rief Ich
noch: „Ich bin froh, dass der Abschied SO ist und Du lachst!“ und ich meinte
mit fester Stimme „Es war viel zu schön mit Dir, als dass ich jetzt unglücklich
sein könnte!“ Und das stimmt. Verrückt! Es war eigentlich alles viel zu schön,
um traurig zu sein. Ist es nicht wunderbar, dass wir uns haben?! Ich lief noch
ein wenig neben dem Zug her und winkte zur Freude der Bahnreisenden mit meiner
schwarzen Kappe, bis die Schlusslichter hinter der Biegung am Horizont
verschwunden waren. Ich winkte mit seiner Mütze zurück, bis er sich als
Pünktchen aufgelöst hatte. Ich wollte sie nicht haben, seine Mütze, weil sie
ihm so gut gestanden hat. Und jetzt habe ich gar nichts von ihm. Nichts. Nicht
mal ein Haar. Nichts. Doch, auf meinem schwarzen Mantel haben sich weiße Haare
im Kaschmir verfangen. Soll ich die jetzt rausfischen und in einen Schrein
legen, Räucherstäbchen anzünden und mich bekreuzigen? Meine Hände fallen
dauernd ins Leere. Ich habe nichts zum Anfassen von ihm. Ich kann ihn nicht
mehr streicheln und weiß nicht, wie das Leben jetzt einfach so weitergehen
soll, einfach so, nach dieser Körpernähe, die sich mit der Herznähe verbunden
hat. Wie kann man nur so leichtsinnig sein und den Zug abfahren lassen? Noch daneben
herzulaufen und lachend zu winken, kommt mir jetzt wie ein Verbrechen vor.
Als ich unter den Gleisen hindurch in
Richtung Auto ging, war Vakuum in meinem Hirn. Man stakst wie unter einer
Glasglocke auf Wattebauschen, die Geräusche vermischen sich zu einem Flirren, alles
wird mechanisch. Und dann dachte es in mir: „Die Gegenwart ist soeben auf den
Schienen davon und an der Herzseite zieht’s.“ Der Satz: „Die Gegenwart ist
soeben auf den Schienen davon.“ brachte mich zum Lachen, als mein Blick auf den
leeren Platz vor dem Haupteingang fiel, wo ich ihn vor drei Tagen mit
klopfendem Herzen und flatternder Freude abgeholt hatte. Ich kann eigentlich
nicht sagen, dass ich traurig gewesen bin, als ich ins Auto stieg. Die Sonne
schien wie im Frühling und ich war eben wieder allein. Ich bin wieder allein.
Nein. Ich bin ohne ihn. Kaum zu glauben. Er ist nicht mehr da. Er war da. Vor
zwei Tagen, vor einem Tag und gestern. Heute ist er wieder gefahren. Eine
Odyssee bis zum Flughafen und zurück nach Italien zu seiner Frau, seinem Haus,
seinem Hund, seiner Katze, seinem Boot, seinem Garten, seiner Natur, seinen
Freunden, seinem Schreibtisch, seinen Büchern, seinem Leben, seinem Wein. Die
Reihenfolge ist variabel und erweiterbar. Aber sie ist auf jeden Fall ohne
mich. Ich bin hier, visiblement. Huhu, zwick’ mich doch mal. Jaja, die
Wahrheit? Aber zum Jammern habe ich auch keine Lust. Diese lamentierenden
Jeremiaden. Was soll’s? La vie est maintenant. Aber es gibt uns nur EIN MAL.
Und DAS, dieses so glasklare Bewusstsein, dass es ihn und mich, 68 und 31 nur
JETZT noch so gibt und die Zeit nicht stehen bleibt und auf uns wartet, dass
Züge abfahren und nicht umkehren, wühlt mich plötzlich auf, macht mich unruhig,
würde mich nicht unruhig machen, hätte ich nicht die Tiefe unseres Rundwesens
gespürt. Das Schicksal hat uns angesehen, oder das Leben, wie man es auch
nennen mag. Und darin lag Sinn. Ein tiefer Sinn. Es gab plötzlich einen SINN,
ein „So muss es sein.“. Wir waren sinnvoll. Nun gut. Wenn es wirklich so ist,
dann wird es auch so werden. Und jetzt? Die Zeiten vermischen und überschneiden
sich.
KATALONIEN
31.12.99
Zum Werk gehört auch die
- Psychiatrie, Erfahrungen mit
Klosterneuburg, Arezzo. Die Sendungen, Hörspiel. Tagebuch.
Adalgisa Conti.
- Die Reisen. Mexiko vor allem.
Und was bedeutet diese hier jetzt in
Katalonien?
Barcelona: Picassos Vs, der
Mann-Voyeur! seine Kopien, seine Umwandlungen ins Eigne. Und so meine Werke
auch gestalten, wie er die Las Meninas. Degas und die Huren! Illustrationen
mener Poesia erotica.
Der unmögliche Gala-freund, sein
„Schloß“ in Figueres.
Dann aber Walter Benjamin in Portbou
und der Kontrast zu diesem Dollarmaler mit seinem Cadillac. Ein Scharlatan.
Dali.
Dann aber VIC, die Totenkirche mit em
Michelangelonachahmungen des katalanischen Muralisten, dann Juan Rulfo mit dem
Totenroman Pedro Páramo, Transsylvanisches als Vater-Totengespräch.
Vater fragte mich, wieso ich denn
überhaupt zu dieser Geschichte gekommen sei, und ich sagte zu ihm, Ja, Tata,
bevor ich ganz naiv werde, was ich am liebsten möchte, als wäre ich wieder ein
Knd in unserer Stadt, sag ichs so, weil
ich jetzt so bin:
Nachdem ich in den letzten Tagen des
vergangegenen Jahrtausends das Picasso-Museum in der via ... Barcelona mit den
zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez und den umgewamndelten erotischen
Huren-Zeichnungen von Degas zu
picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich
whnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mir mit den Worten: Hier,
sieh, das ist genau dein Thema, in die
Hand gedrückt hatte, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das
ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in dr Düsternis
plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht
wie ein Film über das, was umsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah,
war ich dazu entschlopssen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der
Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer
transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto
gestanden hatte, mit Hilfe des Mexikaners wiederauferstehen zu lassen.
Wie
ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm?
(Viellleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich
an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu
solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem
Arbeitszimmer Totenstimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus
dem Zimmer flüchten, wel sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
Ich
dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als
GedächtnisStütze verwenden wollte.
Denn
auch mußte es immer wieder tun, immer wieder, wie unter Zwang, als hätte ich
dort wirklich etwas Unersetzliches, Kostbares verloren, das nirgends anders zu
bekommen war als in Siebenbürgen. Ich fuhr also nach Hause, S. (sprich ES) heißt der Ort, und hier sollte
mein Vater immer noch leben. Niemand würde es mir glauben, nicht mal meine
Mutter, mein Bruder oder meine Schwester schon gar nicht – wenn, ja, wenn es
die vielen Erinnerungen nicht gäbe, von denen unsere alte Stadt Schäßburg, die
so leer wirkt, dicht besiedelt ist; also dann kannst du es mir ruhig glauben,
würde ich ihnen sagen: er lebt immer noch hier, wie Großvater oder die Ami hier
leben, und natürlich alle die andern, dazu mußt du gar nicht auf den
Bergfriedhof gehen, die findrest du doch in dir selbst, samt ihrer vertrauten
Stimme! Doch nein, alle tun so, als gäbe es sie nirgends mehr, vielleicht noch
auf Fotos!
Auch
Mutter, die ihnen eigentlich am nächsten stehen müßte, verschließt sich ganz,
lebt ganz hier, die Fotowand mit den vielen Familienbildern, den Gesichtern und
vertrauten Köpfen, alle tun so, als gäbe es sie dort an der Wand noch wirklich,
scheinen ihr zu genügen; nur manchmal wird die Erinnerung übermächtig, dann ist
auch Mama nicht mehr da, und dann erst ist sie wieder die alte, als hätte sie
sich bisher auch ganz vergessen.
So gab es eines Tages eine ernste
Stunde, die wir fürchten, sie mußte in
die Klinik, und alle dachten wir, das Schlimmste könnte eintreten. Da hatte
Mama mich ganz überraschend gebeten, meinen Vater aufzusuchen. Und ich drückte
ihre Hände, versprachs, und sie schien schon etwas verwirrt, denn sie sagte, er
heißt Victor. und wird sich sicher freuen, dich „so“ kennenzulernen! Was heißt
so, und wieso Victor, Vater hieß doch Erwin K. und er kennt mich doch, dachte
ich, nahm aber Rücksicht auf Mamas Zustand, sagte nichts mehr versprachs nur
immer wieder. Sie murmelte noch: Meine
alte Liebe! Und laß es ihn teuer zu stehen kommen, mein Sohn, daß er es getan
hat!
Ja, ich will fahren, Mutter! Und fragte nicht
mehr.
Es war seltsam; ich glaubte nicht daran, und doch begann es
in mir u arbeiten, und s etwas wie Hoffnung entstand, die meine Träume nährte,
die immer häufiger Kindheitsträume waren. Und zugleich einen bösen Zwiespalt in
sich trugen zwischen diesem Victor und meinem Vater; und schließlich kam eine
makabre Neugierde dazu, und auch Angst, was für ein Geheimnis wohl
dahintersteckte, in jeder Familie gibt es ja so grauenhafte Heimlichkeiten, ja,
sogar verschwiegene Verbrechen. Und diese Unsicherheit kam dazu: Wer war dann
eigentlich mein Vater, was würde geschehen, wenn es nicht jener meiner Erinnerungen
war? (Padre incero est?) Und die geliebte Stadt, wohin ich mich vielleicht noch
zu allerletzt zurückziehen konnte, wenn im Leben alles schief gehen würde, und
eine Menge war schon schief gelaufen, zurückziehen könnte, wenn dieser letzte
Ort auf dieser Welt, dann endgültig
verschwinden würde?
Immer noch bin ich da, und das war am
Friedhof mit dem Grab der Dichterin in Romanyá de la Selva, das ich durch
Gitter hindurch filmte, und der kalte Wind sauste und wird dann auch zu Hause
im Fernsehen zu hören sein, und es
stimmte genau, was ich sie jetzt hier oben flüstern hörte: Das Geheimnis dieser
Last, die ich in mir trage und die mich nicht atmen läßt. Auch die Welt war
nicht da und war mehr da denn je! Und wie bei ihr ist es egal, wo ich jetzt
anfange, zu meinem Leben kann ich nichts mehr hinzufügen, nichts mehr wegnehmen,
es ist unausweichlich abgeschlossen ...
Wichtig sind noch Reisen. Heute war
das Tossa de Mar, erinnerte auch Vik nördlich von Barcelona, als wärs eine Fahrt nach Rostock und
Warnemünde und dann Stralsund, wo Onkel A. im Krieg gewesen war, den der Spieß
doch damals so busereirt hatte; genau in Stralsund vor Jahren mit Thorsten
erinnerte ich es, denn in Vik gibt’s ähnliche Häuser „modernista“-Häuser, und
die Totenkirche in Vik, ach, hieß der andere, den ich in Mamas Auftrag zu Hause
suchen sollte, nicht auch Vik, der, den ich suchen sollte, ja, Vater, es ist
eine Totenerinnerung, ich bin gestorben und weiß es nicht, suche aber weiter,
du hockst in der Erinnerung, wachst manchmal auf und fühlst mich? Hörst du
mich? Lassen wir die andern, die da durcheinanderreden!
Hab
ich mich verirrt? Komm doch jetzt nach Hause? Erstaunlich, alles steht noch da;
und muß kaum suchen, Vater steht ja da im Stadthaus, im Speisezimmer, an den
schwarzen Kachelofen gelehnt, denn es doch gar nicht mehr gibt, das Hochwasser
der Kokel hatte es weggerissen! und sagt, Du bist schon da, bist schon zu uns
gekommen? Es geht ein wenig durcheinander bei uns, das macht aber nichts, es
ist ja wie ein Traum: so lebt man eben als Toter (Senkwos. Sendung dazu). Und
wenn ich das Papier rascheln höre, sind es alte Schulhefte ...
Durcheinander Schlaf/Todesebene/
Transsylvanien/
VT-MSK.
Es ist eine Ewigkeit vergangen. Und wir sind auch
schon längst zurück aus unserem Urlaub
in Katalonien, und der Feste, und mehr oder weniger Feste mit den
Familien in Deutschland, wo es vor allem um Lindes alten Vater und meine alte
Mutter ging, und die Brüder und Schwestern , die sonst antreten müssen, mal zu
entlasten.
Wir haben mit der Meerfahrt noch Glück gehabt, die
17Stunden von Genua nach Barcelona waren ruhig, in der Außenkabine haben wir
wunderbar geschlafen, ein paar Tage
später kam ja der Orkan mit Windstärke 11 und 12, das riesige Schiff ist dabei
fast untergegangen und mußte nach Marsaille ausweichen.
Bei den Freunden in
Mont-ras, an der Costa Brava hatten wir intensive Gespräche, es ist mein erster
Lektor in Deutschland 1970 bei Fischer, und sogar arbeiten konnte ich da, hab
an meinem neuen Geichtband geschrieben und den fertigen verabschieded mit
pr-Texten. Zu Walter Benjamin, den wir in Port Bou „besucht“ haben, es ist ja
da nur ein leeres Grab, aber ein sehr schönes Denkmal von einem israelischen
Künstler, hab ich dann noch mein schon fertiges Gedicht überholt und
umgeschrieben, der Eindruck war sehr sehr stark mit den schwarzen Felsen, und
vor allem dem Kunstwerk, ein Schacht, der steil mit Treppen hinab zum Abgrund
des Meeres führt, wobei eine Glasplatte die Gestalt des Besuchers spiegelt, er
geht quasi sich selbst zu. Dieser so schmerzhaften Aufforderung, sich in die Zeiten
und die Schuld zu versenken, steht in dieser Landschaft das Amoralische und die
Scharlatenerie des faschisierenden Dalí entgegen, der übrall die Gegend besetzt
hält, vor allem in Cadaquaes, in Figueres mit seinem unsäglichen
Museums-Theater, im Zentrm ein amerikanisches Großauto mit Kitschmusik und D,
als Schaufensterpuppe, Mister Dollar, wie er auch genannt wurde.
