Böhmen. Krumlow
Es
ist unheimlich, welch Spiegel sie für mich sein konnte. Hatte ich nicht mehr
gelernt von und durch sie, als sie durch mich? Wie schön war unser erster
Ausflug in die Böhmischen Dörfer. Ich erinnere noch sehr genau die Fahrt nach
Krumlow in Tschechien: Wir kamen an die Grenze … den Pass bitte. Mein Gott, ich
war wieder einmal im Osten. Sofort veränderte sich alles, die Landschaft schien
wilder, unberührter, auch die Menschen. Alles „primitiver“. Auch Hel sagte es.
Die Orte weniger hergerichtet und zu Tode renoviert, vieles ganz verfallen,
abbröckelnder Putz, die Strassen trister, weniger Farben, Grau in Grau.
Dann
der Weg nach Krumlow an der Moldau entlang,
Menschenansammlungen und in der Moldau viele Kajaks, bunt, Wimpel und
Volksfeste am Ufer, Und muss jetzt an die vielen aufgehäuften Steine in der
Mitte des Flusses, wie Pfähle und Kreuze und jüdische Grabmäler, wo sich die
Erinnerungssteine häufen, doch auch an archaische Indianermale inmitten der
Moldau, die wir nach Krumlow entlanggefahren waren, denken.
Melancholie
an der schwarzen Moldau. Und du sagtest mir, was ich für ein Gesicht hätte;
etruskisch wirke es, klare Linien, doch durchscheine ein mystisches Licht, Kubismus
auch - sei da drin - und Expressionismus von innen, aber auch Mittelalterliches und etwas
Asketisches findest du in ihm, und
übersetzt in Musik: Zwölfton, doch auch Mahler und viel Beethoven. Und ich
versuchte ein Gegengeschenk, war aber unvorbereitet und spürte dir gegenüber
einen Mangel an übersetzbarer Bildungsphantasie, doch du warst vorbereitet,
hattest schon all das aufgeschrieben, schreibst heimlich an einem Ich über uns.
Und ich hatte dir ja vorgeschlagen etwas gemeinsam zu schreiben, vielleicht ein Gespräch über Generationen. „Nein, da ist
es doch viel interessanter, unsere Liebesgeschichte aufzuschreiben“, sagtest du
schnell. „Einen Ich zusammen?“ „Nein, das muss jeder für sich tun; die
Perspektiven sind zu verschieden.“
Ich
weiß, du möchtest es für dich in deiner Einsamkeit bewahren, und da darf nicht
einmal ich eintreten. Und es hat dir leid getan, dass du mir deine nur für dich
gedachte Schilderung unserer Begegnung
beim Götz geschickt hast. Ich hatte ja
auch „komisch“ darauf reagiert, weil wieder zu viel von A. darin die Rede war,
auch eure Tage in Krumlow mit dem Königslied aus dem „Hochwald“, das mich an
die Moldausteine erinnert, die wie Totenköpfe sein können:
„Es
war einmal ein König,
Er
trug ne goldne Kron’.
Der
mordete im Walde
Sein
Lieb- und ging davon.
Da
kam ein grüner Jäger:
„Gelt,
König, suchst ein Grab?
Sieh
da die grauen Felsen,
Ei
springe flugs hinab.“
Und
wieder war ein König,
Der
ritt am Stein vorbei:
Da
lagen weiße Gebeine,
Die
goldene Kron’ dabei.“
Zum
Plöckensteinsee kamen wir nicht, der im
Dreiländereck liegt, und mal die Ostwestgrenze war, keinen Übergang und keine
Strasse nach „drüben“ hat, nur einen Fußweg heute zum Stifter-Denkmal und See
am „Grenzknoten“, Höhen über tausend Meter, jenes Blau der Berge, die wie
Feenhöhen auch aus deinem Elternhaus als Fernweh zu sehen sind, und auch in
Krumlow, der „grauen Witwe der verblichene Rosenberger“ schien uns jenes Stück
Dämmerblau und Dunkel herein, das leicht und schwermütig zugleich stimmt, weil
das Land so tiefdunkel wie die Mitternacht ist und auch zu schön und zu weit ist
für unseren Blick, der übrigens auch all das, was seit dem Krieg hier geschehen
ist, samt Vertreibung wie wir alles Zeitüberschichtete und wie das ewig
Bergüberschichtete genau so nicht fassen können, auch wenn es wie grausamsanfte
Ferne der Schönheit herüberleuchtet in Mutzendorf und im böhmischen Dorf Oberplan
und in Krumlau. Ach, ja, Krumlau und sein Schloss, damals noch grau-unberührt
vom großen Zeitenbruch als Stifter hier seine unsäglichen „Pflichtliebesbriefe“
an seinen Besen, die hartknochig kaltherzige Putzmacherin Mali, Tochter eines
in Serbien stationierten Unteroffiziers schrieb, die in Linz in der von ihm
fluchtartig verlassenen Wohnung für Ordnung sorgte.
Dunkel
ja alles, und Abgründe auch beim angeblich Harmonischen, von der Mali in die
Lebensverzweiflung dick gefütterten Poeten-Bürokraten, der auch die nur in unserem
Fernwehblick erreichte blaue Wand am See dort, „einsam und traurig“ findet,
wenn man sie wirklich betritt, DORT IST, in den dichten Waldbeständen der eintönigen
Fichten und Föhren, die stundenlang im Moldautale emporführen, wir streiften
sie ja nur, vor allem im „offenen Lande“ am See, als dann der Rogenbogen über
Friedberg aufging, und den verstreuten Dörfern, unter denen auch Oberplan, und
am Seeende Friedberg, heut Frymburk, wo Stifter verstoßen von ihrer Familie,
seine junge Liebe ließ, um verzweifelt in Malis Fängen zu landen. Oh,
Friedberg, und das „offene Land“ wie
sein Leben eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend als aus
tiefschwarzer Erde, dem dunklen Totenbett tausendjähriger Vegetation des
Vergessens, und doch da, auf dem viele einzelne Granitkugeln liegen, wie
bleiche Schädel, sich abhebend vom modernden Untergrund, und vom Regen
bloßgelegt wurden, gewaschen und rund gerieben. Und auch das weiße Gerippe
eines gestürzten Baumes dazwischen und die angeschwemmten Klötze aus dem
Seebach mit Eisenwasser. Und keine Spur, immer noch, keine Spur von Menschenhand,
weißer Ort, jungfräuliches Schweigen. „Da lagen weiße Gebeine,/ Die goldne Kron
dabei.“ Nur diese Ferne, die Nähe dort siehst
du aus deinem großen Fenster am Telefontisch nicht: das unheimliche Naturauge, von keinem
Windhauch im Talkessel bewegt, starr schwarz, der schwarze Glasspiegel, Nichts
zu Wasser geworden, umsäumt von herabgestürzten zu Gebein gewordenen Bäumen,
die die Felswand nicht hielt, in „grässlicher Verwirrung“ in „traurigem, weiss
leuchtendem Verhack.
„Da
lagen weiße Gebeine,
Die
goldene Kron’ dabei.“
Wir
fuhren an der Moldau entlang. Und du sagtest nur Gutes über mich, als sollte
ich das Andere sein können und sogar müssen, das Liebe bringt, Wärme, Wärme und
nicht diese Kälte und Einsamkeit und Todesnähe des Vergessens. Und spultest es
wie eine Liebeslitanei, wie ein eingelerntes Gebet herunter, als müsste es sich
häufen, zusammenkommen in EINEM, den du in dir trägst, all die Eigenschaft, ein
Mann mit Eigenschaften eben: Du bist
großzügig, schnell, flink sogar, ich mag das nicht, wenn jemand so träge und taaaa-ta—taaaa-taaaata
daherkommt, bist väterlich-besorgt, was ich so sehr an dir mag, Du bist ein
Stück Heimat. Und du analysierst und reflektierst auch alles so tief und weißt
dann Bescheid. Und bist auch so vital, soviel Kraft strahlt aus dir, und deine
Präsenz nimmt ein, für dich, nimmt alles ein, du schaffst Umgebung, die deinen
Stempel trägt. Mit dir kann man Pferdestehlen, du machst alles mit, man kann
lustig sein mit dir, alles mit dir
machen. Überall passt du dich wunderbar
an, als wärst du überallundnirgends zu Hause, jaja, du hast etwas von einem
transsylvanischen Zigeuner … Ich hatte dir ja vom Ahnenpass erzählt, dass die
Vorfahren doch auch aus Böhmen kämen, und hierher aus Schlesien eingewandert
seien in die böhmischen Dörfer, dann Transsylvanien, das Vielvölkerland, wo in
jedem ein ungeheures Blutgemisch sei, und im Ahnenpass gäbe es nicht nur Ungarn
und Deutsche, sondern auch ein Zigeunerblut im 17. Jahrhundert.
Und
dann kamen schon deine Fragen, als wäre alles nur eine Vorbereitung gewesen.
Sag, wie ist das mit diesem Rosenstock-Huessy und seine Eschatologie, sagtest
du, das kann doch nicht wahr sein… Da ist doch keine Wissenschaft dabei, dieser
Lauf zum Zeitende und zur Apokalypse hin… Und dann der Tod als Auferstehung…
ein neues Leben?
Apokalypse
heißt doch „Augenöffnung“, warf ich ein. Und nicht „wissenschaftlich“ das Ende
der Zeit in unserer gewohnten Welt? Es ist
doch so, dozierte ich: Zukunfts-Metamorphose ins Jenseits unserer Vorstellungen,
(Ende der Zeit und des Raumes)? Eine Überschreitung
der sogenannten "Naturkonstanten", (wie bei jedem Paradigmenwechsel);
die wichtigste "Naturkonstante" unseres Weltbildes aber ist die
Lichtgeschwindigkeit. Jenseits dieser 300.000 km pro Sekunde aber lösen sich
alle festen Körper in Licht auf; es gibt nur noch das Immaterielle, Geistige. Denken
wir nur an unsere "elektronischen Haustiere," Computer, Radio,
Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle",
Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedankenblitze"
wie in der Kunst, aus einem großen
kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das Nicht-Materielle, das
"Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale
Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte. Für sie gilt
weder Zeit noch Raum. Und am Ende wird es Licht sein, in das sich alles „auflöst“.
Zukunft (immer in Richtung des Endes und des Todes als ÜBERGANG, ist das
Undenkbare, Unvorhersehbare, Unberechenbare, Junge, Immeranfängliche, die Überraschung
des Augenblicks in dem noch niemand war, er geschieht in Einem fort, Nichts ist
abgegriffen, alles ist „jeder-zeit“ NEU…Für Eugen Rosenstock-Huessy ist das
Christentum „keine dekadente Anbetung
des Todes“, nein: dieser Einschluss des Todes ins Leben IST das unauflösbare
„Geheimnis“ und Rätsel des sich ständig erneuernden Daseins zur „Erlösung“ hin.
Man
könnte zu diesem wartenden alt/neuen Erlösungsparadigma den vor kurzem verstorbenen
Physiker-Philosophen, Mitstreiter der Göttinger Achtzehn, Carl Friedrich von
Weizsäcker zitieren: Dass die
christliche Eschatologie ein vorausgeworfenes Zeichen in der Geschichte sei.
Eugen Rosenstock-Huessy: „Noch gehört doch wohl der Weltuntergang zum rechten
Glauben, und das Leben im neuen Äon auch.“ Ja, es ist und bleibt für uns als Menschen,
die leben, nicht mehr wissen und wissen können, ein ungläubiges Kreuz mit der Auferstehung vom Tode als
rätselhafte Hoffnung.
Aber
es ist doch die Liebe … sagte sie, die ist wirklich und gibt Zukunft… und ist
das Überraschende, Prickelnde.
Und
wieder reichte sie ihre Hand herüber auf meinen Schenkel. Und die Luft knisterte
erotisiert. Und, lachte sie, du küsst mich… und so überwinden wir auch den Tod.
So
viel geschah bei dieser Fahrt. Auch Kritik kam, dass ich zu laut rede oft,
nicht immer offen sei, und hielte die Wahrheit gern zurück, rücke schwer mit
ihr raus.
Und
dann gestand sie, dass sie über unsere Geschichte schreibe. Beide schreiben wir
also? Jeder mit seinem Blick.
