MEERE
MALI LOSINJ. KROATIEN
Der Ältliche da liest, er liegt zwischen lauter verschlossenen Spalten, unter Schirmen und Illustrierten, verschmiert mit Nivea und Bronzol, geschlechtslos der Brusthof, die Warzen liegend. Und der Ältliche liest, der sonnengebräunte Schwanz – eine Seltenheit hier auf der paradiesischen Konsumwiese – reckt sich der untergehenden Sonne entgegen. Ich bin ziemlich erstaunt (denn mir war die Lust beim Lesen dieser Literatur vergangen), wie der Mann, Mensch selbstvergessen mit der linken Hand nachfasst am Glied, als nun der gefesselte spanische Pater von Simone, die den Rock abgelegt, den seidigen Schlüpfer, die Hose genüsslich abgestreift, traktiert wurde auf nacktem Hintern. Selbstschuss für den geilen Pfarrer, seine Pistole reckte sich, als sie ihm die Kehle anfing zu drücken, da soll er aus Sauerstoffmangel im halben Ersticken halluziniert haben wie Erhängte; das ganze Leben, ein Film überflutet vom pisernden stauchenden Krampf des Orgasmus. Der Autor, dieser Kryptofaschist, ich höre, er kam nachher doch in den Widerstand, erschrocken wohl, wie die Phantasie hemmungslos die Wirklichkeit zerstören kann.
FKK hingegen passend zur milchigen Mattscheibe, wie ein Kunstflug aseptisch über der schönsten Gegend. Fast lob ich mir da Bataille, Salò, den natürlichen Ekel. Hier wurde er überholt, hier hat man ihn integriert.
Ein Graukopf neben mir liest, ich schiele hinüber, er liest die Augengeschichte: Simone, die in Sevilla Fellatio treibt mit der glänzenden Eichel des lustbrüllenden Paters; wie sie in den Taufkelch pisst und der trinkt. Die schreckliche Sehnsucht nach den stärksten Gerüchen, dem fadesten Geschmack, sich der Existenz versichern durch Hinfassen, Lutschen an Worten, Lecken an der Nomina, Fressgier des tierischen Auges. Ekstase des Schweinischen, gröbstes Hiersein: in dieser versunkenen Umnachtung saugen zwischen den Beinen am Schamhaar, Eingang, wo wir diese Welt betreten, die Zunge an zarterer Lippe und springendem Saft, trinken das feine Stöhnen, das aus dem duftigen Atem des Mädchens von da oben herab kommt.
Weit überschwemmt, am Meer, am Meer –
die Freiheit siecht dahin im heißen Sand.
Die Kinder nur und jene kleine schwarze Katze,
sie sind noch hier.
Mein Blick geht außen um
und fängt die Gier sich ein,
das schwarze Dreieck,
dieser Ein- und Ausgang aller Menschenkinder,
den man als Ton und Sprung erfahren kann,
ruht hier nun träg als reine Spiegelung
im ausgedörrten Hirn
als wärs ein schweres Ding.
Nahm den Schwanz, nachdem ein Leben den nackten Paterkörper erschüttert, durchzuckt hatte, steckte die Rute in Simones nassen Spalt, die würgte weiter die Kehle, der Atem blieb weg, der Steife in der geilen Vulva, der dunklen Höhle, aus der er gekommen war, auch er, die Kreatur. Und Simone spürt nun den Samen des Sterbenden, einen Erguss in ihr, Erguss für die Lustmörderin. Und der Lesende auf der FKK-Wiese röchelt leise und schmatzt mit den dünnen Lippen, wackelt mit dem Graukopf, kann sich nicht halten. Jetzt kommt das mit dem Auge, dem toten Glaskörper, dem ehemals durstigen und im Turm (trink oh Auge, oh, und die Wimper, und die Tränen, was sie schön hält, die Wimper, Häute! herausgerissen nun im schweinischen Buch von Bataille natürlich, gelesen von diesem alten Arschloch, der den Pimmel kaum halten kann und ins Meer rennt, um sich zu kühlen. Und ich sagte noch: Darf ich? Er japst: bitte! Das Priesterauge wurde zwischen Simone und den Autor getan, das rollte auf ihrem nackten Bauch wie im Akt, und dann verstaute sie das blassblaue Auge tief in ihre behaarten Vulva, Same des Autors ergoss sich darüber; das üppige Schamhaar dampfte; mir scheint, hier riecht’s nach Fäulnis und Fisch.
Ein Braunschweiger war’s stellte sich heraus am gemeinsamen Tisch im großen Abspeiserestaurant von Val Alta, in der Nähe von Rovinj, Istrien, wo herangeführt wurden auf kleinen Servierwägen die von den Deutschen gewünschten Speisen. Kraut durfte nicht fehlen und Bier nicht. Brav saß man da bei Tuborg und Kaffee, Nudelsuppe und Hackbraten. Manchmal, nicht oft, serbische Gerichte. Nein, in den Ferien nichts anderes als zu Hause, familiär, die gleiche gewohnte Umgebung, wenn auch auf FKK-Weise.
Der kühle Norddeutsche ist gar nicht kühl, ein wenig förmlich. Kleine Verneigung, bevor er am Tisch Platz nimmt. Ich bin anfangs schockiert, als ich ihn angezogen wieder erkenne. Der Hängende fest in der hellen Sommerhose (mit Bügelfalten), der Kopf grau, aber mit sehr frischem Ausdruck, grünlichblau die Augen, der Mann da, immer noch sprühend vor Energie und von einschüchternder praktischer Helligkeit im Kopf, vollgestopft mit technischen Details, dass ich Komplexe bekomme und auch nicht mitreden kann bei so vielen praktischen Beispielen. Im Augenblick aufgehen, davon war dieser Mann ganz und gar ausgefüllt.
Der ehemalige Panzeroffizier ist, darauf ist er sehr stolz, aufgestiegen aus einer braven Tischlerfamilie zum Versicherungsrechtsberater. Er kennt sich aus. Er muss nicht in jedem Urlaub Orte aufsuchen, wo er im Krieg war, um zu sagen: Sieh, Mutti, hier bin ich damals Chef gewesen. Er weiß zu erzählen von Braunschweiger Originalen. Ich fühlte mich an Kaiseraschern erinnert und an Kaiserlautern, US Army, Dirnen im Jägerhof. Doch geht es nun um das verstorbene Braunschweiger Original, den Rechen-August, der einmal, so der Graukopf, als eine Art Computer bei der Braunschweiger Bank eingesetzt worden war. Er bekam alles raus, der Rechen-August, jeden Fehler, aber sonst, na ja, war er ein völliger Idiot, dumpf wie ein Tier. Doch lang hielt’s den Panzeroffizier nicht bei dem Thema. Jugenderinnerungen schlugen durch: Das waren noch Zeiten: Nulluhrdreißig ist die beste Zeit zum Abmarsch, auch für Autobahnreisen; auch wir sind aus der Kaiser Wilhelmstrasse zu Hause Richtung Süd zu dieser Stunde aufgebrochen. Unser Spaziergang nach Paris im Jahre vierzig begann ebenfalls um Nulluhrdreißig. Und Gleiwitz? Auch, ja. Nur der Angriff war selbstverständlich später: Vieruhrfünfundvierzig. Ich bin kein Nationalsozialist, das sollen Sie nun nicht glauben, war’s auch nie. Trotzdem: die Feinde haben die Kriegspropaganda über das Kriegsende hinaus und bis heute durchgehalten. Das Bild von Deutschland, von Führer und Reich, haben sie diktiert und diktieren es bis heute. Wer denn sonst als Hitler hat dem deutschen Arbeiter Brot und Arbeit gegeben, damals, als die Scheiß-Demokratie versagte, das Parlamentariergeschwätz, das sich bis heute wiederholt… aber lassen wir das. Den Krieg haben wir ja doch noch gewonnen, mein Herr, mit unserer starken Wirtschaft und harten D-Mark. Durch Kriegswirtschaft hatte Hitler das Reich gerettet…
L. verwies wütend auf die Fosse ardeatine in Rom, ereiferte sich über den Tisch, verschüttete vor Aufregung den Rotwein, pardon, der Nachbar hilfsbereit und höflich, winkt energisch den Kellner herbei, und im Spaß: Sofort, he, weg, dann ein paar russische Brocken, drohend im Spaß, immer mit zwei erhobenen Fingern, Tatatata…
Kriegsrecht, Haager Landrecht, sagt der quicke Graukopf aus Braunschweig in Val Alta, ist doch klar. Keine regulären Soldaten, die gefährden doch alle, diese Banden. Sie gefährden Zivilbevölkerung und Heer, sie dürfen deshalb abgeurteilt werden, auf höheren Befehl: 1:10 wars bei Kappler, gut – aber die Italiener in Albanien, 1:200, galt für die nicht das Recht?.
Der Feldwebel und fünf Soldaten legen die Bretter auf den zugefrorenen Strom, müssen mit der Axt ein großes Eisloch schlagen, dann erst werden die Verurteilten gebracht, zweiunddreißig Grad unter Null ist es in jenem Winter 1943. Die Frauen stehen da, blaugefroren. Die Schweine da machen sich noch einen Spaß mit den jungen Frauen, reißen ihnen auch noch das Hemd vom Leibe, so stehen sie wie nacktglänzende Madonnen in dem unendlichen Weiß und zittern und schluchzen. Manche wissen noch gar nicht, was sie erwartet. Der Feldwebel und zwei Männer greifen nach dem schmalen Brett, da schwebt ein Mädchen auf sie zu, sie fassen hart nach ihr, es ist ja das letzte Mal, die Schwarzuniformierten grinsen, tapsen den warmen Körper an, der letzte Mann legt Hand an: He, du Aas, du eisige Braut, und fassen zu, Partisanin oder Partisanenfrau, am Hintern, pressen die Brüste und Schenkel, ein letzter Schrei, langsam verschwindet der Frauenkopf im Eiswasser, taucht wieder auf, schöpft Atem, einer schlägt mit dem Gewehrkolben zu, und sie taucht unter die Eisdecke der Donau… die Nächste…
Der Ältliche da liest, er liegt zwischen lauter verschlossenen Spalten, unter Schirmen und Illustrierten, verschmiert mit Nivea und Bronzol, geschlechtslos der Brusthof, die Warzen liegend. Und der Ältliche liest, der sonnengebräunte Schwanz – eine Seltenheit hier auf der paradiesischen Konsumwiese – reckt sich der untergehenden Sonne entgegen. Ich bin ziemlich erstaunt (denn mir war die Lust beim Lesen dieser Literatur vergangen), wie der Mann, Mensch selbstvergessen mit der linken Hand nachfasst am Glied, als nun der gefesselte spanische Pater von Simone, die den Rock abgelegt, den seidigen Schlüpfer, die Hose genüsslich abgestreift, traktiert wurde auf nacktem Hintern. Selbstschuss für den geilen Pfarrer, seine Pistole reckte sich, als sie ihm die Kehle anfing zu drücken, da soll er aus Sauerstoffmangel im halben Ersticken halluziniert haben wie Erhängte; das ganze Leben, ein Film überflutet vom pisernden stauchenden Krampf des Orgasmus. Der Autor, dieser Kryptofaschist, ich höre, er kam nachher doch in den Widerstand, erschrocken wohl, wie die Phantasie hemmungslos die Wirklichkeit zerstören kann.
FKK hingegen passend zur milchigen Mattscheibe, wie ein Kunstflug aseptisch über der schönsten Gegend. Fast lob ich mir da Bataille, Salò, den natürlichen Ekel. Hier wurde er überholt, hier hat man ihn integriert.
Ein Graukopf neben mir liest, ich schiele hinüber, er liest die Augengeschichte: Simone, die in Sevilla Fellatio treibt mit der glänzenden Eichel des lustbrüllenden Paters; wie sie in den Taufkelch pisst und der trinkt. Die schreckliche Sehnsucht nach den stärksten Gerüchen, dem fadesten Geschmack, sich der Existenz versichern durch Hinfassen, Lutschen an Worten, Lecken an der Nomina, Fressgier des tierischen Auges. Ekstase des Schweinischen, gröbstes Hiersein: in dieser versunkenen Umnachtung saugen zwischen den Beinen am Schamhaar, Eingang, wo wir diese Welt betreten, die Zunge an zarterer Lippe und springendem Saft, trinken das feine Stöhnen, das aus dem duftigen Atem des Mädchens von da oben herab kommt.
Weit überschwemmt, am Meer, am Meer –
die Freiheit siecht dahin im heißen Sand.
Die Kinder nur und jene kleine schwarze Katze,
sie sind noch hier.
Mein Blick geht außen um
und fängt die Gier sich ein,
das schwarze Dreieck,
dieser Ein- und Ausgang aller Menschenkinder,
den man als Ton und Sprung erfahren kann,
ruht hier nun träg als reine Spiegelung
im ausgedörrten Hirn
als wärs ein schweres Ding.
Nahm den Schwanz, nachdem ein Leben den nackten Paterkörper erschüttert, durchzuckt hatte, steckte die Rute in Simones nassen Spalt, die würgte weiter die Kehle, der Atem blieb weg, der Steife in der geilen Vulva, der dunklen Höhle, aus der er gekommen war, auch er, die Kreatur. Und Simone spürt nun den Samen des Sterbenden, einen Erguss in ihr, Erguss für die Lustmörderin. Und der Lesende auf der FKK-Wiese röchelt leise und schmatzt mit den dünnen Lippen, wackelt mit dem Graukopf, kann sich nicht halten. Jetzt kommt das mit dem Auge, dem toten Glaskörper, dem ehemals durstigen und im Turm (trink oh Auge, oh, und die Wimper, und die Tränen, was sie schön hält, die Wimper, Häute! herausgerissen nun im schweinischen Buch von Bataille natürlich, gelesen von diesem alten Arschloch, der den Pimmel kaum halten kann und ins Meer rennt, um sich zu kühlen. Und ich sagte noch: Darf ich? Er japst: bitte! Das Priesterauge wurde zwischen Simone und den Autor getan, das rollte auf ihrem nackten Bauch wie im Akt, und dann verstaute sie das blassblaue Auge tief in ihre behaarten Vulva, Same des Autors ergoss sich darüber; das üppige Schamhaar dampfte; mir scheint, hier riecht’s nach Fäulnis und Fisch.
Ein Braunschweiger war’s stellte sich heraus am gemeinsamen Tisch im großen Abspeiserestaurant von Val Alta, in der Nähe von Rovinj, Istrien, wo herangeführt wurden auf kleinen Servierwägen die von den Deutschen gewünschten Speisen. Kraut durfte nicht fehlen und Bier nicht. Brav saß man da bei Tuborg und Kaffee, Nudelsuppe und Hackbraten. Manchmal, nicht oft, serbische Gerichte. Nein, in den Ferien nichts anderes als zu Hause, familiär, die gleiche gewohnte Umgebung, wenn auch auf FKK-Weise.
Der kühle Norddeutsche ist gar nicht kühl, ein wenig förmlich. Kleine Verneigung, bevor er am Tisch Platz nimmt. Ich bin anfangs schockiert, als ich ihn angezogen wieder erkenne. Der Hängende fest in der hellen Sommerhose (mit Bügelfalten), der Kopf grau, aber mit sehr frischem Ausdruck, grünlichblau die Augen, der Mann da, immer noch sprühend vor Energie und von einschüchternder praktischer Helligkeit im Kopf, vollgestopft mit technischen Details, dass ich Komplexe bekomme und auch nicht mitreden kann bei so vielen praktischen Beispielen. Im Augenblick aufgehen, davon war dieser Mann ganz und gar ausgefüllt.
Der ehemalige Panzeroffizier ist, darauf ist er sehr stolz, aufgestiegen aus einer braven Tischlerfamilie zum Versicherungsrechtsberater. Er kennt sich aus. Er muss nicht in jedem Urlaub Orte aufsuchen, wo er im Krieg war, um zu sagen: Sieh, Mutti, hier bin ich damals Chef gewesen. Er weiß zu erzählen von Braunschweiger Originalen. Ich fühlte mich an Kaiseraschern erinnert und an Kaiserlautern, US Army, Dirnen im Jägerhof. Doch geht es nun um das verstorbene Braunschweiger Original, den Rechen-August, der einmal, so der Graukopf, als eine Art Computer bei der Braunschweiger Bank eingesetzt worden war. Er bekam alles raus, der Rechen-August, jeden Fehler, aber sonst, na ja, war er ein völliger Idiot, dumpf wie ein Tier. Doch lang hielt’s den Panzeroffizier nicht bei dem Thema. Jugenderinnerungen schlugen durch: Das waren noch Zeiten: Nulluhrdreißig ist die beste Zeit zum Abmarsch, auch für Autobahnreisen; auch wir sind aus der Kaiser Wilhelmstrasse zu Hause Richtung Süd zu dieser Stunde aufgebrochen. Unser Spaziergang nach Paris im Jahre vierzig begann ebenfalls um Nulluhrdreißig. Und Gleiwitz? Auch, ja. Nur der Angriff war selbstverständlich später: Vieruhrfünfundvierzig. Ich bin kein Nationalsozialist, das sollen Sie nun nicht glauben, war’s auch nie. Trotzdem: die Feinde haben die Kriegspropaganda über das Kriegsende hinaus und bis heute durchgehalten. Das Bild von Deutschland, von Führer und Reich, haben sie diktiert und diktieren es bis heute. Wer denn sonst als Hitler hat dem deutschen Arbeiter Brot und Arbeit gegeben, damals, als die Scheiß-Demokratie versagte, das Parlamentariergeschwätz, das sich bis heute wiederholt… aber lassen wir das. Den Krieg haben wir ja doch noch gewonnen, mein Herr, mit unserer starken Wirtschaft und harten D-Mark. Durch Kriegswirtschaft hatte Hitler das Reich gerettet…
L. verwies wütend auf die Fosse ardeatine in Rom, ereiferte sich über den Tisch, verschüttete vor Aufregung den Rotwein, pardon, der Nachbar hilfsbereit und höflich, winkt energisch den Kellner herbei, und im Spaß: Sofort, he, weg, dann ein paar russische Brocken, drohend im Spaß, immer mit zwei erhobenen Fingern, Tatatata…
Kriegsrecht, Haager Landrecht, sagt der quicke Graukopf aus Braunschweig in Val Alta, ist doch klar. Keine regulären Soldaten, die gefährden doch alle, diese Banden. Sie gefährden Zivilbevölkerung und Heer, sie dürfen deshalb abgeurteilt werden, auf höheren Befehl: 1:10 wars bei Kappler, gut – aber die Italiener in Albanien, 1:200, galt für die nicht das Recht?.
Der Feldwebel und fünf Soldaten legen die Bretter auf den zugefrorenen Strom, müssen mit der Axt ein großes Eisloch schlagen, dann erst werden die Verurteilten gebracht, zweiunddreißig Grad unter Null ist es in jenem Winter 1943. Die Frauen stehen da, blaugefroren. Die Schweine da machen sich noch einen Spaß mit den jungen Frauen, reißen ihnen auch noch das Hemd vom Leibe, so stehen sie wie nacktglänzende Madonnen in dem unendlichen Weiß und zittern und schluchzen. Manche wissen noch gar nicht, was sie erwartet. Der Feldwebel und zwei Männer greifen nach dem schmalen Brett, da schwebt ein Mädchen auf sie zu, sie fassen hart nach ihr, es ist ja das letzte Mal, die Schwarzuniformierten grinsen, tapsen den warmen Körper an, der letzte Mann legt Hand an: He, du Aas, du eisige Braut, und fassen zu, Partisanin oder Partisanenfrau, am Hintern, pressen die Brüste und Schenkel, ein letzter Schrei, langsam verschwindet der Frauenkopf im Eiswasser, taucht wieder auf, schöpft Atem, einer schlägt mit dem Gewehrkolben zu, und sie taucht unter die Eisdecke der Donau… die Nächste…
Frasquita, das Boot
Unser Segelboot heisst „Frasquita“,
ein altes englisches Holzboot, eine „vela storica“, auf der Insel Withe im
Ärmelkanal für den Atlantik erbaut. 34 Fuss, 10m, 60, ein Sloop, ein Einmaster,
wir segeln seit 25 Jahren im Mittelmer mit der geliebten „Frasquita“ Immer
wieder werden wir gefragt, ob wir auch Sturm gehabt hätten? Ja, bis 56 Knoten
in der „Rondinara“, einem kleinen Naturhafen im Süden Korsikas, ganz nahe von
Bonifacio zwischen Sardinien und Korsika. Aber da kann man ruhig liegen, weil
der Wind auflandig ist, keine Wellen entstehen. Und ich schwärmte von der Luft,
von jenem jungfräulichen Moment, wenn der Tag anbricht, alles stehen bleibt,
die Natur frisch und jung den Atem anhält, in der Ferne das Sonnenphänomen mit
den ersten Strahlen in die Dämmerung einbricht, wie eine neue Weite und Offenheit,
Leben bringt, als wäre alles noch möglich. Unsere Segler-Routen: Viareggio, Capraia, Macinaggio, Campoloro,
Portovecchio, Maddalena, Campoloro, Montechristo, Elba, Giannutri. Korsika
und Sardinien gehören also dazu. L. erzählt dann gerne von einer Rückfahrt ohne
Motor, nur mit Wind, und der Gefahr, am Felsenufer zu zerschellen. Horrorfahrt
von 30 Stunden, ohne Schlaf, ständig am Ruder. Daß man auch den Atantik
überqueren könne, nur den Windpiloten einstellen müsse, und der Passat richte
es schon.