Wir haben von all dem
auch Filme gedreht, leider scheint der Apparat beschädigt zu sein, gestern haben
wir versucht ihn Freunden hier zu zeigen, und die Bilder sind mit weißen
Streifen überlagert! Vielleicht eine Dali-Magie, daß man seine Schande, so nah
an Benjamin, nicht sehen soll!
Nun ja,
Das Leben ist zu
kurz, um es in Deutschland (oder wie ich in Italien) zu verbringen. Doch wohin?
Nach Transsylvanien? "Nach Hause"? Ich höre, du fähst wieder dahin.
Ich reise vorerst vor allem "im Geiste". Und ich sehe, Du bist auch damit zugange.
Vielleicht erleben wir nach dem Tode unser blaues Wunder. Ich schwör auf die
"Transkommunikation" mit der ich mich beschäftigt habe.
Nachdem ich in den letzten
Tagen des vergangenen Jahrtausends das Picasso-Museum in Barcelona mit den zu
Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez und den umgewandelten erotischen
Huren-Zeichnungen von Degas zu
picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich
wohnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mit den Worten: Hier, sieh,
das ist genau dein Thema, in die Hand
gedrückt hatten, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige
Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in der Düsternis plötzlich wie
vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film
über das, was unsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu
entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber
noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen
Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte,
wiederauferstehen zu lassen.
Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor
et denn bä äm? (Vielleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind
werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts
oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in
meinem Arbeitszimmer Totenstimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß
aus dem Zimmer flüchten, weil sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren
wollen!)
Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als
Gedächtnisstütze verwenden wollte.
Es ist eine Ewigkeit vergangen. Und
wir sind auch schon längst zurück aus unserem Urlaub in Katalonien, und der
Feste, und mehr oder weniger Feste mit den Familien in Deutschland, wo es vor
allem um Lindes alten Vater und meine alte Mutter ging, und die Brüder und
Schwestern , die sonst antreten müssen, mal zu entlasten.
Wir haben mit der Meerfahrt noch Glück gehabt, die 17Stunden von Genua nach Barcelona waren ruhig, in der Außenkabine haben wir wunderbar geschlafen, ein paar Tage später kam ja der Orkan mit Windstärke 11 und 12, das riesige Schiff ist dabei fast untergegangen und mußte nach Marsaille ausweichen.
Bei den Freunden in Mont-ras, an der Costa Brava hatten wir intensive Gespräche, es ist mein erster Lektor in Deutschland 1970 bei Fischer, und sogar arbeiten konnte ich da, hab an meinem neuen Geichtband geschrieben und den fertigen verabschieded mit pr-Texten. Zu Walter Benjamin, den wir in Port Bou „besucht“ haben, es ist ja da nur ein leeres Grab, aber ein sehr schönes Denkmal von einem israelischen Künstler, hab ich dann noch mein schon fertiges Gedicht überholt und umgeschrieben, der Eindruck war sehr sehr stark mit den schwarzen Felsen, und vor allem dem Kunstwerk, ein Schacht, der steil mit Treppen hinab zum Abgrund des Meeres führt, wobei eine Glasplatte die Gestalt des Besuchers spiegelt, er geht quasi sich selbst zu. Dieser so schmerzhaften Aufforderung, sich in die Zeiten und die Schuld zu versenken, steht in dieser Landschaft das Amoralische und die Scharlatenerie des faschisierenden Dalí entgegen, der übrall die Gegend besetzt hält, vor allem in Cadaquaes, in Figueres mit seinem unsäglichen Museums-Theater, im Zentrm ein amerikanisches Großauto mit Kitschmusik und D, als Schaufensterpuppe, Mister Dollar, wie er auch genannt wurde.
Wir haben von all dem auch Filme gedreht, leider scheint der Apparat beschädigt zu sein, gestern haben wir versucht ihn Freunden hier zu zeigen, und die Bilder sind mit weißen Streifen überlagert! Vielleicht eine Dali-Magie, daß man seine Schande, so nah an Benjamin, nicht sehen soll!
Nun ja,
Das Leben ist zu kurz, um es in Deutschland (oder wie ich in Italien) zu verbringen. Doch wohin? Nach Transsylvanien? "Nach Hause"? Ich höre, du fähst wieder dahin. Ich reise vorerst vor allem "im Geiste". Und ich sehe, Du bist auch damit zugange. Vielleicht erleben wir nach dem Tode unser blaues Wunder. Ich schwör auf die "Transkommunikation" mit der ich mich beschäftigt habe.
Nachdem ich in den letzten Tagen des vergangenen Jahrtausends das Picasso-Museum in Barcelona mit den zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez und den umgewandelten erotischen Huren-Zeichnungen von Degas zu picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich wohnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mit den Worten: Hier, sieh, das ist genau dein Thema, in die Hand gedrückt hatten, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in der Düsternis plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film über das, was unsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, wiederauferstehen zu lassen.
Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm? (Vielleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem Arbeitszimmer Totenstimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus dem Zimmer flüchten, weil sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als Gedächtnisstütze verwenden wollte.
Wir haben mit der Meerfahrt noch Glück gehabt, die 17Stunden von Genua nach Barcelona waren ruhig, in der Außenkabine haben wir wunderbar geschlafen, ein paar Tage später kam ja der Orkan mit Windstärke 11 und 12, das riesige Schiff ist dabei fast untergegangen und mußte nach Marsaille ausweichen.
Bei den Freunden in Mont-ras, an der Costa Brava hatten wir intensive Gespräche, es ist mein erster Lektor in Deutschland 1970 bei Fischer, und sogar arbeiten konnte ich da, hab an meinem neuen Geichtband geschrieben und den fertigen verabschieded mit pr-Texten. Zu Walter Benjamin, den wir in Port Bou „besucht“ haben, es ist ja da nur ein leeres Grab, aber ein sehr schönes Denkmal von einem israelischen Künstler, hab ich dann noch mein schon fertiges Gedicht überholt und umgeschrieben, der Eindruck war sehr sehr stark mit den schwarzen Felsen, und vor allem dem Kunstwerk, ein Schacht, der steil mit Treppen hinab zum Abgrund des Meeres führt, wobei eine Glasplatte die Gestalt des Besuchers spiegelt, er geht quasi sich selbst zu. Dieser so schmerzhaften Aufforderung, sich in die Zeiten und die Schuld zu versenken, steht in dieser Landschaft das Amoralische und die Scharlatenerie des faschisierenden Dalí entgegen, der übrall die Gegend besetzt hält, vor allem in Cadaquaes, in Figueres mit seinem unsäglichen Museums-Theater, im Zentrm ein amerikanisches Großauto mit Kitschmusik und D, als Schaufensterpuppe, Mister Dollar, wie er auch genannt wurde.
Wir haben von all dem auch Filme gedreht, leider scheint der Apparat beschädigt zu sein, gestern haben wir versucht ihn Freunden hier zu zeigen, und die Bilder sind mit weißen Streifen überlagert! Vielleicht eine Dali-Magie, daß man seine Schande, so nah an Benjamin, nicht sehen soll!
Nun ja,
Das Leben ist zu kurz, um es in Deutschland (oder wie ich in Italien) zu verbringen. Doch wohin? Nach Transsylvanien? "Nach Hause"? Ich höre, du fähst wieder dahin. Ich reise vorerst vor allem "im Geiste". Und ich sehe, Du bist auch damit zugange. Vielleicht erleben wir nach dem Tode unser blaues Wunder. Ich schwör auf die "Transkommunikation" mit der ich mich beschäftigt habe.
Nachdem ich in den letzten Tagen des vergangenen Jahrtausends das Picasso-Museum in Barcelona mit den zu Picasso-Malereien gewordenen Las Meninas von Velasquez und den umgewandelten erotischen Huren-Zeichnungen von Degas zu picassoiden Hymnen an die V gesehen, und Freunde, bei denen L. und ich wohnten, mir Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo mit den Worten: Hier, sieh, das ist genau dein Thema, in die Hand gedrückt hatten, ich noch dazu am letzten Tag des Jahrtausends Vic, das ehemalige Ausonia mit der Toten-Kirche besucht und dort in der Düsternis plötzlich wie vor zwanzig Jahren in Mexiko an der Wand dein unbewegtes Gesicht wie ein Film über das, was unsere Augen uns als real vorspiegln, ziehen sah, war ich dazu entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel in unserer transsylvanischen Stadt, wo damals bei eurer Heirat das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, wiederauferstehen zu lassen.
Wie ist das denn bei ihm? Und hörte das Sächsische durch: Wä wor et denn bä äm? (Vielleicht hoffte Vater, daß ich so wieder sein Sohn, gar Kind werde, das ich an mir verloren hatte! Den Freunden hatte ich erzählt, daß ich nachts oft zu solchen Kindzuständen käme, wenn ich über Geister schreibe oder in meinem Arbeitszimmer Totenstimmen höre, dann wird’s mir unheimlich und ich muß aus dem Zimmer flüchten, weil sich die Präsenzen im Raum sammeln, mich berühren wollen!)
Ich dachte an die vielen Beispiele, an Rulfos Comala, das ich als Gedächtnisstütze verwenden wollte.
UMBRIEN. ROM. SIZILIEN, GRIECHENLAND
UMBRIEN/ ASSISI
In der Eremitei Dei Carceri und auf
dem Berg Alverna da merkte ich, daß es tatsächlich einen genius loci gibt, der
unvergänglich zu sein scheint. Eichen und ein härenes Gewand. Tagebuch, 1977
Sei gelobt, mein
Herr
Durch unsere Schwester, die leibliche
Frau Tod.
Selig die, welche sie findet
einverstanden
Mit deinem heiligsten Willen.
Ihnen kann der zweite Tod nicht
schaden.
Aus dem „Sonnengesang“ des Franziskus
ROM
Bevor sie am nächsten Morgen nach Rom
gefahren waren, gab es diese spürbare Stille auf dem Berg im alten Bauernhaus
von Aliano, dieser Moment Stille... nur ein Auto hatte gehupt, die
Wildschweinhunde vom Kanal am Brunnen hatten plötzlich ein höllisches Geheul
und Gebell angestimmt.
Sie
waren also an jenem Tag gegen sieben Uhr früh nach Viareggio zur kleinen
Bahnstation gefahren, warteten drei Stunden auf dem Bahnsteig, anonyme Anrufer
hatten Bombenattentate angekündigt.
"Reisen,
das ist doch wunderschön", sagte Cris: "anstatt ein paar Seiten
lesen, reisen. Jetzt. Wir werden die Sixtina sehen, nicht? Von der Schöpfung
zur Erschöpfung der Welt."
"Immer weiter, den Rücken dem Unendlichen
zugekehrt", sagte Templin.
Über
den Köpfen am Bahnhof eine Uhr, die Bahnhofsuhr, über dem Kopf das
Bahnhofsschild VIAREGGIO, doch fast unerreichbar dieser Ort, wo wir uns doch
immer befinden: das tiefe Dunkel des Augenblicks, aus ihm tickt träge die
nächste Sekunde.
Auf dem Gleis Züge, Warten. Im Fenster Blicke, Augenweiße. Und es war
tatsächlich so, als sei der Bahnsteig vor allem mit Gepäck, Koffern,
Schachteln, Tragtaschen, vor allem mit Augen überfüllt, die wegsehen, sich nie
begegnen, die aus dem Zufall herausbrennen, zu Liebesblicken schmelzen können,
wenn sie sich treffen, heiß, "gekocht", cotto, sagen die Italiener
zum Zustand des Verliebtseins: Zeit, zusammengedrängt draußen, im Fenster nur
das Vorübergehen, Ausschnitte der Ewigkeit, dachte Templin, die wir hier im
Gedränge vergessen, mit Hüten, Mänteln verdecken, die den nackten Körper, in
dem wir noch vibrieren und uns nach einem andern nackten Körper sehnen,
verstecken.
Endlich
der Zug. Die Vier stiegen ein, suchten einen Platz. Ein junger bärtiger
Schaffner kam, verlangte die Karten. Er hatte müde Augen. Gegenüber im Abteil
saß ein älterer Italiener, Beamtentyp, er las "Il Tempo", das Gesicht
von der Zeitung verdeckt, seine Nachbarin, eine dickliche Blonde, las einen
Giallo. Templin hätte aus Protest am liebsten Stalin gelesen! Oder Bakunin.
Aber er hatte nur das "Tibetanische Totenbuch" bei sich. Und dieses
Buch, in dem wir uns eben befinden,
natürlich auch.
Im
Zug Streit mit L., weil Templin wieder schlechter Laune war, mürrisch in die Welt sah. Der
"Wirklichkeit" sei jetzt Genüge getan! sagte er.
Der Zug fuhr endlich los. Bei Grosseto fuhr er am Meer
entlang; es glänzte nah, Templin wollte es sehen. Er war unwillkürlich aufgestanden.
Cris
sagte, es sei doch komisch, wie die Zeit zwar mit dem Zug abgekürzt werde, und
doch so langsam vergehe. Und komisch sei auch, wie man da merke, wie Zeit und
Raum, der schneller überwunden werde, zusammenhängen.
"Und es läßt es sich auch auf
unsere Körper und die Lebenszeit übertragen", sagte Templin: "Unter
dem Einfluß der vergehenden Zeit ist dein Körper nicht mehr der, der er vor
einem halben Jahr gewesen war."
"Es sind ganz neue Zellen, die
ihn in diesem Augenblick möglich machen," sagte Cris: "Das
Erscheinungsbild aber ist da, nach einem bestimmten Wissen in einem Muster
gespeichert, das zu deinem Körperbild gehört, und dieses dann herstellt. Dieses
Muster weiß dich, weiß den Körper, hat ihn in sich und kann ihn als
Erscheinungsbild immer wieder neu herstellen.. Und in diesem ´Wissen´ ist nicht
nur das gespeichert, was gewesen war, sondern auch das, was sein wird. Und was
angeblich gewesen war, gibt es immer noch in jenem Wissen, das gleichzeitig
alle Muster im Sinn behalten kann."
"Das
ist schwierig, kaum zu verstehen", sagte L..