War
es dort am Wirtshaus-Tisch am Ufer der Moldau, wo junge Leute in ihren Kajaks
am Wehr und den Stromschnellen ihre Kapriolen schlugen, umschlugen, wieder auftauchten
gegen die Strömung anruderten, dass du
wieder vom „Letzten“ sprachst? Wie ich mich filmen sollte auf der Toilette,
etwas, was ich noch nie jemandem gezeigt hatte, ihr zu zeigen? Die Scham
zerstören, die letzte? Und in ihrem Brief vom 2. September mit der lustigen
Zeichnung, wie da einer auf dem Klo sitzt, steh ganz schön blasphemisch: Gibt
es eine Kloeschatologie? Wieso spricht sie immer wieder vom Erlebnis in einem
Restaurant nach dem Aufstieg zum Donon, bei der ersten Begegnung, als ich krank
war, Fieber hatte, und sie mich auf der Toilette unfreiwillig belauschte, da
die Wand zur Damentoilette ganz dünn war, und sie es nicht wagte, etwas zu sagen,
sich auch nur zu bewegen, weil es mir hätte peinlich sein können. Immer wieder
habe sie das Geräusch, „oft fürchterlich laut“ meiner Winde gehört; und damals
daran gedacht, einfach davon zu laufen, zu verschwinden. Nachher aber war sie
dann rührend meine Krankenschwester. Was ist das für eine Anziehung des Vegetalen
beim Lieben, der heimlichsten, verborgendsten Körperfunktionen und der
Intimität; ist es noch eine kindliche Neugierde an diesem Geheimnis des Andern,
und so erotisch, weil es ein Tabu ist, fast wie die Züchtigung und das tiefste
Bekenntnis, die Beichte? Ein Seelenentblößen, wie die geheimste und einsamste
Körperentblößung, das Letzte, das nur uns allein gehört?
Hatte
sie aber nicht heute Morgen schon gesagt, dass wir auch etwas anderes tun
müssten, nicht immer nur dasselbe, uns unseren Körper überlassen, die eine
ungeheure Attraktion einer auf den andern ausüben, so gut zusammenpassen, dass
wir uns nicht wehren können, sondern zum Streicheln und Berühren, zu zärtlichen Hautsinfonien getrieben werden?
Wo
war es, doch nach Oberplan, wo wir das Stifterhaus besuchten, dann aber am
riesigen grünblauen Moldaustausse gleich
am Ortsausgang eine fahrbare Bude mit Fischverkauf und Bier fanden, und Hecht und Forelle kauften, Bier tranken,
und ich mich ein wenig ärgerte, als sie mich nicht bestellen ließ, nichts sagen
ließ, sondern alles an sich riss, sie hat diese Art bei Einkäufen, aber auch
sonst wenn wir mit Menschen umgingen, etwas erfragten etc.; und ich sagte ihr
dann auch nachher, als wir ins Reden kamen, sie mich fragte, was mich an ihr am
meisten störe, dass sie immer die erste Geige spielen wolle, und ich sei leider
auch so einer, und zwei erste Geigen gehen eben nicht gut zusammen. oOder
gerade? Wenn sie beide gleichlaut und gleichschön spielen?
Wir
fuhren weiter, und in der Ferne tauchte über dem See und dem Wald ein großer breit
gefächerter Regenbogen wie eine wunderbare Fata Morgana auf, und Hella (wie ich
Hel oft nannte, weil es so weich klang!) war entzückt und staunte wie ein Kind
über das Naturwunder, „wie schön“! Ein merkwürdiger Kontrast zwischen der so
wunderschönen Landschaft und den Menschen, die so hart und mürrisch wirkten,
auch die Bedienung dort an der Moldau war unhöflich und unwirrsch, so dass Hella mal über das Mädchen, das uns
die zähen Gerichte brachte, sagte, „die würde bei uns sofort rausfliegen,
Mädchen, Mädchen, musst noch lernen!“ Nur die Fischverkäuferin, sie sprach
deutsch, erzählte von der Fischerei und den Fischen, war freundlich und aufgeschlossen.
Vielleicht, sagte ich zu Hella, ist es der alte Hass auf die Deutschen, und
auch unbewusst die Angst, dass sie diese ehemaligen deutschen Gegenden zurückfordern
würden, obwohl die Grenzen und die Grenzziehung längst klar und abgesichert
sind.
Das ernsteste und tiefste Gespräch ging los,
als Hella auf meine Frage, was sie am meisten beschäftige, loslegte… Dass das
Leben trotz allem schön sei, und wir uns durch die Verbrechen anderer nicht
irre machen lassen dürften… Nein, Welt- und Lebensvertrauen, das lasse sie sich
nicht nehmen…
Und
ich wusste, dass ich genau dieses von ihr zu lernen angefangen hatte, und hörte
mit meinen Belehrungen auf, schwor mir, mein Kopfgift und das furchtbare „Downerprogramm“
aufzugeben…
FRANKREICH.
Das Elsass
Und
dann fuhrst du los in Richtung „Überraschung“. Gings jetzt schon los mit der
topographischen Verwirrung und Verirrung… ich glaub nicht, du musstest ja nur
Richtung Strassburg fahren,, über die Grenze, über die Rheinbrücke… ach, ja,
ohne jede Kontrolle… ich hielt deine rechte Hand in meiner, den kleinen warmen
Vogel, du mit der linken das Steuer, meine rechte streichelte dein Gesicht,
auch die Linke deinen Nacken, deine Haare, deine dann freie Hand auf meinem
Schenkel; und manchmal schien es mir, als hättest du gern auch den Delphin
begrüsst, dachtest wohl, es sei zu früh;
ich wusste ja auch nicht, wie weit dein „Keuschheitsgelübbe“ ging, hatte
mir vorgenommen, nie den ersten Schritt zu tun, nie zu irritieren, zu warten,
was geschehen würde, alles sollte so sein WIE ES IST, wie es sich aus unserem Zusammensein ERGAB. Ergeben, oh,
NEIN. Ich weiss nicht mehr, was wir redeten. Dein feines Gesicht glühte; meines
auch. „Oh, ich bin so glücklich, oh, ich bin so glücklich, dass du hier bist,
dass es dich gibt“, sagtest du mehrfach. Und nein, nicht viel reden wolltest
du; ich versuchte zu erzählen, von Schloss Horneck, meinen Werk-Archivsorgen,
dem Leseabend, auch von deinem Freund Pierre, dem Doktoranden. Es interessierte
dich nicht, du hörtest kaum zu, warst nach innen dir und mir zugewandt, unserer
so stark spürbaren Präsenz; ich fühlte, wie deine Aura in meine tauchte, sie
vergrösserte, stärkte, wie sie sich vermischten. „Ich möchte nichts, nur diesen
Zustand, dieses Glücklichsein geniessen, dass du DA bist. Wirklich da bist; oh
ich fühl dich so!“ Nur nah, nur das Jetzt, nichts anderes sollte sein. Und du
strichst mir über das Haar, das Gesicht,
die Augen „Oh, deine Augen, ich hab hineingesehen, die meerigen gesprenkelten
Augen…“ Und plötzlich sagtest du so Unerwartetes, dass ich noch mehr Fuss
fassen konnte im Augenblick mit dir, das alles wegwischte, was mich bisher so unsicher
gemacht hatte: „Du hast ein so schönes Gesicht, ich möchte immer nur in dein
Gesicht sehn… Und du hast gute Falten, so gute Falten, Lebenszeichen sind das.“
Und
nachdem du mir gestanden, dass du die Sonnenblume heute gestohlen hattest,
nachdem du auf die Rheinauen zeigtest, als wir über die lange Rheinbrücke fuhren:
„Sieh, da laufe ich jeden Tag, jogge ich jeden Tag, du weißt“ „Ja, ich weiss,
immer kurz vor der Dunkelheit!“ „Ja“. Da sagtest wieder so Unerwartetes, fingst
an über mich zu sprechen…
Und
wir waren schon in der Nähe von Strassburg. „Sollen wir reinfahren. Die
Cathédrale sehen, wo ich am liebsten bin? Oder weiterfahren?“ „Fahren wir doch
zum Münster, Liebste, ich möchte dort sein, wo du am liebsten bist, jenes
Zentrum deiner Stadt zusammen mit dir erleben, ja? Vielleicht stehen wir dann
gemeinsam unter jener Strahlung, die es in jeder Kirche gibt, dort aber unvorstellbar
stark sein muss!“
Diese
wundervolle Gemeinsamkeit! Nur eines wolltest du nicht, dass ich dich filme.
„Nein. Ich will keine Bilder, ich möchte, wir sollen diesmal alles nur innen
mit nehmen, erinnern, dass es unendlich, dass es grenzenslos für uns bleibt!“
Wir
parkten auf dem Vorplatz des Münsters an
einer Ecke, nahmen nur das Aufnahmegerät mit, „hier wird viel geklaut!“; Arm in
Arm, du hattest mich am Arm genommen, und wir gingen zum erstenmal so als Paar
über die Strasse, gleichgross… „Sieh, wie wir zusammenpassen, wir passen so
wunderbar zusammen!“ sagtest du. Und so traten wir ins Münster ein, gingen das ganze Mittelschiff in dem
riesigen Dom dem Altar zu; und oh, Wunder, plötzlich Orgeltöne, als wären wir
ein Hochzeitspaar, und so empfanden wir es auch, wie eine erste wundersame
Einweihung, als hätte alles nur auf uns gewartet. Ich werde diesen stillen, wortlosen, fast wie
in uns hallenden Augenblick nicht vergessen; du schmiegtest dich fest an mich,
und sagtest: „Ich fühl mich so geborgen mit dir!“ Und ich sagte: „Ach, es ist wie eine Trauung
unserer geistigen Ehe!“ Und das Dämmerlicht, das durch die Glasmalereien mit den heiligen Figuren fiel hatte unsere
Gesichter so sehr ins Gleiche dunkel verändert,
dass sie heller und ineinander zu verschmelzen schienen, die Augen vor
allem, diese gemeinsamen Blicke, die diese sanfte göttliche Ruhe aufgenommen hatten
und wieder und wieder ineinandersahen, nein, satt wurden sie nie.
Vor
dem Altar suchten wir den „Punkt“, dieses erlösende Schweben, und ich sagte, in
Florenz ist er immer da, doch genau unter der Brunelleschi-Kuppel; Hier gab es
die Kuppel nur über dem Altar und dorthin führte für uns kein Weg; als wären
wir ausgeschlossen.
Du
nahmst dann zwei Kerzen, wolltest 20 Centime, wir hatten sie nicht, ich blieb
einen Augenblick allein, du gingst wechseln; und ich kam mir plötzlich ohne
deinen Arm, deine Hand einsam und wie
amputiert vor, als wäre jetzt das Münster viel zu gross für mich. Ich suchte
dich mit den Blicken, da endlich tauchtest du aus dem Dunkel auf! Und nahmst
gleich wieder meine Hand. „Für meine Oma sind diese Kerzen, sie hatte mich darum
gebeten, und jedes Mal zünde ich welche für sie an.“ „Vielleicht sieht sie uns
jetzt, wird sie spüren, dass wir uns gern haben.“ Sagte ich vor dem Kerzenmeer
vor mir. „Sicher wird sie es spüren. Ich bin ja so glücklich! “ Wir sahen uns
noch die astronomische Uhr an, die wie ein zweiter Altar da stand. Und unter
den Ziffern, dem Glockenwerk der Totenschädel… „Die Zeit ist der Tod“, sagte
ich. „Aber auch das Leben“. „Ja, das Leben, das sich dem Tode zubewegt“. „Wir
wollten nicht darüber sprechen!“ „Nein“.
Dann
verliessen wir – schweren Herzens - denn wie schön war diese Geborgenheit
zusammen hier, den Dom. Als wäre eben diese Zeitschlag ausgeschaltet in den Ton
der Stille und der Orgel getaucht und aufgelöst. Und in unseren Herzen, die mitklangen.
Ja, diese Stille, die uns schützte! Gegenüber vom Münster wollten wir noch
das Musee Notre Dame sehen. Doch es war
nicht geöffnet. Daneben ein Plakat mit dem St. Odilienberg. Du zeígtetest es
mir, sahst mich von der Seite an: „Kennst du es?“ „Ja, freilich kenne ich es“.