NACHTGEDANKEN IN VIAREGGIO
Die Sonne verglüht in scharfen
Konturen;
am
Rande des Meeres fahren
die
heimkehrenden Fischer
in
immer kälteres Rot -
in meine Augen ein, vor ihnen
sind
die erleuchteten Fenster
ganz
nahe Sterne:
Warum reise ich? Weil
ich unbeschwert nirgends sein will.
Das Ankommen ist beschwerlich, das
sieht man vor allem
beim Einlaufen von Segelbooten hier im
Hafen von Viareggio.
Nie ankommen
müssen!
Reisen als Symbol:
Ulysses, der schönste Name.
Flucht bei einer Reise, Flucht vor
sich selbst, vor der Katastrophe,
unglücklichste Form künstlichen
Daseins.
„Gute Reise!“ Du sagst es wie „Grüß
Gott“: das Unbekannte
schleift sich ab! Edmond Jabès: Elargir les horizons du mot!
„Vielleicht war Viareggio anders geworden in den sechs
Jahren, vielleicht war es auch
voll, vielleicht war es zu kalt, vielleicht ... die Vielleicht vermehrten
Rainer Maria Rilke -
aus Viareggio
Shelleys
Schiffbruch und Tod in Viareggio
Im
Golf von La Spezia. Ich erinnere mich noch genau, unser Segelboot durchfuhr
den Wolkenschatten, windgejagt, den ich
sah, meine Gedanken flogen mit. Der Mann aber, darunter, und den Blick auf dem
Kompaß, übte wie angebunden an das Geschehen, dem ich folgen mußte, um es
beherrschen zu können, keine
"SteuerManns Kunst", mitten im weißen Rauschen und melodischen
Geräusch des Bootskörpers, der schwang vibrierend im Wasser; ich freute mich
daran, daß wir nichts erzwingen wollten und von Wind und Wasser abhängig waren,
und spürte an der Pinne die Richtigkeit
meiner eignen zarten Bewegung der Hand, um mitten in der Bewegung zu sein,
alles stimmte, war wie ein Zusammenhang mit der
elementaren Bewegung des Gefühls, ein leises Zittern des Steuers.
Schon dort auf dem Boot versuchte ich,
L: hielt das Steuer, "das Sehen schreibend zu einer Beschäftigung zu
machen", wie Shelley auf seinem Segelboot. Und ihr fiel, als sie die
Wolken sah, ein Vers von ihm ein.
"Wie
Wolken fliehen Hoffnung, Würde, Liebe,
Sie
bleiben nur auf ungewisse Zeit. -
Der
Mensch wär stark, besäße die Unsterblichkeit,
wenn
der erhabne Geist nur in ihm bliebe..."
"Hymn
to intellectual Beauty", - die Verse tauchen in mir jetzt auf, so schrieb
er damals, 1816 in sein Notizbuch.
La Spezia nordwestlich, voraus im Blick San Terenzo, des Dichters Ort,
ein Felsennest im Golf, klein, der Hafen, steinig. Es hat sich nicht viel
verändert, außer daß es jetzt natürlich die Asphaltstraße gibt, die die Orte
verbindet, und der Golf, der blaue, gehört zum dreckigsten Golf Italiens. Mary,
Shelleys Frau, sie hatten 1816 geheiratet, nach dem Selbstmord Harriets, der
ersten Frau Shelley, dachte ich, hatte mit mehr Erfolg als ihr Mann
geschrieben, vor allem ihr "Dr. Frankenstein" wurde weltberühmt, Mary
schrieb in ihrem Tagebuch von einer "blauen Wasserfläche, der vom
nahegelegenen Schloß Lerici von Osten und vom entfernten Portovenere von Westen
fast geschlossenen Bucht" umgeben ist, schrieb damals, und ich konnte es
auch heute beim Vorbeisegeln vor mir sehen:
"Von verschiedenen Formen der
Felsen, die steil zum Ufer abfielen, über das sich nur ein rauher gewundener
Fußpfad nach Lerici hinzog, aber keiner nach der andern Seite, das gezeitenlose
Meer, das weder Sand noch Steine am Ufer zurückließ, dies alles gab ein Bild,
wie man es nur auf Salvator Rosas Landschaften wiederfindet."
Mein Blick nahm San Terenzo unter dem jagenden Weiß wahr, die Brise nahm zu.
Eben als L: "Shelley",
seinen Namen, aussprechen wollte, den sie zusammen mit San Terenzo bis jetzt
nur gedacht hatte, tauchte fünfzig Meter
vor dem Boot ein schwärzliches Ungeheuer auf, das Wasser rann in Sturzbächen
vom Beobachtungsturm, rauschte, ein Atom-U-Boot stellte sich quer, durchbrach das Klingen am
Außenrand des Rumpfes, und der Steuermann warf das Ruder herum, die Segel flatterten
, schlugen an den Mast ...
Im Schrecken aber, und höre schon das
Knirschen des Holzrumpfes auf dem Stahl, erscheint wie vorher die Wolke auf
ihrer beweglichen Hirnwand ein kleineres Boot und die hohen ... Wellen ... im Sturm ... der Untergang Shelleys damals im Juni 1822
...
Ich stelle ihn mir vor, ich mache
ein Gedankenexperiment: Shelley beobachtet uns, sieht zu, berichtet jetzt aus
einer Zukunft, die er gekannt haben würde, gäbe es die Zeit nicht, mischte sich
ein in meine Gedanken, nähme mir das Wort, Unmögliches geschieht, und das, was
wirklich ist, wird aufgebrochen, vermischt mit Ideen ...
Es ist Poesie, es ist Fiktion, die die Zeit
aufhebt. Und jetzt der vorgestellte Tod, der Tote und seine vergangene
Phantasie, die immer noch lebt, in meiner Phantasie. Die wiedergibt, was er,
was wir alle, als Kind gesucht haben?
Poesie ein Umweg? Lacht er? In mir klingt sein Gedicht.
Im
Hafen von Livorno unter englischen
Kuttern, amerikanischen Klippern, genuesischen Feluken, einer
neapolitanischen Brigg und holländischen Galeoten begeisterte er sich für Segelschiffe, dort war die Idee entstanden, in den Golf von La Spezia zu
übersiedeln, ein eignes Segelboot zu haben. Byron ließ sich anstecken. Käptn
Trelawny gab den Auftrag an seinen Kollegen Roberts nach Genua weiter, einen
kleinen zweimastigen Schoner ohne Deck für Shelley und einen großen Schoner für
Byron zu bauen. Er selbst hatte das Querschnittmodell entworfen.
Trelawny
und Williams hatten auch die Villa Magni entdeckt, sie waren die Küste der
Bucht von La Spezia entlangeritten, hatten zwischen San Terenzo und Lerici eine
Villa, die Villa Magni für Shelley und Williams gefunden, für den
anspruchsvollen Byron war aber kein entsprechender Palazzo aufzutreiben
gewesen, so blieb er in Pisa.
Ich
stelle mir vor, wie sie damals dort in San Terenzo gelebt haben; alles war vom
Meer bestimmt, Leben, Tod, der Zustand, die Gefühle. Und Shelleys letzte
Dichtungen sind davon bestimmt. Erste Anzeichen von TBC machten sich bemerkbar,
tiefe Melancholie und Depressionen überfielen ihn.
"Manchmal,
wenn der scirocco wütete - an diesen Küsten "ponente" genannt, verdüsterte
sich die Sonne", schrieb Mary. "Die Stürme und Böen, welche uns bei
unserer ersten Ankunft begrüßten, säumten die Bucht mit Schaum. Der Wind heulte
um unser ungeschütztes Haus, daß wir fast auf einem Schiff zu sein glaubten.
Die Menschen dort waren rauher als die Gegend. Unsere nächsten Nachbarn von San
Terenzo waren den Wilden ähnlicher als alle Menschen, unter denen ich früher
gelebt hatte. Viele Nächte verbrachten sie singend oder eher heulend am Strand,
die Frauen tanzten in den Wellen, die sich an ihren Füßen brachen, während die
Männer, an den Felsen gelehnt, in den wilden Chor einstimmten. Der nächste Ort,
um Nahrungsmittel einzukaufen, war das dreieinhalb Meilen entfernte Sarzana
jenseits des Wildbaches Magra, und auch dort waren die gebotenen Vorräte sehr
mangelhaft."
Sie
lebten in einem einsamen und verlassenen Gebäude, das man Villa Magni nannte,
obwohl es mehr einem Boots- und Badehaus ähnlich sah als einer Villa ... Das
Haus hatte ein ungeplastertes Erdgeschoß, das zur Aufbewahrung von Bootszubehör
und Angelgerät benutzt wurde, und darüber ein einziges Stockwerk, das in einen
Saal oder Salon und vier kleine, einst weißgetünchte Räume aufgeteilt war; auch
gab es einen Kamin zum Kochen ... das einzig Gute war eine Veranda zum Meer
hin, die fast über das Wasser gebaut war.
Mary,
diese attraktive Frau mit dunkelblondem Haar, feinen regelmäßigen Zügen, einem
sensiblen ovalen Gesicht, - diese hochbegabte und intelligente Mary war schon
1814, noch nicht siebzehn Jahre alt, schwanger, mit dem einundzwanzigjährigen
Percy Busshe Shelley von zu Hause durchgebrannt, gemeinsamer Selbstmord war
geplant. Ihre Schwester Claire schloß sich der Flucht an, warf sich dem skandalumwitterten
Lord Byron an den Hals, gebar ihm die Tochter Alba, die in einem venezianischen
Kloster "abgelegt" wurde. Diese Vier also bildeten nun hier den
unzertrennlichen Freundeskreis. Inzwischen hatte die Halbschwester Marys, Fanny
Imlay Selbstmord begangen, ebenso die erste Frau Shelleys, Harriet Westbrook,
die sich im schwangeren Zustand in einen
Teich stürzte, und Shelley zwei Kinder hinterließ. Schon drei Wochen
später heirateten sie, Percy und Mary, auch sie hatte schon zwei Kinder, zwei
weitere Geburten und eine Fehlgeburt folgten; zwischen 17 und 25 war Mary
andauernd schwanger. Nur ein Sohn überlebte und wurde ein mittelmäßiger Mensch.
Byron
und Shelley waren zu Hause geächtet; wegen seines Atheismus´ und seines Lebenswandels
war Shelley von der Universität Oxford relegiert worden. Ihr Ruf war miserabel,
Klatsch und Gerüchte umgaben sie, mit Mary und Claire lebten sie angeblich alle
vier in einem Inzestverhältnis zusammen. Und sie wurden ständig von Alpträumen
und von Halluzinationen geplagt. In Genf, aber auch in Italien verbrachte man
die Abende gemeinsam. Und Gespenstergeschichten wurden gelesen; als eines
Abends Byron aus Coleridges "Christabel" rezitierte, fing er
plötzlich zu schreien an, lief mit einer Kerze in der Hand aus dem Zimmer; er
habe Mary nackt gesehen, anstelle von Brustwarzen weit aufgerissene Augen!
Das
Unheimliche ging um, Shelley aber sublimierte es zur Form, Gott und alle
Phantome waren ihm reiner Geist. "Als Knabe suchte ich Gespenster",
schrieb er: "lief / Voll Angst durch Kammern, Kirchen und Ruinen / Und
Wälder, still im Sternenlicht, mit ihnen / Gespräche führen
mit den Gräbern. Zu tief / Auf all die falschen Namen, die ich rief, /
kam keine Antwort - ich sah keinen - ... / Da kam dein Schatten über mich ... /
Uns gibst, was ich nicht fassen kann in Töne ... / Und jede Form, die dich enthält,
/ Den deine Wunder, Geist, gebannt."
Das Leben des Ehepaares Shelley im Golf von La Spezia war eine Flucht,
keine Idylle; die Spannung zwischen Mary und Percy, wie könnte es anders
zwischen solchen Eheleuten auch sein,
war unerträglich; er, immer in den Wolken und sie ein Gesellschaftswesen,
praktisch veranlagt, und auch noch vom "grünäugigen Ungeheuer" Eifersucht
besessen, wenn er über Liebe auch nur schrieb. 1819 war ihr kleiner Knabe in
Rom gestorben; zwei Selbstmorde lasteten auf beiden. Dazu kamen Shelleys
Liebschaften mit der Contessina Emilia Viviani, Jane Williams, und
wahrscheinlich auch mit Marys Schwester Claire; schließlich gab es zu allem Übel auch noch große finanzielle
Engpässe und Mißstände.
Shelley
predigte nicht nur die freie Liebe,
sondern praktizierte sie auch. Libertinage als Provokation.
"Ich habe nie zur großen Sekte derer gehört", schrieb er,
"die predigten, daß sich jeder eine Geliebte oder einen Freund aus der Schar erwählt, und alle andern,
schön und klug, kalt der Vergessenheit anheimgibt
... "
Dieser Abenteurer, Libertin, streitsüchtige Ehemann, erwies sich als
etwas ganz anders, als vermutet: nicht nur als ein Dichter, der in die Natur
vernarrt, todessüchtig und lebensgierig ist, sondern tatsächlich so etwas wie
ein gefallener Engel war. Ihm, der mit geistigem Absolutheitsanspruch
angetreten war, setzte ihm die Realität auf furchtbare Weise zu.
Eine
merkwürdige Abenteuerergestalt, ein Freund, der diesen tragischen Sommer mit
ihnen erlebt hat, der Schiffskapitän Edward John Trelawny, den Mary als einen
Mann, begabt mit Geist, Charakter - und
Empfindungsstärke, kennengelernt hatte, war zerrüttet durch das Gefühl seiner
Nichtigkeit, daher auch zerfressen von Neid und innerer Unzufriedenheit.
Er tauchte noch vor ihrer Übersiedlung
in die Villa Magni am Golf von La Spezia
bei den Shelleys und dem Ehepaar Williams, mit denen er befreundet war,
in Pisa am Lungarno auf, um Shelley, den
er als Dichter verehrte, kennenzulernen.
Gekleidet war Shelley, so Trelawny, wie ein Knabe, schwarze Jacke und
Hosen, doch alles zu eng, als hätte der Schneider beim Maßnehmen geknausert. Er
trug, wie immer, ein Buch in der Hand; es war diesmal Calderons "Magico
Prodigoso", sonst war es meist Platon; Jane Williams bat Shelley, daraus
vorzulesen, und er legte ab "vom Strand des Alltäglichen, das ihn nicht
interessieren konnte", sprach über
Poesie so, daß jeder glaubte, wie es manchmal im Traum geschieht, die Wahrheit,
nach der man leben müßte, plötzlich zu wissen. Die Poesie ... so Shelley, weckt und weitet den Geist selbst, indem sie
ihn zum Gefäß Tausender nie gekannter Gedankenverbindungen macht ... Wie eine "verglühende Kohle" sei
der Geist, sagte Shelley, er könne sich
schwer hier halten in unserer so groben Sphäre, sagte Shelley, er bleibe nur
Momente, in unserer so groben Sphäre.
Um
ihn war es still, er hatte keine Gemeinde. Seine Leser konnte man an den
Fingern abzählen. Seine Arbeiten wurden kaum verlegt, sie waren im Handel nicht
erhältlich; von seinem Drama "Queen Mab" ließ er dreißig Exemplare
auf eigene Kosten drucken und verteilte sie unter seinen Freunden. Dabei war er
gesellig und fröhlich, locker in Gesellschaft, und ohne jeden Konkurrenzneid;
zu Byron, der viel mehr auf Anerkennung und aufs Eitelkeitskarussel des
Betriebes gab, sagte er einmal:
"Schreiben Sie nichts gegen Ihre Überzeugung, nichts, was Ihnen
nicht die Wahrheit zu schreiben eingibt; Sie sollten selber den Weisen
Ratschläge geben, anstatt sich von Narren beraten zu lassen. Die Zeit wird das
Urteil des Pöbels verwerfen. Und die zeitgenössische Kritik stellt nur die
Summe der Ignoranz dar, gegen die das Genie sich zur Wehr setzen muß."
Er hatte den Autor in sich schon abgeschafft und sein Ich, er war völlig
selbstlos, half uneigennützig, wie ein Kind, offen und natürlich. Als wäre er
irgendwie schon posthum, als hätte er sich hinter sich, lebte an einer Grenze,
die ihm gefährlich war, bis zur Todessucht, der Schwere zu entgehen, das
"große Geheimnis" zu erfahren. Und Trelawny erzählt eine seltsame
Begbenheit, die diesen Mangel an Selbsterhaltungstrieb drastisch belegt: Es sei
an einer tiefen Stelle des Arno gewesen, da habe er, der Käptn,
Wasserkunsttücke vorgeführt, in der Südsee gelernte, gefährlich wirkende
Kapriolen, und der Nichtschwimmer und Versemacher habe beklagt, sich nicht über
Wasser halten zu können; Blei, kein Vogel zu sein. Und da habe der Schwimmer
ihm geraten, er müsse einfach glauben, er könne es. Und der Papiermensch habe
seinen Rat befolgt, sei jedoch nicht
wieder aufgetaucht; er habe auf dem Grund bewegungslos wie ein Aal gelegen, und
der Ratgeber mußte in den Fluß springen, den Todessüchtigen an die
Wasseroberfläche und an Land zu holen, sonst wäre er ertrunken. Wieder etwas zu
Atem gekommen, habe der ungerührt erklärt, er gehe ja immer allem auf den
Grund, und nach einer Minute hätte Trelawny nur noch seine leere Hülse
gefunden, so wäre er dem Körper entkommen.
Ob
er denn an die Unsterblichkeit glaube. Nein, wie könne er auch, es gäbe ja
keine Beweise. Wir könnten unsere innersten Gedanken genausowenig wie jenes
Geheimnis ausdrücken und wissen, wir selbst seien uns unverständlich. Und gegen
die Religion, was ihm soviel Feindschaft eingetragen, sei er nur, weil die
verhängnisvoll das Denken ins Unendliche einschränke, also das Gegenteil ihrer
selbst sei.
Und
Byron sagte später: "Sie jagten ihn wie einen tollen Hund aus dem Land,
nur weil er das Dogma in Frage stellte".
Das
große Instrument des sittlich Guten sei die Imagination; und die Poesie diene
der Wirkung, indem sie auf die Ursache einwirke ...
Romantische
Gründe sind nicht erlernbar, und Vorkommnisse dazu haben einen tödlichen
Ausgang, weil sie über uns hinausreichen, den Mund stopfen im Fließen,
Ersticken daran, daß alles vergeht, in Pisa floß der Fluß direkt unter Shelleys
Fenster, der Poet gedieh nur in Wassernähe, suchte sie, Städte und Menschen
beunruhigten ihn, und er floh zum nächsten See oder Tümpel.
Daher
war er auch hierher in diese Villa gezogen. Doch "der Dämon des Todes, der
den Dichter zu Wasser stets begleitete", wie sein Freund Trelawny schrieb,
war nicht nur ihm, sondern auch allen aus seiner Umgebung gefährlich. Der Käptn
berichtet, wie Shelley mit seinem winzigen Dingi, einem Beiboot aus Flechtwerk
und geteerter Leinwand, einem zerbrechlichen Spielzeug, mit dem der Dichter
gern im Wasser spielte, und das bei der geringsten heftigen Bewegung kenterte,
seine unglaubliche Ungeschicklichkeit kam hinzu, selbst bei schlechtem Wetter
hinaus aufs offne Meer paddelte, sich dann vom Wind zurücktreiben ließ; ja,
eines Tages bei Flaute und spiegelglatter See überredete er Jane Williams, sich
mit ihren Kindern in seine Einmann-Nußschale zu kauern, so daß der Dollbord nur
eine Handbreit über dem Wasser stand, ein leichter Wind, eine unvorsichtige
Bewegung, eine kleine Welle mußte das Dingi kentern lassen, unter ihnen
weggleiten lassen; und keiner konnte schwimmen. Er war traurig und
niedergeschlagen, saß da, den Kopf auf die Brust gesenkt, rief dann aber plötzlich erregt: Nun wollen
wir gemeinsam dem großen Geheimnis auf den Grund gehen. Jane betrachtete zuerst
gelähmt vor Entsetzen ihren schrecklichen Fährmann, war aber dann geistesgegenwärtig
genug, ihn zu wecken, und sagte: Nein, danke nicht jetzt! Ich hätte gern erst
mein Abendessen zu mir genommen und die Kinder sicher auch!
Das brachte den Todesträumer wieder zu sich.
Läßt sich diese verantwortungslose
Kindlichkeit verteidigen? Zumindest erklären?
"Der
Abstand, der uns von allen Spuren der Zivilisation trennte, das Meer zu unseren
Füßen, sein unaufhörliches Murmeln oder Tosen, all dies wirkte auf unser Gemüt
ein und ließ uns über seltsamen Gedanken brüten, hob unser Denken über das
alltägliche Leben hinaus in die Sphäre des Unwirklichen." So schrieb Mary
in ihrem Tagebuch.