"Ja",
mischte sich die schweigsame Rut ein, "das Rätsel, das letzte Rätsel ist
darin enthalten, wir werden nah an dieses Rätsel herangeführt, und das Blatt
scheint sehr dünn geworden zu sein. Unser Freund Luca, der Musiker, hat es
erlebt, und ich erinnere mich noch, als wir vor einem Jahr gemeinsam in
Carcassone gewesen waren, es gab dort ein Künstlerfestival, und ich hatte eine
Ausstellung, er aber bereitete ein Konzert mit eigenen Kompositionen vor, da
ist ihm in Carcassone alles bekannt und vertraut vorgekommen, obwohl er noch
nie in Carcassone gewesen war. So wußte er zum Beispiel, als wir in die
Altstadt kamen, ganz genau Bescheid, als wir in einer kleinen Gasse um die Ecke
bogen, kannte er die Gassen, was für Häuser da stehen, und als er Durst bekam
und wir in eine alte Herberge der Altstadt gingen, um ein Glas Wein zu trinken,
begann sein Herz vor Aufregung heftig zu klopfen, und zu uns, es waren noch
zwei Schauspieler mit dabei, sagte er erregt: Paßt auf, jetzt geht es gleich
drei Stufen abwärts, und dann seht ihr dort im Hintergrund rechts eine
wunderschöne Holztreppe. Lieber Gott, sagte er aufgeregt, mir ist jetzt, als
wäre ich nach vielen Jahren endlich heimgekehrt. Nie zuvor war Luca in
Carcassone gewesen, und doch hatte er ein Gedächtnis von Carcassone. Wir trafen
dann tatsächlich auf die schöne Holztreppe, er erkannte die Verzierungen an den
rauchgeschwärzten Deckenbalken wieder, und den Geruch, ja, den Geruch nach Bier
und Asche und Abort. Das war vorerst alles. Doch dann, ein paar Monate später
fuhren wir nach Rom, da war Cris mit dabei. Erinnerst du dich Cris?"
"Natürlich, das war doch als Luca diesen gräßlichen Unfall hatte."
"Ja, wir waren ausgelassen, Luca hatte mit seinem Konzert auch in Florenz
großen Erfolg gehabt. Wir hatten die ganze Nacht gefeiert, und waren dann, Gottseidank
jeder mit seinem Wagen, da wir früher zurückkommen wollten, nach Rom gefahren,
wir fuhren zu schnell, Luca fuhr wie ein Besessener. In einer Kurve kam sein
Wagen ins Schleudern, prallte gegen ein entgegenkommendes Fahrzeug, wir konnten
gerade noch rechtzeitig bremsen, Luca aber wurde vom Sitz geschleudert und
verlor das Bewußtsein. Die Erste Hilfe war sofort da. Aber als er in der Klinik
erwachte, schrie er vor Schmerz, er hatte viele Knochenbrüche und eine
Gehirnerschütterung. Schock und dann der Spätschaden. Dieses Tasten der Augen,
des Bewußtseins, in der Gegenwart anzukommen, was mißlingt, muß scheußlich
gewesen sein; man muß sich das vorstellen: Immer wieder legt sich ein weißer Nebelschleier
über das Bild. Die schöne feste und beruhigende Alltagshalluzination ist
durchbrochen, ein Spalt reißt auf, da fällst du durch. Die Nachricht, daß seine
Freundin Anita, die mit im Wagen gesessen hatte, tot war, berührte Luca kaum
noch. Ich weiß, ich weiß, murmelte er, ich bin ihr drüben begegnet. Drüben? wurde
er gefragt. Ja. Das waren auch die vorläufig letzten Worte, die er sprach,
mehrere Monate lag er im Koma. Und ich habe mich oft gefragt, was träumt oder
denkt solch ein Patient, der monatelang mit zerschmetterten Knochen in einem
Klinikbett im Koma liegt und künstlich ernährt wird. Seither jedenfalls hat er
einen Persönlichkeitswandel durchgemacht, Spießer könnten auch sagen, der
spinnt. Ich vergaß zu sagen, daß Luca, der sich oft in Frankreich, meist in
Paris aufhielt, bei solchen Aufenthalten im Marais-Viertel, Nähe Notre-Dame,
einen unerklärlichen Druck, einen dumpfen Schmerz verspürte, als sei er nun
einsam und verlassen in diesem Viertel, im Schatten der alten Häuser, als habe
er hier einen lieben Freund verloren, als trauere er, als könne er etwas
Unfaßbares nicht fassen, den Tod eines Freundes vielleicht. Doch gelang es ihm
nie, sich zu erinnern, um welchen Freund es sich da eigentlich handelte. Sein
erster Weg aber, als er wieder, wenn auch mit Krücken, gehen konnte, führte
nach Paris, dort ließ er sich von einer Taxe in ein altes Hotel im Quartier
Marais fahren. Und er ging dann gezielt in den Innenhof eines dieser alten
Häuser; wir waren ja wieder mit dabei, Cris und ich, er hatte uns gebeten
mitzukommen, und ich kann es bezeugen, Cris auch, daß Luca wieder gezielt, als
käme er nach Hause, auf ein Fenster zuging, mit der Handfläche den dicken Staub
von der marmornen Fensterbank wischte und auf ein mit einem Messer eingeritztes
kleines Kreuz starrte. Wir sahen das kleine Kreuz ebenfalls. Seht ihr´s, das
Kreuz, seht, es ist da, sie hat also ihr Versprechen gehalten. Nichts, nichts
ist vergangen!
Wir
gingen ins erstbeste Lokal, Luca schien verwirrt, es war Mittag, wir aßen,
bestellten keinen Wein, aßen nur eine Kleinigkeit, Luca aber war zu erregt, er
bestellte eine ganze Flasche Rotwein und trank sie aus. Er versuchte zu
erzählen, er wollte sich befreien, zuerst ging alles durcheinander, dann hatte
er Momente der Leere und fand den Faden nicht wieder. Man könne nicht
allzulange dort sein, sagte er, der Druck wachse nämlich, die Differenz
zwischen beiden menschlichen Fähigkeiten, hier und dort zu sein, gleichzeitig,
also zu träumen und zu wachen, solch ein Zustand sei kaum möglich. Luca machte
den Eindruck, als habe er Angst, wahnsinnig zu werden, da die Motive, hier
weiterzumachen so eklatant abnähmen, sagte er, nach dieser langen
Bewußtlosigkeit, sagte er, da diese sogenannte Wirklichkeit unseren
Wahrnehmungen nun zu eng werde. Es sei eine Reise, und die beginne in jenem
Zustand, der vielleicht dem Sterben nahekomme, und da mußte ich, als Cris
vorhin von jenem weißen Licht sprach, das zu sehen, zu spüren sei, an Luca
denken, denn der hatte damals erzählt, er habe schon bei seinem Unfall, als er
seinen Körper verlassen mußte, den alten abgelegten sichtbaren Körper wie aus
der Vogelperspektive unten auf dem Feld sehen können, und später als Endphase
des Ganzen, nach einem Tunnel, den er habe durchfliegen müssen, ein blendend
weißes Licht gesehen, unvorstellbar hell, alles durchdringend, das auf ihn zugekommen
sei. Naja. Dieses Licht blende die Augen nicht, sondern sei so etwas wie ein
unbekanntes großes und intelligentes Wesen. Und gleichzeitig habe er das
Bersten und Krachen des Zusammenstoßes wie an hundert Wänden widerhallen
gehört. Doch alle Schmerzen seien wie weggewischt gewesen. Man fühle sich frei.
Und er habe sich am Unfallort befunden wie ein Zuschauer, habe den blutenden
Körper, der da unten lag, wie einen völlig fremden Gegenstand liegen gesehen,
und sei eher neugierig gewesen, gleichgültig; wie ein alter abgetragener Rock,
den man liegenlassen kann, sei dieser alte Körper gewesen, und er, Luca, sei
darüber geschwebt. Und er habe einen neuen Körper aus einem ganz anderen
leichteren und angenehmeren Material gehabt, und da sei eine enorme Weitsicht
gewesen, Sehen und Hören seien viel intensiver als je gewesen, die Farben fast
schmerzend, und die Szene ganz nah: Blaulicht, Ärzte, Herumstehende, Gaffer,
und gleichzeitig neben ihm sonst Unsichtbare, transparente Wesen, Schwebende,
Bekannte in Weiß. Sogar seinen Vater habe er erkennen können; du bist da
federleicht, durchdringst Mauern und Personen, bist aber eine Feder, die
weggeblasen werden kann, sagte Luca: Eine kleine Wolke bist du. Willst den
Leuten da unten etwas sagen, doch keiner hört dich. Aber das Licht holt dich
heim, es läutet, es klingt alles wie schöne Musik. Man müßte die Musik
aufschreiben, und da weiterkomponieren, erwog Luca, mehr und mehr schien er absent
zu sein, uns völlig zu vergessen. Wie Wärme und Glück sei alles gewesen. Keine
Spur von Angst. Oh, wunderbar, sollte es stimmen! Und hörte wie durch einen
Vorhang eine weinende Stimme, vielleicht war es die tote Anita. Luca wollte zu
ihr, sie umarmen, doch das schien unmöglich, es gab eine unsichtbare Schranke,
die nicht zu überwinden war, er konnte nicht hinüber, und sie konnte nicht mehr
zurück, sie entfernte sich immer mehr, und entschwand bald wie ein weißer
Punkt, sie war nun von hier für immer fortgegangen - und trat in eine Gegend
über, die nie vergeht. Doch dann begann es..."
"Was
begann?" fragten alle.
Ein
Abstecher nach Frankreich. "Nun,
die Reise, der Flug, als wäre es jetzt eben gewesen", setzte nun Cris Ruts
Erzählung fort, Cris, der gespannt zugehört hatte, "ein Sog", sagte
er, "ein Wirbel war es gewesen ... Und so weit ich Lucas Erzählung
verstanden habe, war er dann ohne jeden Übergang plötzlich in einer Herberge.
Als wäre die Zeit ausgelöscht, oder nie vorhanden gewesen, befand er sich in
einem ganz anderen Zustand. Er spürte die gedrückte Stimmung in einem verrauchten
Wirtshausraum. Ringsum die Freunde. Soldaten, Ordensbrüder. Katharer in weißen
Gewändern mit Kreuz. Und plötzlich sprang die Tür auf: einer in weißschwarzer
zerrissener Kutte, blutverschmiert, wankte herein. Die Katzen, die
Wurfmaschinen haben in die Mauer eine Bresche geschlagen, schrie er: Sie kommen
sie kommen, Simon de Montfort ... Die Gesänge verstummten. Ja, ich war jener
Mönch, sagte Luca mit einem verwunderten Blick, ich lag blutend am Boden,
schleppte mich zur Kellertür; nicht Gott hat die sichtbare Welt erschaffen,
nicht Gott hat sie erschaffen, sondern sein Widersacher hat uns hier
eingesperrt. Te deum laudamus. Die Seele aber ist unsichtbar, sie lebt. Und ich
werde hochgehoben. Die Kraft. Te deum laudamus. Da dringen sie ein, die Mörder
des Innozenz, sie dringt ein, die Kirche des Teufels. Und strömt jetzt, so spät
in mich, die Tür, die Tür, dachte er, nur ab, abheben vom Boden. Waffen und
Rüstungen, Eisen auf Eisen, Schläge, Röcheln, kurzer Kampf. Ich rolle die
finstere Kellertreppe hinab, stürze, falle, kaum Schmerzen mehr. Frösteln,
naßkalte Steine. Weingeruch. Und kenne den Ausgang, den Geheimgang, hinaus aus
Carcassone. Und muß von jenseits des Flusses ohnmächtig mit ansehen, betend,
leise singend, den Hymnus, wie Roger und die Freunde brennen, lebende Fackeln,
lange, lange. Der Geist ist Gott. Nur Aschenflocken noch, nehmt jetzt die
Sterne. Kein Wort. Erde versagt. So über Nacht auf Sternen, letzte Sicht, wo
Körper sich entfernen."
"Und Paris, was ist mit Paris und dem Kreuz?" fragte Templin.
"Ja, nun die andere Revolution", sagte Cris: "Tote, immer
die Toten, der Himmel ist voller Opfer, Tote, Tote, sagt ihr, ich glaube es
nicht, ich habe es zumindest im Traum erlebt: es gibt die Toten nicht, die
Gräber sind leer. Ihr vergötzt alles Sichtbare, ihr vergötzt diesen Körper, die
Uhr, die mechanische und die Körperuhr vergötzt ihr. Für mich aber ist sie
wirklich, diese Unbekannte, die schöne Frau mit dem langen schwarzen
Haar."
"Madame Roland?" "Jaja, lacht
nicht, es ist Madame Roland", sagte Cris. "Und wir standen vor
kurzem, es war ein Jetzt nach 200 Jahren im Innenhof ihres Hotels. Tanja war
auch dabei. Paris ja, Paris war ihre Sehnsucht. Und sie sagte: Unsere erste
Parisfahrt!
"Luca war mit dabei gewesen, Luca hatte nachher die Memoiren der
Madame Roland gelesen; und ich habe sie auch gelesen, jetzt erst," sagte
Rut, "ich hatte nämlich von ihr sehr lebhaft geträumt. Und wir alle hatten
von ihr geträumt. Vielleicht hatte uns nur die Lektüre so beeindruckt. Doch ich
glaube es nicht! Jetzt erst lerne ich diese Zusammenhänge ein wenig besser
begreifen: 1792, 1793, sie war der gute Geist der Girondisten, Manon Roland.
Nun, ich gebe zu, Luca hatte unsere seltsamen Träume mit Hilfe der Memoiren
erzählbar gemacht. Doch dort in jener kleinen Brasserie im Marais-Viertel
wirkte alles wie eine plötzlich aufgebrochene spontane Erinnerung. Lesen, ein
Buch, genau wie dieses auch, wo wir eben sind, kann stark beindrucken und
lebenlassen wie ein Traum!! Ich sah die letzte Umarmung Manons wirklich, es muß
ein sehr schmerzlicher Abschied gewesen sein: Manon, die Feste,
Selbstbeherrschte hatte Tränen in den Augen Alles vorbei? Aus? Die Revolution,
das Ende. Nichts mehr. Die Not. Die Armut. Die Sansculotten. Die Intervention.