Etwas wie Enttäuschung war auf deinem Gesicht zu erkennen. „Jetzt
fahren wir aber los, sonst wird es dunkel.“ „Ja“. Wir fuhren durch die Stadt.
Du zeigest mir noch deinen Radweg zur Uni. Dann
verliessen wir Strassburg fuhren entlang an alten Fachwerkhäusern. „Ja,
ich hatte mich in Strassburg vor Jahren schon verliebt, und wollte immer wieder
kommen; es kam nie mehr dazu bis heute, und jetzt?...“ Mit Michi und Magdalena
war ich vor vielen Jahren hier gewesen, und damals hatte es uns die
astronomische Uhr angetan!“
„Wir
wollen sie vergessen, den anderen Ort mitnehmen.“ „Altar UND Uhr, wir haben
genau drei Tage!“.
Warst
du so nach innen gekehrt, so verwirrt von all diesen Eindrücken, dass du die Strasse dann zu deinem Ziel,
dieser Überraschung, nicht fandest? Du fuhrst einfach irgendwohin. Und ich
sagte, „schliesslich ist es ja egal, wohin wir fahren, wichtig ist, dass wir zusammen
sind.“ Dann aber schien die Route doch richtig zu sein..
Nach
Rosheim… zur Kirche zu den fickenden Ungeheuren. Da standen wir davor, und oben
auf dem Dachfirst gings los, „ja, damit die Hölle weiter ihre Nachkommen hast“,
sagtest du, siehst du sie dort? Ja. Wir gingen um die Kirche herum, überall
diese minitotenmasken und köpfe, womöglich Patrizier. Solche enorme Ausdruckskraft hatte jeder
einzelne. Erstaunlich.
Und
dann zum jüdischen Friedhof durch den Wald. Wo ja auch der Josel von Rosheim
begraben sein muss.
Wir
gingen hinein, in der Ferne ein unheimliches Licht, eine grosse Stille. „Warst
du auf dem jüdischen Friedhof in Prag“. „Ja, beim Baalschem auch.“
„
Wenn du dir vorstellst, das unter jedem dieser vielen Steine, die uns jetzt so
ansehen, schattenhaft zu leben scheinen, ein ganzes abgecshlossenes Leben
liegt, dann kannst du gar nicht einfach so vorbeigehen, jeder Schritt ein
ausgelöschter Lebenslauf. Eine merkwürdfiger Zeitstillstand. Im Rücken das
Dunkle des Waldes, vor uns das Licht und die Offenheit der Ebene. Und des
Himmels.
Zwischen
den Grabsteinen gingen wir dann durch ein Gatter zum älteren Teil. Da bekamst du plötzlich Angst vor den im
ältesten Teil des Friedhofes grasenden Ziegen. „Die hatten mich das vorigemal
umringt, als wollten sie mir was antun. Komm, wir gehen hinaus.“ “Aber ich bin
ja bei dir, ich beschütze dich doch!“
Struthof
„Mein
lieber Ich, weißt du noch unser Ausflug
ins Elsass? Und unser Kloster S. Odile?
Der Berg, unter uns die Ebene, und alles unvergesslich, alles ein Lebensereignis,
jeder Augenblick erfüllt, das IST doch erfüllte Hoffnung, nicht, und ich weiß
noch alles so gefühltgenau: Die Sonne schien schneidend vom Himmel, als ich aus
dem Nebelfeld hinaustrat in die Höhe und unter mir das Weiß der Ebene. Die Haut
wurde warm und ich spürte, wie die Pigmente sich veränderten unter den Strahlen
und mein ganzer Körper nach Frühling roch.
Mein
Herz erinnerte sich an den Spätnachmittag, als wir durch dieses Tor traten und
uns die Zimmerschlüssel geben ließen. Mein Gott, wie sehr ich Dich liebte!
Ein
Jahr ist vergangen, ein ganzes Jahr. Ist es Dir bewusst? Die Sonnenuhr wirft
Schatten, der Sand rieselt und die Körner werden weniger.
Ich
spürte noch einmal Deine Hand, die mich nicht loslassen wollte, Struthof, Le
Champs du Feu. Der Himmel war so tiefblau und die Farbenpracht der Herbstwälder
überwältigend. Der Blick bis zum Donon, oben, auf den chaumes des crêtes, und
gegenüber, aus dem Nebelmeer hervorragend die feinen, dunklen Linien der Schwarzwaldgipfel.
Ich zog
den Mantel aus und lief die Ärmel nach oben geschoben über die Hochebene,
umarmte die Bäume und raschelte durchs Laub.
Ein
Jahr ist es her. Es regnete und ein paar Verrückte liefen einen Marathon.
Ich
fühlte Dich an diesem so fernen Tag vor 12 Monaten mehr als ich mit Worten
sagen konnte, ich fühlte deinen Grund und Boden und Deine Hand war das
Futteral, in das ich Dir mein Herz legte. Wie oft hast Du mir gefehlt und wie
wenig ist doch real geschehen.
Dieses
ist das Wirkliche und die Hoffnung, dass wir uns wiedersehn…
Noch einen schönen Abend,
Noch einen schönen Abend,
Hel.“
Sie
erwähnte eingebettet ins Wirkliche der Liebe das KZ Struthof nur wie nebenbei,
als wollte sie es mir als zu starken Vordergrund in all meinen Argumenten
vorwerfen! Ja, damals hatten wir es gemeinsam gesehen, und ich schrieb ihr:
Ja,
weißt du noch Hel, bei Schirmeck kamen wir zum KZ Struthof. Ich hatte dir
erzählt, dass ich in meinem Haus eine Zeichnung vom ehemaligen
Buchenwald-Häfttling Muzic an der Esszimmerwand hängen hab. „Kennst du Music?“
„Ja. Aber mit so einem Bild könnte ich nicht in meinem Haus leben!“ „Für mich
ist es ein Zentrum des Hauses, ein Symbol dafür, weshalb ich überhaupt da und
nicht zu Hause lebe! Es ist der letzte
Atemzug eines Häftlings kurz vor dem Tod. Und solche Augenblicke hatte Music im
Lager erlebt; erst 1971 kam es als spätes Trauma in ihm wieder hoch. Und er
zeichnete diese letzten Lebensmomente der Armen; vielleicht waren es auch
Augenblicke der Erlösung. Sicher waren sie das! Und du weißt ja, wie alles zurückreicht
in meine Familie, wie viele meiner Leute da beteiligt waren…!“ „Ja.“
Wir
hielten. Und das grausam-niedliche winzige Kz lag vor uns, das wie
Hitlerhaarschnitt und Hitlerscheitel sauber aussehenden Areal, die farbigen
Baracken, der elektrisch geladene Zaun. Der Galgen mit der Galgenschlinge, die
im Wind baumelte, der Block. Und im Hintergrund diese Schönheit der Vogesen im
Nebel feenhaft geschichtet, ringsum der
Wald. Ich sagte, „dies will ich
nicht aufnehmen, es wäre wie eine Blasphemie.“ Wir gingen nicht hinein. Wir
blickten nur hinab ins Areal, umarmten uns. Ein langer Kuss, als müssten wir
auch hier etwas reinigen, wir, mit dieser Sprache, mit diesen Lippen, mit
diesen Mündern.
Dann
fuhren wir an der Gaskammer vorbei. Und du erzähltest entrüstet, dass es hier,
gleich neben der Gaskammer, ein Restaurant für Touristen gäbe. „Willst du es sehen?“
Nein. Jetzt reicht es.
Sie selbst aber hat es viel eindringlicher
beschrieben, vielleicht weil sie ohne Vorhergedachtes nach Innen schrieb, und
das kann ich von ihr lernen, und hab es immer schon versucht, die „leichte
Hand“:
Dann ging’s los mit dem Autschgerl in
Richtung Hohwald und rüber nach Schirmeck zum Donon. Ich war mein Kartenleser
und ich konnte kaum glauben, dass er das als Seefahrer ja so gut kann und ich
ihm da voll vertrauen darf. Ja, das ist etwas, was mir auffällt. Ich kann ihm
vertrauen und muss nicht alles selbst machen. Ich kann auch aufhören, „anzukämpfen“.
Er übernimmt Initiativen und das ist unheimlich entspannend. Er macht einfach
und fragt nicht lang rum. Und was er macht, ist gut. Ob es jetzt das gestrige
Herrichten des Zimmers war, oder das Kaufen der Broschüren, oder seine Art am
Frühstückstisch nach Nachschub an Brotreserve zu greifen, die Natürlichkeit, neben
mir im Auto zu sitzen, den Weg zu finden, er macht das einfach so und ich fühle
mich sehr wohl in seiner Anwesenheit, seiner Aura, seinen Bewegungen. Wenn ich
ihn ansehe, geht’s mir gut. So einfach ist das. Und so fuhren wir los und
lachten über die paar Steinderln von der Heidenmauer „Ist sie das?!“ „Ja…“ und
dann ging es durch den Herbstwald. Der Weg ging an Struthof vorbei. Dem kommt Ich
nicht mehr aus.
Und ich kann das Thema nicht mehr hören,
weil ich es in der Schule bis zum Erbrechen eingebläut bekam, dass ich bis an
mein Lebensende eine Erblast auf den Schultern tragen werde, Erbsünde, das
Holocaust-Gen steckt mir seit Geburt in den Knochen, obwohl weder Omi noch Opa
in der Partei waren, Mami erst 1943 und Papi 1941 geboren wurden und den Krieg
nur noch aus Erzählungen kannten. Obwohl Mami ja noch besonders eine starke
Erinnerung hat. Die des Kleidchens. Bei jedem Bombenangriff auf Landshut durfte
Mami, bevor es in den Luftschutzkeller ging, das weiße Kleidchen mit den Rüschen
und der Schleife anziehen. Es war ein Jauchzen, wenn die Sirenen heulten. Und
Papi erzählte immer von der Orange, die ihm sein Vater beim letzten Besuch
mitgebracht hat, bevor er drei Wochen später in Russland auf dem Feld fiel,
d.h. an einem Waldrain erschossen wurde. Und als der Brief daheim eintraf, mit
dem Kreuz und dem Adler und den paar Habseligkeiten, die er bei seinem Tod am
Leibe trug, da wusste Papi nicht, was es bedeutete, keinen Vater mehr zu haben.
Ob dieser Opa, den ich nie gekannt habe, im Augenblick seines Todes irgendwo in
der russischen Fremde an seine zwei kleinen Buben und seine Frau gedacht hat?
Was denkt ein Mensch, wenn sich die Kugel in seinen Körper bohrt? Wie ist es,
so zu sterben? Tut das noch weh? Wie ist es, in ein paar Sekunden Abschied
nehmen zu müssen vom Leben, obwohl der Körper noch gesund ist? Opas Erbgut lebt
auch in mir weiter. Papi sah aus wie er. Werde ich Kinder haben? Wer wird der
Vater meiner Kinder sein? Werde ich Krieg erleben müssen? Werde ich das
erleben, wovon ich nicht glauben kann, dass es existiert? Was hat Ich erlebt?
Was steht hinter der Narbe über dem Schambein geschrieben? Sehe ich ihn? Warum
habe ich das Gefühl, ihn zu kennen? Warum treffen wir uns jetzt, Ich und ich?
Wer hat uns zusammengebracht? Gibt es einen Sinn? Sind das die deutschen Fragen?
Wir kamen nach Struthof und stiegen aus. Wie gut es war, sich zu umarmen und zu
halten gegenseitig. Wie mir das oft fehlt. Wie allein man durchs Leben wankt,
trotz aller Arme. Wie mir dieser Arm fehlt. Und wie viele Arme man einfach wegschiebt.
Ich erzählte Ich von Roger Dale, dem ich vor
seinem Berlin-Aufenthalt Einzelunterricht gegeben hatte und seinen
Struthof-Bildern, dass er als Häftling verkleidet 50 Tage lang mit geschorenem
Haupt die Aussicht vom Lager aus malte. Wir regten uns ein bisschen auf, wobei
die Bilder von ihm ja wirklich nicht schlecht sind. Und Ich erzählte, dass er
selbst ein Bild mit Todesmotiv in zentraler Lage in seinem Haus hätte. Das
lässt ihn nicht los. Verfolgt ihn. Verfolgt uns alle. Aber ihn besonders, weil
er es erlebt hat durch die KZ-tüchtige Verwandtschaft und dem Terror, der
kommunistischen Diktatur, die sich schwupsdiwups anschloß. Und sich diese
Fragen stellt, ein paar Jahre früher geboren, was wäre er geworden? Ein Turmwächter?