Und
es war ja kein Zufall, daß sie hier lebten: Shelley hasste die banale und
unlogische bürgerliche Welt, die Obrigkeit, die ihn aus dem Land gejagt hatte.
Und - sein Denken war vom Philosophen Berkley geprägt: " ... daß nichts
existiert außerhalb dessen, wie es perzipiert wird." (Also nur wir
erschaffen die Dinge, es ist der Schöpfungsakt des unerklärlichen abgründigen
Moments. Das Gegenteil der täglichen Gefangenschaft in einer trivialen
Dingwelt. Der Tod aber ist der Schock, der da hineinragt, sie aufbricht. Und
die Schönheit sein Partner. Die Waffe der Ohnmächtigen. Romantische Gründe und
Abgründe, die lebensgefährlich werden können.)
In
seinem großen Essay "Defence of Poetry", an dem er in jenen Tagen
arbeitete, beschrieb er, ähnlich wie sein Freund, der Dichter Keats, die
"negative Fähigkeit", sich selbst zu vergessen, sich hinzugeben mit allen Sinnen, wie eine
Harfe, ein Rohr im Wind, alles bewegt aufnehmend, sensibel wie eine Mimose, die
völlig ausgeliefert ist. Es war seine
Schwäche und Stärke zugleich; eine Eigenschaft, die in der Krassheit und
Stumpfheit der bürgerlichen Welt mit ihrem tierischen Egoismus völlig aus dem
Rahmen fiel. Poesie aber schien die einzige Rettung, um nicht selbst
vergiftet zu werden. Hier in der freien Natur meinte er sie zu finden. Denn die
Mimose gedeiht nur in Gegenwart belebender Gefühle, Liebe, zusammenfassend
gesagt. Denn "Sie essen, trinken und schlafen, und zwischen diesen
Verrichtungen, die von den lächerlichsten Zeremenonien begleitet werden,
kriechen und lügen sie. Ihre Hoffnungen und Ängste sind von der beschränktesten
Art ... Sie betrachten jeglichen
Verkehr mit ihrer Gattung nur als
Mittel, niemals als Zweck, und zwar als ein Mittel zur Erlangung des
niedrigsten persönlichen Vorteils. Dichtung kann erfüllen, was Religion nur
vortäuscht."
Der
"Entfesselte Prometheus" - Shelleys bekanntestes Drama, erlöst das Prinzip Möglichkeit vom Wirklichen und der
Fesselung durch die Dingwelt. So sagt nämlich die ERDE in diesem großen Lesedrama,
und er rezitierte in den Wind:
" ... Du bist unsterblich; diese Sprache kennen
Nur Tote, die mit keinem Zeichen
wechseln.
Nur Klänge sind Boten
Wohin,
o wohin?
Ins
Dunkle, ins Vergangene, zu den Toten."
Kann der Tod denn Erlösung sein? Der Tod, so glaubte es noch Shelley:
erlöst aus dem Banalen. Durch eine Reihe sprachlicher Anordnungen führt Shelley
das Aktuelle auf sich selbst zurück, es
entsteht eine reine Möglichkeitswelt, die Keime des Niedergangs werden
gehemmt, und ein Umsturz des Aktuellen tritt am Ende ein, eine poetische Vorwegnahme
der uns erwartenden wirklichen Weltkatastrophe jedes Ich, wenn es stirbt.
"Ein Gott auf schwebendem Kometenthrone
rief ihnen zu: Seid nicht!
... "
Nur Augenblicke dauert die Inspiration, gereinigt in dieser Einsamkeit
am Meer, im Heulen des Windes, in jenem
äolischen Klang ist der Mensch noch zur Berührung fähig; und die "glühende
Kohle" Shelleys wird angefacht ...
Nur momentweise aus der andern Seite der Welt des Ungeschehenen taucht
Geist im schöpferischen Akt auf, verglimmende Kohle, die eine unsichtbare Macht
wie ein unbeständiger Wind zu vergänglicher Glut anfacht. So hatte er damals
gedacht, Shelley, den eigentlich die Poesie getötet hatte, im Boot, im Sturm,
weil sie ihn hinderte, sich gegen die Elemente zu wehren."
"Die Stürme und Böen,
welche uns bei unserer ersten Ankunft begrüßten, säumten die Bucht mit
Schaum", wie Mary in ihrem Tagebuch schrieb: "Der Wind heulte um
unser ungeschütztes Haus, daß wir fast auf einem Schiff zu sein glaubten."
Shelleys letzte Dichtungen sind davon bestimmt. Erste Anzeichen von TBC
machten sich bemerkbar. Und niemand weiß, ob seine gefährliche Seglermanie
nicht zu seinem Todestrieb gehörte. Wir wissen schon: Im Hafen von Livorno
unter englischen Kuttern, amerikanischen
Klippern, genuesischen Feluken, einer neapolitanischen Brigg und holländischen
Galeoten war die Idee entstanden, ein
eignes Segelboot zu kaufen. Wir wissen, Käptn Trelawny gab den Auftrag an
seinen Kollegen Roberts nach Genua weiter, einen kleinen zweimastigen Schoner
ohne Deck für Shelley und einen großen Schoner für Byron zu bauen. Im Mai 1822 war die "Don Juan", wie
das Boot nach einem Drama Byrons genannt wurde, da: Ein gewisser Herr Heslop
und zwei englische Seeleute führten es ...
Shelley und Williams fuhren nach Lerici und machten in einigem Abstand
von der Küste eine Probefahrt, Shelley fand, es entspreche allen Erwartungen.
Doch
Shelleys, etwa 9 Meter langes Boot, zwar festgefügt und mit Torbay-Takelage,
war zu leicht, zwei Tonnen Eisenbalast mußten es auf die Ladelinie bringen,
auch war es gefährlich unstabil und rank, und die zwei Vollmatrosen, die es
überführten, rieten zur Vorsicht, erzählten Trelawy, sie hätten eine rauhe
Nacht erlebt, die "Don Juan"
habe zwar gute Fahrt gemacht, aber nur zwei tüchtige Seeleute könnten
mit ihr umgehn.
Shelley
und Williams, die es übernahmen, schickten in ihrer Naivität die Seeleute am
gleichen Tage heim, behielten nur den Schiffsjungen Charles Vivian. Sie gingen
kaum noch von Bord, redeten vom Mittelmeer wie von einem kleinen stillen Teich,
auf dem ihr Boot leider seine Seetüchtigkeit nicht beweisen könnte, träumten
davon, über den Atlantik zu segeln.
Byrons
"Bolivar", bemannt mit fünf Matrosen, war bedeutend sicherer; doch
Byron betrat das Schiff kaum, ließ sich auch zu keiner Kreuzfahrt überreden.
Dagegen
waren Williams und Shelley wie Kinder. Trelawny ging mal mit ihnen an Bord, um
ihr nautisches Können zu prüfen, Williams war flink und geschickt, kannte sich
mit Segelbooten aus, aber er war übereilig, auch fehlte ihm jede Übung und Praxis, die einen in einem
Sturm instinktiv das Richtige tun läßt. Shelley dagegen war nicht nur
unbedarft, furchtbar ungeschickt,
sondern einzig darauf bedacht, vom
ewigen Wechselspiel des Meeres und des Himmels Bilder einzufangen; um das Boot
kümmerte er sich nicht. Er war nur von
den nautischen Fachausdrücken angeregt,
die seine Phantasie spielen ließen, glücklich, und kreischte manchmal lachend
bei seinen neuen Wortfügungen, die ihn beflügelten. Die dilettantischen Manöver,
die sogar Williams entsetzten, störten ihn nicht. "Anluven", rief Williams, doch
Shelley, der behauptet hatte, gleichzeitig lesen und steuern zu können, legte
die Ruderpinne verkehrt herum. "Anluven", schrie Williams, als das
Boot gierte: "Shelley, Sie können nicht steuern, Sie haben das Boot direkt
vor dem Wind." Williams nahm das Steuer. "Kümmern Sie sich um die
Großschot. Fertig zum Wenden! Ruder in Lee - fieren Sie die Fockschot. Fieren
Sie die Großschot; Junge, zieh, die Klüverschot nach achtern!" Doch die
Großschot saß fest, das Boot lag fest im
Wind, war nicht zu steuern. Shelleys Hut ging über Bord, er wollte wie ein
Schlafwandler gleich nachspringen, daß er nicht schwimmen konnte, kümmerte ihn
nicht.
Immer wieder regte sich Shelleys Todestrieb,
an Trelawny schrieb er, nachdem er seine Begeisterung über die "Don
Juan" geäußert hatte, seine Bitte, ihm Blausäure oder Bittermandel in
Livorno zu besorgen, dies entspringe dem Verlangen, "unnötiges Leiden zu
vermeiden."
"Ich
brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich gegenwärtig nicht an Selbstmord denke,
aber ich gestehe, daß es mir ein Trost wäre, diesen goldnen Schlüssel zur
Kammer der ewigen Ruhe zu besitzen."
Shelley nahm stets sein Schreibzeug mit an Bord; und er schaffte es,
während der Fahrten zu schreiben, auch vor Anker, wenn das Boot im Golf
schaukelte oder wenn sie bei unfreundlichem Wetter mit der Änderung der
Takelung und mit dem Bau eines kleinen leichten Bootes aus Segeltuch und Rohr
beschäftigt waren, das sie für Landungen in seichtem Wasser mit an Bord nehmen
wollten, verlängerte sich die unmittelbare Tätigkeit seiner Hände an den
Segeln, am Steuer, seine Blicke, die die Wellen kommen sahen, die Geräusche,
das Schlagen der Wellen in innere Bilder, als wäre alles ein einziges Kraftfeld,
erlösbar im Bewußtsein zum Wort.
Er steht breitbeinig da am Mast, in einer Hand das Schreibgerät, und sieht
dies Kommen und Gehen der Wellen, Bewußtsein, denkt er, ist genau so oder wie
verglühende Kohle, "fading
coal", unser Leben verglüht, kommt mit den Augen-Blicken, vergeht
wasserfarbenhell. Dichtung ist Geist im Entstehungszustand, das sich selbst
enthüllende Bild. Und er hält sich am Mast fest, um nicht zu kippen, oder an
den Wanten, ein Bild, das sich so herausbildet, wie sein Bewußtsein, verknüpft
den Zustand, der zerfällt, und hält so ein Ich aufrecht, instabil, sieh, die
Welle am Boot, wie sie klingt, und die Luft singt äolisch am Segel. Die Klänge,
die silberklar und scharf das Ohr durchdringen und dann in der Seele leben, so
wie der Sterne klare Strahlen brechen durch die krystallne Winterluft und
schauen dann auf sich selber in des Meeres Spiegel. Oh, "Ariel",
Boot, als wärst du mein Ich, schirmst mich ab vom Meer, daß ich nicht ertrinke.
Vehikel des Ich das BOOT, bringt auch das Gedicht in Bewegung, wohin? Einmal
dachte er, es genüge, zu schreiben, es schirmt ab, um nicht vom umfassenden
Geist überwältigt zu werden; im Schiffbruch und Untergang gehts darin auf,
erlöst von jeder Tyrannei der Phänomene.
Es war sein letzter Sommer, Juni 1822. Er
hatte vor kurzem seinen "Entfesselten Prometheus" beendet und
veröffentlicht. Freiheit war für ihn Revolution UND Metaphysik. Er hatte Byron,
der aus Griechenland, wo er am Freiheitskampf teilgenommen hatte, zurückgekehrt
war, in Ravenna besucht. Nahm Anteil an der italienischen Befreiungsbewegung
der Carbonari, haßte das reaktionäre Europa Metternichs. Schrieb seit Byrons
Rückkehr an einem revolutionären Stück "Hellas", ein britischer
Hölderlin. Byron war ebenfalls nach Pisa übersiedelt, wo sie gemeinsam eine
freiheitliche literarische Gesellschaft
gründen wollten, die einwirken sollte auf die Reform. "The Liberal"
sollte die Zeitschrift heißen, geleitet von ihrem Freund, dem Verleger Leigh
Hunts.
"Mitte
Juni setzte die Hitze ein", schrieb Mary Shelley in ihrem Tagebuch,
"die Tage wurden übermäßig heiß. Zur Mittagszeit jedoch kühlte die
Seebrise die Luft, und übermäßige Hitze versetzte Shelley immer in gehobene
Stimmung. Der Hitze war eine lange Trockenheit vorausgegangen, in den Kirchen
wurde um Regen gebetet, und in jeder
Stadt fanden Bittprozessionen mit Reliquien statt. Zu dieser Zeit bekamen wir
Briefe, die uns die Ankunft Leigh Hunts in Genua anzeigten. Shelley konnte es
kaum erwarten ihn zu treffen. Ich war durch ernstes Kranksein an mein Zimmer
gefesselt und konnte mich nicht bewegen. Es wurde beschlosen, daß Shelley und
Williams mit dem Boot nach Livorno fahren sollten."
1. Juli 1822, gegen Mittag ein günstiger Wind; Landwind über seidenblau
hüpfenden Miniaturwellen. Die Küste entlang von San Terenzo zur Punta Bianca,
Magra. Williams an der Pinne, Shelley
auf dem Vorschiff am Mast, schrieb am "Triumph of live". Rauschen am
Bug: Williams hat recht, dachte Shelley, die Welle bewegt sich nicht vorwärts,
nur eine Energie geht weiter durchs Wasser. Die Welle ist ihr Vor-Schein. Als wäre unser Auge daran gefesselt wie
Prometheus an den Stein.
Nach
einer Stunde nordöstlich die
Marmorbrüche von Carrara, auf grünen Hängen schneeweiße Wunden an
Backbord. Der Körper eine Last. Jetzt die Berge wie Feenblicke, weißgraue
Wolken. Fast wehmütig, Shelley, als wäre er ein anderer gewesen, als er sie
besungen hatte, lachend sein feines Gesicht, sie nannten ihn "Ariel":
"Poesie weckt und weitet den Geist selbst, indem sie ihn zum Gefäß Tausender
nicht gekannter Gedankenverbindungen macht. Die Poesie hebt den Schleier von
der verborgenen Schönheit der Welt und läßt vertraute Gegenstände so
erscheinen, als ob sie fremd wären; und die in ihr elysisches Licht gekleideten
Verkörperungen stehen im Geist jener, die sie erkennend geschaut haben, hinfort
als Denksteine jenes edlen und erhabenen Wesens, das sich über alle Gedanken
und Handlungen ausbreitet, mit denen zusammen es existiert. Das große Geheimnis
der Moral ist die Liebe oder ein Heraustreten aus unserer eignen Natur und ein
Einswerden unseres Ich mit dem Schönen in fremden Gedanken, Handlungen oder
Menschen. Um in hohem Maß gut zu sein, muß ein Mensch tief und reich empfinden;
die Leiden und Freuden seiner Gattung müssen zu seinen eignen werden. Das große
Instrument des sittlich Guten ist die Imagination; und die Poesie dient der
Wirkung, indem sie auf die Ursache einwirkt ..." Fast mußte er lachen, als
wache er aus einem Traum auf ... Keine Harmonie, kein Schwingen ist auf die
Dauer möglich, diabellein, der Teufel schlägt alles in Fetzen, nein, nur wie
jetzt kurze "moments of delight" sind uns vergönnt, wie jetzt das
Zischen, das Rauschen, der Klang am Boot, diese Musik. Ja. Wer sie übersetzen
könnte ins Bild: Wind, Wasser, die Farben, das Blau jetzt, dies Weiß, das
Singen in der Takelage, ARIEL, Sinnbilder für das unbenennbare Grenzenlose, das
berührt! In seiner "Defence of poetry" hatte er es geschrieben.
"Aber diese ungeheure Menge von Leid? ... Die Hülle der Geistesflamme
zerfällt zu Asche, sobald man sie anblickt."
Was
war geschehen? Warum konnte der dreißigjährige Shelley nicht mehr naiv an sein
Dichten glauben? War es der Mißerfolg seines "Prometheus"? Der Tod
seines Kindes? Oder: Als wäre sie nun zu nah, Harriet, der Selbstmord Harriets, seiner ersten Frau.
Oder: daß die Gerichte ihm seine Kinder abgesprochen hatten? Rache der Lords?
Das Blutbad von Manchester, ließ ihn nicht mehr los, Kavallerie hatte mit
blankem Säbel blindwütig auf Frauen und Kinder eingehauen. In die Schreie
hinein ... Kleine Köpfe platzten. "Prometheus unbound"? Haha
"Mondboot"? Reise, die die feste Welt und Gewesenes auflöst? Nein,
Dichtung ist keine Rettung mehr!
Sie
liefen gegen halb acht in Livorno ein, legten im Hafen an. In der Nähe der
"Bolivar", Byrons Boot, begrüßten sie Hunt und seine Frau.
Sonnenuntergang; wegen Pestgefahr Verbot
des Landgangs, sie liehen sich Kissen und schliefen an Bord. Schiffslaternen
leuchteten zu fahlem Mondlicht. Schwüle Nacht.
Möwengekreisch wie von Raubvögeln.
Shelleys strahlende Laune; erst kürzlich hatte er zu Mary gesagt, das
einzige, woran er noch glaube, sei das sichere Eintreten eines Unglücks, und
das, wenn er sich besonders fröhlich fühle.
Vorgefühle, Zeit ist gegenwärtig,
nicht trennbar, das Kommende schon anwesend, wer sich hineingestimmt hat, lebt
mitten im Sog; Öffnung wie bei ihm, einer "Sensitive Plant"; aber die
Schönheit dieser Gegend war unirdisch in ihrem Übermaß, löste Schuldgefühle
aus.
Williams
blieb in Livorno, man veranstaltete zum Spaß eine Regatta, während Shelley mit
den Hunts nach Pisa fuhr, sie in Byrons Palast einquartierte. Mit Byron, dem
Dandy und Snob, stritt Shelley heftig wegen der Zeitschrift, der Anpasser und
Angsthase Byron befürchtete mit dieser "Carbonari"- Publikation in
England sein Gesicht zu verlieren, Ruhm
und Reichtum aufs Spiel setzend. Die Tage waren nicht günstig, alle
nervös, Hunts Frau krank.
In
einem Brief schrieb Shelley von Pisa aus an Mary, er könne sich nicht
freimachen, Williams käme allein mit dem Boot nach Lerici zurück. Doch am 7.
Juli machte er sich dann frei. Wo saß er, in der Villa? Im Palazzo Lanfranchi?
Oder ging er, wie er schrieb, zum Camposanto am Dom, sah die Sarkophage,
etruskische und römische an, und vor allem jene Urne, die der griechischen seines
toten Freundes Keats ähnelte. Pan war da zu sehn, der lüsterne Erdgott der Mittagsstunde,
wenn alles sirrte und flimmerte, heiße Luft, wie eine Grenze des Lichts, das
sich in Wohlgefallen aufzulösen schien ... Einsame Gedanken, die sich dem
Begriff entziehn, Grenzen des Himmels, nackt bleibt dabei und öde das Hirn.
Hier war das Meer Eins mit der Urne, die Form, Firmament, das sich in den
Wellen spiegelt, dies ist das Element, das er mag, das dazwischenliegt. Er, ein
unbekanntes Wesen, das hier erkennbar wird in der langsamsten Zeit, zögert dort
am Dom in der Mittagsglut, daß es fast stehenbleibt.
Von
hier schrieb er an Mary einen Brief, den er aber nie abgeschickt hat; denn er schrieb ihn an
niemanden; und er wußte schon, daß noch nichts ist, bevor wir es nicht
schreibend wirklich gesehen haben, denn Vorgänge werden erst zur Geschichte und
erkennbar im sekundären Akt der Wahrnehmung. Und die Augenblicke lassen sich in
den Ablauf der Gedanken nicht einbringen, entweder du lebst oder du schreibst.
Eines aber, so sagte er oft, ist möglich: das Boot, als wäre es das Gefäß der
individuellen Gedanken, in der Steuermannskunst aber bist du eins mit den
Elementen, See und Wind, die Bewegung des Steuers steht im Zusammenhang mit den
elementaren Bewegungen des Gefühls. Es sei die alte Steuermannskunst, von der
schon Platon gesprochen hatte, höchste Form der Selbstbewegung. (Ich sehe einen
Wagen gleich dem Boot / Das sichelschmal des Mondes Vater trägt.) Waren sie
deshalb erst nachmittags aus Livorno abgesegelt, um nachts anzukommen. Die
Pausen sind dann äolisch gefüllt mit Zwischentönen. Und so war es auch am 8.