Der Druck. Nur oben, ganz oben diese Falschheit: Tugend als Ziel, Robespierres
grande terreur. Manon und Jean- Marie. Sie kommt, läuft auf ihn zu, ihr entschlossenes
Gesicht ist vorn, als wäre sie ein Mann, denkt er, Jean-Marie,
Jakobiner-Gegner, auch er ist hart, Innenminister, die Hand zitterte ihm bei
jedem Todesurteil, das er unterschreiben mußte, und sie, Manon, sie machte ihm
Mut, auch jetzt macht sie ihm Mut, ihr großes Gesicht kommt auf ihn zu, er
steht im Hof, er wartet, ihr Wort, ihre Altstimme im Ohr, und ein Sommerwind in
den Platanen, Vögel, Wolkengesichter in Blau, Paris. Jean-Marie hat schon das
Pferd gesattelt, sie stehen neben dem schnaubenden Pferd. Jean-Marie bittet sie
mitzukommen. Sie aber drängt, geh, geh. Flieh nach Rouen. Wenn sie mich
verhaften, ritze ich hier ein Kreuz in den Stein, hier auf die Fensterbank,
sagt sie entschlossen wie immer: - dann wirst du mich nie mehr wiedersehen. Geh
jetzt, geh. - Er kehrt sich ihr noch einmal zu, küßt sie, geht zum Pferd,
reitet davon. Winkt. Blickt zurück, dann ist er um die Ecke der Straße
verschwunden. Sie bleibt. Paris 1793. Juni. Am 8. November steht sie vor der
Guillotine. Ihr Mut. Ihre klangvolle Stimme. Sie bittet den Henker, ihr das
lange Haar zu lassen, es nicht abzuschneiden. Schreckliche Qualen erwarten Sie,
sagt der Henker, wenn das Messer behindert wird. Dann schnitt also die Schere
zuerst. Und dann kam der Wagen angefahren, hielt. nein, es war weder Danton,
noch Camille dabei gewesen, aber das Blutgerüst wartete. Es war nur der arme
Lamarche dabei gewesen, der vor Todesfurcht zitterte, krampfhafte Schauer. Sie
aber, sie hatte nur ein verächtliches Lächeln gehabt, fast Ekel. Und stützte
den Haltlosen. Nur Mut. Dieses ist nicht das erste, nicht das letzte Leben. Und
das Ende ist kurz, das Sterben schnell, bricht den Blick zwischen zwei
Augenblicken, die Iris wird schwarz, die Lidspalte vergeht.
Den
armen Lamarche aber mußte der Scharfrichtergehilfe stützen. Und sie sagte:
Gehen Sie zuerst, mein Armer. Dabei hätte sie das Vorrecht gehabt, den Tod nicht
auch noch sehen zu müssen, den dumpfen Fall des Messers, hochaufspritzend das
Blut. Sie sah es nun, furchtlos. Und gefaßt, weil sie wußte. Was wußte sie? Das
Kreuz war längst geritzt, in die Fensterbank geschrieben, das Todeszeichen, und
dies Todeszeichen wartete zweihundert Jahre auf jenen späten Blick Lucas;
niemand kannte das Geheimnis, und auch in den Memoiren gab es keinen
Anhaltspunkt dafür, also wollte Manon dies Geheimnis des Wiedererkennens bis
heute wahren. Heute? Wann war das? Und wer war Luca gewesen - vielleicht gar
Jean-Marie...? - Manon sah den Kopf des armen Feiglings Lamarche fallen, sie
sah auch die kolossale Freiheitsstatue auf dem Place de la Révolution, es war
ein andauerndes Vergessen da auf dem Platz, und ein Volksfest dröhnte, Volksfest,
und davor der abgehauene Kopf, der in die Kiste rollte. Lautes Auflachen: O
Freiheit, wie hat man dir mitgespielt hat! Sie stieß die Henkersknechte zurück,
wie ein Mann, diese Kraft! stieß die Knechte zurück und verneigte sich vor der
Freiheit. Nur kurz. Dann ließ sie sich aufs geneigte Brett schnallen."
"Das Beil, halb verrostet", sagte Cris, "das gibt es noch, wir
haben es in der Concièrgerie gesehen; auch Luca hat es gesehen. Man kann daran
fassen, es ist wirklich noch da, man kann es berühren, und die Erinnerung ist
unwirklich wie ein erinnerter Blutgeruch. - Am Abend des 9. November 1793
erreichte die Nachricht von der Hinrichtung Manons ihren Mann Jean-Marie in
Rouen. Kaum jemand hörte den Schuß. Die Kugel drang durch die Schläfe und trat
wieder aus, prallte an die Wand der Herberge und fiel dann müde zu Boden. Von
einem in die Fensterbank eingeritzten Kreuz wußte nun niemand mehr. Luca war
der erste, der es sah und seine Bedeutung begriff. War dies ein Beweis?"
ROM
Wir fanden ein erstaunlich billiges Hotel an der Piazza Vittorio Veneto, aßen nach all dem Kraut und den Knödeln in Schwaben wieder einmal italienisch und tranken viel Rotwein.
Beim Aufwachen im matrimoniale, dem ersten Bewusstseinsschimmer: Wo bin ich? Blick aus dem Fenster auf die von rötlichen hohen alten Häusern umgebene Piazza, Kulisse zu einer Oper. Die Uhr auf dem Rathaus drehte den Eindruck nicht schneller. Der Rückblick am besten vom Cottolengo aus, der größten Irrenanstalt Italiens.
Heute aber empfinde ich Ekel sogar am Colosseum
Nehmen wir ROM, BLICKE vom toten Brinkmann. (Muss versuchen, mit ihm Tonbandkontakt zu bekommen!). Prall ist sein Buch: Fotos, krude Realität, Fotzeneingänge, Briefe an seine Frau Marleen. Tagebuch. Wie er lebte. Komm mir daneben dünn, schon tot vor. Der hat Nervenblicke ringsum, raue Materie. Las und stärkte sich an H.H. Jahn: „Träume, diese Blutergüsse der Seele.“ Brinkmann in der Unterwelt. Wo ist das?
Bei unserem Besuch der frühchristlichen Katakomben in Rom, es war vor etwa drei Jahren, sagte L., ich höre sie deutlich: Die hatten es besser. Da kam ihr Rätsel in Menschengestalt zu ihnen, sehr fremd und doch vertraut, erinnert daran, dass Heimat etwas ist, wo noch niemand war, Menschensohn, ein Besuch aus jener Ferne durch seinen Tod, seine Hinrichtung (vertikal auf horizontal) noch einmal betont, was so unerträglich ist, nicht aussagbar, auch wenn etwas geschehen ist, an das wir nicht glauben könnten. Dieses Fremde, das ich besser kenne als alles andere in mir, hat bei jenen Katakombenmenschen noch eine Erwartungsstelle, beinahe körperlich durch diesen Mann berührt. Bei uns schmerzt sie weiter und sucht nach allen möglichen Heilmitteln. Und als wir in der Galerie der Vatikanischen Bibliothek mit Hunderten von Inschriften waren, suchten wir nach Marcion, der damals diese Gedanken aufgeschrieben und von der merkwürdigen Ankunft dieses „Ganzanderen“ gesprochen hatte, seine „Antithese“ und seine Wut gegen das „Gesetz“ der Welt und deren Herren., In der Katakomben-Galerie gabs auch das Relief eines Mädchens, das diesen Herren verflucht, weil er sie mit zwanzig sterben ließ, und keiner sagte mehr: Stehe auf!, wie es eigentlich natürlich gewesen wäre. Weißt du noch, sagte ich zu L., in Toledo mussten wir daran denken, wie gefährlich es auch heute wäre, wenn der wirkliche Herr nun einfach das „Gesetzt des Herren“ aufheben würde. Ein Russe, wer denn sonst, hat das gedacht. Ich glaube daran, dass es diese unsichtbare innere Ordnung gibt. Man kann es doch ablesen an ganz einfachen „Zufällen“. Weshalb aber glauben alle an diese grauenhafte Ersatzordnung, die dann auch noch Fortschritt genannt wird.
PARIS ROM im März 1981. Ein Kontrast.
Ich erinnere mich an unsere Rom-Fahrt im März 1981 damals zu Luce d’Eramo. L. sollte eine Übersetzung besprechen, dort trafen wir auch die Huren-Spezialistin Pike Biermann in hohen Stiefeln, die in ihrer Aufmachung seltsam zur blassen Luce im Rollstuhl kontrastierte. Von einer herab fallenden Hauswand in Frankfurt am Main während eines Bombardements 1945 wurde Luce gelähmt, war in Dachau als Gefangene, schrieb darüber ein Buch: Der Umweg.
In ihrer Wohnung tauften wir mit Veuve Cliquot meinen eben erschienenen Gedichtband nachts um eins. Gestern schrieb ich:
Was mir aber bleibt, ist der vergangene und der kommende Krieg
die Auferstehung im verkehrten Schacht
wenn die Erde birst / wie eine faule Frucht
und die, seit ich sie kenne: immer nur vergehende Sekunde endlich rafft
die andere Seite aber der Ewigkeit dieses fünfte Rad im Kommen
das kleine Einmaleins zieht dann mit uns um
die Tage die unserem Licht hier bleiben / sind schon gezählt
doch keiner zählt mit / und hofft auf ein Wunder
jener große Schatten über uns
ein Strudel / der dröhnt
trichterförmig wirbeln darin
unsre restlichen Tage / Glasuhrpilz und verkehrt
Sand.
Damals bei Luce hatte ich zur „Taufe“ gelesen: Die Rettung sag / ist sie nicht schön / Die Flucht nach vorn / und vorwärts unvergessen / Parolen sind ein Zaun vor dem Tod / Dies unverdiente Glück ließ aus Ideen grüßen.
Heute ist ein Brief von Paul Goma angekommen. Und vor einigen Tagen kam auch sein Manuskript „Die Hunde von Pitesti“ an
Lieber Dieter, wahrscheinlich hast du erfahren, dass mich Ceausescu wegen meiner „Aktivitäten“ schon einige Male versucht hat zu liquidieren – im buchstäblichen Sinn. Der letzte Versuch – durch Gift, trägt das Datum des vergangenen Sommers… Dieser gehetzte Aspekt meines Lebens ist Fleisch und Geist meines Buches, das in den nächstenTagen bei Hachette erscheinen wird.“
Dieses Buch ist bis heute in Agliano nicht angekommen, dafür aber die schreckliche Foltergeschichte aus dem ehemaligen Zuhause, die Paul erlebt hat, im schönen Ort Pitesti. Ich kenn ihn, ich habe rührende Erinnerungen an den Ausflugsort Trivale, Spaziergänge mit Maria und ihrem Bruder. Dort nahm ich Puius Kinder Huckepack, sonntags. Vom Gefängnisfenster sieht man Trivale. (Maria und ich schrieben dort Gedichte.)
Wie die Bulgaren mit Curare in Regenschirmen ihre Ausgereisten und Ausgerissenen durch geschulte Sicherheitsleute mit leichten Stichen ins Bein in der Menge (o Pardon!) umlegten, so haben es auch die Seculeute mit Paul versucht, doch war die Giftspritze sehr sinnbewusst ein - Füllhalter, mit dem bei einem offiziellen Empfang ein Oberst in Zivil dem Ungewünschten ein Spezialpräparat ins Partyglas tropfen sollte. Der Oberst aber war dem Verbrecher an der Staatsspitze nicht gewachsen, er fürchtete für sein Seelenheil und entdeckte dich dem französischen Geheimdienst CGT. Der inszenierte nun (der Innenminister und der Präsident der Republik Mitterand waren informiert) selbst die Vergiftungsszene. Paul wusste davon, der Oberst spritzte das Gift, ein französischer Agent aber, der den Verehrer Pauls mimte, ein Autogramm wollte, stieß den eben vorbereiteten Giftbecher um (O Pardon!). Diese misslichen Tücken der Objekte! Der Oberst fuhr heim und nahm seinen Orden in Empfang und den dankbaren Handschlag des Anstifters auf dem roten Thron im ehemaligen Königspalast.
Nach dem Essen lagen wir in der Sonne in Liegestühlen. Und ich schäme mich: Inzwischen ist der Zustand des Anfangs von mir abgefallen, ich habe mich angepasst, vergessen. Paul hatte das Glück, dass sie ihn daran hinderten.
In Rom wohnten wir oft auch in der Villa Massimo, Spottpreis:
zwanzigtausend Lire die Nacht, und auf dem bläulichen Schein das bärtige Gesicht
Michelangelos, es kam direkt von der Banca D`Italia. Im Hof hörten sie zuerst
nur den Kies, da wurde L. von Hunden der Frau Wolfen überfallen, sie zerrissen,
zerbissen ihr fletschend den Jackenärmel, und wollten ans Fleisch; als wäre nur
jener Satz des Hundes wahr, brutal, zerfetzt er etwas, immer wieder der Sprung,
Cave canem stand auf einer antiken Kachel, darauf gemalt der bellende Hund.
Wolfshunde, Sklavenjagden, Lagerjagden im Moor. Und dazu flimmerte die Luft
draußen schon, obwohl es dem Kalender nach erst eine Woche nach Pfingsten war;
die ersten Zikaden am Rande des Gehörs zwischen den Silben und Stimmen. Roman
dachte, sie sind unermüdlich, eine Einsame geigt da ganz nahe, als beobachte
sie uns; Zirpen im großen Park der ersten Zikade, schwächer die Antwort der
zweiten. "Die müssen nichts zu sich nehmen, wie die Hunde, die Menschen,
sie zirpen bis sie sterben. Erinnerst du dich an die schöne Legende",
sagte Roman zu L., zu Rut, Rut, die sich nun mit einem Schulterblick umwandte: "Die
Zikaden", sagte Roman, "hören uns zu, berichten dann im Himmel. Sie
sollen ja einmal Menschen gewesen sein, die sich in der Poesie vergaßen, sagt
die alte Legende, sie lagen verzückt im Vers und starben vor Hunger, den sie
gar nicht bemerkten."