Ein Appelltreiber? Ein gestiefelter Aufseher mit Knarre im Revers? Ein
Menschenschinder und folgsames, ausführendes Element der Todesmaschinerie?
Er wird es nie wissen und deshalb braucht er
meiner Meinung nach auch nicht herumzuspekulieren. Er ist es nicht geworden,
weil er eben nicht dafür bestimmt war. Somit erübrigt sich die Frage. Das
Samenfädchen seines Vaters bohrte sich in eben diese Eizelle seiner Mutter Ende
1933 und nicht 1913. Da gibt’s nicht mehr zu hinterfragen.
Er
ist da. Jetzt. Er lebt mit mir am Anfang des dritten Jahrtausends. Sein Blick
streift keine in Ketten gelegte Arbeiter-Kolonnen, sondern die Seele der Welt,
der Menschen und meine, die ich an seine schmiege, wo sie daheim ist. Als wir
oben am Zaun über das Areal blickten, sah alles beinah putzig und ökonomisch so
perfekt aus, wo der organisierte Tod am längeren Hebel saß. Die Baracken wie
Streichholzschachteln. Da meinte er:
„Schau,
dieser Galgen, Anja. Denk’ an den, der da hing. Denk’ an ihn. Siehst du ihn?“
Zuerst
sträubte sich etwas in mir. Es ist ja so ein Schmerz! Und dann dachte ich doch
an ihn und an alle, die dort gehangen haben und ihr Leben aushauchten vor
dieser schönen, friedlichen Kulisse der sanfthügligen Vogesen. Die so sterben
mussten, weil sie zum falschen Zeitpunkt geboren worden waren. Den Wäldern ist
es egal, der Erde ist es egal. Sie liegt da und lebt beständig, bis sie eines Tages
von der Sonne verschlungen wird und es werden andere Planeten geboren werden
und leben schon da draußen im unbekannten Raum. Wir sind ja nur ein Teilchen,
ein winziges Rädchen und selbst noch um so viel winziger. Was ist schon ein
Menschenleben? Es ist nichts. Und alles. Wie leicht werden Menschen abgeknallt,
in die Luft gesprengt. Und wie schrecklich, wenn der geliebte Mensch Fieber
hat.
Ich
dachte an diesen Menschen, an die Sekunde vor dem Sprung ins Leere. Der Tod
ging durch mich hindurch und prallte an unserem Kuss ab. Wir küssten uns sanft
und lang, ein schöner Kuss war das, ein Schutzschild gegen alles Schlimme, was
da jemals kommen mag.
Wir fuhren weiter talwärts, an den Öfen und
Verbrennungsanlagen des Konzentrationslagers vorbei, wo sich, man mag es
glauben oder nicht, ein Restaurant
befand! Bon appétit! Ich konnte nur noch sagen, dass ich das nett fände, ein
Restaurant „Aux chambres de gaz“ dort hinzustellen, damit sich die
Touristenbusse neben den Gaskammern bei Sauerkraut und Riesling stärken
könnten. Es hieß natürlich nicht „Aux chambres de gaz“. Aber was will man da
noch sagen? Wie kann ein Typ ein Restaurant neben den Türmen aufbauen, aus
denen geschundene Leiber pulverisiert in die Luft verpufften, samt ihren
Schmerzen und Verzweiflungen, ganz zu schweigen von den Hinterlassenen? Dass so
alles möglich ist im Tun und Handeln eines Individuums, das ist nicht nur erschreckend.
Auf der anderen Seite ging es rauf zum
Donon. Und alles war wieder heiter. Wir reinigen den Weg. Und plötzlich ging
die Heizung!
„Schalt’ doch mal die Heizung runter, es ist
doch viel zu heiß!“
Automatisch schob ich den Regler nach links.
Und dann erst riss es mich:
„Ich kann die Heizung ausschalten! Ich! Das
heißt: sie geht!!“
„Gleich wird auch noch das Radio angehen,
wirst sehen!“.
Mann hab’ ich gelacht! Ich hab’ doch nur ein
Kabelloch da, wo einst das Radio steckte. Ha, ein Luftradio mit Äther-Musik.
Ich trau’ ihm alles zu, dem Romanot! Seine Hände können zaubern.
Er fing dann noch weitausholend mit
mystischen Themen an, das wurde mir dann zu viel, ich konnte da nicht mehr
zuhören, ich war noch randvoll mit den Eindrücken vom KZ. Dass ich nicht immer
zuhören würde, meinte er. Nun, kein Wunder! Mir klingen schon die Ohren! Wir
müssten ja tausend Jahre nur reden und uns zuhören. Und dass ich manchmal
abwesend sei. Ja, also da muss ich ihm schon Recht geben. Aber ändern kann
ich’s nicht. Ich klinke mich manchmal einfach aus. Dann bin ich weg. Weg in
meiner Welt. Weg in der Innenstille, wo niemand hinkommt. Wo eine Sekunde ein
Jahr ist. Im Vakuum meines Herzschlags ist der Weltraum.
Colmar. Der Isenheimer Altar
Wir
fuhren los Richtung Colmar. In Dambach sahen wir uns noch die Kirche an. Vor allem
die offene Gruft mit dem Berg von Knochen ein ganzes Durcheinander von Köpfen
und Gliedern, nicht so schön ornamentiert und mit barocken Mustern wie in der Kapuzinergruft von Wien oder in
Rom via Veneto, sondern so unordentlich und chaotisch wie der Tod wirklich ist,
darüber die Inschrift, du lasest sie mir vor, gedankenverloren und du packtest
fest meine Hand, dein kleiner Vogel lag fast die ganze Zeit in meiner:
„Was ihr seid sind wir gewesen, was wir sind,
werdet ihr sein!“ Grässlich, und Struthof kam wieder hoch.
„Die
sind nur umgebettet worden, der Friedhof wurde aufgelöst, zerstört im
Dreissigjährigen Krieg.“ So lang her. Knochen haben Dauer, als müssten sie die
Ewigkeit messen. Mein Gott auch Schädel aus der Altsteinzeit und vorher gibt es
noch. Denk an das Jüngste Gericht und die Auferstehung.
Dann
Colmar, so hatten wirs ausgemacht, von hier über Breisach nach Todtnauberg. Und
hattest schon gestern Trauer in der
Stimme, „es wird heute unsere letzte Nacht sein… Ich mag nicht daran denken.“
Wir
sprachen im Auto, wieder die Hand in deiner Hand, über den Isenheimer Altar;
dass der Name von Neithardt oder Gothardt in Grünewald verfälscht und so
geblieben war. Du wusstest es. Und dass das ehemalige Dominikannerinnenkloster
im 13. Jhdt. ein Zentrum des Mystizismus gewesen und die frühgotische Kirche von Albertus
Magnus geweiht worden war. Es gibt sie nicht mehr. Und überhaupt diese starke
mystische Compassion, das Mitleiden und dieser surreale Ausdruck auf dem
leidenden Gesicht. Wir werden es gleich wirklich sehen.
Ich
sagte, „diese Auflösung des schrecklichsten Schmerzes bei Christus am
Kreuz auf dem Wandelaltar in
Auferstehung, das erinnert mich an Bruckners Achte, an unsre, und an Mahlers
Auferstehungssymphonie, die Zweite. Erinnerst du dich noch.“
Ich
hätte damals gerne unsere frühere Interlineare bei mir gehabt, und das
wunderbare Klopstockgedicht. Ja, Lichtsieg hinauf, wenn man sich mit allem
annimmt, DAS annimmt, “erlöst“ werden zu können, wie im Auferstehungsgedicht!
Und auch bei Mahlers Zweiter ist es da, schon im Aufbau. Im ersten Satz der
Tod. Im zweiten dann Traum und Leben: glückselig-wehmütiger Gegensatz, ja, den
ich ja täglich lebe und auch im Schreiben immer empfinde, dieses erschreckende
Aufwachen auch, der Schock des Ernstes!! Der jetzt in allem so schön in Liebe
und im Zusammensein aufgelöst, aber doch immer mittendrin war; deshalb auch
nach aussen kam? Struthof. Dambach. Als gäbe es in diesen Tagen nur unser
Ineins von innen und aussen. Und so auch die ernsten Stunde so heiter fast,
weil wir uns miteiander, Hand in Hand, vor nichts mehr fürchteten?! Und wieder
dachte ich an Mahlers Zweite, die Auferstehungssymphonie: War da im Scherzo
nicht auch eine Lebensfluchtsynthese, fast
derb, die dann aber schroff hinweggefegt wird, Phantastik und dann alles
zerflatternd ins Endgültige kommt, und fast noch schöner als bei Bruckner, das
angenommene, die eigne Tiefe und Liebe? als Auferstehungsmotiv, dieses Weltvertrauen,
deines, das du mir vermittelst, SCHENKST! Oh, DU, mein Liebeswesen, meine
Liebesfrau, Du, Lieblingchen und Ernst. Wie ich dich darin liebe: „Dein ist,
was du gesehnt, dein, was du geliebt,
gelitten.“ Und das hattest du mir gecshickt, mich daran erinnert! Immer wieder!
Oh, du tolle Frau, wie sehr ich dich verehre!
Wie
oft hab ich dich von der Seite angesehen, und gedacht, immer wieder, wie
selbstbewusst und doch weich, wie sanft und lieblich, die Wangen von einer unendlich
weichen Zeinung, die man wie Flaumfedern mit denm Blick, der sich darin auflöste,
mit den Händen, die immer wieder darüber streicheln, zu spüren meint, und mit
der Gedankenbahn der hohen Stirn, so vergeistigt zugleich.. Madonna hatte ich
gesagt, gedacht, gemurmelt?
Oder noch mehr dieses Vertrauen, Welt-
und Lebensvertrauen, das deine Ausstrahlung auf mich übertrug, diese Geborgenheit,
die von dir ausging, geführt zu sein, nicht allein der nächsten, vielleicht
verheerenden Unglückssekunde ausgesetzt,
sondern GELEITET und geliebt, angenommen über dich von allem, was GUT und uns,
mir, dir wohlgesonnenen ist, alles, was
da ist, ein Ja, und nur so stark da, weil es ausserhalb jedes kleinen Gedankens
und jeder zweifelnden Deutung, einfach
so sein musste, auch du in deiner ganzen
schönen Erscheinung im dunklen Mantel
und mit meiner Mütze auf dem Kopf - kein Zufall, sondern mit allem so wie es
sein musste, und aus diesem Sinn kann niemand und nichts herausfallen oder
willkürlich im Tun sich entziehen, vielleicht im einzelnen, aber nicht in der
ganzen Lebensbahn, von der, das spürte ich deutliche, diese Augenblicke entscheidend
waren:
„O glaube
Du warst nicht umsonst geboren!