Juli: Berge und Wälder waren am Ufer zu sehen, durch jenen luftigen Schleier
erschienen sie wie im Spiegel eines Zauberers. Wolken sind seine Räder, blau und
golden, wie jene, die die Geister des Gewitters auf des erleuchteten Meeres
Fläche türmten: Such as the genii of the thunderstorm, schrieb er: Wenn Sonne
in sie fährt; sie rollen und bewegen sich, als wäre ein Wind in ihnen; darin
sitzt ein geflügeltes Kind, das Antlitz wie die Weiße allerhellsten Schnees,
die Federn wie sonnige Frost-Kristalle. Es ist wie das Unbetretene, die
Reinheit, die sonst nur besudelt wird, herabgezogen in den Dreck von dem Mob
und den Reichen. Im Gewitter aber geschieht die Transformation, der Grund wird
erkennbar. Der Vorschein wird durchstoßen, und durch den Körper fließen
Licht und Musik - wie durch leeren Raum:
Zehntausend Kreise wie Atome ineinander in sich selbst verschlungen, Sphäre in
Sphäre; jeden ZWISCHENRAUM bevölkern unvorstellbare Gestalten, durchsichtig füreinander,
wie sie Geister in dunklen Tiefen träumen; und sie wirbeln auf tausend
unsichtbaren Achsen kreisend in tausenderlei Bewegung durcheinander; mit Gewalt
mörderischer Schnelligkeit gemessen, langsam kraftvoll, drehn sie sich
entzündend mit vielfach gemischten Tönen, wilde Musik und verständliche Worte
... im Innern der Kreise ist einer, der
sprüht, der spricht im Traum des rasenden innern Lichts von einer fernen Liebe,
die erscheint, wenn alles, was nur Vorschein war, uns täuscht, gelöscht ist und
verschwunden im Weiß der Schnelligkeit, du absinkst erst im Hirn bewußtlos,
dann im Schlaf der Erde eine Lücke findest, um hinüber zu der Wirklichkeit des
Potentiellen zu kommen, in einen Raum, wo du das bist, was kurz im Blitzen
deines Gedankens glückt als "fading coal"; der Körper aber trennt, grenzt nie an die Berührung
der Imagination. Man spürt sie in dem weißen Kind des Sturmes, der Bogen seiner
Bahn ist die Stirn, dort blitzen blaue Feuer, die den Abgrund füllen. Und dann
der Gott, der rief: Seid nicht! Und sie so nicht mehr waren, wie meine Worte.
Shelley
kam aber in düsterer Stimmung zurück nach Livorno. Er behob noch einen
Leinenbeutel voller toskanischer Kronenstücke bei seiner Bank. Es war der 8. Juli 1822. Ein Uhr Mittag. Trelawny wollte ihm mit der
"Bolivar", Shelleys Boot begleiten, doch er hatte keine
Auslaufgenehmigung, die Hafenwache enterte das Schiff, drohte mit Quarantäne.
Die "Don Juan" fuhr allein. Es gab wenig Wind. Der Käptn beobachtete
durch sein Fernglas, wie das Boot am Horizont verschwand; besorgt beobachtete
er mit seinem Maat den aufkommenden Südwest, die schwarzen Striche am Himmel,
aus denen Wolkenklumpen heraushingen. Drückende Schwüle, kein Hauch, und feiner
Nebel wie Rauch über dem Wasser. Immer mehr heftige Böen.
Eine
schwarze kleine Wolke war in Richtung West-Südwest aufgetaucht, kam schnell
näher, mit zwanzig Knoten Wind, und das Boot krängte stark, Schreiben war
unmöglich im heftigen Wellengang, ein irreales unheimliches Licht lag wie eine
düstere Haube über der Landschaft, nur der Altissimo, Michelangelos Berg, war,
wie meist bei Sturm, in ein helles Licht getaucht, und wie herausgehoben; in
der Ferne Wetterleuchten und um sie das Wasser
flaschengrün; der Wind unregelmäßig,
kam mehr und mehr in Böen aus West, sogar aus
Nordwest, dann aber sehr steif aus Südwest. Williams hatte längst das
Großsegel gerefft, die kleine Fock gesetzt, das Steuer aber war schwer zu
halten, dauernd mußte er den Kurs ändern, um den unbeständigen Wind in den
Segeln zu halten ...
Nur
noch die Toten als Zeuge, es kann sein,
so war er, Shelley, mitten in den Elementen, hätte er vor Entzücken schreien
mögen; und schrie, Shelley, in den ich mich hineindenke, er, der meine Vorstellung
besetzt, und sehe ins Meer, das ich hier beschreibe, auf dem Boot, das jagt
vielleicht schon mit 7 Knoten über die
Gischt ... Wir Lebenden, vertreten die Toten, sie haben in unserer Phantasie
eine Stimme ...
Halb
sieben brach das Gewitter los, es herrschte fast völlige Dunkelheit. Das Meer
wie Blei. Und keine Poesie, sondern alles zu wirklich. Das Boot, weit draußen,
segelte mit den langen gleichmäßigen Seen um die Wette; feierlich donnernde
Brecher kamen von achtern auf, holten
sie leewärts ein, Gischt kochte in
Schanzkleidhöhe wild auf, zog brüllend und brausend weiter. Schwindel
und Angst, wenn du in die See siehst, wenn der Klüverbaum in den überstürzenden
Schaum eintaucht, dann in einer gläsernen Höhlung weiter, das Boot im tiefen
Tal zwischen zwei Wellenbergen, nach
vorn und achtern die Sicht versperrt.
Nach fünf Stunden Kampf war es finster.
Der Kurs nicht mehr zu halten,
die Sinne aufgeregt und müde im Gebrüll dieser schwarzweißen Welt. Wir wissen
es, die "Don Juan" kenterte nicht; jener Augenblick, den nur die
Toten wissen, blieb für sie stehn, und als wäre eingelöst, was bisher nur
Dichtung war, mit dem Tode bezahlt, doch war: im Getöse die Stille ... In
Schaum und Gischt die Blasen, wenn sie platzten waren Geister drin. Nun
Schlucken wie im Ersticken. Die
Zwischenräume bevölkert. Mit seltsamen Gestalten, wie sie die Geister
träumen in der Nacht der unerleuchteten, entsteigen sie in ihrer Transparenz
... selbstzerstörend, in Geschwindigkeiten, in der sich die Welt selbst
verzehrt ... Im Wirbel dieses Sphärenknäuels ist alles in blaue Nebel aufgelöst
- so dünn. Und leicht wie Licht und Luft ...
Gestalten wunderbar, die in das Grau nun der Vernichtung gehüllt sind.
Drei Tage später wurden in Viareggio ein Stakkahn, ein Wasserfaß und
etliche Flaschen an den Strand gespült. Erst zwei Wochen später zwei Leichen,
die eine in Viareggio, die Hände, das Gesicht und andere ungeschützte Teile des
Körpers ohne Fleisch, von Fischen angefressen. Eine hochgewachsene, schmächtige
Gestalt trug in der Jackentasche einen Band Aischylos, in der andern Gedichte
von Keats, beide Bücher über den Rücken aufgeschlagen, als wäre der Band hastig
weggesteckt, der Mann beim Lesen ertappt worden. Von der dritten Leiche, dem
Schiffsjungen, fand man drei Wochen später nur noch das Skelett. Alle wurden
sofort am Strand begraben, in die Grube gegen Infektionen Ätzkalk geworfen.
Dawkin, Gesandter in Florenz, verständigte Trelawny: wegen Infektionsgefahr
und Quarantäne mußten die Körper eingeäschert werden; eine Korporalschaft
Soldaten, Schmiedezangen mit langen Hebelgriffen, Kneif- und Beißzangen,
Stangen mit eisernen Haken und Dornen, um die Berührung zu vermeiden, an der
Grube, bezeichnet mit vier weißen Stäben, unweit der ins Meer hinausführenden
Grenze zwischen der Republik Lucca und
dem Großfürstentum Toskana. Zahlreiche Zuschauer, unter ihnen prächtig
gekleidete Damen. Draußen die Inseln: Capraia, Gorgona; klares Wetter. Sand. Leere, damals badete hier niemand. Sie
wollten alle das Loch sehn. Hatte er seine Uhr in der Tasche? Stehngeblieben,
wer zog sie noch auf, ins Loch sehn, das Auge im Sand vergraben. Byron und Hunt
waren dabei. Der Apennin, davor Wachtürme, zinnengeschmückt. Byron in Schaftstiefeln, den Zylinder in der
Hand, weiß flatterte sein Schal im Wind, unbeschriebener Hauch. Da, ein hohler
Laut, Eisen stieß auf Etwas, der Bogen des Stirnbeins getroffen, bald nackt der
Körper ans Licht gezerrt, noch einmal wirklich, nicht? Unheimlich die dunkle
Indigofärbung, halb verwest. Byron wollte den Schädel als Trinkgefäß. Er bekam
ihn nicht. Hell das Feuer, die letzten Funken, Wein auf den Toten, Öl, Salz war
genug in ihm, ein Knistern, und Hitze, so öffnete sich der Leib, und bloß
lag ein Herz. Das getroffene Stirnbein
fiel ab, der Hinterkopf auf dem rotglühenden
Rost, eine Schale, darin kochte das Hirn, warf Blasen. Asche dann. Nichts, nur
Knochenreste, die Kinnlade, als hielte sie ein Satz. Byron ertrug es nicht
mehr, warf die Kleider ab, schwamm hinaus zur "Bolivar", die ankerte
vor diesem Ufer. Er sah nicht, was Trelawny staunend sah, das erhaltene Herz in
der Weißglut; es hatte sich beim Ertrinken mit Blut gefüllt, brannte nun an der
Luft nicht. Trelawny verbrannte sich die Finger, als er es mit bloßen Händen
aus der Asche nehmen wollte.
Ich bin das Kind von Wasser und Wind
Ziehtochter von Himmel und Licht.
...
mich wandelnd sterbe ich nicht.
Shelleys
Boot wurde in nur 10 Faden Tiefe gefunden, gehoben, beauftragt waren zwei
Kapitäne zweier Feluken, mit Ankern und Tauen wurde es gehoben, das gesamte
Zubehör noch unversehrt, und daraus wäre zu schließen, daß es nicht gekentert,
sondern durch schwere See vollgeschlagen war. Zwei Koffer mit Geld, mit
Kleidern, Shelleys Koffer mit Büchern und Kleidern, der Rumpf aber voll mit
blauem Ton des Grundes, sie fischten daraus das Fernrohr, Bücher, einen Korb
Wein, der aber war verdorben, der Korken halb aus der Flsche gedrückt durch den
Druck des kalten Meereswasser, so berichtet der Kapitän Dan Roberts aus Pisa.
Die Masten kurz über dem Deck abgebrochen, der Bugsprit knapp am Bug, der
Schandeckel war eingedrückt, und bei näherer Untersuchung ließ sich erkennen:
Auf der Steuerbordseite war ein Großteil des Spantenwerks zerbrochen, anzunehmen
ist, daß das Schiff während des Unwetters von einer Feluke in den Grund gebohrt
worden war!
Viel
Papier wurde vom Grund gehoben, Shelleys zwei Notizbücher, darin seine Schrift
wie verlassen, nun ziemlich allein, die Gedichte. Williams Tagebuch bis zum 4.
Juli 1822 ... und nie mehr weiter. Die gedruckten Bücher zusammengeklebt,
unlesbar wie Geheimnisse, die Seiten nicht mehr voneinander zu trennen, wer
schneidet diese Rückseite des Schweigens denn auf, so verschlossen vom glitschigen
Schlick, Roberts hat es ohne Erfolg versucht, die Seiten, bis in die Zeilen
hinein zu waschen.
Und L. wollte mein Gedicht zu Shelleys
Untergang wiederlesen:
SHELLEYS SINKENDES
Segelboot auf dem Weg nach Livorno;
das englische Fernweh jedoch dazu:
weit
bis in die Kolonien,
kam hier schöner zu Wort (und das Meer
war rein)
als der Dichter
ersoff in allzuviel
Ewigkeit
(das waren noch Zeiten!)
(„Was ist die Lust der Welt?
Blitz, der die Nacht erhellt,
Zuckt und zerfällt.“
„What is this world´s delight?
Lightning that mocks the night,
Brief even as
bright.“)
Nicht nur das Gras
auch
die Gründe dieser Strandgut Landschaft
und
dahinter
du,
müssen auseinander geschrieben werden
von Herztautologen
mit allen Differenzen.
Vorläufig (das Warten auf Revolution
hat sich längst
überholt
in der Endgültigkeit eines
überholten
Zustandes)
mach eine Querflöte aus meinem rechten
Ellenbogen
(und die Finger der Faust spar dir
auf: denn -
das
neue Paradigma ist alt und noch immer
unsichtbar.)
Versuche durch Reisen Abstand zu
gewinnen -
Arrangements der Reisebüros?
Nur
noch Flug
über uns hinweg per TAROM, LUFTHANSA
ALITALIA
- Vaterländer mit Hochgefühlen
und
Schwindel der Entfernungsmesser?
Ich habe zurückgefragt. Der Rest ist
Ironie.
Am Strand gab´s noch einen
der
warf die Angst
bei tuckerndem Motor ins Wasser - und
auch mein Auge und Ohr standen beim
Schlag
ins Wasser ihm bei;
ich aber schwor mir, so zu leben, wie
ich schreibend
Sein kann, mich dagegen zu wehren:
„Aber in den Zeiträumen zwischen den
Inspirationen ... wird der Dichter zu einem Menschen und ist der plötzlichen
Rückflut der Einflüsse preisgegeben, unter denen andere immer leben“ (Shelley,
Verteidigung der Poesie): preisgegeben also - dem Downerprogramm.
Kurz danach
nämlich sind wir inaktiv
wieder
allein,
die Sekunden vergehen wie Lichtblitze
rasend schnell auch in den schmalen
Fensterschlitzen
eines angeblich schützenden alten
Hauses, -
der Kirche
SANTA FELICITÀ
So versuche ich
hier
vermessen
zu
sein - Geschichten
einzurollen,
sonst dauert es zu lang -
Millionen
Jahre
und
ab jetzt ohne Liebe: immer länger!
Und ich, fragte L. Zurück.
Denk an Korsika, denk an unser
Cucuruzzu, die heisse Steinzeit:
Die etruskische Küste
Die etruskische Küste hinab bis
Populonia. Hier sah ich die ersten
Münzen der Gegend im Golf von Baratti in der etruskischen Nekropole: Drachmen.
Und im Bergnest Populonia das Museum mit dem Tränenkrüglein und dem phallischen
Grabstein, das Ei dazu der Frau: Tod und Leben. Und der Totenkopf eines
Zwölfjährigen. Langher. Langher? Beim Herabsteigen in den Golf, Rundblick bis
nach Elba: da sehe ich Kinder, die mit Wildschweinen spielen! Und dann die Abfahrt.
Das Reale ist hart/ fordernd, das
Schiff unter dir, jede Sekunde Zeiteneinheit spürbar der Mühe, über deinen Kopf
hinweg; das Meer schäumt, dazu etwas Fades, Langeweile, Enge des Körpers, den du gegen die Elemente
verteidigst. Die Gedanken wie festgebunden an Ankerketten, Tauwerk und manchmal
ans Ruder. Hart war die Arbeit früher.
Es bleibt das Meer. Die starke Welle der Zukunft. Die kreist/ stark ist
die See in uns. Und grausam. Der Geruch von Teer. Das Schlagen des Falls/
verdeutlicht die Sekunde der Angst. Keine Zeit bleibt zum Atemholen.
Golf von Baratti. Etruskisch
Hinter dem Vorgebirge
Baratti/ der Golf
der Etrusker
wo die Eisenzeit/
unsere begann.
Für sie war das Leben nicht hell
und eine dunkle Hur
Blut dort am Grund
mächtig im Körper
eingesperrt
bis der Puls platzt
die Ader das Herz.
Den Nekropolen ein Haus
unter dem Boden
der die Jenseitigen
mit Wurzeln
ernährt
die Sphärenleiber
wie Gummi
und Geist
Da wohnt man fein
und geht auch nicht
unter
Der Genius: Penis und Kopf
rot die Farbe die
unbeschwert
blitzt/ und schöpft
und geht
aufs Ganze/ ein
Lachen
Hochzeiten Essen vor allem
ganz fröhlich sein/
da der Tod
auch den Tod
überwindet.
Befreit der Funke
wenn die Schalen
fallen
in Eisenwaffen
Dolchen Speeren
in heiligen Bäumen
am Grunde des Wassers
wer ein Auge hat
erkennt ihn schon gut
Da sitzen sie und beten
etruskisch liber linteus
SEHEN wie Apulu der
Inspirierte
jenseits der Linie
des Himmels
vor Rot ist -
Zehn Grad von unendlich
Wandlung und
Himmelsrichtung
die disciplina
etrusca
heilige Fläche
zum Lesen der
Schriften des Himmels
geeignet
Alles Leben ein Zeichen
der Stunde die
einfällt
und uns kreuzt
mitten im Wirbel
Spirale der Zwei
am Grunde der
Welten
Bilder/ Funktionen
Des Kosmos Mathematik
ist acht mal acht
wie beim
Königsspiel Schach
64 Felder des
Schicksals
bewegt ist dein
Leben/ darauf
Orakel will sehen
Apulu/ Uni und Tin
In jeder Sekunde
die Kreuzung/ der
Blitz
anwesend in dir ist
das Umfeld
ein Götterkollegium
du mitten drin
im Urknall der Welt.
ELBA
Rio Marina
Aethalia. Die tausend Feuer
Unter den
Eisenbergen von Elba
Rio Marina abwesend
über der See
So sammle ich mich
ein: rechts der Kompaß
vor mir/ im Westen
aber der Stundturm
wie ein Schiff/ es
schneidet mit dem Bug
in Richtung 12 Uhr/
auf mich zu
den Himmel durch
Capo d´Enfola. Marciana
Marina.
Bisher war viel Geduld an kleinen
Dingen, am Detail, an der Nuance da gewesen, und ich wußte, daß auch meine meerige
Sonne, dieses Glitzern des Sonnennetzes
im Wasser unerträglich ist, wenn es nicht durch die tiefe Spur eines Satzes
gezogen wird; jetzt hat diese Unerträglichkeit so zugenommen, hat aber auch das
Schreiben erreicht; die Droge scheint wie verbraucht. So bin ich mehr und mehr
dem, was ohne Worte vor mir liegt, mich anfällt, ausgeliefert, und sogar der
Tod verbindet sich manchmal damit, erscheint nur mineralisch und ohne jeden
Sinn, nur brutal. Wie ich das auch bei Montaigne gespürt habe; doch sein
heroisches Aufbäumen in natürlicher Gleichgültigkeit faszinierte mich.
Un ich musste mir ein Beispiel an
seiner Tapferkeit nehmen.
Gestern
in Portoferraio und auch sonst im Streß des Bootes und des unmittelbaren
Bewußtseins mit den Leuten und auch mit L. ist das Licht winzig, das mein Leben
ausmacht und beleuhtet, eine Art Funzel der Alltagsverrichtung, und dann, wie
gestern Abend solche tiefsinnigen Gedanken, als ich zu L. über die Leute, die
an Hafen vorbeigingen, sagte: Sieh, lauter Skelette gehen da. Und sie: Aber sie
haben noch Sex, Liebesfähigkeit und einige Jahre Leben...
Ich
müßte mir sagen, daß es doch eine Verpflichtung gibt, jene Mutlosigkeit, die
mich lähmt, zu überwinden, und das ist ja dieses Buch, das auch eine
Verpflichtung gegenüber jenen Lesern ist, die dabei die gleichen Glücksgefühle
empfinden, wie ich sie früher noch empfunden habe; und vielleicht hatte ich in
jenem Abgrund am meisten Fortschritte gemacht, der als Vorbereitung für einen
neuen Zustand nötig wäre, um jenes täglich sich Einrichten in einem sogenannten
"Leben" unmöglich macht.
Doch gab es hier nicht auch noch
anderes?
MARCIANA
Der nach innen genommene Blick
führt ins
Futur, weg aus dem, was eben vergeht:
Damals wars Napoleon hier in Madonna del Monte, hier
bei Marciana, mit
der schönen Gräfin Maria Walewska:
Jetzt, hörst du die Sommerzikaden: da
Schein und nie
anders war als
Jetzt im veränderten Blickwinkel,
Wir, unsere Erde am 20. August 1814. Oh, schnell
vergeht alles, und
der Korse winkt mir jetzt unsichtbar
an einer Stein
Eiche finster zu: ein
Gescheiterter, der sich auf die Erde beschränken wollte: zu
bescheiden in
seiner Wut, Flüsse von Blut, die wir
immer noch
auszubaden haben:
Was falsch gedacht ist, Macht
in alle Länder
getragen: Wahnsinn Revolution,
sich hier in diesem
Augenblick,
Als wär es
wahr: schön einzurichten:
die Zukunft machbar
schon
nach einem dummen
Bild.
Portoazzuro
Aber wir saßen an diesem Tag in winzigen
plätschernden Wellen, es schien in ihrer Sanftheit so, als wollten sie
aufhören. Vor dem Sturm ist es meist ungeheuer sanft das Wasser, kleine
Seespinnen rennen dann über die glatte Fläche. Netz. Denk du an ... Arachne vielleicht. Über uns ein altes
Gefängnis. - Ich las in einer
gescheiten Untersuchung über den Tod, fand mich in der Beschreibung dieses
Kreisens an den Rändern des Bewußtseins, das bald explodieren muß, wieder.