Cris
lachte über diese "altmodische Poesie" und wollte den Freunden
unbedingt das andere Rom, nämlich das Physikalische Institut mit "dem
Goldfischteich" zeigen, hier sei der Zerfall erprobt worden, schon vor
1933; 1932 da gab es die Entdeckung des Neutrons. "Und dann erst das
Wunderjahr 1934! damals hatte der junge Enrico Fermi, weil ihm die Zeitschrift
Nature eine Arbeit über Betastrahlen, den Betazerfall von Atomkernen, abgelehnt
hatte", sagte Cris, "da hatte Fermi einfach so aus Spaß und per
Zufall die erste Kettenreaktion der Welt ausgelöst, er hatte aus Langeweile ein
Element nach dem anderen mit Neutronen bombardiert, bei Fluor tickte der
Geigerzähler; nur eine Minute lang dauerte die Strahlung, so daß Fermi und sein
Kollege D`Agostino in ihren langen ölverschmierten Mänteln wie Sprinter zu den
am andern Ende des Korridors gelegenen Messinstrumenten rennen mußten."
Und da die Sache mit den Zikaden nicht näher
untersucht werden konnte, waren die Freunde dann am Colosseum vorbei, zu jenem
denkwürdigen Ort gepilgert, der so redselige Cris führte die Freunde zur Via
Panisperma, wo Fermi jene erste Kettenreaktion künstlich ausgelöst hatte:
"Ha", lachte der Lange und sah Rut und dann auch L. an:
"Panisperma." Erstaunlich sei auch die Jahreszahl 1933/34. Gott
würfele nicht. Rut war amüsiert. Sie mag diesen jungenhaften Cris, der Unsinn
treibt, darin spürt sie seine Freiheit. Cris zeigte auf das Straßenschild
PANISPERMA: "Pulverisierung, Explosion. In der Sixtina das Jüngste
Gericht"; Templin sagte: "Die Sixtina müßt ihr unbedingt sehen."
"An einem Montag also waren wir in Rom angekommen", notierte
Roman später in sein Tagebuch: "Wir hatten den Abend gemeinsam im
Biotheater verbracht. Dann waren wir in einem Lokal gewesen: redend, redend,
redend. Am nächsten Tag mit dem Bus zum Bahnhof, von dort mit der Linie 106 zum
Vatikan. Wir waren kurz vorher ausgestiegen, am Tiber entlang gegangen, den
Blick in gelbem Brackwasser, Grasflecken schwammen oben, Platanenzweige, die
nach unten hingen, stachlige Früchte an dünnen steifen Zweigen. Wir spannten
den Schirm auf, Nieseln und etwas Gemütlichkeit, weil die Lichter angingen,
späte Platanenblätter, ein raschelndes nasses Gehen, halb vegetal und gedämpft.
- Vom Corso dann auf den Ponte Vittorio Emanuele, geflügelte Wesen auf dem Geländer,
die mühsam ihre Kreuze schleppten, den Rücken uns zugewandt, als stürzten sie
sich in den Tiber, schräg links aber das Ospedale Santo Spirito, und rechts die
Piazza. Mole Adriana, Castel Sant` Angelo ... Museum ABENDLAND, JETZT. Die
ENGELSBURG, o wie alt: Hadrians Mausoleum, ach, nein, das Mausoleum des
Abendlandes, da liegst du begraben, du Schöne, Europa. Und dazu Sirenengeheul
des Unfallwagens oder der Polizei, Blaulicht, Sirene. Rom: Castel Sant` Angelo,
das Todeskastell: Pest mit dem Papst Gregor, hör ihn, den monotonen Gesang in
Katakomben, und Beten, der Engel aber oben auf der Zinne steckt verlogen sein
Schwert in die Scheide. Frauen kommen und gehen und schwätzen so/ Daher von
Michelangelo, mit Stöpseln im Ohr, akustische Führung. Wie reimen wir weiter,
Sonette in Kasematten, unten Verliese. Hier in den Verliesen hatte Bruno vor
der Verbrennung, man stelle sich vor: Zelle um Zelle im Feuer, - in der Folter
gelegen, und oben über ihm der Prunk der Päpste. Es ist noch Zeit, ja, für
Zeugung, Mord, Zeit für Werk und Hand. Säle Clemens` VII., und dann die östliche
Hälfte der Terrasse, Ölhof mit der Zisterne Alexanders, des Borgia, Öl - und
Getreidespeicher sind zu besichtigen und die Hinrichtungsstelle. Hier wurde
enthauptet, gehängt, erwürgt, ersäuft, erdrosselt, verbrannt, lebendig
begraben, sagte Rut, die auch den Horror fotografiert, fast fröhlich sagte sie
es, denn sie weiß vom Tode viel, und arbeitete gerade an der Fotomontage eines
riesigen zerfressenen Totengesichtes. Ich aber meinte schon einmal hier gewesen
zu sein und redete sehr schnell, als müßte ich darüber hinwegkommen, als täte
es weh und dachte an Nicco, als wäre er dabei: Häretiker, Philosophen, Dichter,
und Giordano Bruno wurden gefoltert, ließen sich nicht brechen.Und überlegte,
warum wohl die Herrn Bischöfe und Päpste solche Angst vor den freien Energien
des Geistes hatten. Wehe es wäre wahr, was wahr ist: und es wird wirklich, was
tatsächlich wirklich ist: das Jüngste Gericht, gemalt schon an der Altarwand
der Sixtina.
Ich
blieb zurück, wollte allein sein, sah die Alpträume in den Schlafzimmern an die
Wand gemalt, festgehalten: Libellen mit Frauengesichtern kamen aus der alten
Mauer, aus ihrem Gedächtnis: dort eine Frau mit einer Brust in der
Leistengegend, und ich legte verstohlen die Hand auf einen Buckligen mit einem
pompösen Phallus, meinte, meine Hand da nicht mehr herausziehen zu können, mit
der Wand zu verschmelzen, durch sie mit dem Finger durchzustoßen wie durch
Butter. In Sälen, Kammern, Treppen, Gängen des alten Mausoleums gab es ein
perfektes Labyrinth, und unsichtbar gab es da ein Ungeheuer, brüllend, verirrt,
wohl der Stier der schönen Europa. Und ein Faun überreicht auf ausgestreckter
Hand der Unersättlichen seinen großen Penis, den er sich, heftig tropfend,
amputiert hatte; Entsetzen hier im Grab verdunkelt, zugeschütetet die Augen,
Lächeln auf den Lippen. Träumender Geist, aufgelöst das Grauen? Wie die
vegetalen beinlosen Mädchen aufgereiht und aus Blumen sprießend. Rückerinnert,
der Schock; doch der hat sich gemildert, es wird zum Traum, was Tod war, die
Grenze wird überschritten, die Höhle, um aufzusteigen.
Da
stieß mich L. an und sagte lachend ironisch: du träumst ja! Ich sah mich um,
als wäre ich ganz unbefangen und zufällig hier: Weiß ja, es ist die Engelsburg,
wo wir uns eben gerade befinden, das hatte ich keinen Augenblick vergessen
können; steigst auch jetzt so hinan zur Loggia Paul III, von A. Sangallo d.J.,
und durchschreitest eine Galerie rechts, die zur Loggia Julius II führt. Aus
dem Girlanden-Kabinett über eine Treppe wieder ins Gefängnis, zum
Luxusgefangenen Cagliostro, dann aber wieder zu den Eingemauerten und
Lebendigbegrabenen, herzzerreißender Schrei, bevor die Erde über den Sarg
fällt, dies noch eine Vergünstigung, das scharfe Urteil ließ ein Luftloch zu,
zur Qual. Und andere Verliese; weiter links in den Delphin-Saal (die Marter
wird Kunst: Christus unter dem Kreuz); nun zurück zur Bibliothek, von da in ein
Vestibül, schmale Treppe zur Oberen Terrasse. Herrlicher Rundblick über Rom.
Ich aber sah wenig, sah jenen Mann mit dem Rundkopf vor mir, Granucci, und es
schien mir, als hätte ich ihn hier schon einmal gesehen."
Am
nächsten Morgen Besuch in der Sixtina. Ja, die Sixtina. L. freute sich auf die
überschäumend bunten Bilder, die sie "Diademe" nannte, sie hatte sie
schon oft gesehen; alte Bekannte. Sie brauchte nicht wie Templin Namen und ein
ganzes kompliziertes Gespinst von Deutungen dazu. Sie entzückte einfach das
Blau Marias. Oder das Grün des Zacharias. Das Feuerrot des zornigen Engels oder
das vielfarbige Schimmern der Schlange. Nur die Leute störten sie, das Gefilme
und Fotografieren, das Gesumme und Gestoße. Die Sixtinische Kapelle aber ist
eine Sache für sich, hatte Templin entschieden. Und L. lächelte darüber, als
wäre das nicht sowieso klar. Für uns in diesem Augenblick, nur für uns, hätte
sie gerne gesagt, doch sie wußte, daß Templin damit die eifersüchtige
Einsamkeit des Buonarroti meinte. Erst jetzt konnten die zwei Meter hohen
Figuren: wie entweiht ganz nah: vom Gerüst aus nun auch von fremden Augen
betrachtet werden. Den Papst Julius hatte der Buonarroti fast vom Gerüst geworfen.
Von unten sah man weniger, die Propheten und Heiligen waren dort oben, zwanzig
Meter hoch, nur klein wie sich Entfernende, Entschwebende wahrzunehmen.
Die
Vier staunten, sahen die "Diademe" dort oben an der Decke, redeten
allerlei Quatsch dazu, fast schadenfroh notierte Templin jeden Unsinn, den sie
von sich gaben, weil sie gar nichts begreifen konnten. Hier ist´s besonders
deutlich sichtbar geworden, daß man nur sieht, was man weiß, dachte er. Aber
gehend weiß man oft besser Bescheid: Im Kapellenraum gingen die Vier jetzt dem
Altar zu; Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung -
Zeitenende am Altar und dahinter das Jüngste Gericht. "Du gehst zugleich
auch dem Urlicht, der Erschaffung der Welt zu", sagte Templin: "Seht,
ist es nicht ein merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn: Grenze der Welt. Seht,
an der Decke die Erschaffung des Lichtes, der Pflanzen, der Sterne, die
Erschaffung Adams, Evas, und immer weiter hinab dem Ausgang, der Außenwelt Roms
zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. Damals
konnte etwa die Tragik, nicht zu Gott, zum Einen zu kommen, noch symbolisch
dargestellt werden. Sogar die Trunkenheit des Schmerzes, der Teilung. Immer
wieder erscheint dazu in der Malerei der Renaissance und des Manierismus Poros,
der trunkene Gott der unerschöpflichen Fülle und des Reichtums, nur wenn wir
unser kleines Ego und die dazugehörige Uhrzeit samt Zeitplanung aufgeben, uns
öffnen, können wir daran teil-nehmen! Als müßte alles, was die Tradition zu
bieten hat, aufgeboten werden, um sich jenem Einen, sich Gott, dem Licht
anzunähern. Neun Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer
größere Entfernung von Gott und dem Urlicht als Verfall und Katastrophe
anzeigen. Das verwirrt. Logik und Wirklichkeit werden an der Decke buchstäblich
auf den Kopf gestellt, die Figuren stehn Kopf, den Himmel als Abgrund über
sich. Seht nur, wenn ihr die imaginäre Architektur als eine Perspektive seht,
dann die Vorfahren Christi in den Lünetten, weiter die Decke mit der
Urgeschichte, dann den Gang zum Altar, mehrere Perspektiven kreuzen sich an der
Decke in vier Blickpunkten. Aufgelöst wird auch jede Chronologie und Richtung in
einem Riesengeflecht eines Konkordanzsystems der Bedeutungen im Kapellenraum.
Um alle Allegorien und Verweise zu begreifen, müßten wir Renaissancemenschen
sein..."
"Vielleicht ist dieses Konkordanzsystem nur noch abstrakt
heute in der Mathematik möglich",
warf Cris ein.
"Es
sind Gleichnisse, nach Ortega Schöpfungsgeräte, das Gott im Innern seiner
Geschöpfe vergessen hat", sagte Rut.
"Ausgangspunkt
der Sixtina ist ja die hebräische Bibel", sagte Templin, "wo jeder
Buchstabe zugleich Zahl ist, ein Zahlensystem also, Zahlensymbolik, ein
Ideengeflecht des Lichtes, Proportion gemalt."
"Lichtmetaphysik?
Ich denke da an die Biophotonen!"
"Ja,
genau, Lichtmetaphysik. Zahl, Ton, Maß, Maße, Rhythmus: Die Wellen stellen
Zeiten, Räume, Dinge, Schichtontologien her. Michelangelo war Neuplatoniker,
das Licht ist Gott: die Eins, das Eine. Hier, seht, da strahlt es vom Altar
her. Seht ihr dort oben an der Decke in der vierten Sequenz die Erschaffung
Adams durch die Fingerberührung der Eins: Digitus paternae dexterae. Und nur
wer sich auf die renaissance-theologische Allegorese, vor allem auf die
Zahlensymbolik einläßt, kann eindringen und begreifen. Ohne dieses
Deutungsmuster bleibt vieles unverstanden. Warum wird Adam in der vierten
Sequenz erschaffen? Was bedeutet überhaupt Adam? Wir müssen es hebräisch lesen,
denn die Bibel ist in dieser Urschrift geschrieben, wir müssen alles auch als
Zahl verstehen, da im Hebräischen jeder Buchstabe einen Zahlenwert hat, nur so
sind die schönen naiven Geschichten vom Paradies, von Adam und Eva usw. als
Schöpfungsgeschichte und nicht als naive Kindergeschichte deutbar. Adam: Eins
und Vier, die vier Elemente, die sich mit Gott, der Eins, oder auch dem
theologisch verstandenen Nichts, wenn man will, verbinden. Michelangelo kannte diese Deutungen der biblischen Bildert im
Werk Scechina des damaligen Hoftheologen beim Papst Julius II Ägidius von
Viterbo, Julius II ist der Papst, der die Sixtina in Auftrag gegeben hatte,
Ägidio hatte die Kabbalah gedeeutet, jenen einzelnen hebräischen Buchstaben;
die Kabbalah ist zur Deutung der Sixtina unverzichtbar. So z.B. das Wort Adam,
es wird hebräisch a-d-m geschrieben. Die Vokale, außer a (1), durften nicht
geschrieben, nur gedacht werden. Sie sind die Gnade Gottes in unserem Kombinationsvermögen.