Hast nicht umsonst gelebt,
gelitten.“
Wo
waren wir nur gewesen, was hatten wir gemacht, getrödelt, ja, morgens beim
Aufstehn. Die Lust. Und der Schmerz, wie sie zusammengekommen waren. Die Liebe
und die, ahc ja… süsse Marter. Später, werde ich sie ganz anders erleben
müssen, und war diese kleine Prozedur, die fühlen wollte, nur ein winziger
Vorgeschmack. Später dann Schmerz ganz ohne jede Liebe ohne jede Lust. Ich
wagte nicht mehr daran zu denken. Doch die Angst hatte mich plötzlich, als wäre
das Vertrauen einen Moment in Verlassenheit umgeschlagen… Der Riemen? Ach, was,
ists nicht nur ein Spiel, ein Kinderspiel? Dagegen das kleine Sterben der
Trennung, des Abschieds, der Tod als letzte Furchtbarkeit. Liebesende nur ein
Vorgeschmack? Nein, ich konnte mir nicht
vorstellen, dass es einmal ein Ende haben könnte mit uns. Dass du mich
verlassen würdest. Einfach weg, so, von einem Tag auf den Andern. Trennung…
heiss stieg die Verzweiflung in mir hoch… Doch hattest du nicht immer wieder
gesagt: Versprichst du es mir, dass wir zusammenbleiben, solange das Leben hier
auf der Erde dauert?! Ich spürte deinen fragenden Blick. „Woran denkst du?“ „Ja, an all die Abschiede,
an alle… „ „Nein., Liebster denk nicht daran…“ „War da eine Träne auf deiner
schönen Wange…“ Ich weiss, du dachtest an den kleinen Abschied, dass wir uns
morgen trennen werden… Wenn auch nur für kurze Zeit. Und es wird dann andauernd
weh tun, Tag für Tag. Und blitzartig fiel mir die Geisselung, die Marter
am Isenheimer ein, die aber dann direkt mit dem Himmel verbunden war;
ist das ein Abglanz, ist das ein Widerschein des Körperauflösens, ihn
mitnehmend? Und auch wir, werden wir uns einmal wiederbegegnen, später… wann
ist das? Was ist da außerhalb des Lebens für ein Leben, für eine Liebe… gibt es
sie? Ist Liebe wirklich Leben für immer? Ja, so will es der Altar, so klingt es
bei Mahler, bei Bruckner…
Und
dann mit dieser großen Erwartung, ja, auch dem Vertrauen, dass…
Ich
stieß, als wirs sahen, vor dem Museum standen, hervor: „Natürlich, das Museum Unterlinden
geschlossen.“ Es war 12,10h. „Um zwei öffnet es doch wieder, warten wir?“
Sagtest du. Ja, genau. Wieder und wie
selbstverständlich, erwartetest du das Beste. Und ich freilich, wie gewöhnlich,
das Schlimmste auch im Kleinen. Ach, ich
muss noch viel lernen von dir, hohe Frau. Ich zögerte. Und sagte: „Aber heute ist ja Feiertag… Das öffnet nie mehr heut!„
„Aber
ich möchte unbedingt mit dir zusammen den Isenheimer sehen!“ Du hattest ja
schon vorher beim Einfahren in die Stadt erstaunt gefragt, was ist heute, ein
Feiertag? Alle Geschäfte geschlossen. Nun ja, es war der 11.11. Versailles
1918, Spiegelsaal, der Sieg übers Deutsche Reich wurde gefeiert.
Ich
zögerte, aber dann entschlossen wir uns doch zu bleiben. Und wir gingen zuerst
zum Dom. Er war weniger gewaltig als das Straßburger Münster. Als wir eintraten
wieder die Orgel. Seltsam, in vielen Kirchen wurden wir so „begrüßt“. Und ich
wurde wieder heiterer. Und es wurde ja auch wie durch Magie immer alles
fröhlich und gut mit dir! Und du holtest aus mir immer nur das Glücklichsein
und Fröhlichsein raus, ja, so war ich ja, als Kind war ich so gewesen, auch als
junger Mensch, und war es eigentlich im Grunde meines Wesens. Oh, du, so viel
weiß ich von mir nur, wenn ich mit dir zusammen bin, zusammen mit dir die Welt erlebe, indem ich deine Hand
halte, dein Gesicht sehe, dich fühle. Und so begann es wieder fröhlich, fröhlich
zu werden, wie ich es eigentlich die ganze Zeit mit dir gewesen war, es sein
konnte!!
Und
schon ging es wieder los: Am Eingang zeigtest du mir eine der Figuren, die
deine Freundin Colombe entdeckt hatte. Nur wenn man genau hinsieht, unter die
Figur sieht, erkennt man, dass die einen gewaltigen stehenden Schwanz hat. Ich
filmte ihn mit Zoom von unten. Und du standest dabei und lachtest. Und wir
lachten beide ganz laut und herzlich.
Gingen
dann wieder zurück, in einer Seitengasse wusstest du ein schönes Café, das dir
auch Colombe gezeigt hatte. Und wir fanden es, traten ein. Ganz wie eine alte
Café-Apotheke wirkte es, dachte ich und freute mich, weil ich das so sehr mag,
wie du ja auch, wie viel mögen wir doch
gemeinsam, unser Geschmack ist sehr ähnlich, ja, ganz schön altertümlich
wars hier Ach, ich erinnere mich, wie wir schon im April uns gleich zu gleich
im Geschmack fanden, und es ganz „antik“ haben wollten, alles!
Wir
hatten in der elsässischen „Apotheke“
mit der entsprechenden Besitzermadame sogar einen Platz am Fenster, sahen auf
die alte Gasse. Überhaupt dies alte Colmar. Das Elsass war nie zerstört worden.
Seltsam als strittiges Grenzland.
Ich
trank einen Tee, du Kaffee.
Und
warum lachten wir so viel? Vielleicht weil wir so voll waren voneinander, jede
Sekunde war gefüllt, nichts war sinnlos, nie leer, und dann schwangen wir
zusammen, sahen alles fast gleich, erlebten so ähnlich, weil wir so ähnlich
sind, und Gottseidank auch ganz verschieden…
Und
schriebst mir: „ …ich ich sehe das alles auch noch vor mir. Manchmal meine ich
sogar DEIN Sehen zu sehen, also durch Deine Augen alles gesehen zu haben.“
Oh,
ist das schön, wie du das sagst, ist das möglich? Ich versuchs mir
vorzustellen… Wahnsinn, ja … hab ich auch mit DEINEN Augen gesehen? Dein SEHEN
gesehen? Das ist eine tiefe metaphsyische liebes-handlung … du mit meinen, ich
mit deinem sehen, sehn?! Ja, aber es war wirklich! Ein Herz und eine Seele –
und ein gemeinsames Doppelaugenpaar! Und das geht dann ganz direkt ins Gemüt,
was WIR gesehen, oft lachend gesehen hatten! So viele Szenen tauchen immer
wieder auf.. bei dir nicht? Und auch dein Gesicht sehe ich doch, du meines
nicht? haben die Fotos es überdeckt? Mir ging es auch so mit dir, dann wischte
ich die Fotos weg in mir und dein in mir lebendes Liebes Gesicht tauchte wieder
auf!
Naja,
was geschah aber dann wirklich dort in der Caféapotheke von Colmar? Wir
zahlten, die Cafébesitzerin in ihrem halbelsässischen Look, bebrillt, freundlich,
als wären wir bei ihr zu Hause zu Gast gewesen zum Tee, brachte die Rechnung.
Klingeln der Kasse oder der Eingangstür, ich hielt dir den Mantel, ich fühl ihn
an meiner Hand, weich, sanft, deine Hülle.
Es ist Zeit, wir gehen zu Unterlinden und zum Isenheimer Hand in Hand
wie immer, nun in Colmar, wirklich über die Strasse.
Ja,
Unterlinden ist offen. Wir fast allein da. Eintritt, du mit deiner
Bibliothekskarte, ich mit dem Ver.di Journalistenausweis. Angenommen. Dann am Eingang, der dunkle Mann, Inder?, und
die helle, blonde(?) Frau, zwischen ihnen die Liebesblicke? Was sagte er? Du
hast es beobachtet, wie dir nichts, was von außen nach innen blitzt, entgeht.
Du beobachtest alles mit wissendem Auge (der Poesie oft!), die Welt für dich
eine Himmelsverbindung mit Tiefenschärfe musikalischer Poesie, wenn man die
Alltagsdecke hebt, wie einen Nebel durchdringt!
Kaiser
und Könige. Steinfiguren. Kleine gotische Altäre. Unmengen an vibrierender Kunst da auf dem Weg zum Eigentlichen,
dem Grünewald. Und hatten ja schon darüber gesprochen. Verband uns dieses
Bruckner- und Mahlergefühl auch nun damals in Colmar neu? Das Klopstockgedicht?
Und wir sagten uns, was wir jeweils dachten, dachten es fast wieder gleichgestimmt
eins. „Für jedes Bild da müsste man
Lebenszeit opfern, lange davor meditieren.
Hier aber in dieser Häufung erschlägt eines das andere. Ich hab das
eigentlich sonst in Bildergalerien und Museen nie, dies Gefühl. Aber
vielleicht, weil’s sakrale Bilder sind,…“ Sagte ich.
Dann
saßen wir Hand in Hand vor dem Gekreuzigten. Still, kaum redend, aber mit einem
Auge sehend, fühlend, was in uns vorging, zusammen, ja, sprachlos. Der Schmerz,
des durch Geisselhiebe verwundeten, grünlich totenblassen Corpus Christi,
hängend, der Kopf in den Tod geneigt, zum Schreien verkrampfte Finger ins
Grausige, Gespenstische, Überweltliche übersteigert, war nur als „Schönheit“ zu
ertragen! Der Himmel musste sich bald öffnen…unten die Mutter im Weinen, fast
fallend, zurückgeblieben im Hier. Liebe und Schmerz? Und Tod, Liebe, Abschied
und Ewigkeit? Fühlten wir es gemeinsam erschauernd, dass auch wir dazugehören,
jetzt im Glück, wie alles was auch hier vorher war? Oder dass Schmerz zur Liebe gehört, Schmerzliebeschmerz
öffnet. Spürten wir sogar die Lust der
Liebespeitsche? Ja, einen Moment dachten wir es beide. Dann aber auch den
furchtbaren Lebensernst, der uns auch
noch erwartet: der Abschied? Die Wandlung vom hellen Jubel, Verkündigung und
Himmelfahrt – auf der anderen Seite?
Fleischgewordener Logos, die Taube. Der Engel. Mutterglück. Und die
gotische Kapelle mit den musizierenden Engeln. Die Säulen mit den Geisterpropheten,
die schon vom Ende und dem Schmerz wissen? Wandlung zum Ende, Qual und Leid?
Wir
in Absence, verloren im Farb- und Gefühlsrausch zusammen?
Und
die Enttäuschung auch an der „Himmelfahrt“, nein, du protestiertest zuerst, als
ich sagte, dass Grünewald das Schöne, das Erlösende gar nicht darstellen könne,
es werde zum Kitsch, „ja, schlecht gemalt ist diese Lichtflut mit dem so
satten, fast feisten Christusgesicht, das da himmelt! Nein, er kann nur die
Qual, den Schmerz malen. Das kann er wie kein anderer.“ Sagte ich.
Wir
gingen wieder, schweren Herzens, denn es war schon halb vier, und um fünf wurde
es dunkel. An einer Apotheke vorbei … und du, ja, du dachtest an mich,
drängtest, dass ich nochmals den Magensirup kaufe. Ich sprach zuerst deutsch,
der Apotheker antwortete französisch, als habe er nicht verstanden. Auch das
hattest du mit dem Herzen gesehen:
„Ach, der Apotheker, der erst auf dem Weg von der Kasse zum Gitter Deutsch gelernt hat“.
„Ach, der Apotheker, der erst auf dem Weg von der Kasse zum Gitter Deutsch gelernt hat“.
Und Sie: Wir näherten uns der Plaine d’Alsace und die
Wolkendecke riss auf. Sonnenstrahlen fluteten den Piemont. Feenlandschaft in
Graublau-Schattierungen, von Ruinen bewachter Eingang ins Seelenreich. Am
Horizont löste es sich im Himmel auf. Kitschig schön! Nein, eigentlich gar
nicht kitschig. Der Blick in das V war ein Rufen nach uns. Das Tal ein weit
geöffneter Mund, aquarellierter Gesang der Sirenen, ich wollte da hinein und
mit Ich ganz verschlungen werden. Nur wir hätten Zugang gehabt, aber wir
verpassten die Ausfahrt und fuhren weiter zu meiner Lieblingskapelle nach
Dambach. Beim Durchqueren des Dorfs fiel uns auf, dass alle Geschäfte zu waren.
Bis uns klar wurde, dass die Frenchies ja was zum Feiern hatten! 11.11.1918!