Liebe und Tod und die Revolte
durchbrechen ein aufgezwungenes künstliches Ich, machen sprachlos. Widerstand
gegen die Vatersprache, die abendländische. Und die Muttersprache der Gefühle,
des Alltags? Und ihr mit offnen Sinnen wahrnehmbares Geheimnis? Dafür sind
nicht einmal unsere Sprache, unsere Sinnkonstruktionen geeignet.Oder doch? Am
Abend schrieb ich es so auf, und fand so meine Ruhe:
PORTO AZZURO
Die Hölle des Vergessens:
ein
schöner Strand am Mittelmeer, Hotel
mit
Bougainvillea und Oleander,
unter
hohen Palmen ein fühllos Gestrandeter
erinnert
sich plötzlich, daß es eine Sibylle war,
die
ihre Orakel auf Palmblätter schrieb. Darauf war
zu
lesen:
„Nur
hier auf der Zeile kommt deine Palme zu sich
und
es lebt ihre Zukunft wirklich
mit
den Engeln auf.“
Die
Engel sind abgeflogen,
doch hält sie der Gedanke hier -
schreibt
sie ins Blatt, das ungelesen weiß
vergeht:
„Hüte dein Buch, es behütet dich.“
Was war das nur für ein Effekt? War es
eine Flucht? Meine Reiselust, ja, Reisewut nahm nicht ab. In diesem Sommer
waren wir ja noch in Sardinien gewesen, und dann in Korsika. Ich genoß, je
weiter ich vom Zuhause war, die Landschaft, die Menschen, L. und mich selbst
mit einer gesteigerten Intensität, die nur das Bewußtsein des Abschieds geben
kann. Und alles schien ich manchmal wie zum erstenmal als Kind aufzunehmen, mit
den alten Kinderfragen, die nie gelöst, immer nur übergangen und vergessen
werden, zu stellen:. Wasser, was ist Wasser? das Meer rauscht, was rauscht? Wir
sind von unheimlichen Dingen, die wir nicht sehen können, umgeben. Schon Newton
hatte in seiner "Optik" von zwei Arten von Licht gesprochen,
überlegte ich: vom "phänomenalen Licht" und vom "potentiellen
Licht" des Numen in uns, das unser Bewußtsein trägt. Die Schwerkraft aller
Dinge in unserem Herzen, und die Photonen sind die "Hände", die jedes
Ding sichtbar formen? Der Geist hat Lichtsubstanz. Urlicht? In der Sixtina
macht erst das Altarlicht die Gestalten an der Decke sichtbar.
Ich saß am morgenkühlen Strand, die Sonne
war noch nicht aufgegangen, der Himmel erhellte sich allmählich. "Ich mag
diese krude Frühe, Jungfrau des Tages", hatte ich zu L. beim Frühstück im
Cockpit gesagt, die hatte im Halbschlaf gebrummelt, als ich versuchte, lautlos
die Kabine zu verlassen. "Ich", ha.
"Ich“ seh die gewesene Höhle von gestern, die Höhle draußen, die
Höhle unser Ort der noch Ungeborenen, die Höhle in der Stirnbahn, die alte
Höhle Platons; jeder Tag ein Abenteuer, doch ich kann von meinem Körper am Tag
nie weggehen, meine Vorstellung ist die des Körpers, mein Körper geht vor mir
her wie eine Laterne, der Kopf oben, daß ich nicht falle, darf ich diesen Turm
nicht denken, der von der Erde entfernt ist, seit ich dies weiß, blende ich
euch alle. Gibst den Geist nicht auf beim Ablegen deines Körpers, der bleibt
nur mehr und mehr liegen mit dem Älterwerden... Grenzlinie zum kommenden
Zustand, weiß und rauschend. Sag nicht Seele, sag Äon: es löst sich etwas vom
Körper, das innere Leben verselbständigt sich im Alter, die Wahrnehmungen werden
schwächer, man lebt drinnen, und langsam verschwindet die Außenwelt. Dabei
strahlt alles durch in alle Zeiten und ist transparent, jene, die sie die Toten
nennen, leben doch immer und gleichzeitig mit den Lebenden, mit uns, und wir
freilich auch schon mit ihnen. Du weißt, ich habe mehrere Schiffbrüche erlebt.
Und die Ahnung von jener Welt ist da, wenn wir in Gefahr und dem Tode nahe
sind, dann sind alle Zeiten zugleich da. Du versinkst, du ertrinkst, gehst
wirklich auf Grund, und bist froh, ja, glücklich."
Viele Kollegen, Autoren haben daran
geglaubt, nicht zuletzt Shelley, sagte ich zu L. Und gab ihr zu lesen, was ich
geschrieben hatte, es betraf sie ja auch.
Ein Seltsames Erlebnis bei Parma
Alles
hatte bei einer Mattioli-Ausstellung auf dem schönen Landgut
Magnani-Rocco bei Parma begonnen, es ist das Landgut einer Stftung des
bekannten italienischen Musikers und Kunstsammlers; auch er nun schon seit zehn
Jahren tot. Ich der Erzähler habe gemeinsam mit dem Maler Mattioli, Magnani war
ebenfalls musizierend dabei, von hier aus alles beobachten können; Mattioli
wäre sehr gerne bei seiner Vernisage mit dabei gewesen, und wir haben es ihm
auch ermöglich, freilich unsichtbar für die Besucher, in den Ausstellungsräumen
des Landgutes als stiller Beobachter und nun fremder Gast anwesend zu
sein; und ich
versuche mich nun, geschätzter Leser, Ihnen verständlich zu machen. Michael
Templin, ein Freund der Familie, der ebenfalls jene Ausstellung am 23. Januar
besucht hat, steht nun seit einiger
Zeit, ohne dass er weiß, mit uns in Verbindung:
24. Januar 1997. Von Anfang an ist das Ende
gegeben, das ist klar, das ist klar, und ich muß das jetzt aufschreiben: mich
hatte diese Ausstellung sehr beeindruckt, und ich habe es auch L. erzählt, L.,
das ist meine Frau. Als wir nach Hause fuhren, auf der Cisa-Autobahn, da hab
ich ihr diese unglaubliche Geschichte erzählt, L. hatte in Magniani-Rocci nur
wenig davon mitbekommen, weil sie an
diesen Sachen nicht besonders interssiert ist:
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr es dagegen mich erregt
hat, es war der einzige Lichtblick, der einzige an diesem Samstag, denn sonst
kamen mir diese Ausstellungräume, die geschönten Leute in ihren
Sonntagskleidern, die Männer alle mit ihren ewigen Krawatten, und so,
schrecklich hohl und leer vor, und kein Funke sprang von den Mattioli-Bildern
über, keiner. Sonst war ich richtig geprickt
und angemacht gewesen, jaja, von
Mattiolis Bíldern, hatte gerne darüber
auch geschrieben, immer wieder, diese Reduktion der Welt auf Null mit farbigen
Anwesenheiten an allen möglichen Grenzen; und ich hatte plötzlich Angst,
ausgebrannt zu sein, und dachte an meinen alten Freund Cioran in Paris und an
diese Schrecklichkeit des Alterns, dass er jetzt gar nicht mehr spricht, sich
nur durch Gesten und Gebärden mitteilen kann, falls der Stupor es zuläßt, und dass er jetzt sein
Lebensprogramm der "prunkvollen Verwüstung" erfüllt hatte, so dass
jetzt der ausgebrannte Geist nun in seiner eigenen Nichtigkeit dahintrocknet;
fast schlau hat der Verstummte dazu als letztes nun ein Jugendwerk
"Gedankendämmerung" in Deutschland erscheinen lassen, das er in
seiner Muttersprache noch 1940 in unserer gemeinsamen Heimat veröffentlich hat;
damals war ich genau sechs Jahre alt gewesen. Gewesen? Nun gut, lasse aber mein
Erinnerungen jetzt nicht durchbrechen. Ich sprach mit Michum, unserem
Analytiker, der aus Florenz auch zu seinem Lieblingsmaler und Freund gekommen war,, doch der über meine
Befürchtungen, doch der winkte nur mit einem gequälten Lächeln ab und
sagte, die Räume hier seien auch für ihn
furchtbar leer; der Maler fehlt mir sehr, sagte er, es ist hier alles wie tot.
Der alte Maler war nämlich im Juli vergangenen
Jahres gestorben, und Michum, der auch noch eine krebskranke Freundin
mitgebracht hatte, die nur noch einige Wochen zu leben hatte, war sehr traurig,
sein Blick abwesend; wir irrten also zwischen Mattiolis Bildern umher, viele
alte Bekannte darunter, und landeten schließlich in einem Vorraum, wo Mattioli
wirklich da zu sein schien, was noch unerträglicher war, kaum auszuhalten: dies
Viedeoaufnahmen in seinem Atelier, die Stimme, das Gesicht, alles fern, flach
und leblos. Nur Anna, die Enkelin, und die Tochter Marcella, die plötzlich
eintraten und uns stürmisch begrüßten, hier also, das war mir jetzt klar, hier also war das Zentrum der Ausstellung,
der Bilder, als wäre er genau an dieser besonderen und ausgezeichneten Stelle
im Raum anwesend. Und von hier aus sah man auch das erste Bild der Ausstellung,
vielleicht das tiefsinnigste Bild, das er je gemalt hatte, und das von hier aus
auch die erste Ausstellung ohne ihn, zu beherrschen schien: sein Kopf, ein
Selbstporträt, trat aus einem schwarzen Hintergrund hervor, und er hielt die
kleine Enkelin, damals noch ein Kind, eng umschlungn, als klammere er sich an
diese kleine weiße Gestalt. Im Katalog war dazu auch ein Gedicht von mir abgedruckt,
das geht so:
Auf einem Blick
Jenseits der Tür,
davor
das Kreuz, das nach
dem Tode
steht. Im Rahmen
stehst du schon
der Tür/ aus
ewiger Nacht
mit einem Fuß
Das Enkel
Kind, das dich
umarmt
in Weiß steht
noch im Licht und
hält dich hier.
Nun gut. Anna zeigte mir auch das zweite
Gedicht, ein Gedicht auf eines seiner wunderbaren Kruzifixe geschrieben, das im
Kloster von San Miniato in Florenz aufbewahrt
wird. Und dann sagte sie: ich bin ein
Stück von ihm, ich kann ohne ihn nicht leben. Und weißt du, was mir gestern
Abend passiert ist, du glaubst es nicht, ich bin auch jetzt noch erschrocken;
er hat sich gemeldet, er ist da, ich spüre ihn auch, und meine Mutter, auch
meine Cousine Luci haben von ihm in dieser Nacht geträumt, und er hat ihnen
gesagt, dass die Ausstellung gut und er einverstanden sei, und dass er auch
nach Magnani-Rocco komme, hier also dabei sein wird. Geh, sagte Hanna, die mit
zugehört hatte, das ist doch verständlich, ihr hab andauernd an ihn gedacht und
natürlich auch an die Ausstellung. Nein, nein, sagte Anna, nein, wißt er, dass
er beiden dasselbe gesagt hat, Luci und auch meiner Mutter: infine ho una casa!
Endlich habe ich ein Haus. Michum stand auch dabei, und wagte nicht zu lachen
Was aber mir passiert ist, du glaubst es nicht, sagte Anna: ich hab immer noch
Angst, im Traum ist er ja fast jede Nacht da und zeigt mir dann die seltsamsten
Landschaften, führt mich herum in einer ganz anderen Welt, die ich gar nicht
verstehe, und er versucht es mir auch nicht zu erklären, wie er auch seine
Bilder nie erklärt hat, das war eben so und nicht anders, auch wenn man es
nicht begreifen konnte, man ahnte es, man fühlte es man war eben mittendrin -
immer mit ihm, und wenn er dabei war, verstand ich es auch; doch gestern Abend,
ja, da war ich sehr erschrocken, jaja, auch wenn ihr es nicht glaubt, ich hörte
meinen Lieblings-Mahler, die Fünfte, und ausgerechnet bei Maler also, es war
schon der zweite Satz, eine gute CD-Aufnahme, da hörte die Musik ganz plötzlich
auf, ich dachte zuerst an Stromausfall, doch die Lampe brannte ja, und in diese
Pause hinein konnte ich ganz deutlich
seine Stimme hören: Sono
arrivato! Sono arrivato! Zweimal also
Sono arrivato! Ich lief vor Schrecken hinaus. Und als ich
mich wieder erklaubt und die Angst
überwunden hatte, wieder ins Zimmer kam, da lief weiter die Fünfte, so als wäre
überhaupt nichts geschehen, und alles so wie bisher und gewohnt. Doch glaubt
mir, das Zimmer hatte sich verändert. Und ich dachte auch das Bild, dieses
Motiv, wo er mich in den Armen hält, war verändert, das Licht war anders, und
auch ich weiß nicht was ... Aber es ist
ja nicht so, dass er nicht auch ein anders mal da gewesen wäre, doch im Traum ist das ja ganz normal, nur hier so, in der
Wirklichkeit? Da passte er gar nicht hierher, da war er eben ein Schrecken,
obwohl es gar nicht so sein dürfte. In den Träumen kommt er, setzt sich an mein
Bett, und nimmt mich an der Hand, dann fliegen wir fort. Und er zeigt mit diese
Landschaften, auch Leute zeigt er mir, mt denen er nun zusammen sei, seine
"Freunde". Und jetzt bin ich ja zu Hause, sagt er. Und es ist wie
früher beim Malen, nur braucht man kein Malgerät, sagte er, man denkt es nur,
stellt es sich vor und schon ist die Landschaft wirklich da, fabelhaft sei das,
wie schön, und gemeinsam stellen sie nun diese Landschaften her, in denen sie
leben, auch die Häuser , in denen sie wohnen. Und einmal zeigte er mir ein
"Objekt", es schien zuerst aus Papier zu sein, doch wars dann doch
ein ganz anderer, mir unbekannter Stoff, und in dieses Ding, das ganz
merkwürdig gefaltet war, aussah wie ein Rettungsring, und mein Großvater, der
hat ja immer so eine Schwäche für Geometrie und Topologie gehabt, wie er es
nannte, wir haben ja beim Abbi auch sowas lernen müssen, und er sagte, dies sei so etwas wie
ein Hypertoroid, und es enthalte die drei normalen und zusätzlich die drei
zeitlichen Dimensionen. Sei aber selbst zeitunabhängig, und es war ganz merkwürdig
da drin, und da konnte man malen und
zeichnen, aber nur in Gedanken, und war sofort weit weg, vor und zurück, bis
weit in die Zukunft hinein. Und er sagte, daher sei es ja auch so schwierig, sich gegenseitig zu besuchen, weil so unterschiedliche Welten etwa unseren Biorythmus stören
könnten beim Eintauchen in zukünftige Zeit, und es käme alles durcheinander.
Nach dem Aufwachen war es mir ganz unheimlich, weil alles so wirklich gewesen
war, echt! Und ich hörte immer noch seine liebe Stimme und fing auch an zu
weinen, schluchzte in mein Kissen, das dann ganz nass geweint war.
Anna sagte, sie habe schon viele
Traumtagebücher geschrieben seit dem Tode ihres Großvaters, und das wichtigste,
was er ihr erzählt habe, sei ewas ganz Verrücktes, nämlich dass alles zu
gleicher Zeit geschehe
Wie das, fragte ich.
Nun, es gebe überhaupt eine ganze Reihe von
Leben, in denen wir mit dabei sind, jetzt, in diesem Augenblick, du und ich
auch. Viele andere Leben in ganz anderen Gegenden, als wir sie uns vorstellen
können.
Ja, sagte ich, da fällt mir ein schönes
Gedicht von Friedrich Hölderlin dazu ein: Es ist unmöglich, und mein innerstes/
Leben empört sich, wenn ich/ denken will, als verloren wir uns./ Ich würde
Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in allen Formen/ mich kleiden, in
alle Sprachen des /Lebens, um dir einmal wiederzubegegnen./ Aber ich denke, was
sich/ gleich ist, findet sich bald.
Sehr schön und richtig, ja, genau so ist
es, rief Anna.
Unser kleiner Kreis hatte die Ausstellung
und die vielen Leute völlig vergessen, die sich vor den Bildern drängten,.
Und ich lachte, und sagte, zu Hause als
Kind, da habe mein Bruder immer wieder rausbekommen wollen, wie man sein eigener Großvater wird;
und wir hatten ihn als kleinen dicken Witzbold immer ausgelacht.
Und es ist gar nichts zu lachen dabei.
Ja, wenn die Leute sagen, in einem
anderen Leben könnte ein Paar die Mutter-Tochter- Rolle spielen, in einem
anderen aber die von Vater und Sohn, oder dass ich hier die Tochter meiner
Mutter sei, ein andermal aber ihr Vater sein könnte, ist das gar nicht
nacheinander, sondern überhaupt gleichzeitig, und wir könnten das keinesfalls
verstehen, einigermaßen mit übereinanderlaufenden Filmen könne man das vergleichen, wobei mal
der eine, dann der andere Filmstreifen bewußt werde, wir aber die übrigen
immer wieder vergessen, ja, vergessen müßten, um leben zu können. Und überhaupt
sei ja die Leinwand jener Ort (gar
toplogisch zu nennen!), wo etwas erscheine und dann wieder spurlos verschwinde,
wie in Gespenster- und Gruselfilmen
sei das, diese Erscheinungen seien da, redeten uns an, wir
aber säßen ein wenig dumm auf unseren
schwarzen Sesseln, flögen, an unsere Augen gefesselt, über sie hinweg, so als
wären sie gar nichts, und dann aber flögen auch sie selbst, diese Gespenster,
kaum zu glauben, und doch sähen wirs ja wirklich und deutlich! Und nur weil
das, was man im Film nicht sehe, über die Zeit hinwegspringe, naja, könne so
etwas überhaupt sein. Aber das Zeitspringen
das, was in Wirklichkeit geschehe! Und dann bückten wir uns, sozusagen
symbolisch, um nicht davon getroffen zu werden, Huuh, das wäre grauslig,
entsetzt aufgerissene Augen, und werden dann doch berührt! Aber genau so
sei das ja in Wirklichkeit, was wir
vergessen müßten, jeden Augenblick seien wir unser eigenes Gespenst. Sie dort
aber, wo sie jetzt sind, sie hätten nun eine Art Brille, so dass sie dies Filme
alle gleichzeitig sehen könnten. Vor- und rückwärtslaufend. Egal, das könnten
sie. Oder auch ein Film, der sich aus dem andern entwickelt und
so. Und dieses Auftauchen und plötzliche Verschwinden bei uns von solchen Dingen sei völlig normal,
und immer geh doch alles mit rechten
Dingen zu, nur seien wir zu blöd, es zu begreifen, sagte er auf seine
grantelige Art, die ich so lieb habe: weil doch diese Dinge, auch er etwa,
falls er bei uns auftauchen wolle, was er nicht tue, um niemanden zu
erschrecken, sei doch nur deshalb möglich, weil er in einem Zeitbereich lebe, in dem unsere Vergangenheit nur Teil
des großen, uns entzogenen, dimensionalen Zeit-`Raumes` sei. Oder so ähnlich,
so genau kann ich das nicht mehr auseinanderhalten! Jedenfalls gebe es keinen
Tod. Aber eines erinnere ich noch, das war ein anderes Mal, als er sagte, das
könne man bei Ufo-Landungen auch bemerken,
die bei uns blöderweise immer noch
geleugnet werden, da blieben an solch einem Ort Reste der Spuren künftiger oder
vergangener Zeit, die etwa den Gang von quarzgesteuerten Uhren beeinflussen,
Boden und Vegetationsveränderungen hinterlassen, diese Zeichen in Kornfeldern
etwa. Und wir selbst projizierten Filme,
und alles was geschehe, sei ein Netzwerk
von solchen Bewusstseinsfilmen. Und es gehe eigentlich nicht immer so weiter,
denn es sei alles schon unendlich weit gegangen, eine große Verknüpfung, in dem
die einzelnen Lichtpunkte andauern an anderen Orten aufleuchten, und so der
Anschein von Weitergehen entstehe.
Na siehst du, und mußt nicht traurig sein,
sagte L. ein wenig spöttisch, wenn auch nachdenklich geworden, was du alles so
einem Großvater zu verdanken hast. Meiner hat mir nur Geld hinterlassen. Dazu
hat dir deiner noch ein ganzes Museum
von Bildern geschenkt, das sehr viel mit jenen Filmen zu tun haben, von denen
du erzählt hast.
Wir verließen schon am späten Nachmittag Magnani-Rocca, blieben
nicht bis zum kalten Büffet. Ich war von
den Träumen Annas so beeindruckt, dass ich auf der Heimfahrt von nichts anderem
sprach. Wir fuhren von Traversetolo in
Richtung Apennin, man sah die schneebedeckten
Berge der Emilia, und ich sagte zu L., wir sehen uns ja nun hier im
Auto, und zugleich sehen wir dort auf
die Schneeberge, mit den Gedanken sind wir jedoch immer noch in
Magnani-Rocca bei Annas
Gruselgeschichten, wenn das, so oberflächlich gesehen, nicht auch drei-vier
"Filme" sind. Ich muß die ganze Zeit daran denken, dass ich meinen
Roman nicht mehr einfach so lassen kann, wie er bisher war, ich brauche einen
neuen Anfang. Nämlich diesen. Und ich brauche solch ein wirkliches Netzwerk , wie es Anna geschildert hat. Aber
weißt du, ich freue mich jetzt sehr, auch wenn ich gestresst bin, weil da von den Bildern Mattiolis
diesmal zum erstenmal kein Funke zu mir übergesprngen ist, und ich mach mir Sorgen, dass ich alt werde.
die Wahrnehmungen abbnehmen
Nein, nein,
protestierte L., ich glaub das nicht, du bist eben in deiner
Phantasie sehr mit deinem Roman
beschäftigt.