Die Konsonanten sind der Körper, dem dieser Geist noch eingehaucht werden muß,
wie es Gott, mit Adams Körper tat. A ist Er, die Eins, Aleph, d, Daleth, ist
die Vier (Elemente), m, Mem, die Vierzig, das Wasser oder die Zeit. Durch Adam
bindet Gott sich an die Elemente (Körper) und an die Zeit. Das alles aber ist
nicht abstrakt, Michelangelo übersetzt es in Farbklänge und Figurengeflechte,
er verbindet diesen "Sinn" wieder mit dem schmerzhaft Sinnlichen des
Körpers, will den Bruch heilen, der nach dem Sündenfall eingetreten war, wo
Gott Adam die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis isolieren, abreißen
läßt. Essen heißt hebräisch a-chol. A ist die Eins, chol heißt ´alles´, das
Viele (auch Klang, der in allem gespeichert ist). Sonst ist das Essen also ein
Verbinden von Einem und Vielem, Gott (A) und den Elementen. Bei Adam aber ist
es eben ein Trennen, ein Abreißen. Daher der Tod ab jetzt, und jedes Herstellen
mit dieser abgerissenen Frucht (der Erkenntnis) vermehrt die Unzahl, die
Entropie, würde man heute sagen, also den Tod."
Rut,
die die Kapelle nach der Renovierung noch nicht gesehen hatte, schwieg. Es
schien, als hörte sie Templin gar nicht zu, als wäre sie für sich mit den
Ansturm der Bilder beschäftigt. Dann sagte sie hart:
"Ich
kenne eine ganz andere Sixtina, Roman. Ich gebe zu, dieses Changeant kommt
deiner Licht-Deutung sehr nahe, ja ihr entgegen, du hast mir früher auch schon
einiges erzählt. Doch vielleicht literaturisierst du zu sehr... und dann, ganz
ohne jede Einschränkung möchte ich diese Popfarben nicht gutheißen, sie sind
mir manchmal zu kindlich- knallig und wie nackt. Ist da nicht auch einiges von
den Schatten abgewaschen worden, wie der Professor Beck aus den USA
behauptet?"
Templin
sah Rut an, als habe sie etwas Verbotenes gesagt: "Ich habe das Glück
gehabt, oben auf dem Gerüst und ganz nahe den Gestalten der Kapelle etwas von
Michelangelos äußerst intensiver schmerzlicher Sinnlichkeit zu spüren",
sagte er laut, fast schreiend, daß sich ein japanisches Paar, das eben filmte,
entrüstet umwandte; Templin war unangenehm davon berührt, daß ausgerechnet Rut
seinen Enthusiasmus zu stören wagte, ja sein Wissen nicht würdigen wollte.
"Es schien mir", sagte er heftig und ein wenig gekränkt: "Es
schien mir, als breche endlich einmal schmerzhaft Realität durch die
Mattscheiben unserer Wahrnehmung! Unsere Sinne sind atrophiert, so daß wir
nicht einmal mehr das Furchtbarste, den Glaubensverlust, den Michelangelo noch
als schrecklichste Krankheit empfunden hat, wirklich als Unglück und Verlust
empfinden können, sonst wüßten wir nicht nur, sondern empfänden es mit allen
Sinnen, was mit Utopieverlust gemeint ist. Und diese neu entdeckten Farben sind
eine enorme Provokation, als würde dich ein elektrischer Schlag treffen: 500
Jahre fallen plötzlich zusammen, jene unheimlich starken Farben berühren distanzlos
dein Auge. Wir sind dafür nicht gewappnet. Unsere Lebensumstände sind so, wir
registrieren nur, anstatt wahrzunehmen, es dringt nichts mehr wirklich in
unsere Sinne. Ja, besonders deutlich habe ich diese Atrophie der Sinne oben auf
dem Gerüst gefühlt, als die jungen frischen Farben, die enorme sinnliche
Spannung des genialen Renaissancemenschen Buonarroti wie Wahrnehmungsschläge
auf mich eindrangen, ich die riesige Sinnen-Distanz plötzlich spürte, und diese
Farben am liebsten mit der Zunge berührt hätte! Symbole erschienen als sichtbar
gewordene Wirkkräfte der Transzendenz, Kräfte, die auch im Leben und in der
Geschichte heute wahrscheinlich noch stärker als damals akut wirken, wir sind aber
unfähig, sie zu empfinden, gar, danach zu handeln, obwohl jetzt möglicherweise
ein Jahrtausendebruch stattfindet. Man sieht nur, was man weiß. In der Sixtina
aber sind die Bild- und Farbkräfte noch originärer Art, bewegen sich in einem
langsamen und großen Farbrhythmus, sie berühren in unserem Seelenhaushalt
vielleicht jene Schichten, die durch den Glaubensverlust und die Hektik
lahmgelegt worden sind. Hier aber an der Decke der Sixtina wird versucht, das
Quälende, Zerschlagene zusammenzufügen, zum Einen zu kommen. Jene Schichten in
uns scheinen aufwachen zu können. Ich empfand eine sehr starke Erregung, jenes
mysterium tremendum wohl, ein Zittern überfiel mich dort oben: Todesbilder, die
ich in Zeitlupe sah, alle aber im Gesamtkomplex Kapelle in Richtung Altar,
Licht, Erlösung, dahinter: das Jüngste Gericht. Und alles ist überwölbt vom
Flug, Flug der kleinen Taube, dort im Fenster der Arche, über die ganze Decke
bis hin zu Jonah fliegt diese weiße Taube, und Jonah heißt auf hebräisch TAUBE:
Flug des befreiten ´Heiligen Geistes´, der in unserem Körper eingesperrt ist,
der Astralleib, der uns einmal in den Himmel führen wird."
"Also,
wenn ich ehrlich bin", sagte Cris, "mir hat eigentlich die alte
Sixtina mit den grauen diskreten Figuren besser gefallen in ihrem Schleier, als
wäre da das Geheimnis besser gewahrt gewesen, als in diesem nackten
Farbenrausch. Der Sinn ist nicht das Sehen, freilich der FLUG. Ist er nun nicht
zu nackt?"
L.,
die Schweigsame, tat etwas, was sie sonst nie tat, sie sagte Cris ins Gesicht:
"Du verstehst gar nichts davon, Herr Physiker." Legte eine Pause ein,
und meinte dann besänftigend: "Ich kann den ersten Eindruck nicht
vergessen, vor allem als wir einmal dabei waren, wie ein Fenster geöffnet, also
eine Probe aus der verschmutzten Decke herausgewaschen wurde, wir standen da,
die Decke schwarz wie die Decke eines alten Bahnhofs, und da brach plötzlich
wie durch ein geöffnetes Fenster der Frühling ein."
"Und
ist wirklich nichts abgewaschen worden?" fragte die Fotografin mit der ihr
eigenen Skepsis in der Stimme...
"Doch,
schon", gab Templin rasch zu. "Aber es gab ja wenige Ritocchi,
Nachbesserungen mit Tempera, Michelangelo hat alles ganz allein, die riesigen
Flächen allein ausführen müssen, da hatte er keine Zeit für Schattierungen.
Allerdings beim Gesicht der Schlange war ich selbst entsetzt, früher war's ein
recht verruchtes Gesicht gewesen, und nun wirkt es wie das rosige Gesicht einer
braven Hausfrau. Vor allem aber ist diese Patina, also die Zeitarbeit von
fünfhundert Jahren abgewaschen worden, das geben die Restaurateure selbst
zu."
Der
Streit dauerte nicht lang. Rut, die Templin ganz nah fühlte, sah auf ihn, war
erregt; L. aber war mit Cris vorausgegangen, auch sie hatte ihre Erfahrungen
mit der Sixtina und erzählte dem Physiker davon, wies nach oben, erklärte ihm
die vielen Figuren. Sie war jedesmal mit auf dem Gerüst gewesen, die
sinnvollste Zeit ihres gemeinsamen Lebens mit Templin. Gewesen? Und sie
erzählte Cris, lachte und sagte: "Damit ist es nun leider vorbei, endgültig.
Aber der starke, unvergessliche Eindruck bleibt, eine AURA, die dein Leben von
nun an bestimmt, und auch einiges Wissen bleibt. Weißt du, worauf Eva so erschrocken
sieht, warum sie sich nach der Vertreibung an Adams Brust duckt? Nicht etwa auf
den drohenden Feuerengel der Vertreibung sieht sie, sondern auf Adams Schulter,
wo der übermütige junge Buonarroti einen Riesenphallus eingeritzt hat; ihr
Schrecken ist dieser Knüppel." Und am liebsten hätte sie gesagt, und das
saugende Loch, der Abgrund dieses Lebens und aller kommenden, davor müßtet ihr
Männer auch Angst haben. Schwieg aber. Erzählte vom verrückten Bruno, dem
kleinen Heiligen, dem Restaurator mit dem brennenden Blick eines Mönchs, der am
findigsten gewesen war.
Plötzlich
lachte ich laut und bitter auf, es war wie ein scheppernder Klang auf Blech,
zeigte auf eine Lünette nahe am Altar, auf Ruth und den verbiesterten Alten am
Krückstock, Booz, ihren Pseudomann, sie, die Witwe eines Jüngeren und deshalb
Freien. Templin, der sich als Alter fühlte, täglich die Jahre in sich wie eine
Krankheit wachsen spürte, die unheilbar in ihn eingebrannt waren, sagte bissig
zu Rut, die stumm neben ihm herging, den Hals schmerzhaft hochgereckt in Richtung
der Lünette: "Nicht jede ist so sanft wie jene geschlagene junge Frau
Ruth, zärtliche Linien im kommenden Licht da oben. Und die Ruth, sieh, wie
sanft sie dort oben ist, trat anscheinend sinnlos aus dem Leben und aus der
Erscheinung zurück in die Majestät des Absurden mit diesem alten Ehemann, denn
nur so kam sie zum alten Booz. Weißt du, was ich dazu geschrieben habe, in der
dreibändigen Sixtina-Dokumentation, die ich dir geschenkt habe, du kannst es zu
Hause nachlesen? Der Alte (das Alter) nimmt sie, rettet sie nach dem Tod des
Jungen. So stellt sich ihr hoffnungsloses Leben wieder her..." Templin
erschrak, hatte er zuviel gesagt, es ist fast anzüglich, dachte er, was ich da
sage! Und er sah jetzt erst wieder diese zurückgehaltene Trauer in Ruts feinem
Gesicht, dessen Blick sich in die Figuren verlor; die Fotografin begriff jetzt
erst, was sie längst gesehen und in sich aufgenommen hatte, seit Jahren.
Langsam, wie unbeabsichtigt entfernte sie sich von Templin, ging genau zwischen
ihm und Cris, der ihr den Rücken zuwandte, so daß nur sie ihn sehen konnte, er
war nun weit entfernt, abwesend für sie, sie in einem leeren Zwischenraum, den
nur manchmal einer der Besucher überquerte.
Vergangene Zeit wie ein Gespinst,
Sehgespenst: Trauer der Bilder im Kopf. Überall das Brennende,
alttestamentarische FRAUEN, Michelangelos grausame und krude Sinne, Schmerzen,
zu heftige Sinne, die die Blässe der Gedanken durchbrachen. Oben auf dem Gerüst
das flammende Gelbrot der Joatham-Lünette, Gewänder der Mutter Joathams:
Durchbruch durch die Zeit, Schwindel, der Sog, Wirbel aus Rot: überlebensgroß
die FRAU, Stromstoß von Gefühlen, mußte sich am Gerüst krampfhaft festhalten,
Angst, vom Gerüst in die Tiefe zu fallen, diese Flamme einer unbekannten
Leidenschaft, als Farbe berührt, als Geruch, Fallen der Farben ins Herz,
Rotmusik, gelber Pinselschlenker - das Rotbraun der Schulter in heftiger
Bewegung: Faltenwurf, Kreuz und zuckender Blitz. Großer Rhythmus - feuerrot,
ein viel zu starker Blick, ein Sog, ein Strudel, Rot, er glüht, als wäre er
verliebt... fällt der Grund einer ganzen Himmelswelt in seine Netzhaut?
Alltagsblick, Bilderknecht; am besten die Nacht: DU BRICHST DAS MATTE DENKEN
AB... DU HEILST DIE SCHWACHE FLEISCHLICHE GESTALT ...
Der
einzige Freiraum der Raum der früheren Massaker: Colosseum, Forum Romanum.
In einer Kneipe dahinter bei Frascati Gespräche mit L. über meine erste Ankunft
in Deutschland. Die Abfahrten aber nehmen nicht ab. Leben: Zwischen Abfahrt und
Ankunft? Überall in den Olenaderbüschen die Liebespaare. Abends aber der
Philoktet von Sophokles, Glauco Mauro in der Hauptrolle im Teatro Argentina
Leute in Alltagskleidung im Prachtheater.