Stacheldraht, Verdun, Versailles und das Beschließen neuer Wegbereiter zum
zweiten Jahrhundertgemetzel. Tröstlich: Die Kapelle stand da wie immer. Man
steigt die paar Stufen hinauf und wenn man sich umdreht, hat man einen
wunderschönen Blick über das Dorf mit seinem mittelalterlichen Kern, den
windschiefen Fachwerkhäusern und der dahinter beginnenden Rheinebene. Wie ich
es genossen habe, mit Ich die Kirchen zu besichtigen. Alle. Und dass er Kirchen
so gern hat wie ich, das ist schon ein Glück. Die « Armleuchter »
ragten aus der Wand und der Barockaltar in dunklem Kirschholz hätte überladener
nicht sein können! Ich fielen wieder witzige Bemerkungen ein und bei allen
Szenarios, die er so erfindet, tauche ich gleich ein und bin dann dort, war
selbst am Schnitzen und der Meister hielt uns noch einen Holzklotz zum Ornamentieren
hin. Hinter der Kirche liegt ein verborgenes Ossarium. Eine Art Erdkeller, die
Toten aus dem Stadtfriedhof wurden nach den Schwedenkriegen dort
hineingeworfen, hat mir mal der Pfarrer erzählt. In der bescheidenen Krypta
häufen sich Knochen und Schädel in einem wirren Durcheinander. Da ist nichts
geordnet oder feinsäuberlich nach Unterschenkel und Schädel aufgeschichtet. Man
blickt in schwarze Augenhöhlen und verschobene Unterkiefer, auf schadhafte
Gebisse und bleiche Gebeine, da mögen der Metzger und Tuchhändler, Geliebte und
Betrogene, Gefangene und Wächter nebeneinander bis aufs Jüngste Gericht beisammen
sein. Über der schmiedeeisernen Tür wurde eine Tafel angebracht mit der Inschrift:
„Ce
que vous êtes, nous l‘étions. Ce que nous sommes, vous le serez.“
„Das was ihr seid, sind wir gewesen. Das was
wir sind, werdet ihr sein.“
Ich schüttelte es. Wir liefen Hand in Hand
zum Auto und nach einem kurzen Stop und Kartencheck vor einer Winstub ging’s
weiter nach Colmar. Unsere Hände ließen sich nicht los. Eigentlich gab es
selten nur Momente, in denen wir uns nicht an der Hand hielten. Unsere Hände
passen ineinander und ich spüre noch die Wärme, die von Romans Hand ausgeht und
den Unterarm hinaufkriecht bis zum Brustkorb. Wie verschmolzen wir manchmal
waren. Wie unwirklich beinah, jetzt, wo meine Hand alleine ist. In Colmar dann
zum Parkplatz, wo ist der Autoschlüssel? Schlüssel gesucht, gefunden („Gib mir
doch dann den Schlüssel!“) und losgezogen zum Musée d’Unterlinden. Nomen est
omen. 10 Minuten früher, und wir hätten noch Einlass vor der Mittagspause
erhalten. So waren wir zu spät und hatten die Wahl zwischen sofortigem Aufbruch
nach Todtnauberg oder der Kreuzigungsszene. Ich wollte zum Celan und ich
verstand ihn. Andererseits wäre es zu schade gewesen, das hier nicht „mitzunehmen“
und wir rechneten uns die Wegstrecke und Anfahrtszeit aus. Ich wollte den Altar
unbedingt mit Ich sehen und überredete ihn, doch noch bis 14Uhr zu warten. Wir
schlenderten an einem kleinen Kanal („Was ist denn das für ein trübes
Wasser?!“) zum Münster, wo ich Ich in die versteckte Bildhauerkunst
mittelalterlicher Gesellen einweihte: den Münsterständer.
Colombe hatte mir einmal den kleinen
Colmarer Bürger am Seitenportal des Münsters gezeigt, der in Hockstellung unter
seinem Wams und Beinkleid einen erigierten Penis verbirgt, wobei man sich
selbst bücken muss, um ihn zu sehen. Der Steinmetz hatte beim Meißeln
sicherlich die nachfolgenden Generationen von Voyeuren vor Augen und muss sich
wochenlang auf seinen Arbeitsplatz am Seitenportal gefreut haben.
Ich filmte begeistert das
Fries, überall ist etwas zu entdecken gewesen, eine lange Reise in ein paar
Minuten. Wir betraten die Kirche, Touristengruppierungen ließen sich den Bau
und seine Geschichte erzählen, Sankt Martin stand mit Römerrüstung und Kreuz
vor dem Altar, eine neo-klassizistische Figur aus bemaltem Holz, heroisch, so,
wie ich’s nicht mag. „Wieso hat der ein Kreuz? Ist das nicht anachronistisch?“
Zum Glück weiß Romanle auch nicht alles und wir näherten uns den Insidern im
Mittelschiff. Vorne, wo die christliche Gemeinde einen Tisch mit gesegnetem
Wein, Grapefruitsaft, Gugelhupf und Brezeln vorbereitet hatte, und wo jeder
sich nehmen durfte, was er mochte, fragte ich gleich die Dame hinter der
Behilfstheke. Martin war im 4.Jhd n. Chr. römischer Soldat gewesen, bis er zum
Christentum übergetreten ist. Martin von Tours hieß er („Ich Herr Lehrer, ich
ich ich!!!“) und hat als Mönch bei Portiers das erste Kloster im damaligen
Gallien gegründet. Zum Heiligen aufgestiegen ist er, weil er als Soldat vor den
Toren Amiens seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt hat- so die
Sage. Und eigentlich muss ich es ja wissen, hab ich doch als kleines Mädchen
auf meinem Pony den Sankt Martin- Festzug durch Landshut angeführt, einen viel
zu großen, goldgefärbten Plastikhelm auf dem Kopf und einen schweren, grünen
und rotausgeschlagenen Umhang um die Schultern, der bis über den Pony-Hintern
reichte. Hinter mir die laternenbewaffnete Kinderschar der Landshuter
Kindergärten, was in komischen Fotos festgehalten irgendwo in Mutzendorf
modert. Ich weiß nur noch, dass ich dann bei der Sankt Martinskirche den Mantel
ausziehen musste, obwohl es arschkalt war, und mit meinem Plastikschwert so
tat, als würde ich den Mantel in der Hälfte durchhauen. Die Kindergärtnerin zog
in der Zwischenzeit an einem Reißverschluss und weg war der wärmende Stoff. Das
war vor 25 Jahren. Tja. O tempo vai.
Ein bisschen erleuchteter
mampften wir versalzene Brezeln und sahen uns um. Ich aß auch ein bisschen und
trank ein Schlückchen Wein. Der Magen. Ich denke, es war nicht so einfach für
ihn, dass er nirgends mit Freuden hinfassen konnte, um sich zu stärken.
Verwunderlich schon beinah: Wo immer wir hinkamen, die Leute waren unglaublich
freundlich, schon fast so, als hätten sie auf uns gewartet. In den Kirchen
ertönte nicht selten Orgelmusik, sobald wir sie betraten und eigentlich baute
sich die ganze Welt um uns herum nach unseren Wünschen auf. Wir gingen durch
unsere eigene Feenlandschaft über die AnjaRomanerde. So ist es. So ist die
Liebe, nicht wahr? So ist es, wenn zwei Menschen zusammenpassen und sich gut
sind. Da brauchen wir keine Philosophen mehr.
verließen wir das Café und gingen zum sog.
Grünewald. Alles musste schnell gehen, wirklich Zeit hatten wir nicht, H+C
riefen. Die Frau an der Kasse zickte zuerst wegen Romans Journalistenausweis,
auf dem kein Datum stand, was Ich ärgerte. Die blonde Garderobiere flirtete mit
einem indischen Kollegen, ansonsten war es relativ ruhig im Museum. Die
beschauliche Stimmung, die ich sonst vor dem Altar bekomme, stellte sich mit Ich
aber nicht ein. Er war nervös und unzufrieden, hatte sich wohl etwas erwartet,
das nun nicht zutraf, die Kreuzigung, das Leid, meinte er, hätte er ja gut
darstellen können, der Grünewald, aber die Glorifizierungsszenen sind reinster
Kitsch, das hätte er besser bleiben lassen sollen. Ich fand das so nicht, im
Gegenteil, ich liebe diese Spannung zwischen dem tiefsten Leid und der verklärtesten,
hellsten Glückseeligkeit. Dass Maria dabei ein bisschen schief guckt und Jesus
verhalten aus einer Licht-Wolke heraus die Male zeigt, hat eher was
Traumhaftes, die Albgestalten samt Paulus im Gegensatz zum heiteren Engelskonzert.
Golgatha und Himmel. Dass aber auch noch Alltagselemente in der Verklärung
vordergründig sind, macht die Lebhaftigkeit des Ganzen aus. Ich wäre gerne länger
geblieben, ich mag das Museum so gern. Aber wir zockelten nach einem Clogang
wieder zum Auto und gaben Gas. Bei Breisach über den Rhein: „Das ist nicht das
Schlechteste…“ und dann am Regenbogen vorbei hinein in die dunklen Wolken. Eine
irre Stimmung, blauster Himmel, dunkelste Wolken, Regen irgendwo, weiße
Wölkchen am Horizont, goldene Lichtfetzen auf schattigen Bergrücken, dazwischen
das Grün der Ebene, ach, und die Sonne tat gut! Eigentlich ist diese Reise
eingebettet in Kitsch und Romantik gewesen. Ich frohlocke hier ja auch schon in
höchsten Tönen und finde mich klebrig wie rosarote Zuckerwatte. Ist das die
Verliebtheit? Schrecklich.
In Freiburg tankten wir, Ich stand am
Zapfhahn und ich kaufte noch Kaugummi, dann ging es weiter. Todtnau war schon
angeschrieben und wir waren fast enttäuscht, dass das Abenteuer des Kartenlesens
schon vorbei war, bevor es richtig begann. Manchmal durchblitzte mich der
Gedanke, dass es der letzte Tag war. Aber irgendwie war alles noch weit weg und
die Hinfahrt war einfach zu schön und zu lustig.
Aber
es verbindet sich ja nun die Zeit in einem einzigen Punkt, alles fließt zusammen,
und manchmal glaub ich, verrückt zu werden. Begann jetzt nicht das Schönste,
ich mit der Karte auf den Knien, die Linke in deiner Rechten, ab nach Todtnauberg.
Und leitete dich über Breisach, Freiburg, Kirchenzarten zu unserer Liebesnacht
in Todtnauberg. Und diese Landschaft des Südschwarzwaldes um uns, eine
Himmelslandschaft mit Almen, Tannenwäldern. Nebel. Regen, nur manchmal kam die
Sonne durch und beleuchtete fast geisterhaft-außerweltlich die Höhen. Und ich
erzählte dir die Geschichte von Celan und Heidegger und ihrem gescheiterten
Treffen in Todtnauberg.
Und
immer wieder stehst du wie eine leuchtende Erscheinung duftend vor mir, so nah, als könnte ich dein
Gesicht streicheln, küssen, wir sitzen ja im glücklichen JETZT, in jenem Heute,
dem 11. 11., das nicht vergehen kann, sitzen im Auto, fahren die Serpentinen
nach Todtnauburg hinauf, Nebel im Tal, wie ein Wolkengesicht, das nur manchmal
wie ein Blitz von der Sonne gespalten wird, auch unsere Gesichter erhellt, du
frierst, ich gebe dir meine Pelzweste, du hast eisige Hände, ich reibe sie,
wärme sie,
Aber
„JETZT“ in unserem Jetzt, sind wir doch noch am Ortsschild von Todtnauberg; die
Tage müssen stehnbleiben, auch dieser Augenblick darf nie mehr vergehen… nie
sich dem Ende zu bewegen… und ich nahm den Plan des Ortes, und wir fuhren, wir
lebten, wir fühlten uns, wir sahen die Landschaft, wir sahen uns an, wir waren
neugierig, alles war ALLTAG, All Tag? Nichts Aufregendes, Alltag? Und ganz
einfach alles, fast schon gewohnt, zusammen ein Wir. Wir fuhren zuerst zum
Hotel „Enzian“
Die
zierliche, fast zerbrechliche Wirtin mit dem
kantigen und wetterfesten Vogelgesicht führte uns in den Frühstücksraum,
und dann gleich hinauf zur Besichtigung der Zimmer, erzählte auch gleich, und fragte, ob wir denn
zum Heidegger-Kongress gekommen seien. Wir blickten erstaunt, denn tatsächlich
waren wir ja auch wegen Heidegger und Celan hier, und fragten neugierig, was es
denn für ein Thema sei, und wo? Sie wusste nichts Genaues, sie könne sich aber
erkundigen. Die beiden Einzelzimmer, die sie uns dann zeigte, waren ganz annehmbar,
sie gefielen auch dir, hatten auch etwas Aussicht auf die Täler im Nebel wie in
Watte vor uns und den Wäldern, Wiesen und Höhen, die in den Wolken lagen.