Ja, L., ich freue mich in Tat, dass ich
jetzt meinen Roman so mit dir erleben darf, und
weiß jetzt auch, warum ich solches Glück empfinden kann, wenn ich meine
Collagen im Roman zusammenbringe, weil ich dann jenem Netzwerk nahe komme. Eine Art Engelarbeit: Je mehr
Einzelszenen oder auch Fragmente sich gegenseitig anziehen, dichter werden,
ein annäherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser
intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden "Sinnarbeit", die sich eben einem
Unerreichbaren, einem verborgenen Ganzen annähert. Personen und Ereignisse
ziehen sich auch so an, keiner weiß warum, der innere Sinn aber, der ist nur
fühlbar; nie erklärbar, du wunderst dich ja auch, wenn das Telefon läutet, du hast eben an Pia gedacht, und sie
ist am Apparat;. und eigentlich müsste ich meine Personen, da sie ja zum Teil
in der "Zukunft" leben, oder solche, wie mein Doppelgänger Nicco, in
der Vergangenheit, aber auch jene, die "dort" sind, wie Mattioli,
gleichzeitig hier jetzt "mitfühen", in mehreren Spalten, dass sie sich aber dann
ihre Bewusstseinsströme verschränken, überschneiden: sie selbst dann plötzlich
hier auftauchen wie Geister. Und ich oder du bei ihnen auch als Phantom
erscheinen. Was allerdings gefährlich sein soll, Verstörungen hinterlässt.
Weißt du, was mich ein wenig stutzig macht?
Du sagst, es vergehe eigentlich keine Zeit, es geschehe alles gleichzeitig.
Dabei sehe ich doch, wie mein Vater altert, sich verändert,.. Und wir, du hast
doch vorhin dein Lamento angestimmt! Das
Gesicht ist auch im Spiegel zu sehen.
Es gibt wirklich nur diesen Augenblick.
Sonst nichts. Das heißt, auch er ist schon vergangen. Und das Gedächtnis, die
Fakten selbst sind vergangen. Und auch
dein Körper ist nicht der, den es vor einem halben Jahr gegeben hat. Es sind ganz neue Zellen, die ihn möglich
machen. Das Erscheinungsbild aber ist
da, nach einem bestimmten Wissen, das zu deinem Bild gehört, und dieses dann
herstellt. In diesem Wissen ist nicht nur das, was gewesen ist, sondern auch
das, was sein wird, gespeichert.
Das ist so schwierig, kaum zu verstehen,
sagte L..
Aber
nur, weil wir so eng denken, nur faktisch, also in einer Illusion gefangen
sind. Denn eigentlich ist jene andere Möglichkeit viel plausibler
undunserer Reife näher, sagte ich. Ist
nicht auch die Zukunft andauernd da. Denk nur, du fährst doch jetzt genau
diesem Gedanken nach: ich will jetzt nach Hause kommen. Alles andere ist dieser
Zukunft untergeordnet, die doch herbeiführst, verwirklichen.
Aber
ich kann nicht umhin, diese Gedanken auch konkret, im neuen Zeitbewusstsein
weiter verfolgen:
Die besten Köpfe im Westen, wie
Foucault oder Derrida, George Steiner, Paul Virilio oder am genausten
vielleicht Jürgen Habermas in seiner schon 1984 erschienenen Untersuchung
"Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen
Energien", haben auf das Scheitern der Moderne und ihres
Fortschrittsgedankens seit 1789 hingewiesen; und diese Skepsis gab es schon in
der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno. Was neu
ist und bei Althusser bis in den Wahnsinn hinein durchlebt wird, spricht auch
Habermas aus, dass nämlich "die Erschöpfung utopischer Energien nicht nur
eine der vorübergehenden kulturpessimistischen Stimmungslagen anzeigt, sondern
tiefer greift. Sie könnte eine Veränderung des modernen Zeitbewusstseins
überhaupt anzeigen." Dass sich nämlich die "Struktur des Zeitgeistes
und der Aggregatzustand der Politik" radikal verändern, dass wie vor 200
Jahren "die Paradieseshoffnungen mit der Verzeitlichung der Utopien ins
Diesseits eingewandert sind," so würden heute "die utopischen
Erwartungen ihren säkularen Charakter verlieren" und möglicherweise wieder
transzendenten, grenzüberschreitenden Charakter annehmen, wie Habermas
vermutet, um diese These dann sogleich zurückzunehmen, als habe er
Selbstverrat geübt. (In: Die Moderne ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1992).
Dass wir aber an einer Zeitgrenze angekommen sind, wie es auch bei Steiner oder
Virilio anklingt, und wie es vor allem die moderne Quantenphysik und ihre
längst im Hintergrund der Geschichte wirkende immaterielle Licht-Realität
anzeigt, lässt sich nicht mehr leugnen, dass allerdings alte Theorie,
Alltagsdenken und Politik hinterherhinken, ist auch offensichtlich. Das Unsichtbare
nämlich ist heute mehr denn je die Hirnsyntax der Geschichte. Nicht nur die
Tatsache der Vernichtung ist da, sondern damit verbunden ein radikaler Bruch
mit der Körperwelt. (Doch auch ihr Aufstand, Aufstand der Enge in den Ethnien
und alten Machtkonstellationen). Wenn nicht alles täuscht, steht seit einiger
Zeit schon ein Paradigmenwechsel an. Unser Weltentwurf scheint an eine Grenze
gekommen zu sein, wo es auf gewohnte begriffliche oder anschauliche und
sinnliche Weise nicht mehr weiter geht. "Die Wissenschaft führt an eine
Schwelle von Erfahrung, die sich der Meditation, aber nicht der Reflexion
erschließt", heißt es bei Carl Friedrich von Weizsäcker, "dies ist
vernünftig. Das begriffliche Denken kann einsehen, dass es den Grund seiner
Möglichkeit nicht begrifflich bezeichnen kann." (Im Garten des Menschlichen,
1977, S.166). Wenn hier also die Grenze unseres Weltentwurfs ist, wie soll es
dann weiter gehen? Auf die gleiche Weise, wie Quantentheorie, Elementarteilchenphysik
und Relativitätstheorie das vorherige, das newtonsche Weltbild, damit das
Kausalitätsgesetz, die bisherige Vorstellung von Raum und Zeit in Frage
gestellt haben, müssten nun heute geltende "Naturkonstanten", die
wichtigsten sind die "Lichtgeschwindigkeit" und die Heisenbergsche
"Unschärferelation", die die Möglichkeit des Forschers einschränken,
überschritten werden. Dieses wäre - auch nach Ansicht der Experten der Ansatz
für den nächsten Weltentwurf: "Die Verbote der Überlichtgeschwindigkeit
und der überreinen Fälle (Heisenbergs Formeln) fordern aber... den Forscher
geradezu auf, nach den verbotenen Vorgängen zu suchen". (K. Popper, Logik
der Forschung,1971, S. 197.) Tatsächlich ist schon jetzt der Wissenschaftsentwurf
bei der Überlichtgeschwindigkeit angekommen, denn die Überschreitung der
Lichtgeschwindigkeit ist in dem uns bekannten Bereich der Welt nur mentalen
Prozessen möglich. Und diese Prozesse sind es heute, die mit einer durchschlagenden
Evidenz Geschichte machen: Denken wird objektiv, lernt sich als mathematische
Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden,
wird praktisch und beherrscht im Gerät die Natur und die Gesellschaft. Die
Tatsache, dass es gelingt, durch mathematische Strukturen so weit
vorzudringen, z.B. "Materie" als "integrale Differentialrechnung
in einem vierdimensionalen Raum" zu fassen (nach Planck), in geistige
Prozesse aufzulösen, zeigt deutlich, dass der Mensch und sein Wissen in eine
andere, als in die Körperwelt gehö
Dann die Spirale der Reife in der
Menschheitsentwicklung, aber auch beim Einzelnen, wenn er alt genug wird! Eine
Art geistige Ontogeneze, die ein Spätwerk immer krön, und das späte Tagebuch
oder die späte Tagebuchzusammensetzung früherer Tagebucher erst in der
Wiederkehr zum Werk macht: und ich denke ans ontogenetische Grundgesetz:
Keine Ewige Wiederkehr des Gleichen
also? Unvereinbar mit dem Übermenschen? Denn die Wiederkehr ist nichts als eine
Spirale des Sichsteigerns in Reife, wie bei Hegel, das Reicherwerden mit dem Erinnern,
das Nietzsche etwa ablegen will Ein andauerndes AUFHEBEN und Wandeln. Über den
Tod hinaus. Triumph also: „Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen Liebe:
denn sie gehen hinüber… Denn ich liebe dich, oh, Ewigkeit.“ Na also. So spricht
ein Kranker, Gescheiterter, am Leben, an sich, an den Frauen Gescheiterter?
Aber gegen das begriffliche Denken, das er verhöhnt und „das Leben“ setzt, den Antrieb, wie er in einem Brief an Lou schrieb „Geist? „Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntnis! Ich schätze nichts als Antrieb… Ich bin –„ ( Etwa 1882, 81 hatte er den Zarathustra begonnen).
Eben, die Entelechie, der Daimon! (Vgl . meinen Aufsatz für Anima!) Das Apriorische eben auch. Der KERN.
Am besten In „Jenseits von Gut und Böse“. Gegen das Begriffliche. Wie es Weizsäcker formuliert. Nämlich Wissen als nur „Stufen des Scheinbaren, auf diesem Grund des Falschen eigentlich erhebt sich Wissen und Wissenschaft, anstatt auf dem des Nichtwissens. Das ist genial. Und kommt zu Heisenberg und Weizsäcker.
Aber gegen das begriffliche Denken, das er verhöhnt und „das Leben“ setzt, den Antrieb, wie er in einem Brief an Lou schrieb „Geist? „Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntnis! Ich schätze nichts als Antrieb… Ich bin –„ ( Etwa 1882, 81 hatte er den Zarathustra begonnen).
Eben, die Entelechie, der Daimon! (Vgl . meinen Aufsatz für Anima!) Das Apriorische eben auch. Der KERN.
Am besten In „Jenseits von Gut und Böse“. Gegen das Begriffliche. Wie es Weizsäcker formuliert. Nämlich Wissen als nur „Stufen des Scheinbaren, auf diesem Grund des Falschen eigentlich erhebt sich Wissen und Wissenschaft, anstatt auf dem des Nichtwissens. Das ist genial. Und kommt zu Heisenberg und Weizsäcker.
KORSIKA
Cucuruzzu
an der westlichen Steilküste
So war es auch in
Cucuruzzu, der Steinzeitsiedlung, gewesen; das Erlebnis nahm mich ganz ein, als
wäre es ein Traum: schon auf dem Weg nach Cucuruzzu... Sinn fällt aus, ich
vergesse, wo ich jetzt bin, alles ist zufällig, wenn wir uns selbst vergessen,
denn wir sind das Tor zu ihnen. Wer? Wer verhilft uns dazu, die unsterbliche
Geliebte in uns, um uns, Maria, Laura, Beatrice... zu entdecken? Das Leben eine
große Vorläufigkeit - wir, die Ungeborenen, und die Toten träumen uns?
Wie war das gestern gewesen, ich war mit L.
in Richtung Aleria gefahren, kurz vor dem Städtchen kam uns ein weißer Peugeot
in rasendem Tempo entgegen und schnitt eine Kurve; der wäre mit uns fast
zusammengestoßen. Und noch zweimal schnitt mir der gleiche Wagen später die
Kurve, einmal bei Bonifacio und dann an der steilen Westküste, wo die engen
Kurven über der Steilküste sehr gefährlich sind, zu eng für zwei Autos.
Jedesmal machte der schwarzbärtige Mann am Steuer die gleiche drohende
Handbewegung, und die drei Frauen auf dem Rücksitz sahen böse durch das
Heckfenster, so dass ich unwillkürlich schneller fuhr, und bei der nächsten,
noch engeren Kurve, wäre ich fast mit einem anderen weißen Auto
zusammengestoßen... Beim viertenmal fuhr der Peugeot aus einem Feldweg
ungeniert auf die Landstraße, die nach Cucuruzzu, einer vorgeschichtlichen Burg
mit Menhiren, führte, so dass ich ihn fast am Kotflügel gestreift hätte. Zufall,
ja, nichts als Zufall. Was ist Zufall? Es gibt vielleicht Gegenden, wo es
leichter fällt, etwas von all den Zeichen zu bemerken, die sonst spurlos an den
meisten Leuten vorbeigehen, als sei ihre Seele eins mit der Illusion der
Zeiger; hier in Cucuruzzu passierte andauernd Geheimnisvolles, weil wir uns
Zeit genommen, der Zeit die Zeit genommen hatten, und so einiges sehen
konnten: Ob diese Touristen hier im steinzeitlichen Kastell nicht auch
erschrecken, wenn sie neben dem uralten moosbewachsenen Weg zur Burg der
Steinzeitmenschen plötzlich ein Gesicht im Stein erscheinen sehen, es liegt da
am Boden, sieht herüber, ein Gesicht mit tiefliegenden Augenhöhlen, einer gebogenen,
sehr langen Nase, einem ekelhaften Mund mit dünnem Bart, ein Mund , der viel zu
hoch liegt. Auffällig - die riesenhaften Ohren. Einfach so ein Gesicht aus
Landschaft, Gras, Bäumen und Lichtflecken; erschreckend vor allem die
Ähnlichkeit mit dem Mann im weißen Peugeot. War dieses nun eine Projektion,
eine Art erregte Rückkopplung der Phantasie, Suggestion? Ein
Rückkopplungsprozeß der dimensionalen Wahrscheinlichkeiten, der sich dann
aufschaukeln könnte, wäre er nur einmal unter günstigen Bedingungen in Gang
gesetzt worden, wie hier ja auch; äußerst schwierig ist aber der Start bei
Vernünftlern, die nichts zulassen, und auch nichts sehen wollen, weil die
unüberwindliche Barrieren zu überwinden haben, und weil uns hier in unserer
Selbstbetrachtung alles, was um uns ist, realer erscheint, als alles andere und
uns Fremde, natürlich auch sie, die Toten, da wir uns in unserem
Bewußtsein selbst reflektieren, während Bewußtsein aus jenem anderen Land, aus
dem bekanntlich niemand wieder-kehrt, nur sehr vorübergehend als Spiegelung in
unserem eigenen Bewußtsein erscheint, wenn überhaupt und recht selten. Doch
darf nicht vergessen werden, dass sie, wie sie es selbst sagen,
aus uns und von uns geformt werden, und auch für bestimmte Verbindungen, die so
erscheinen, als wären sie Gespräche mit Toten, nur scheinbar einen von
uns unabhängigen Charakter annehmen. Nichts, nichts läßt sich sagen...
Doch schon die normale Außenwelt war
phantastisch: Es war heiß, die Luft flimmerte, die südliche Sonne brannte auf
Schädel und Felsen; der Schatten unter den alten Ölbäumen war angenehm wie ein
Zuhause, ein Ausruhen nachmittags um drei hinter geschlossenen Läden der
Stadtwohnung. Doch jetzt standen wir unter der senkrechten Mittagssonne. Eine
unsichtbare Stimme flüsterte; stechender Schmerz an den Schläfen. Vor dem
Tod siehst du, wie in einem Film, Szenen aus deinem Leben vorbeiziehen. Wer
war das gewesen? Der Alte? Ich fröstelte. Hatte ich vielleicht wieder Fieber?
Auf den Steinblöcken und der Umfassungsmauer saßen überall kleine Jungen,
jauchzten und sangen ganz unmotiviert fröhlich einzeln und im Chor. Ein kleiner
Hund lief in der Gegend herum, winselte und jaulte erbärmlich. L. küßte mich, was
selten geschieht, gab mir in der Höhle, in einem Kult- oder Grabraum, an
dessen Eingang gespenstische Figuren mit Totengesichtern zu sehen waren, ein
Raum, in den wir uns vor der Außenwelt und ihrer Hitze retten wollten,
plötzlich einen ihrer heftigen und verzweifelten Küsse, so, als wäre es der
letzte - und dann nie mehr wieder! Ich war überrascht, denn das tat sie sonst nie.
Vom Eingang her sahen ein Alter mit einer Art Baskenmütze und schwarzen Augen,
und gleich über ihm ein anderer Steinkopf, militärisch mit bärbeißigem
Gesichtszug und weißem Nietzschebart, Schweinsohren und Schweinsäuglein
schweigend zu. Ohne sich zu wundern, eher in totalem Einverständnis mit jener
aufbäumenden Ruhe der Verzweiflung, die im Augenblick des Kusses alles in sich
hatte, als würde genau jetzt ein neues Leben entfacht werden, das den Tod
überlistete (oder von neuem auf die Welt brachte?). Irgendwoher flüsterte
wieder jene Stimme des Alten, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte.
Ich starrte in den Raum hinein, sah aber nichts, das blendende Mittagslicht
hatte mich fast blind gemacht. Starrte da hinein, als wollte ich die Stimme sehen!
Es war so, dass diese Stimme tatsächlich einem fremden Gedanken angehörte, der
aber deutlicher in mir mitschwang und so zu einem eigenen Gedanken wurde. Ich
kehrte mich wie unter einem inneren Zwang um, L. sah mein blasses Gesicht, sie
hatte wohl hier meine Krankheit fast vergessen, und fing, wie jedesmal, wenn es
mir schlecht ging, an zu weinen. (Erst
ein Jahr war seit meiner Krebsoperation vergangen!) Strich mir zärtlich übers
Gesicht und über das Haar. Doch der, den sie erreichen wollte, war weit weg,
weil er so ganz in der Nähe aufging. Es war eine Pinie neben dem Eingang, von
der Wellen auszugehen schienen. Ich riß eine einzelne Nadel ab, als könnte ich
das Geheimnis der Dinge auf mich nehmen, ganz weggehen, ohne mich zu entfernen,
ohne mich von der Stelle zu rühren, und fühlte mich sehr, sehr weit entfernt,
jener dort hatte die Piniennadel an die Nase gehalten, dieser krudgrüne harzige
Geruch kroch in ihn, eine Spaltung zwischen mir und ihm entstand, und es schien
mir dann plötzlich, als habe der Geruch eine Stimme, die Stimme der Piniennadel,
wie im Märchen, als erzähle die Natur mir, nicht ihm ein Märchen, geschah etwas
mit der Nadel, sie begann sich mit dem Licht zu vermischen, vibrierte langsam
auf Grün, und löste sich in flackernde grüne, dann immer blendendere
Lichtwellen in meiner Hand auf ... es war wie ein Wunder, die Lichtwellen
bewegten sich ungeheuer schnell, und ineinandergeschobene Spiralen waren innen
in der Nadel zu sehen, ihr wohlvertrauter Geruch flackerte plötzlich stark, die
Luft selbst fing zu glühen an, und das so entstandene innere Feuer in den
Dingen breitete sich immer weiter aus und erfaßte den ganzen Pinienbaum, der
wie ein Feuerrad vor mir, dem in zwei Personen Gespaltenen stand, Feueradern, Feuerarme die Äste ...
sekundenlang durchfuhr ihn, nicht mich, ein lähmender Schrecken - war sein
Gehirn in Unordnung geraten? Denn die ganze Umgebung verwandelte sich
gleichfalls in ein Meer aus lebendigem, aber unwirklich fernem Licht, ja, es
war fern, blendete, und war doch wie nicht da. Ähnliches, nur viel schwächer,
hatte ich bei meinem ersten LSD-Rausch erfahren, das Moos wurde
grün-durchsichtig, der Pinienbaum strahlte innen ebenfalls ganz hell; doch
plötzlich wurden auch meine Hände blendend durchsichtig wie ein
Strahlenkörper... Das ist der Tod, dachte ich, blieb aber ganz ruhig, kein
Schrecken mehr, alles schien so wunderbar und schön ... wir waren mit der
Landschaft jetzt eins, und völlig gesichtslos, die Hände, die Beine, auch Rut
neben uns, gehörte unterschiedslos zu diesem blendenden Lichtmeer,
Schattenkonturen waren noch auszumachen wie auf dem Negativ eines Films oder in
einem Röntgenbild."
Da erinnerte er sich, dass auch die drei
Frauen im Peugeot wie gesichtslos gewesen waren.
Korsika. Die Bucht von St. Florent
Hier in der Bucht / nahe am Landesteg –
hier hatte schon
Nelson geankert –
heller Morgen
blitzendes Feuer/ Atome der Sonne
an der Steilwand
von Capraia gestern versteinte Gespenster
Gesichter, meines
und das meines Vaters
Köpfe/
Stein-Kultur/ Hirne winden/ Spiralen bis hinab zur Naht
die reißt: sieh,
hier wollte ich kurz sein und nun wars doch
ein ganzes Leben
als fremdes
Gespenst!
Jetzt Eukalyptus am
Ufer/ und hier kalt die Schwärze des Wassers
am Ufer aber
greifen die Hände sind Blumen rot und weiß
wie die Schechinah
der Oleander ins Auge getönt.
Alles scheint nun
ein Topos/ Bücher greifen in mich ein
wie Zahnräder
und Technik dichte exakte Gegenwart
VHF bringt
lebensnotwendige Wetternachrichten
unendlich soll es
strömen durch mein Hirn/
der Golf aber ist
eine Sackgasse/
stehend sumpfig das
Ende.