Denke an Heiners Stück. Schreibe noch nachts in den Thermen des
Caracalla bei Vollmond:
Der Bogen ist die Wunde des Philoktet
(Tagebuch, 5.Mai 1975)
An einem Montag also waren wir in Rom
angekommen, notierte ich später im Tagebuch:
Wir hatten den Abend gemeinsam im
Biotheater verbracht. Dann waren wir in einem Lokal gewesen: redend, redend, redend. Am nächsten
Tag mit dem Bus zum Bahnhof, von dort mit der Linie 106 zum Vatikan. Wir waren
kurz vorher ausgestiegen, am Tiber entlang gegangen, den Blick in gelbem
Brackwasser, die hohe Mauereinfassung gesehen, Grasflecken schwammen oben,
Platanenzweige, die nach unten hingen,
stachlige Früchte an dünnen steifen Zweigen. Wir spannten den Schirm auf,
Nieseln und etwas Gemütlichkeit, weil die Lichter angingen, späte Platanenblätter,
ein raschelndes nasses Gehen, halb vegetal und gedämpft. - Vom Corso dann auf den Ponte Vittorio
Emanuele, geflügelte Wesen auf dem Geländer, die mühsam ihre Kreuze
schleppten, den Rücken uns zugewandt, als stürzten sie sich in den Tiber,
schräg links aber das Ospedale Santo Spirito, und rechts die Piazza. Rut, da
stehst du davor: Mole Adriana, Castel Sant‘ Angelo ... Museum ABENDLAND,
JETZT. Die ENGELSBURG, o wie alt:
Hadrians Mausoleum, ach, nein, das Mausoleum des Abendlandes, da liegst du
begraben, du Schöne, Europa. Und dazu Sirenengeheul des Unfallwagens oder der
Polizei, Blaulicht, Sirene. Rom: Castel Sant‘ Angelo, das Todeskastell: Pest
mit dem Papst Gregor, hör ihn, den monotonen Gesang in Katakomben, und Beten,
der Engel aber oben auf der Zinne
steckte verlogen sein Schwert in die Scheide. Frauen kommen und gehen und
schwätzen so/ Daher von Michelangelo, mit Stöpseln im Ohr, akustische
Führung. Wie reimen wir weiter, Sonette in Kasematten, unten Verliese: Als ich mit Sie dann am Campo di Fiore stand,
an Brunos Todesplatz, begann ich zu zittern, hier in den Verliesen hatte
Bruno vor der Verbrennung, man stelle
sich vor: Zelle um Zelle im Feuer, - in der Folter gelegen, und oben über ihm
der Prunk der Päpste. Es ist noch Zeit, ja, für Zeugung, Mord, Zeit für Werk
und Hand. Säle Clemens‘ VII., und dann die östliche Hälfte der Terrasse, Ölhof
mit der Zisterne Alexanders, des Borgia, Öl - und Getreidespeicher sind zu
besichtigen und die Hinrichtungsstelle. Hier wurde enthauptet, gehängt, erwürgt, ersäuft,
erdrosselt, verbrannt, lebendig begraben, sagte Rut, die auch den Horror fotografiert, fast fröhlich sagte sie
es, denn sie weiß vom Tode viel, und arbeitete gerade an der Fotomontage eines
riesigen zerfressenen Totengesichtes. Ich aber meinte schon einmal hier
gewesen zu sein und redete sehr schnell,
als müßte ich darüber hinwegkommen, als täte es weh und dachte doch an Nicco,
als wäre er dabei: Häretiker, Philosophen, Dichter, und Giordano Bruno wurden
gefoltert, ließen sich nicht brechen.Und überlegte, warum wohl die Herrn
Bischöfe und Päpste solche Angst vor den freien Energien des Geistes
hatten. Wehe es wäre wahr, was wahr ist:
und es wird wirklich, was tatsächlich wirklich ist: das Jüngste Gericht, gemalt
schon an der Altarwand der Sixtina.In Sälen, Kammern, Treppen, Gängen des
alten Mausoleums ein perfektes Labyrinth, und unsichtbar ein Ungeheuer, brüllend,
verirrt, wohl der Stier der schönen Europa. Und ein Faun überreicht der
Unersättlichen auf ausgestreckter Hand
seinen großen Penis, den er sich, heftig tropfend, amputiert hat; Entsetzen in den Augen, Lächeln auf den
Lippen, hier im Grab. Träumender Geist, aufgelöst das Grauen? Wie die vegetalen
beinlosen Mädchen, aufgereiht und aus Blumen sprießend. Rückerinnert, der
Chock: aber er hat sich gemildert, es
wird Traum, was Tod war, die Grenze überschreitend, die Höhle, um aufzusteigen,
Das Jenseits der Zeit jeden
Textes und Fragmentes aus der anderen
Zone von Möglichkeiten jenseits des Todes ist fruchtbar: Spiegel des Un-Wirklichen, das wir heute
ertragen müssen. Und solch eine Fiction ist wirklicher als der Schein,
der sich Leben nennt. (Mai, 1988)
X
enhaus bringen.
Kürzlich wurde die
Decken-Restaurierung von Michelangelos Sixtina beendet, ihr schon manieristisch
changierender Farbkosmos, als Widerschein jenes Lichts des undenkbaren
"Einen", eines der gewaltigsten Kunst-Dokumente dieser vormodernen
Melancholia und Transzendenz-Suche im ersten Zusammenbruch einer festgefügten
Ordo-Welt aufgedeckt. Doch in den "wissen- schaftlichen" Kommentaren
heute wird nur "Technik" untersucht; es fehlt jeder Hinweis auf die
eigentlichen Inhalte im Zwischen des Symbolgeflechts, das Genesis und Kabbala,
Antike und Mysterien zusammenführt, um auf dem Hintergrund der florentinischen
Idea- Lehre Ficinos und von Picos Pansophie den zerbrochenen kosmischen Spiegel
mit kompliziertesten Mitteln (auch der Zahlenmagie der Kabbala) neu
zusammenzusetzen. Noch wirkten fast zwingend die Harmonievorstellungen der
Renaissance, doch das Schwanken zwischen Glauben und Unglauben, dem
Selbstbewußtsein, das Absolute spiegeln zu können, und der Verzweiflung und
Schwermut ausgesetzt zu sein, der unsicheren Natur von Liebe und Tod und dem
brutalen Wahnsinn der Geschichte, zeigt den Übergang zu einem neuen Zeitalter.
Das war 1512. Anderthalb Jahrzehnte später, 1527, der Schrecken des Sacco di
Roma, plündernde, mordende Sodateska Karls V. Leichenhaufen, Leichengeruch über
Rom, dann die Pest, und schließlich die Flammen der Scheiterhaufen, Gott als
Tod, Alltag als gnadenloser Abgrund, Gefahr und Schmerz, lösten wie in unserem
Jahrhundert den Schönheitsbegriff und jeden sichern Begriff auf. Zur Sixtina
gehört die erst 1541 gemalte Altarwand des grausigen "Jüngsten
Gerichts," am unteren Rand Michelangelo als Heiliger Bartholomäus mit
abgezogener Haut.
Sein Endzeitwissen und sein
tragisches Lebensgefühl am Beginn der Neuzeit, seine Ahnung der Katastrophen,
seine künstlerische Prophetie, jene "gottlose" Epoche der Abgründe
zwischen Mittelalter und Neuzeit sind heute hochaktuell.
Michelangelos Sixtina ist eine
paradoxe und komplizierte Sinn- und Gottsuche. Ich habe das Glück gehabt, oben auf
dem Gerüst, ganz nah den Gestalten in der Kapelle, etwas davon zu spüren.
Symbole als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transszendenz: In Richtung Altar
- Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung - Zeitenende und
hinter dem "Grenzstein der Welt", dem Altar, das Jüngste Gericht.
Doch geht der Blick zugleich auch dem Urlicht, der Erschaffung der Welt zu,
merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn. Von da dem Ausgang, der Außenwelt Roms
zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. 9
Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer größere Entfernung
vom Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen. Logik und Wirklichkeit werden
an der Decke auf den Kopf gestellt. Die Figuren haben den Himmel als Abgrund
über sich.
Es ist auch unser, nun noch
akuter gewordenes metahistorisches Bild der Geschichte, das ganz nah
herangerückt ist, aber andauernd verdrängt wird.
8.12. 85. Was geschah eben an diesem
Tag? Die Deutsche Welle sagt, Rumänien habe die Meistbegünstigungsklausel
verloren. Im Vatikan geht eine Bischofssitzung zu Ende. Und noch rauscht in mir
die Autobahn. Von Rom kamen wir her, Bocca della Verita. Und du küßtest mich
wirklich auf den Mund.. Ich hatte mich rasiert und mir die Haare gewaschen, das
tue ich morgens sonst nie ...
... dieses Heft, lange nach dem Krieg
geschrieben, "hätte gut niemandes Heft sein können: so tief unterhalb
menschlicher Wege und Reisen liegt der Sinn eines Menschenlebens verborgen
..." (René Char).
In Sorrent fragte
ich damals nach dem Preis des Hotels "Syrene". "Damals"
wars/ hoch über dem Steilufer/ Palmengarten/ schöne Räume der "Villa
Pompejana"/ zu teuer/ vor drei Tagen war sie geschlossen. Zimtgeruch und
wie ein Wunder/ die alten Lampen über uns. Sägen und ein Geräusch wie aus der
Kindheit in Transsylvanien (Herr Nagel und mein Kopf!) /Und der wahnsinnige
Tasso kam mir entgegen. Langher.
Auch unser Leben
ist langher gewesen: 1972, damals Dezember: "Orangen reif und leuchtend
über dem Meer. Kein Tourist." Es war auf der Rückfahrt von Amalfi und
Positano: "Bei Nacht noch schöner der Golf. Drüben liegt Neapel und der
Vesuv." Lang her, gewesen
Begegnete dem
Dichter Andres in Positano/ und las dazu Tassos Gerusalemme, samt irren Briefen
an seine Schwester. Langher./ Und Parsifal aus dem Radio (eine Kassette im
verzauberten Garten (des Klingsors. kam aus Siebenbürgen)/ War er müde und
erschöpft/ kein nervum rerum?/sah Herbst und Reif/ kam die Sonne wie auf der
Mole von Amalfi/ die Liebe überwinden und mit den Sinnen wie im Tod ganz
hinübersein/ das Mantra am Morgen: diese Ruhe im Hotel "Magna
Graecia" und um 6 aufgestanden/ sah
Eleas Unbewegtheit vor mir.
In Sorrent aber
Tasso/ von Stimmen umgeben: So fühlte er die Angst vor der Inquisition: Einer
war da, sagte ich zu L. auf dem Spaziergang zur Marina Piccola durch tiefe
Tuffschichten: Einer war da in Tasso/ der glaubte- / der andere aber/ die
Skepsis/ spaltete ihm das Hirn./ Es zeigte ihn an jener der glaubte...
Die Steilwand in
Positano/ als rutschte man von ganz oben ab von der riesigen Höhe/ wie im
Traum/ und dort hat Er vielleicht zu Tassos Zeit/ noch einen Blick herab
geworfen/ jetzt sind wir geteilt/ bald völlig getrennt/ Wolken seh ich/ und wir
gingen zu Fuß die lange Treppe hinab/ das Auto stand auf dem Hauptplatz/ wo die
Geneis der Muße hier saßen und redeten/ der Wirt unseren kleinen Hund vertrieb.
Terrassen auch auf
Capri/ mein Gott von 1957/ wann war das: 1943!/ "Leben am Rande der
Ereignisse/ hier versteckte sich damals Anders. Auch er schon längst tot!/
Erzählte es deutschen Kriegsgefangenen: "Fatamorganen in der Wüste der
Echolosigkeit"./ Das kleine Buhc "Positano" aber blieb, wie
dieses Echo hier!
Welcher Krieg tobt
in meinem Innern/ 40 Jahre danach/ und gestern
waren wir in
Montecassino/ Ursprung aller Klöster/ und drei Tage vorher in Positano und
Amalfi/ die kleine Stadt mit Klingsors verwildertem Garten/ Blicke von der in
den Felsen gehauenen Straße/ von Sorrent
am Kap/ aus der "Villa Maria" neben einem Ospedale/ blau der Himmel,
nein, azur wie bei Campana:/ "göttliche Küste also/ frei der Tag/ nur das
Herz wund/ allen Ernstes. Und könnten die Zeit so brauchen - zurückgestellt und
verflossen die Uhr!
Von Rom kamen wir her, Bocca della
Verita. Und du küßtest mich wirklich auf den Mund.. Ich hatte mich rasiert und
mir die Haare gewaschen, das tue ich morgens sonst nie ...
... dieses Heft, lange nach dem Krieg
geschrieben, „hätte gut niemandes Heft sein können: so tief unterhalb
menschlicher Wege und Reisen liegt der Sinn eines Menschenlebens verborgen ...“
(René Char).
In Sorrent fragte ich damals nach dem
Preis des Hotels „Syrene“. „Damals“ wars/ hoch über dem Steilufer/
Palmengarten/ schöne Räume der „Villa Pompejana“/ zu teuer/ vor drei Tagen war
sie geschlossen. Zimtgeruch und wie ein Wunder/ die alten Lampen über uns. Sägen
und ein Geräusch wie aus der Kindheit in Transsylvanien (Herr Nagel und mein
Kopf!) /Und der wahnsinnige Tasso kam mir entgegen. Langher.
Auch unser Leben ist langher gewesen:
1972, damals Dezember: „Orangen reif und leuchtend über dem Meer. Kein
Tourist.“ Es war auf der Rückfahrt von Amalfi und Positano: „Bei Nacht noch
schöner der Golf. Drüben liegt Neapel und der Vesuv.“ Lang her, gewesen
Begegnete dem Dichter Andres in
Positano/ und las dazu Tassos Gerusalemme, samt irren Briefen an seine
Schwester. Langher./
Und Parsifal aus dem Radio (eine
Kassette im verzauberten Garten des Klingsors. der kam aus Siebenbürgen/ War er
müde und erschöpft/ kein nervum rerum?/sah Herbst und Reif/ kam die Sonne wie
auf der Mole von Amalfi/ die Liebe überwinden und mit den Sinnen wie im Tod
ganz hinübersein/ das Mantra am Morgen: diese Ruhe im Hotel „Magna Graecia“
und um 6 aufgestanden/ sah Eleas
Unbewegtheit vor mir.
In Sorrent aber Tasso/ von Stimmen
umgeben: So fühlte er die Angst vor der Inquisition: Einer war da, sagte ich zu
L. auf dem Spaziergang zur Marina Piccola durch tiefe Tuffschichten: Einer war
da in Tasso/ der glaubte- / der andere aber/ die Skepsis/ spaltete ihm das
Hirn./ Es zeigte ihn an jener der glaubte...
Die Steilwand in Positano/ als
rutschte man von ganz oben ab von der riesigen Höhe/ wie im Traum/ und dort hat
Er vielleicht zu Tassos Zeit/ noch einen Blick herab geworfen/ jetzt sind wir
geteilt/ bald völlig getrennt/ Wolken seh ich/ und wir gingen zu Fuß die lange
Treppe hinab/ das Auto stand auf dem Hauptplatz/ wo die Genies der Muße saßen
und redeten/ der Wirt unseren kleinen Hund vertrieb.Terrassen auch auf Capri/
mein Gott vor 1957/ wann war das: 1943!/ Leben am Rande der Ereignisse/ hier
versteckte sich damals Anders. Auch er schon längst tot!/ Erzählte es deutschen
Kriegsgefangenen: „Fatamorganen in der Wüste der Echolosigkeit“./ Das kleine
Buch „Positano“ aber blieb, wie dieses Echo hier!