Freilich, du wolltest wieder ganz weit weg, am liebsten in einem Gelass in der
Mansarde, direkt unterm Dach.
Wir
fuhren noch zum größten Wasserfall Deutschlands, hörten das Tosen und Rauschen
kurz vor dem Eingang des Ortes, fanden den Zugang nicht gleich, auch war es
schon fast dunkel, und wir scheuten uns hinabzusteigen. Nahmen uns vor, es vielleicht
morgen früh vor der Abfahrt nochmals zu versuchen; doch so schien es für uns,
waren wir weniger an Naturwundern interessiert als an Kultur?
Am
Morgen dann.
Es
war sehr spät, schon nach acht, und um 12 ging mein Zug von O. wieder ab; wir
sprangen beide fast gleichzeitig erschrocken aus dem Bett. Und ich sagte, dass
ich mich sehr schnell fertig machen kann. „Ich auch“, sagtest du und gingst mit
dem Bettzeug schnell in dein Zimmer. Ich hatte noch ein Faltblatt „Heidegger in
Todtnauberg“ gestern gelesen, nahm jetzt eines auch mit.
Mit den gepackten Sachen dann zum Frühstück.
Das war schon gedeckt. Und die Wirtin von gestern grüsste, brachte auch gleich
den Anmeldeschein und die (bescheidene) Rechnung. Stellte quasi die Dame am
Nebentisch vor, sie sei eine Teilnehmerin der Heidegger-Tagung. Man merkte, wie
beflissen die Wirtin war. Sie erzählte von der Bekanntschaft der Familie mit
Heidegger. Und auch ihre Tochter sei ja in dieser Branche tätig, Buchhändlerin
bei Witwer am Bahnhof. Er wirkte peinlich dieser Minderwertigkeitskomplex.
Ich begann die Tischnachbarin
auszufragen, sie wirkte irritiert, vielleicht hatte sie unsere Nacht
mitbekommen. Ich erzählte von Heidegger
und Celan hier. Sie meinte, es ginge bei der Tagung nur um Heidegger und Trakl
„Auf dem Weg zur Sprache“, mehr um Linguistisches! Sagte immer nur „Ja“ oder
„Nein“ oder „Ich weiß nicht“. Und fragte nur: „Sind sie auch sein Landsmann?“.
„Wieso, hört man es denn?“ „Ja, den leicht singenden melodiösen Ton!“ Und ich
fragte dich dann auch noch etwas irritiert: „Hört man das denn so?“ Und du:
„Ja, schon das Melodiöse, den Singsang. Ich mag das sehr an dir. Und ich mag
auch deine Sprachsicherheit.“
Wir
blickten von unserem Tisch aus zum Fenster hinaus, endlich schönes Wetter,
blauer Himmel, Sonne blitze über die Wiesen und Höhen in ein wunderschönes Tal.
Ich wollte dir noch schnell die versprochenen
Fotos aus der Kindheit zeigen, und auch die aus der Brieftasche: Mutter, Michi, den du lang ansahst, stumm.
Fast mit Widerwillen aber das Foto meines Hauses in C.
Von
den Kinderfotos aber warst du entzückt, fast hättest du in die Hände
geklatscht. Ich gab dir ein Bild mit meiner Schwester als Fünfjähriger und mit
großen dunklen Augen. Und ein lachendes Foto als Student. Das liebst du, und
auch ein Foto aus C. mit Lederhut, wo
ich lachte, hattest du gern, weil man dort meine Hände gut sieht, die
Streichelhände mit den weißen
pigmentlosen Vitiligoflecken.
Gott,
wie die Zeit jetzt wieder rast, unaufhaltsam weg von uns; und wann sagtest du:
Ich hab mich wieder in dich verliebt?! Am ersten Tag schon, am Bahnhof schon?
Aber
ich spürte es, wie du kaum reden und kaum schlucken konntest, wahnsinnig
traurig warst; ich versuchte, das nicht hochkommen zu lassen, auch dich zum
Lachen zu bringen, fröhlich zu wirken.
Mit
einem Geschenk, einer Art Saunabürste verließen wir am nächsten Tag das
gastliche Haus „Enzian“. Für immer? Stiegen ins Auto und fuhren zur
Heideggerhütte. Du hattest dich erkundigt, bis nach O. braucht man nur eine
Stunde und zehn Minuten. Es war neun, halb elf mussten wir abfahren. Also
anderthalb Stunden Heidegger. Auf dem großen Parkplatz stellten wir das Auto
ab, gingen zu Fuß weiter auf dem beschilderten Heideggerweg. Eine herrliche
Aussicht über Wolken und Berge hin bis zu den Vogesen. Der Pfad war unser
Liebespfad, Hand in Hand immer, und der Abschied drängte uns zusammen, als
könnten wir ineinander eintauchen, immer wieder blieben wir stehen, um uns zu
streicheln und zu küssen.
Und
dann juckte uns der Hafer als wir an einer Bank und einem Hinweisschild mit
Heideggerbild und ein Bild seiner Elfriede vorbeikamen. Ich hinterließ mit
deinem Lippenstift die denkwürdige
Inschrift auf dem Heideggerhinweisschild: „Du
schreibst – wir leben das Sein!“
Und
lachten, lachten, lachten. Mokierten uns über ihn, der da stand mit komischem
Hut, auf den Wanderstab gestützt, visionär weit in die Ferne blickend! Und treu
seine Gattin mit ähnlichem Blick daneben.
Und
dazu sein Gedicht über das Land hier:
Wälder
lagern
Bäche
stürzen
Felsen
dauern
Regen
rinnt.
Fluren
warten
Brunnen
quellen
Winde
wohnen
Segen
sinnt.
Wir
gingen zu weit auf diesem Pfad, eine Art via dell amore! Suchten überall die
Hütte, in jedem Transformatorenhäuschen, jeder Heuhütte, Almenhüttchen. Ich filmte
mit persiflierendem lachendem und rufendem Kommentar alles. Und wir fanden dann
die umgestürzte Tafel, das Hinweisschild zur echten Heideggerhütte, der
legendären. Ja, da war sie. Mein Gott, ein popeliger armseliger Schuppen, ein Jägerhüttchen war das mit geschmacklosen grünen Farben,
einem winzigen Vorplatz mit Bäumchen, naja wenigstens der Schwengelbrunnen mit
fließendem Gebirgsquellwasser war urig und echt, an dem sich auch der Meister
mit unnachahmlicher Pose hatte fotografieren lassen. Und hier also soll der
größte Teil seines Werkes entstanden sein? Hier sollte man vor Ehrfurcht
niederknien? War auch der pathetische Celan
hier vor Ehrfurcht gestorben, nein, der eben nicht, und hatte sich nur im
Hüttenbuch, wo sich ja große Namen verewigt hatten, eben auch Nazis, eingetragen, woraus dann sein Gedicht
„Todtnauberg“ entstanden war. Und am Brunnen fielen mir seine Zeile ein:
„Arnika, Augentrost, der/ Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf.// In
der Hütte..“
Celan
war 1967 hier gewesen und dieser Besuch hatte seine Spuren auch in uns
hinterlassen… Es hieß ja, dass Celans Gedicht „Todtnauberg – das Gedicht einer
epochalen Begegnung, das Beschwören einer Hoffnung, ein Bekenntnis, welches
einen Welthorizont aufreißt …“ sei, so der Augenzeuge und Celan-Freund Gerhart
Baumann: „Dieses Gedicht, eine unbedingte Forderung, ein unerhörter Anspruch …
Stimme zu einem benennbaren Du… musste auf ein ´ungesäumt kommendes´ Wort
pochen, auf das Geständnis eines unsühnbaren Irrtums, einer Schuld …“
Und hätte ich jetzt mein Gedicht, den beiden
Kontrahenten, dem Juden und dem ehemaligen Nazirektor gewidmet, vorlesen sollen?
Ich dachte nicht daran, ich hatte es
aber mit dabei. Und eigentlich fehlte jetzt etwas hier, nämlich der
Heidegger-Celan-Spaziergang im nahen
Hochmoor von Horbach.
Und
ich hatte mir vorgestellt, dass unsere Liebe, unser Liebesflüstern hier wie ein
Blitz alles reinigen könnte, vor allem die Sprache. War ich größenwahnsinnig oder fühlte ich diese
Reinigung so stark, weil unsere Liebe bis
in den Himmel reichte? Und ich hatte das Gedicht DIR gewidmet. Und das ging so:
1
Hol
dich ein in der Hütte mit dem Dichter/ und dem Denker
der
stumm Nichts wissen wollte vom Unheil
Der
Dichter aber
Ein
Jude war so spät
unterwegs
zur Sprache geworden …
Von
der ermordeten Mutter
Und
forderte auf den Deutschen
in
der Hütte: Bekenne was wahr ist!
Braun
das verwelkende Laub des Vergangenen
Herbst/
Herbstzeitlosen fehlende Jahre/ Jahrtausende
Nass
die Sekunde
Und
wo endet die Tiefe des stehenden Wassers
Auf
der anderen Seite der Erde?
Welch
ein Boden und Grund will jetzt noch ein Zuhause
Rund
und nie gespalten in eine Antwort?
„Heimruf
gefangener Sehnsucht
uns:
Wohnen und Wandern“?
So
sagte der Denker schweigend betroffen
Im
Nie gibt es kein Blut.
Langher
und gesammelte Rede des Rektors
Zeit
seit Sein und Zeit
Vom
„kommenden Wort“?
Dachten
wir beide hier auch an ein Nachhausekommen? Ja, wir wussten es, zusammen sind
wir zu Hause.
Und
sagten es uns immer wieder, immer wieder, dass es ein Heimkommen ist!
2
Langher
und heute: Du lebst und ich lebe
Aufgebrochen
Sind
alle Generationen Liebste
in
uns.
Oh
Geliebte dieses Runde Verwelkte
Das
Hochmoor von je – Nie
Wären
wir uns so spät begegnet …
Nie.
Wären die Mörder nicht tätig gewesen.
Und
so unerklärlich sind uns die Gründe
wie
jene Zeit uns erschuf.
3
In
deinem Auge erwacht
Mein
Gedächtnis
Sollten
wir endlich vom Warten genesen
Das
all die Zeit in sich hat seit die
Welt
mit dem Kriege verging
War
ich auch krank und zu Ende gebracht
Du
warfst mir eine Sonne voraus
Die
mir auch den Tod
zum
Liebesbett macht
oh
DU meine Frau
meine
Sonne!
Und
wir Liebste
Tief
durch die Sprache
Ineinander
versessen
Frau
Sprache
von
Ewigkeit her
uns
versprochen
Und
so wohnen wir wund jetzt
Nahe
bei ihnen
Den
Toten!
Unsere
Liebe
Zwischen
den Generationen
So
spät
Als
hätten wir mit dem Denker
Vergessen
Dass
auch die Sprache
Einst winterschwarz tot war.
Und
wir ein Ja du und ich
Wir
mit unserer Liebe im Reinen
Können
wir sie früh am Morgen
schön
waschen die Sprache
Und
liebend erwecken?
Hier:
kann sie mit uns auferstehn!?
„Haus
des Seins?“
Jedes
Komma jedes Und
Hat
der Mörder gespalten
gespalten
die Zunge
und
im Befehl vernichtet
vor
den Opfern was war!
Blut
klebt an ihrem Hauch
An
jedem Laut.
Dort
auch aus der Stadt woher
Ich kam aus allen Städten
Mit
unseren Lauten
Ist
für immer eine Blutspur
Zu
uns gelegt!
Wer
sind wir heute Geliebte
Generationen
in uns
zwischen
uns/ und der Unterschied
von
Krieg und Frieden/ und DU mein
überfälliges
Leben/ das dich spät
fand/
dazwischen?
Lass
uns die Zeiten vermischen
Wie
unsere Glut die in uns zittert
Lass
uns die Worte oben mischen
Mit
denen die Mörder das Töten befahlen
Lass
uns sie waschen im Liebesgeflüster
Lass
sie uns jung in die Lippen tauchen
In
Küssen so zur Welt
Gebracht/
sie und uns
Liebste
zu einer neuen Geschichte.