In die Steine
hinein will ich hoffen
daß mich die Atome
noch mögen
und das Licht/
kreisend in meinen Neuronen
einsam ist jeder der nach Osten sieht.
Sonst aber bin ich
im Paradies
zart gezeichnet die
korsischen Berge aus Dunst
weiß die Kontur/
und darunter Masten
kleine schwankende
Finger die sich selbst
den Himmel
anzeigen/ gestohlene Lust/ Zikaden
und Krähen zum
Plätschern des Golfes
Sonnenglut blinkt/
und der Stift
schreibt ab/ was
ich zu sehen meine/
mich.
Dort die Musik der
Landschaft
endlich höre ich
sie mit den Wolken
noch zwei Schiffe
vor mir vom Mistral
in Streifen
geschnitten über dem rötlichen Berg
in mir aber anstatt
der Musik eine Null
die an mich grenzt /
nur manchmal Erschrecken
daß ich noch da bin
Liebe auf Reisen
Strassburg.
Mont S. Odile
Und
dann fuhrst du los in Richtung „Überraschung“. Gings jetzt schon los mit der
topographischen Verwirrung und Verirrung… ich glaub nicht, du musstest ja nur
Richtung Strassburg fahren,, über die Grenze, über die Rheinbrücke… ach, ja,
ohne jede Kontrolle… ich hielt deine rechte Hand in meiner, den kleinen warmen
Vogel, du mit der linken das Steuer, meine rechte streichelte dein Gesicht,
auch die Linke deinen Nacken, deine Haare, deine dann freie Hand auf meinem
Schenkel; und manchmal schien es mir, als hättest du gern auch den Delphin
begrüsst, dachtest wohl, es sei zu früh;
ich wusste ja auch nicht, wie weit dein „Keuschheitsgelübbe“ ging, hatte
mir vorgenommen, nie den ersten Schritt zu tun, nie zu irritieren, zu warten,
was geschehen würde, alles sollte so sein WIE ES IST, wie es sich aus unserem Zusammensein ERGAB. Ergeben, oh,
NEIN. Ich weiss nicht mehr, was wir redeten. Dein feines Gesicht glühte; meines
auch. „Oh, ich bin so glücklich, oh, ich bin so glücklich, dass du hier bist,
dass es dich gibt“, sagtest du mehrfach. Und nein, nicht viel reden wolltest
du; ich versuchte zu erzählen, von Schloss Horneck, meinen Werk-Archivsorgen,
dem Leseabend, auch von deinem Freund Pierre, dem Doktoranden. Es interessierte
dich nicht, du hörtest kaum zu, warst nach innen dir und mir zugewandt, unserer
so stark spürbaren Präsenz; ich fühlte, wie deine Aura in meine tauchte, sie
vergrösserte, stärkte, wie sie sich vermischten. „Ich möchte nichts, nur diesen
Zustand, dieses Glücklichsein geniessen, dass du DA bist. Wirklich da bist; oh
ich fühl dich so!“ Nur nah, nur das Jetzt, nichts anderes sollte sein. Und du
strichst mir über das Haar, das Gesicht,
die Augen „Oh, deine Augen, ich hab hineingesehen, die meerigen gesprenkelten
Augen…“ Und plötzlich sagtest du so Unerwartetes, dass ich noch mehr Fuss
fassen konnte im Augenblick mit dir, das alles wegwischte, was mich bisher so
unsicher gemacht hatte: „Du hast ein so schönes Gesicht, ich möchte immer nur
in dein Gesicht sehn… Und du hast gute Falten, so gute Falten, Lebenszeichen
sind das.“
Und
nachdem du mir gestanden, dass du die Sonnenblume heute gestohlen hattest,
nachdem du auf die Rheinauen zeigtest, als wir über die lange Rheinbrücke
fuhren: „Sieh, da laufe ich jeden Tag, jogge ich jeden Tag, du weißt“ „Ja, ich
weiss, immer kurz vor der Dunkelheit!“ „Ja“. Da sagtest wieder so Unerwartetes,
fingst an über mich zu sprechen…
Und
wir waren schon in der Nähe von Strassburg. „Sollen wir reinfahren. Die
Cathédrale sehen, wo ich am liebsten bin? Oder weiterfahren?“ „Fahren wir doch
zum Münster, Liebste, ich möchte dort sein, wo du am liebsten bist, jenes
Zentrum deiner Stadt zusammen mit dir erleben, ja? Vielleicht stehen wir dann
gemeinsam unter jener Strahlung, die es in jeder Kirche gibt, dort aber
unvorstellbar stark sein muss!“
Diese
wundervolle Gemeinsamkeit! Nur eines wolltest du nicht, dass ich dich filme.
„Nein. Ich will keine Bilder, ich möchte, wir sollen diesmal alles nur innen
mit nehmen, erinnern, dass es unendlich, dass es grenzenslos für uns bleibt!“
Wir
parkten auf dem Vorplatz des Münsters an
einer Ecke, nahmen nur das Aufnahmegerät mit, „hier wird viel geklaut!“; Arm in
Arm, du hattest mich am Arm genommen, und wir gingen zum erstenmal so als Paar
über die Strasse, gleichgross… „Sieh, wie wir zusammenpassen, wir passen so
wunderbar zusammen!“ sagtest du. Und so traten wir ins Münster ein, gingen das ganze Mittelschiff in dem
riesigen Dom dem Altar zu; und oh, Wunder, plötzlich Orgeltöne, als wären wir
ein Hochzeitspaar, und so empfanden wir es auch, wie eine erste wundersame
Einweihung, als hätte alles nur auf uns gewartet. Ich werde diesen stillen, wortlosen, fast wie
in uns hallenden Augenblick nicht vergessen; du schmiegtest dich fest an mich,
und sagtest: „Ich fühl mich so geborgen mit dir!“ Und ich sagte: „Ach, es ist wie eine Trauung
unserer geistigen Ehe!“ Und das Dämmerlicht, das durch die Glasmalereien mit den heiligen Figuren fiel hatte unsere
Gesichter so sehr ins Gleiche dunkel verändert,
dass sie heller und ineinander zu verschmelzen schienen, die Augen vor
allem, diese gemeinsamen Blicke, die diese sanfte göttliche Ruhe aufgenommen hatten
und wieder und wieder ineinandersahen, nein, satt wurden sie nie.
Vor
dem Altar suchten wir den „Punkt“, dieses erlösende Schweben, und ich sagte, in
Florenz ist er immer da, doch genau unter der Brunelleschi-Kuppel; Hier gab es
die Kuppel nur über dem Altar und dorthin führte für uns kein Weg; als wären
wir ausgeschlossen.
Du
nahmst dann zwei Kerzen, wolltest 20 Centime, wir hatten sie nicht, ich blieb
einen Augenblick allein, du gingst wechseln; und ich kam mir plötzlich ohne
deinen Arm, deine Hand einsam und wie
amputiert vor, als wäre jetzt das Münster viel zu gross für mich. Ich suchte
dich mit den Blicken, da endlich tauchtest du aus dem Dunkel auf! Und nahmst
gleich wieder meine Hand. „Für meine Oma sind diese Kerzen, sie hatte mich
darum gebeten, und jedes Mal zünde ich welche für sie an.“ „Vielleicht sieht
sie uns jetzt, wird sie spüren, dass wir uns gern haben.“ Sagte ich vor dem
Kerzenmeer vor mir. „Sicher wird sie es spüren. Ich bin ja so glücklich! “ Wir
sahen uns noch die astronomische Uhr an, die wie ein zweiter Altar da stand.
Und unter den Ziffern, dem Glockenwerk der Totenschädel… „Die Zeit ist der
Tod“, sagte ich. „Aber auch das Leben“. „Ja, das Leben, das sich dem Tode
zubewegt“. „Wir wollten nicht darüber sprechen!“ „Nein“.
Dann
verliessen wir – schweren Herzens - denn wie schön war diese Geborgenheit
zusammen hier, den Dom. Als wäre eben diese Zeitschlag ausgeschaltet in den Ton
der Stille und der Orgel getaucht und aufgelöst. Und in unseren Herzen, die
mitklangen. Ja, diese Stille, die uns schützte! Gegenüber vom Münster wollten
wir noch das Musee Notre Dame sehen.
Doch es war nicht geöffnet. Daneben ein Plakat mit dem St. Odilienberg. Du
zeígtetest es mir, sahst mich von der Seite an: „Kennst du es?“ „Ja, freilich
kenne ich es“. Etwas wie Enttäuschung war auf deinem Gesicht zu erkennen. „Jetzt
fahren wir aber los, sonst wird es dunkel.“ „Ja“. Wir fuhren durch die Stadt.
Du zeigest mir noch deinen Radweg zur Uni. Dann
verliessen wir Strassburg fuhren entlang an alten Fachwerkhäusern. „Ja,
ich hatte mich in Strassburg vor Jahren schon verliebt, und wollte immer wieder
kommen; es kam nie mehr dazu bis heute, und jetzt?...“ Mit Michi und Magdalena
war ich vor vielen Jahren hier gewesen, und damals hatte es uns die
astronomische Uhr angetan!“
„Wir
wollen sie vergessen, den anderen Ort mitnehmen.“ „Altar UND Uhr, wir haben
genau drei Tage!“.
Warst
du so nach innen gekehrt, so verwirrt von all diesen Eindrücken, dass du die Strasse dann zu deinem Ziel,
dieser Überraschung, nicht fandest? Du fuhrst einfach irgendwohin. Und ich
sagte, „schliesslich ist es ja egal, wohin wir fahren, wichtig ist, dass wir zusammen
sind.“ Dann aber schien die Route doch richtig zu sein..
Nach
Rosheim… zur Kirche zu den fickenden Ungeheuren. Da standen wir davor, und oben
auf dem Dachfirst gings los, „ja, damit die Hölle weiter ihre Nachkommen hast“,
sagtest du, siehst du sie dort? Ja. Wir gingen um die Kirche herum, überall
diese minitotenmasken und köpfe, womöglich Patrizier. Solche enorme Ausdruckskraft hatte jeder
einzelne. Erstaunlich.
Und
dann zum jüdischen Friedhof durch den Wald. Wo ja auch der Josel von Rosheim
begraben sein muss.
Wir
gingen hinein, in der Ferne ein unheimliches Licht, eine grosse Stille. „Warst
du auf dem jüdischen Friedhof in Prag“. „Ja, beim Baalschem auch.“
„
Wenn du dir vorstellst, das unter jedem dieser vielen Steine, die uns jetzt so
ansehen, schattenhaft zu leben scheinen, ein ganzes abgecshlossenes Leben
liegt, dann kannst du gar nicht einfach so vorbeigehen, jeder Schritt ein
ausgelöschter Lebenslauf. Eine merkwürdfiger Zeitstillstand. Im Rücken das
Dunkle des Waldes, vor uns das Licht und die Offenheit der Ebene. Und des
Himmels.
Zwischen
den Grabsteinen gingen wir dann durch ein Gatter zum älteren Teil. Da bekamst du plötzlich Angst vor den im
ältesten Teil des Friedhofes grasenden Ziegen. „Die hatten mich das vorigemal
umringt, als wollten sie mir was antun. Komm, wir gehen hinaus.“ “Aber ich bin
ja bei dir, ich beschütze dich doch!“
Struthof
„Mein
lieber Ich, weißt du noch unser Ausflug
ins Elsass? Und unser Kloster S. Odile?
Der Berg, unter uns die Ebene, und alles unvergesslich, alles ein
Lebensereignis, jeder Augenblick erfüllt, das IST doch erfüllte Hoffnung,
nicht, und ich weiß noch alles so gefühltgenau: Die Sonne schien schneidend vom
Himmel, als ich aus dem Nebelfeld hinaustrat in die Höhe und unter mir das Weiß
der Ebene. Die Haut wurde warm und ich spürte, wie die Pigmente sich
veränderten unter den Strahlen und mein ganzer Körper nach Frühling roch.
Mein
Herz erinnerte sich an den Spätnachmittag, als wir durch dieses Tor traten und
uns die Zimmerschlüssel geben ließen. Mein Gott, wie sehr ich Dich liebte!
Ein
Jahr ist vergangen, ein ganzes Jahr. Ist es Dir bewusst? Die Sonnenuhr wirft
Schatten, der Sand rieselt und die Körner werden weniger.
Ich
spürte noch einmal Deine Hand, die mich nicht loslassen wollte, Struthof, Le
Champs du Feu. Der Himmel war so tiefblau und die Farbenpracht der Herbstwälder
überwältigend. Der Blick bis zum Donon, oben, auf den chaumes des crêtes, und
gegenüber, aus dem Nebelmeer hervorragend die feinen, dunklen Linien der Schwarzwaldgipfel.
Ich zog
den Mantel aus und lief die Ärmel nach oben geschoben über die Hochebene,
umarmte die Bäume und raschelte durchs Laub.
Ein
Jahr ist es her. Es regnete und ein paar Verrückte liefen einen Marathon.
Ich
fühlte Dich an diesem so fernen Tag vor 12 Monaten mehr als ich mit Worten
sagen konnte, ich fühlte deinen Grund und Boden und Deine Hand war das
Futteral, in das ich Dir mein Herz legte. Wie oft hast Du mir gefehlt und wie
wenig ist doch real geschehen.
Dieses
ist das Wirkliche und die Hoffnung, dass wir uns wiedersehn…
Noch einen schönen Abend,
Noch einen schönen Abend,
Hel.“
Sie
erwähnte eingebettet ins Wirkliche der Liebe das KZ Struthof nur wie nebenbei,
als wollte sie es mir als zu starken Vordergrund in all meinen Argumenten
vorwerfen! Ja, damals hatten wir es gemeinsam gesehen, und ich schrieb ihr:
Ja,
weißt du noch Hel, bei Schirmeck kamen wir zum KZ Struthof. Ich hatte dir
erzählt, dass ich in meinem Haus eine Zeichnung vom ehemaligen
Buchenwald-Häfttling Muzic an der Esszimmerwand hängen hab. „Kennst du Music?“
„Ja. Aber mit so einem Bild könnte ich nicht in meinem Haus leben!“ „Für mich
ist es ein Zentrum des Hauses, ein Symbol dafür, weshalb ich überhaupt da und
nicht zu Hause lebe! Es ist der letzte
Atemzug eines Häftlings kurz vor dem Tod. Und solche Augenblicke hatte Music im
Lager erlebt; erst 1971 kam es als spätes Trauma in ihm wieder hoch. Und er
zeichnete diese letzten Lebensmomente der Armen; vielleicht waren es auch
Augenblicke der Erlösung. Sicher waren sie das! Und du weißt ja, wie alles
zurückreicht in meine Familie, wie viele meiner Leute da beteiligt waren…!“
„Ja.“
Wir
hielten. Und das grausam-niedliche winzige Kz lag vor uns, das wie
Hitlerhaarschnitt und Hitlerscheitel sauber aussehenden Areal, die farbigen
Baracken, der elektrisch geladene Zaun. Der Galgen mit der Galgenschlinge, die
im Wind baumelte, der Block. Und im Hintergrund diese Schönheit der Vogesen im
Nebel feenhaft geschichtet, ringsum der
Wald. Ich sagte, „dies will ich
nicht aufnehmen, es wäre wie eine Blasphemie.“ Wir gingen nicht hinein. Wir
blickten nur hinab ins Areal, umarmten uns. Ein langer Kuss, als müssten wir
auch hier etwas reinigen, wir, mit dieser Sprache, mit diesen Lippen, mit diesen
Mündern.
Dann
fuhren wir an der Gaskammer vorbei. Und du erzähltest entrüstet, dass es hier,
gleich neben der Gaskammer, ein Restaurant für Touristen gäbe. „Willst du es
sehen?“ Nein. Jetzt reicht es.
Sie selbst aber hat es viel eindringlicher
beschrieben, vielleicht weil sie ohne Vorhergedachtes nach Innen schrieb, und
das kann ich von ihr lernen, und hab es immer schon versucht, die „leichte
Hand“:
Dann ging’s los mit dem Autschgerl in
Richtung Hohwald und rüber nach Schirmeck zum Donon. Ich war mein Kartenleser
und ich konnte kaum glauben, dass er das als Seefahrer ja so gut kann und ich
ihm da voll vertrauen darf. Ja, das ist etwas, was mir auffällt. Ich kann ihm
vertrauen und muss nicht alles selbst machen. Ich kann auch aufhören,
„anzukämpfen“. Er übernimmt Initiativen und das ist unheimlich entspannend. Er
macht einfach und fragt nicht lang rum. Und was er macht, ist gut. Ob es jetzt
das gestrige Herrichten des Zimmers war, oder das Kaufen der Broschüren, oder
seine Art am Frühstückstisch nach Nachschub an Brotreserve zu greifen, die Natürlichkeit,
neben mir im Auto zu sitzen, den Weg zu finden, er macht das einfach so und ich
fühle mich sehr wohl in seiner Anwesenheit, seiner Aura, seinen Bewegungen.
Wenn ich ihn ansehe, geht’s mir gut. So einfach ist das. Und so fuhren wir los
und lachten über die paar Steinderln von der Heidenmauer „Ist sie das?!“ „Ja…“
und dann ging es durch den Herbstwald. Der Weg ging an Struthof vorbei. Dem
kommt Ich nicht mehr aus.
Und ich kann das Thema nicht mehr hören,
weil ich es in der Schule bis zum Erbrechen eingebläut bekam, dass ich bis an
mein Lebensende eine Erblast auf den Schultern tragen werde, Erbsünde, das
Holocaust-Gen steckt mir seit Geburt in den Knochen, obwohl weder Omi noch Opa
in der Partei waren, Mami erst 1943 und Papi 1941 geboren wurden und den Krieg
nur noch aus Erzählungen kannten. Obwohl Mami ja noch besonders eine starke
Erinnerung hat. Die des Kleidchens. Bei jedem Bombenangriff auf Landshut durfte
Mami, bevor es in den Luftschutzkeller ging, das weiße Kleidchen mit den Rüschen
und der Schleife anziehen. Es war ein Jauchzen, wenn die Sirenen heulten. Und
Papi erzählte immer von der Orange, die ihm sein Vater beim letzten Besuch
mitgebracht hat, bevor er drei Wochen später in Russland auf dem Feld fiel,
d.h. an einem Waldrain erschossen wurde. Und als der Brief daheim eintraf, mit
dem Kreuz und dem Adler und den paar Habseligkeiten, die er bei seinem Tod am
Leibe trug, da wusste Papi nicht, was es bedeutete, keinen Vater mehr zu haben.
Ob dieser Opa, den ich nie gekannt habe, im Augenblick seines Todes irgendwo in
der russischen Fremde an seine zwei kleinen Buben und seine Frau gedacht hat?
Was denkt ein Mensch, wenn sich die Kugel in seinen Körper bohrt? Wie ist es,
so zu sterben? Tut das noch weh? Wie ist es, in ein paar Sekunden Abschied
nehmen zu müssen vom Leben, obwohl der Körper noch gesund ist? Opas Erbgut lebt
auch in mir weiter. Papi sah aus wie er. Werde ich Kinder haben? Wer wird der
Vater meiner Kinder sein? Werde ich Krieg erleben müssen? Werde ich das
erleben, wovon ich nicht glauben kann, dass es existiert? Was hat Ich erlebt?
Was steht hinter der Narbe über dem Schambein geschrieben? Sehe ich ihn? Warum
habe ich das Gefühl, ihn zu kennen? Warum treffen wir uns jetzt, Ich und ich?
Wer hat uns zusammengebracht? Gibt es einen Sinn? Sind das die deutschen Fragen?
Wir kamen nach Struthof und stiegen aus. Wie gut es war, sich zu umarmen und zu
halten gegenseitig. Wie mir das oft fehlt. Wie allein man durchs Leben wankt,
trotz aller Arme. Wie mir dieser Arm fehlt. Und wie viele Arme man einfach
wegschiebt.
Ich erzählte Ich von Roger Dale, dem ich vor
seinem Berlin-Aufenthalt Einzelunterricht gegeben hatte und seinen
Struthof-Bildern, dass er als Häftling verkleidet 50 Tage lang mit geschorenem
Haupt die Aussicht vom Lager aus malte. Wir regten uns ein bisschen auf, wobei
die Bilder von ihm ja wirklich nicht schlecht sind. Und Ich erzählte, dass er
selbst ein Bild mit Todesmotiv in zentraler Lage in seinem Haus hätte. Das
lässt ihn nicht los. Verfolgt ihn. Verfolgt uns alle. Aber ihn besonders, weil
er es erlebt hat durch die KZ-tüchtige Verwandtschaft und dem Terror, der
kommunistischen Diktatur, die sich schwupsdiwups anschloß. Und sich diese
Fragen stellt, ein paar Jahre früher geboren, was wäre er geworden? Ein
Turmwächter? Ein Appelltreiber? Ein gestiefelter Aufseher mit Knarre im Revers?
Ein Menschenschinder und folgsames, ausführendes Element der Todesmaschinerie?