Welcher Krieg tobt in meinem Innern/
50 Jahre danach/ und gestern waren wir in Montecassino/ Ursprung aller Klöster/
und drei Tage vorher in Positano und Amalfi/ die kleine Stadt mit Klingsors
verwildertem Garten/ Blicke von der in den
Felsen gehauenen Straße/ von Sorrent am Kap/ aus der „Villa Maria“ neben
einem Ospedale/ blau der Himmel, nein, azur wie bei Gino Campana:/ „göttliche
Küste also/ frei der Tag/ nur das Herz wund/ allen Ernstes. Und könnten die
Zeit so brauchen - zurückgestellt und zerflossen die Uhr!
Mai 1983
Sog der schwarzen Löcher. Welle und Körper, wie gesagt. Und deine
Logoreia, dafür kommst du in die Hölle. f a e b d c -
Kepler hat es als „fame, miseria, fame“ ausgelegt, Hadyn, Die „Schöpfung“! Und Ich hörte es wie
Sphärenmusik in der Ferne... die ersten
Geigen durch f (fame) un-vollständiger Dominantseptakkord, der sich nach
C-Dur löst, denn es ist ja noch Nichts
fertig, sondern die Melodie in den Violinen geht über fis, als Leitton
verkappt, leer nach g. Ist aber nur scheinbar ruhend aufgelöst.
Jeden Augenblick kann etwas
Ungewöhnliches geschehen, Und der Leitton quält. Alles immer unvollständig und
drängt in der Schwebe weiter. Unfertige Auflösung, denn das Orchester verläßt
die ersten Geigen, die spielen oben weiter, schwächliches Thema als Kadenz nach
Es-Dur. (Fame, miseria, fame, e aber als Es. Mein Gott: ES). Diesen Akkord
hatte schon Johannes Kepler in der Sphärenmusik des Alls als Schwingungsakkord der Erde ausgemacht.
Kepler lebte, als sein Elend begann,
in Linz; er war, weil er geforscht und geschrieben hatte, einsam und heimatlos.
Bis zum Tode Kaiser Rudolf II. hatte er als Hofastronom in Prag gewirkt, mit Tycho Brahe die Epheremiden
erforscht und Sterntafeln
aufgestellt.
„Es gibt nichts, was ich lieber
erforschen und wissen möchte als dieses,“ schrieb er aus Linz an einen Freund
nach Straßburg: Kann ich Gott, den ich bei der Betrachtung des Weltalls
geradezu mit Händen greife, auch in mir selber finden? Ich habe mich lange und
schwer mit diesen Sorgen herumgeschlagen, das Jahr ... war jammervoll und auf
allen Seiten verderblich. Vor allem erhielt ich vom Hof keinerlei Zahlung.
Meine Frau... wurde von Melancholie ergriffen, erkrankte zu Ende 1610 am
ungarischen Fieber, Krämpfen und Irresein. Kaum besserte sie sich, als im
Jänner 1611 drei meiner Kinder von den Pocken befallen wurden. Inzwischen
besetzte Erzherzog Leopold mit einem Heeresteil die (Prager) Kleinseite
jenseits des Flusses.“
Hör, das Mißlingen dazu: 3 Mal
versucht es das Orchester, die Flötentöne gehen klagend hoch. Ins Unmögliche, sagen wir. Wie
läßt sich Unten und Oben zusammenbringen, ihr fühlt es in euch solange ihr lebt
und im Körper seid, es ist noch da, dies Furchtbare, die Spaltung, das
Unerlöste: Schwebendes Zögern, Holz, Celli, Fagott gehn erfolglos hoch, das
Chaos wabert in der Tiefe, gurgelt, dreimaliges ergreifendes c-moll, Warten,
Schreien nach Erlösung von unten. Schmerz des Ungeformten, des sinnlosen
Banalen, des Vielen da. Ein UNISONO wieder,
Pianissimo.
Zur selben Zeit starb mein
Lieblingssohn... Er glich ganz der Mutter... Man konnte ihn eine morgendliche
Hyazinthe in den ersten Frühlingstagen nennen, deren zarter Duft das
Zimmer...füllt. Der Junge hing so sehr an seiner Mutter, daß man nicht sagen
konnte, beide seien „krank vor Liebe“; beide waren rasend vor Liebe. Ich mußte
mit ansehen wie meine Frau in der Blüte ihres Alters ganze drei Jahre lang von
den wütenden Säften in ihrem Körper heimgesucht, erschüttert und schließlich
zerrüttet wurde, so daß sie nicht selten geistig verwirrt und von Sinnen war...
(Sie war) bis in die Tiefe ihres Herzens durch den Tod des kleinen Jungen
getroffen...Von den wüsten Ausschreitungen der Soldaten und von dem Anblick des
Kampfes in der Stadt betäubt... Schließlich kamen österreichische Haufen hinzu,
die ansteckende Krankheiten mitbrachten. In melancholischer Mutlosigkeit, der
traurigsten Geistesverfassung unter der Sonne, gab meine Frau schließlich ihre
Seele dahin.“ So mußte er arbeiten; von den meisten für irr gehalten, Spinner
mit dem „Schwindelhirnlein“. Er aber hielt die andern um sich, die
Alltagsmenschen und nur am Faßbaren Interessierten für wahnsinnig. So wünschte
auch Kaiser Rudolf II von seinem Hofmathematikus eine Berechnung der Nativität
Mohameds und Kaiser Augustus, das nach Horoskopen zu erwartende Schicksal des
türkischen Reiches usw. Alle waren an seiner Arbeit höchstens noch aus rein egoistischen Gründen interessiert,
vor allem Horoskope mußte er stellen; alle wollten sie hören, ob sie reich
werden oder krank werden, Glück oder Unglück haben, wie sie ihre Feinde
besiegen, ihre Nachbarn übervorteilen können: „Item hat es unter dem gemeinen
Mann, ja wohl auch unter den Schreibern und unter den Hofleuten so viel grobe unverständige Knebel (im Hirn), daß sie immerzu einem Sternseher
in den Ohren liegen, und meinen sie sollen ihnen viel von künftigen Dingen
sagen... Gleich als wenn die Werke Gottes anders nicht würdig wären, das man
sie anschauen und ihnen nachrechnen sollte...Er komme sich oft wie ein
Irrenarzt vor, der einem Kranken eine Medizin verordnet, schrieb er in einem
Brief: daß seine Umgebung...In Worten und in Gebärden dem wirren Gerede geistig
Gestörter gleicht.“ Und dem unpassenden Spott entgehe er, indem er den Leuten
„den blinden Hinterkopf“ zeige. Wer aber nun wirklich wahnsinnig war, er oder
die andern, das ist ja wohl nun undiskutabel!
Er war an keinem Nutzen interessiert,
wie ein Kind: Musik der Sphären, musikalische Gesetze und Formen als
Mathematik: Gesetz der Welt - daran glaubte er, und daß es sie gibt, das war
ihm Rettung. Auch vor dem furchtbaren Leben. Im Kleinen gelang ihm nichts.
Konnte er den Alltag nicht mathematisch angehn, scheiterte er, wurde
umständlich, wie Dostojewskijs Idiot. Wo es aber gelang, da meisterte er für
immer ein Problem, auch für uns.
Das kindliche Staunen selbst, da zu
sein, und dann ein Hervorbrechen: Licht, das nun schon Form ist, Jubel, Strahlen C-Dur-Fortissimo. „Die wilde Welt der Todten“ ists. Bevor die
Zeit einfiel, und wir in sie. Und war das Ungebundene, begriffslos. Da ist auch heute kein Ab-Leben,
du weißt.
ÜBERFAHRT
Dann standen wir oben auf dem Berg
Kalabriens und sahen hinüber
Richtung Catania. Wie ein altes Märchen
ließ uns Sizilien das neurotische
Herz
wieder höher schlagen.
Auf der Autostrada del Sole
kurz nach der Überfahrt (Ulyss hatte
auf dem Wasserso komisch gelacht) kam es bei Messina zum Autounfall (ohne jede
Schrecksekunde)
Scylla und Carybdis
Porticello/ bei Palermo
Gänsehaut. Fieber vom Scirocco. Gerüche in
der Nacht dazu: Jasmin, Orangen. Endlich das Hotel. Im Fernsehraum ist es
wieder furchtbar laut. Überhaupt dröhnt es hier stärker in den Ohren als in
Frankfurt oder Köln. Autos, Motorräder, Lautsprecher, Fernseher. Das Geschrei,
die lauten Stimmen der Leute. Alles auch viel brutaler, greller: der kleine
Liftboy, Hotelsklave ist erst zehn, und
arbeitet zwölf Stunden am Tag; niemanden stört das. Er klopft schon 6h20 ,
fragt , ob wir Kaffe wollen.Und es ist doch heimaltlich, Balkanerinnerungen,
die Walachei.Marcello erzählt, wie er in der Schweiz gezwungen wurde, anders zu
reagieren als hier, z.B. leiser zu sprechen, seine Freude weniger stürmisch und
herzlich zu äußern!
Heute und gestern waren wir vom
Scirocco so dumpf, daß wir fast nichts von der Landschaft wahrnahmen. Außer in
Messina und Umgebung, wo die üppige Vegetation ins Auge stach. Ja, und wir
waren ja unserer Sehsucht nachgefahren, anders zu sehen als gewohnt. Lernen
Ptolemaeus zu vergessen, zu sehn, was wir wissen, daß nicht die Sonne, sondern
die Erde täglich untergeht. Doch die Kleider kleben uns fiebrig am Leib.
Fieberträume Realität. In der Ferne sind die Liparischen Inseln zu sehen, wie
eine Verheißung, en Horizont erreichst du nie... (17. Mai)
SPÄTER GELA/ Sizilien
Aeschylos starb hier wie eine Halluzination
Sein Leben/ Occident, ein verschrobenes Irren
Land, Gott es ist wahr,
Aeschylos starb hier, weil sein Kahlkopf
einen Adler blendete,
der flog,
welch ein tragischer Zufall gerade Jetzt
über ihn, den Erfinder des Trauerspiels
kopfwärts
hinweg/ das Herz war von oben ja nie zu sehen
nur der blendende Kopf;: ach, der geblendete
Adler oben
warf die Schildkröte (auf der ja bekanntlich
die Welt ruht)wie einen ein goßen Stein vom Himmel also brachteden Kahlkopf um,
er uns immer noch blendet:
Und du
sagst, es gäbe kein Leben nach dem Tod?
Und dann Palermo, Siculina Marina, Agrigen
und Empedokles, Palma und die Riviera des Ghattopardo mit der Donna Fugata,
Caltanisetta, Piazza Armerina, Ragusa mit dem gewaltigen Canon. Noto. Syrakus
mit der Grasblüte des Papyrus. Archimedes in Erinnerung. Und am 1. Juni „Medea“
im Griechischen Theater. Exil und Schrecken der Liebe: (Das furchtbarste in der
Welt ist das Vaterland zu verlieren!) – Dann Catania. Aci Trezza (La terra
trema!) Der Ätna und die Todesgefühle in der brennenden Steinwüste. Taormina.
Tropea. Ach, Sizilien, in Eraclea Minoa, seltsamster Hafen des Mittelmeeres,
entstand Sizilien: eine Handvoll Kreter
kamen da an Land, zerrten die Insel so ins grelle Licht der Geschichte.
Und passend zur Logik des Occidents oder ists
schon die Levante: Ein Kreter sagt, alle Kreter lügen, also lügt er auch, also
sagen alle Kreter die Wahrheit: wo begann unsere Paranoia, hier? Oder langher
im Minoischen Labyrinth?
Und dann wieder der Stiefel: Tarent.
Brindisi: Der Tod des Vergil (Broch). Die Überfahrt. (8. Juni)
Patras.
Korinth. Fahrt durch den
engen Isthmus. Die harzige Luft. Das
Meer blauer, die Luft flimmernder. Die Landschft karger. Wie ein Traum, kann
kaum erwachen. An Eleusis vorbei. Ist das mögliche, da vorbeizufahren? Piräus.
Einschiffung nach Kreta mit der „Minos“. Ach. Von der Souda Bucht nach
Agios Nikolaos. Sitia. Dann zurück nach
Kritsa. Und zur Dike-Höhle. Malia. Und Knossos.
Es begann in der
Kindheit: als Kind war ich ein Einzelgänger, immer allein, und alle Zimmer des
Hause waren von den Eltern, von den Großeltern, von den Geschwistern besetzt,
in der Diele aß man, im Vorzimmer war immer große Bewegung, so richtete ich
mich meist zwischen den Zimmern, auf der Schwelle ein. Also immer auf Übergängen kam es mir vor, daß
ich nach „ Hause“ kam, mich wohl fühlte,
an Orten, den die anderen kaum beachteten,
der für sie gar nicht existierte, leer war, übersehen wurde; da ging man
schnell darüber hinweg, um in einem Zimmer und damit wirklich in einem Raum zu
sein. So ein Zwischenraum des Übergangs, eine Art Fluchtort und Vorläufigkeit
ist aber auch ein Flug, ist jede Reise.
Wie
die Schwelle trennt die Reise uns vom Alltag, vom Selbstverständlichen, ja ist
ein Zustand im „Tapetenwechsel“, der Abenteuer, der aber auch Schock sein kann.
... und wohin man jetzt jettet
mit der vermehrung der nullen
auf
den schweizer konten
stimmen sie ein ins vertrauliche
gemauschel
über kitzbühl, st. Moritz und
lagerfeld
denn das ist ihre welt
und sonst gar nichts
Elfriede Gerstl, Vor der ankunft
die fahrpläne wissen bescheid
voll einverständnis
tuschelt
die sftware
rollbahnen sind ausgelegt
die krähen sind mit dem tower
im
bunde
unauffällig schleppe ich mein
köfferchen
während in meinen synapsen die hölle los ist
elfriede gerstl, vor der ankunft
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