Oh
du meine Frau meine Tochter
Du
Weib und Kind Geliebte
Nimm
mir den Tod aus den Knochen
Und
schenk mir den Anfang der Welt.
Umarmten
und küssten wir uns hier? Nein, wir fassten uns nicht einmal an den
Händen?! Schlechtschlecht! Die Realität
war nicht so hochfliegend, ja, war sogar recht enttäuschend. Warum küssten wir
uns ausgerechnet hier nicht? War die
Aura hier, der genius loci nicht danach?
Gab es etwas stark Zerreissendes hier, einen Widerspruch, der fühlbar
wurde? Vielleicht das ausgesprochen Antiethische in seinem Denken, das ihn auch daran hinderte, irgend eine
Schuld einzusehen? War es vielleicht
tatsächlich so, dass es keine Verantwortung gab, weil etwas unsere Taten
bestimmte, gegen das kein Kraut
gewachsen war? Oder war es die Anwesenheit Paul Celans hier? Wir schufen uns
wohl etwas Luft, es gab ein Ventil, das „Lästern“: Und küssten wir uns so
nicht, weil wir wieder viel zu lästern
hatten! Du filmtest mich lachend mit Heideggerpose am Brunnen. Und ich filmte das Hüttchen plus die Nähe des Dorfes.
Kaum fünf Minuten vom Dorfrand entfernt lag diese „Welteinsamkeit“ des Denkers.
In fünf Minuten konnte man wohl den Bäcker erreichen. Und auch Hotel „Enzian“ war zu sehen, wir hätten es zu
Fuß in zehn Minuten erreichen können!
Eine
Art Leichtigkeit erlaubten wir uns. Und erst später kamen wieder die schweren
Gedanken, die dieses Zweischneidige hier, auch das Unreine, das Aufgeblasene,
das Unnatürliche, das sich im „Natürlichen“ versteckte, unerträglich intensiv
empfand, wohlgemerkt, bei beiden, die Anmaßung
auch bei Celan, gleichzeitig mit der Bewunderung, was da alles in diesem
Hüttchen in einem Menschenhirn vorgegangen war!
Und
dann mussten wir los. Ein Drang überfiel mich aber plötzlich wieder, ausgerechnet jetzt; war es eine
unbewusste starke Erregung? Vielleicht gehörte das jetzt als die natürlichste Blasphemie der Welt dazu. Und so praktisch wie du auch in vitalen und organischen Dingen bist, sagtest
du ganz einfach: „setzt dich doch da unter die große Tanne, ich geh weiter.“
Und so tat ich’s mit heruntergelassenen Hosen und Tempotaschentüchern von dir
mit Blick auf die wichtigste Philosophenhütte Deutschlands in diesem Jahrhundert…
Du
wartetest auf der Heideggerbank mit unserer Inschrift, die ja jetzt da bleibt;
wir aber mussten dem Abschied entgegen fahren, stiegen ins Auto, hatten noch
genau anderthalb Stunden zusammen-Sein.
Und sie schrieb am Dienstag, den 12.11: Nun ja, jetzt ist es eben doch passiert. Er
ist nicht mehr da, das Leben geht weiter. Lustig immer wieder: Es geht auch
weiter, wenn man gar nicht will, dass es weitergeht. Ich wusste natürlich, dass
es diesen Moment geben würde. Ich hoffte trotzdem, er käme nicht. Dass es
irgendwann mal keine Abschiede mehr geben würde, habe ich gehofft. Idiotisch,
wie man immer wieder daran festhält! Er ist in den Zug gestiegen und gefahren.
Das heißt, der Zug stand und der Ich stieg ein. Ich hielt noch seine Hand, in
die ich den Stein und das Seidentuch mit den Rosen gelegt hatte. Überhaupt
dachte ich, es würde genügen, seine Hand zu nehmen, und dann, Abrakadabra,
bleibt er für immer da. Manchmal habe ich noch so kindliche Anflüge von debiler
Naivität, dass ich mich über mich selbst wundere. Zum Auto bin ich wegen dem
Stein und dem Tuch noch zurückgelaufen, weil ich in der aufgewühlten, nach
außen aber verhaltenen Stimmung wirklich alles vergessen habe, grad dass der
Kopf noch auf den Schultern saß. Unterm Laufen stellte ich mir vor, dass Ich,
auf dem Bahnsteig zurückbleibend, eigentlich jetzt denken könnte, ich würde
versuchen, dem Abschied auf diese Weise zu entwischen. „Ich komm gleich wieder!
Ich habe etwas im Auto vergessen!“ Als ich zurückkam, stand er aber ruhig
wartend da, naja „ruhig“ ist ein Wort, nein, er war schon etwas in Sorge, ich
sah es an seiner Körperhaltung und wir fielen uns ein letztes Mal in die Arme.
Das letzte Mal nach drei Tagen des ersten Mals. Ich habe ihn so gespürt, seinen
Körper, in den ich mich verliebt habe, sein Gesicht an meinem, seinen weichen
Atem, seinen Rücken, den meine Hände nackt und heiß gespürt hatten und ich
dachte mir, dass alles in ihm funktioniert, die Organe Blut pumpen, sein Hirn
speisen, sein Herz, dass die Knochen ihn tragen, auch jetzt bei der letzten
Umarmung auf dem Bahnsteig, und dass ich diesen Mann liebe und nicht will, dass
er geht. Romans Kuss, unser Kuss, leidenschaftlicher Kuss, tiefer Kuss, brannte
noch auf meinen Lippen, als er schließlich in den Zug stieg. Ich lachte, weil
ich mir vorgenommen hatte zu lachen und nicht zu weinen, das kann ich auch
nachher noch machen, habe ich mir gedacht. Und etwas anderes ist passiert.
Romans kraftvolle Energie und Hoffnung sind in dieser klassischen
Abschiedsszene auch auf mich übergesprungen, oder wir riefen diese Hoffnung
gemeinsam ins Leben, keine Ahnung. Die Hoffnung – oder eher das Wissen – alles
würde gut. So oder so. Aus zwei wird drei.
Die Abschiedssekunde kam wie sie immer
kommt, auch wenn man sich in Sicherheit wähnt und im Glauben, die Zeit
ausgetrickst zu haben. Die Ewigkeit
ist genauso endlich wie die Unendlichkeit und ich kenne die Schlusslichter der
Züge, die rotglühenden Augen am Tag und in der Nacht und das Hochklappen des
Mantelkragens so gut, dass mir schlecht wird. Es ist unmenschlich, sich in dem Moment
zu trennen, wo es mit dem Küssen klappt. Und wenn sich die Wesen ineinander verstrickt
haben. Jetzt liegen die Maschen aufgetrennt um mich herum und mit den Worten
versuche ich sie aufzurollen zu einem Knäuel der Erinnerung. Na toll. Da kann
ich mir dann einen Pulli draus stricken, oder Handschuhe, Fäustlinge, Fingerlinge.
Mir kommt’s so vor als hätte ich nichts, woran ich mich festhalten könnte, außer
diesem Kopf da und dem traue ich auch nicht. Schon gar nicht, seitdem ich in
Romans Augen gesehen habe. Das Herz, ein bisschen weiter links, ist sowieso
keine große Hilfe. Es braucht ständig Zuspruch vom irritierten Oben, sonst ersäuft
es mir. Ich muss an die südamerikanischen Scharlatane denken, die so tun, als
würden sie einem die Organe bei lebendigem Leib herausnehmen und statt des
Krebsgeschwürs eine tropfende Schweineleber zu Demonstrationszwecken
hochhalten. Ich stelle es mir unheimlich befriedigend vor, einen Kiesel dort
hineinzulegen, wo einmal das Herz gewesen ist. Eine Hand, die drüberstreicht
bis Haut sich unversehrt über Wunden schließt. Und dann frage ich mich auch,
weshalb ich eigentlich noch Lippen und Augen habe, wenn ich Ich nicht mehr
küssen und sehen kann. Zum Sprechen und Lesen, Hella. Ach so?
Als der Zug sich in Bewegung setzte, rief Ich
noch: „Ich bin froh, dass der Abschied SO ist und Du lachst!“ und ich meinte
mit fester Stimme „Es war viel zu schön mit Dir, als dass ich jetzt unglücklich
sein könnte!“ Und das stimmt. Verrückt! Es war eigentlich alles viel zu schön,
um traurig zu sein. Ist es nicht wunderbar, dass wir uns haben?! Ich lief noch
ein wenig neben dem Zug her und winkte zur Freude der Bahnreisenden mit meiner
schwarzen Kappe, bis die Schlusslichter hinter der Biegung am Horizont
verschwunden waren. Ich winkte mit seiner Mütze zurück, bis er sich als
Pünktchen aufgelöst hatte. Ich wollte sie nicht haben, seine Mütze, weil sie
ihm so gut gestanden hat. Und jetzt habe ich gar nichts von ihm. Nichts. Nicht
mal ein Haar. Nichts. Doch, auf meinem schwarzen Mantel haben sich weiße Haare
im Kaschmir verfangen. Soll ich die jetzt rausfischen und in einen Schrein
legen, Räucherstäbchen anzünden und mich bekreuzigen? Meine Hände fallen dauernd
ins Leere. Ich habe nichts zum Anfassen von ihm. Ich kann ihn nicht mehr
streicheln und weiß nicht, wie das Leben jetzt einfach so weitergehen soll,
einfach so, nach dieser Körpernähe, die sich mit der Herznähe verbunden hat.
Wie kann man nur so leichtsinnig sein und den Zug abfahren lassen? Noch daneben
herzulaufen und lachend zu winken, kommt mir jetzt wie ein Verbrechen vor.
Als ich unter den Gleisen hindurch in
Richtung Auto ging, war Vakuum in meinem Hirn. Man stakst wie unter einer Glasglocke
auf Wattebauschen, die Geräusche vermischen sich zu einem Flirren, alles wird
mechanisch. Und dann dachte es in mir: „Die Gegenwart ist soeben auf den
Schienen davon und an der Herzseite zieht’s.“ Der Satz: „Die Gegenwart ist
soeben auf den Schienen davon.“ brachte mich zum Lachen, als mein Blick auf den
leeren Platz vor dem Haupteingang fiel, wo ich Ich vor drei Tagen mit
klopfendem Herzen und flatternder Freude abgeholt hatte. Ich kann eigentlich
nicht sagen, dass ich traurig gewesen bin, als ich ins Auto stieg. Die Sonne
schien wie im Frühling und ich war eben wieder allein. Ich bin wieder allein. Nein.
Ich bin ohne Ich. Kaum zu glauben. Ich ist nicht mehr da. Er war da. Vor zwei
Tagen, vor einem Tag und gestern. Heute ist er wieder gefahren. Eine Odyssee
bis zum Flughafen und zurück nach Italien zu seiner Frau, seinem Haus, seinem
Hund, seiner Katze, seinem Boot, seinem Garten, seiner Natur, seinen Freunden,
seinem Schreibtisch, seinen Büchern, seinem Leben, seinem Wein. Die Reihenfolge
ist variabel und erweiterbar. Aber sie ist auf jeden Fall ohne mich. Ich bin
hier, visiblement. Huhu, zwick’ mich doch mal. Jaja, die Wahrheit? Aber zum
Jammern habe ich auch keine Lust. Diese lamentierenden Jeremiaden. Was soll’s?
La vie est maintenant. Aber es gibt uns nur EIN MAL. Und DAS, dieses so glasklare
Bewusstsein, dass es Ich und mich, 68 und 31 nur JETZT noch so gibt und die
Zeit nicht stehen bleibt und auf uns wartet, dass Züge abfahren und nicht umkehren,
wühlt mich plötzlich auf, macht mich unruhig, würde mich nicht unruhig machen,
hätte ich nicht die Tiefe unseres Rundwesens gespürt. Das Schicksal hat uns
angesehen, oder das Leben, wie man es auch nennen mag. Und darin lag Sinn. Ein
tiefer Sinn. Es gab plötzlich einen SINN, ein „So muss es sein.“. Wir waren
sinnvoll. Nun gut. Wenn es wirklich so ist, dann wird es auch so werden. Und
jetzt? Die Zeiten vermischen und überschneiden sich.
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