Er wird es nie wissen und deshalb braucht er
meiner Meinung nach auch nicht herumzuspekulieren. Er ist es nicht geworden,
weil er eben nicht dafür bestimmt war. Somit erübrigt sich die Frage. Das
Samenfädchen seines Vaters bohrte sich in eben diese Eizelle seiner Mutter Ende
1933 und nicht 1913. Da gibt’s nicht mehr zu hinterfragen.
Er
ist da. Jetzt. Er lebt mit mir am Anfang des dritten Jahrtausends. Sein Blick
streift keine in Ketten gelegte Arbeiter-Kolonnen, sondern die Seele der Welt,
der Menschen und meine, die ich an seine schmiege, wo sie daheim ist. Als wir
oben am Zaun über das Areal blickten, sah alles beinah putzig und ökonomisch so
perfekt aus, wo der organisierte Tod am längeren Hebel saß. Die Baracken wie
Streichholzschachteln. Da meinte er:
„Schau,
dieser Galgen, Anja. Denk’ an den, der da hing. Denk’ an ihn. Siehst du ihn?“
Zuerst
sträubte sich etwas in mir. Es ist ja so ein Schmerz! Und dann dachte ich doch
an ihn und an alle, die dort gehangen haben und ihr Leben aushauchten vor
dieser schönen, friedlichen Kulisse der sanfthügligen Vogesen. Die so sterben
mussten, weil sie zum falschen Zeitpunkt geboren worden waren. Den Wäldern ist
es egal, der Erde ist es egal. Sie liegt da und lebt beständig, bis sie eines Tages
von der Sonne verschlungen wird und es werden andere Planeten geboren werden
und leben schon da draußen im unbekannten Raum. Wir sind ja nur ein Teilchen,
ein winziges Rädchen und selbst noch um so viel winziger. Was ist schon ein
Menschenleben? Es ist nichts. Und alles. Wie leicht werden Menschen abgeknallt,
in die Luft gesprengt. Und wie schrecklich, wenn der geliebte Mensch Fieber
hat.
Ich
dachte an diesen Menschen, an die Sekunde vor dem Sprung ins Leere. Der Tod
ging durch mich hindurch und prallte an unserem Kuss ab. Wir küssten uns sanft
und lang, ein schöner Kuss war das, ein Schutzschild gegen alles Schlimme, was
da jemals kommen mag.
Wir fuhren weiter talwärts, an den Öfen und
Verbrennungsanlagen des Konzentrationslagers vorbei, wo sich, man mag es
glauben oder nicht, ein Restaurant
befand! Bon appétit! Ich konnte nur noch sagen, dass ich das nett fände, ein
Restaurant „Aux chambres de gaz“ dort hinzustellen, damit sich die
Touristenbusse neben den Gaskammern bei Sauerkraut und Riesling stärken
könnten. Es hieß natürlich nicht „Aux chambres de gaz“. Aber was will man da
noch sagen? Wie kann ein Typ ein Restaurant neben den Türmen aufbauen, aus
denen geschundene Leiber pulverisiert in die Luft verpufften, samt ihren
Schmerzen und Verzweiflungen, ganz zu schweigen von den Hinterlassenen? Dass so
alles möglich ist im Tun und Handeln eines Individuums, das ist nicht nur
erschreckend.
Auf der anderen Seite ging es rauf zum
Donon. Und alles war wieder heiter. Wir reinigen den Weg. Und plötzlich ging
die Heizung!
„Schalt’ doch mal die Heizung runter, es ist
doch viel zu heiß!“
Automatisch schob ich den Regler nach links.
Und dann erst riss es mich:
„Ich kann die Heizung ausschalten! Ich! Das
heißt: sie geht!!“
„Gleich wird auch noch das Radio angehen,
wirst sehen!“.
Mann hab’ ich gelacht! Ich hab’ doch nur ein
Kabelloch da, wo einst das Radio steckte. Ha, ein Luftradio mit Äther-Musik.
Ich trau’ ihm alles zu, dem Romanot! Seine Hände können zaubern.
Er fing dann noch weitausholend mit
mystischen Themen an, das wurde mir dann zu viel, ich konnte da nicht mehr
zuhören, ich war noch randvoll mit den Eindrücken vom KZ. Dass ich nicht immer
zuhören würde, meinte er. Nun, kein Wunder! Mir klingen schon die Ohren! Wir
müssten ja tausend Jahre nur reden und uns zuhören. Und dass ich manchmal
abwesend sei. Ja, also da muss ich ihm schon Recht geben. Aber ändern kann
ich’s nicht. Ich klinke mich manchmal einfach aus. Dann bin ich weg. Weg in
meiner Welt. Weg in der Innenstille, wo niemand hinkommt. Wo eine Sekunde ein
Jahr ist. Im Vakuum meines Herzschlags ist der Weltraum.
Colmar. Der Isenheimer
Altar
Wir
fuhren los Richtung Colmar. In Dambach sahen wir uns noch die Kirche an. Vor
allem die offene Gruft mit dem Berg von Knochen ein ganzes Durcheinander von
Köpfen und Gliedern, nicht so schön ornamentiert und mit barocken Mustern wie in der Kapuzinergruft von Wien oder in
Rom via Veneto, sondern so unordentlich und chaotisch wie der Tod wirklich ist,
darüber die Inschrift, du lasest sie mir vor, gedankenverloren und du packtest
fest meine Hand, dein kleiner Vogel lag fast die ganze Zeit in meiner:
„Was ihr seid sind wir gewesen, was wir sind,
werdet ihr sein!“ Grässlich, und Struthof kam wieder hoch.
„Die
sind nur umgebettet worden, der Friedhof wurde aufgelöst, zerstört im
Dreissigjährigen Krieg.“ So lang her. Knochen haben Dauer, als müssten sie die
Ewigkeit messen. Mein Gott auch Schädel aus der Altsteinzeit und vorher gibt es
noch. Denk an das Jüngste Gericht und die Auferstehung.
Dann
Colmar, so hatten wirs ausgemacht, von hier über Breisach nach Todtnauberg. Und
hattest schon gestern Trauer in der
Stimme, „es wird heute unsere letzte Nacht sein… Ich mag nicht daran denken.“
Wir
sprachen im Auto, wieder die Hand in deiner Hand, über den Isenheimer Altar;
dass der Name von Neithardt oder Gothardt in Grünewald verfälscht und so geblieben
war. Du wusstest es. Und dass das ehemalige Dominikannerinnenkloster im 13.
Jhdt. ein Zentrum des Mystizismus gewesen
und die frühgotische Kirche von Albertus Magnus geweiht worden war. Es
gibt sie nicht mehr. Und überhaupt diese starke mystische Compassion, das
Mitleiden und dieser surreale Ausdruck auf dem leidenden Gesicht. Wir werden es
gleich wirklich sehen.
Ich
sagte, „diese Auflösung des schrecklichsten Schmerzes bei Christus am
Kreuz auf dem Wandelaltar in
Auferstehung, das erinnert mich an Bruckners Achte, an unsre, und an Mahlers
Auferstehungssymphonie, die Zweite. Erinnerst du dich noch.“
Ich
hätte damals gerne unsere frühere Interlineare bei mir gehabt, und das
wunderbare Klopstockgedicht. Ja, Lichtsieg hinauf, wenn man sich mit allem annimmt,
DAS annimmt, “erlöst“ werden zu können, wie im Auferstehungsgedicht! Und auch
bei Mahlers Zweiter ist es da, schon im Aufbau. Im ersten Satz der Tod. Im
zweiten dann Traum und Leben: glückselig-wehmütiger Gegensatz, ja, den ich ja
täglich lebe und auch im Schreiben immer empfinde, dieses erschreckende
Aufwachen auch, der Schock des Ernstes!! Der jetzt in allem so schön in Liebe
und im Zusammensein aufgelöst, aber doch immer mittendrin war; deshalb auch
nach aussen kam? Struthof. Dambach. Als gäbe es in diesen Tagen nur unser
Ineins von innen und aussen. Und so auch die ernsten Stunde so heiter fast,
weil wir uns miteiander, Hand in Hand, vor nichts mehr fürchteten?! Und wieder
dachte ich an Mahlers Zweite, die Auferstehungssymphonie: War da im Scherzo
nicht auch eine Lebensfluchtsynthese, fast
derb, die dann aber schroff hinweggefegt wird, Phantastik und dann alles
zerflatternd ins Endgültige kommt, und fast noch schöner als bei Bruckner, das
angenommene, die eigne Tiefe und Liebe? als Auferstehungsmotiv, dieses Weltvertrauen,
deines, das du mir vermittelst, SCHENKST! Oh, DU, mein Liebeswesen, meine
Liebesfrau, Du, Lieblingchen und Ernst. Wie ich dich darin liebe: „Dein ist,
was du gesehnt, dein, was du geliebt,
gelitten.“ Und das hattest du mir gecshickt, mich daran erinnert! Immer wieder!
Oh, du tolle Frau, wie sehr ich dich verehre!
Wie
oft hab ich dich von der Seite angesehen, und gedacht, immer wieder, wie
selbstbewusst und doch weich, wie sanft und lieblich, die Wangen von einer
unendlich weichen Zeinung, die man wie Flaumfedern mit denm Blick, der sich
darin auflöste, mit den Händen, die immer wieder darüber streicheln, zu spüren
meint, und mit der Gedankenbahn der hohen Stirn, so vergeistigt zugleich..
Madonna hatte ich gesagt, gedacht, gemurmelt?
Oder noch mehr dieses Vertrauen, Welt-
und Lebensvertrauen, das deine Ausstrahlung auf mich übertrug, diese
Geborgenheit, die von dir ausging, geführt zu sein, nicht allein der nächsten,
vielleicht verheerenden Unglückssekunde
ausgesetzt, sondern GELEITET und geliebt, angenommen über dich von
allem, was GUT und uns, mir, dir wohlgesonnenen ist, alles, was da ist, ein Ja, und nur so stark
da, weil es ausserhalb jedes kleinen Gedankens und jeder zweifelnden Deutung, einfach so sein musste, auch du in deiner ganzen schönen Erscheinung im dunklen Mantel und mit meiner Mütze auf dem
Kopf - kein Zufall, sondern mit allem so wie es sein musste, und aus diesem
Sinn kann niemand und nichts herausfallen oder willkürlich im Tun sich
entziehen, vielleicht im einzelnen, aber nicht in der ganzen Lebensbahn, von
der, das spürte ich deutliche, diese Augenblicke entscheidend waren:
„O glaube
Du warst nicht umsonst geboren!
Hast nicht umsonst gelebt,
gelitten.“
Wo
waren wir nur gewesen, was hatten wir gemacht, getrödelt, ja, morgens beim
Aufstehn. Die Lust. Und der Schmerz, wie sie zusammengekommen waren. Die Liebe
und die, ahc ja… süsse Marter. Später, werde ich sie ganz anders erleben
müssen, und war diese kleine Prozedur, die fühlen wollte, nur ein winziger
Vorgeschmack. Später dann Schmerz ganz ohne jede Liebe ohne jede Lust. Ich
wagte nicht mehr daran zu denken. Doch die Angst hatte mich plötzlich, als wäre
das Vertrauen einen Moment in Verlassenheit umgeschlagen… Der Riemen? Ach, was,
ists nicht nur ein Spiel, ein Kinderspiel? Dagegen das kleine Sterben der
Trennung, des Abschieds, der Tod als letzte Furchtbarkeit. Liebesende nur ein
Vorgeschmack? Nein, ich konnte mir nicht
vorstellen, dass es einmal ein Ende haben könnte mit uns. Dass du mich
verlassen würdest. Einfach weg, so, von einem Tag auf den Andern. Trennung…
heiss stieg die Verzweiflung in mir hoch… Doch hattest du nicht immer wieder
gesagt: Versprichst du es mir, dass wir zusammenbleiben, solange das Leben hier
auf der Erde dauert?! Ich spürte deinen fragenden Blick. „Woran denkst du?“ „Ja, an all die Abschiede,
an alle… „ „Nein., Liebster denk nicht daran…“ „War da eine Träne auf deiner
schönen Wange…“ Ich weiss, du dachtest an den kleinen Abschied, dass wir uns
morgen trennen werden… Wenn auch nur für kurze Zeit. Und es wird dann andauernd
weh tun, Tag für Tag. Und blitzartig fiel mir die Geisselung, die Marter
am Isenheimer ein, die aber dann direkt mit dem Himmel verbunden war;
ist das ein Abglanz, ist das ein Widerschein des Körperauflösens, ihn
mitnehmend? Und auch wir, werden wir uns einmal wiederbegegnen, später… wann
ist das? Was ist da außerhalb des Lebens für ein Leben, für eine Liebe… gibt es
sie? Ist Liebe wirklich Leben für immer? Ja, so will es der Altar, so klingt es
bei Mahler, bei Bruckner…
Und
dann mit dieser großen Erwartung, ja, auch dem Vertrauen, dass…
Ich
stieß, als wirs sahen, vor dem Museum standen, hervor: „Natürlich, das Museum
Unterlinden geschlossen.“ Es war
12,10h. „Um zwei öffnet es doch wieder,
warten wir?“ Sagtest du. Ja, genau. Wieder
und wie selbstverständlich, erwartetest du das Beste. Und ich freilich, wie
gewöhnlich, das Schlimmste auch im Kleinen.
Ach, ich muss noch viel lernen von dir, hohe Frau. Ich zögerte. Und sagte: „Aber heute ist ja Feiertag… Das öffnet nie mehr heut!„
„Aber
ich möchte unbedingt mit dir zusammen den Isenheimer sehen!“ Du hattest ja
schon vorher beim Einfahren in die Stadt erstaunt gefragt, was ist heute, ein
Feiertag? Alle Geschäfte geschlossen. Nun ja, es war der 11.11. Versailles
1918, Spiegelsaal, der Sieg übers Deutsche Reich wurde gefeiert.
Ich
zögerte, aber dann entschlossen wir uns doch zu bleiben. Und wir gingen zuerst
zum Dom. Er war weniger gewaltig als das Straßburger Münster. Als wir eintraten
wieder die Orgel. Seltsam, in vielen Kirchen wurden wir so „begrüßt“. Und ich
wurde wieder heiterer. Und es wurde ja auch wie durch Magie immer alles
fröhlich und gut mit dir! Und du holtest aus mir immer nur das Glücklichsein
und Fröhlichsein raus, ja, so war ich ja, als Kind war ich so gewesen, auch als
junger Mensch, und war es eigentlich im Grunde meines Wesens. Oh, du, so viel
weiß ich von mir nur, wenn ich mit dir zusammen bin, zusammen mit dir die Welt erlebe, indem ich deine Hand
halte, dein Gesicht sehe, dich fühle. Und so begann es wieder fröhlich,
fröhlich zu werden, wie ich es eigentlich die ganze Zeit mit dir gewesen war,
es sein konnte!!
Und
schon ging es wieder los: Am Eingang zeigtest du mir eine der Figuren, die
deine Freundin Colombe entdeckt hatte. Nur wenn man genau hinsieht, unter die
Figur sieht, erkennt man, dass die einen gewaltigen stehenden Schwanz hat. Ich
filmte ihn mit Zoom von unten. Und du standest dabei und lachtest. Und wir
lachten beide ganz laut und herzlich.
Gingen
dann wieder zurück, in einer Seitengasse wusstest du ein schönes Café, das dir
auch Colombe gezeigt hatte. Und wir fanden es, traten ein. Ganz wie eine alte
Café-Apotheke wirkte es, dachte ich und freute mich, weil ich das so sehr mag,
wie du ja auch, wie viel mögen wir doch
gemeinsam, unser Geschmack ist sehr ähnlich, ja, ganz schön altertümlich
wars hier Ach, ich erinnere mich, wie wir schon im April uns gleich zu gleich
im Geschmack fanden, und es ganz „antik“ haben wollten, alles!
Wir
hatten in der elsässischen „Apotheke“
mit der entsprechenden Besitzermadame sogar einen Platz am Fenster, sahen auf
die alte Gasse. Überhaupt dies alte Colmar. Das Elsass war nie zerstört worden.
Seltsam als strittiges Grenzland.
Ich
trank einen Tee, du Kaffee.
Und
warum lachten wir so viel? Vielleicht weil wir so voll waren voneinander, jede
Sekunde war gefüllt, nichts war sinnlos, nie leer, und dann schwangen wir
zusammen, sahen alles fast gleich, erlebten so ähnlich, weil wir so ähnlich
sind, und Gottseidank auch ganz verschieden…
Und
schriebst mir: „ …ich ich sehe das alles auch noch vor mir. Manchmal meine ich
sogar DEIN Sehen zu sehen, also durch Deine Augen alles gesehen zu haben.“
Oh,
ist das schön, wie du das sagst, ist das möglich? Ich versuchs mir
vorzustellen… Wahnsinn, ja … hab ich auch mit DEINEN Augen gesehen? Dein SEHEN
gesehen? Das ist eine tiefe metaphsyische liebes-handlung … du mit meinen, ich
mit deinem sehen, sehn?! Ja, aber es war wirklich! Ein Herz und eine Seele –
und ein gemeinsames Doppelaugenpaar! Und das geht dann ganz direkt ins Gemüt,
was WIR gesehen, oft lachend gesehen hatten! So viele Szenen tauchen immer
wieder auf.. bei dir nicht? Und auch dein Gesicht sehe ich doch, du meines
nicht? haben die Fotos es überdeckt? Mir ging es auch so mit dir, dann wischte
ich die Fotos weg in mir und dein in mir lebendes Liebes Gesicht tauchte wieder
auf!
Naja,
was geschah aber dann wirklich dort in der Caféapotheke von Colmar? Wir
zahlten, die Cafébesitzerin in ihrem halbelsässischen Look, bebrillt,
freundlich, als wären wir bei ihr zu Hause zu Gast gewesen zum Tee, brachte die
Rechnung. Klingeln der Kasse oder der Eingangstür, ich hielt dir den Mantel,
ich fühl ihn an meiner Hand, weich, sanft, deine Hülle. Es ist Zeit, wir gehen zu Unterlinden und zum
Isenheimer Hand in Hand wie immer, nun in Colmar, wirklich über die Strasse.
Ja,
Unterlinden ist offen. Wir fast allein da. Eintritt, du mit deiner
Bibliothekskarte, ich mit dem Ver.di Journalistenausweis. Angenommen. Dann am Eingang, der dunkle Mann, Inder?, und
die helle, blonde(?) Frau, zwischen ihnen die Liebesblicke? Was sagte er? Du
hast es beobachtet, wie dir nichts, was von außen nach innen blitzt, entgeht.
Du beobachtest alles mit wissendem Auge (der Poesie oft!), die Welt für dich
eine Himmelsverbindung mit Tiefenschärfe musikalischer Poesie, wenn man die
Alltagsdecke hebt, wie einen Nebel durchdringt!
Kaiser
und Könige. Steinfiguren. Kleine gotische Altäre. Unmengen an vibrierender Kunst da auf dem Weg zum
Eigentlichen, dem Grünewald. Und hatten ja schon darüber gesprochen. Verband
uns dieses Bruckner- und Mahlergefühl auch nun damals in Colmar neu? Das
Klopstockgedicht? Und wir sagten uns, was wir jeweils dachten, dachten es fast
wieder gleichgestimmt eins. „Für jedes Bild da
müsste man Lebenszeit opfern, lange davor meditieren. Hier aber in dieser Häufung erschlägt eines
das andere. Ich hab das eigentlich sonst in Bildergalerien und Museen nie, dies
Gefühl. Aber vielleicht, weil’s sakrale Bilder sind,…“ Sagte ich.
Dann
saßen wir Hand in Hand vor dem Gekreuzigten. Still, kaum redend, aber mit einem
Auge sehend, fühlend, was in uns vorging, zusammen, ja, sprachlos. Der Schmerz,
des durch Geisselhiebe verwundeten, grünlich totenblassen Corpus Christi,
hängend, der Kopf in den Tod geneigt, zum Schreien verkrampfte Finger ins
Grausige, Gespenstische, Überweltliche übersteigert, war nur als „Schönheit“ zu
ertragen! Der Himmel musste sich bald öffnen…unten die Mutter im Weinen, fast
fallend, zurückgeblieben im Hier. Liebe und Schmerz? Und Tod, Liebe, Abschied
und Ewigkeit? Fühlten wir es gemeinsam erschauernd, dass auch wir dazugehören,
jetzt im Glück, wie alles was auch hier vorher war? Oder dass Schmerz zur Liebe gehört, Schmerzliebeschmerz
öffnet. Spürten wir sogar die Lust der
Liebespeitsche? Ja, einen Moment dachten wir es beide. Dann aber auch den
furchtbaren Lebensernst, der uns auch
noch erwartet: der Abschied? Die Wandlung vom hellen Jubel, Verkündigung und
Himmelfahrt – auf der anderen Seite?
Fleischgewordener Logos, die Taube. Der Engel. Mutterglück. Und die gotische
Kapelle mit den musizierenden Engeln. Die Säulen mit den Geisterpropheten, die
schon vom Ende und dem Schmerz wissen? Wandlung zum Ende, Qual und Leid?
Wir
in Absence, verloren im Farb- und Gefühlsrausch zusammen?
Und
die Enttäuschung auch an der „Himmelfahrt“, nein, du protestiertest zuerst, als
ich sagte, dass Grünewald das Schöne, das Erlösende gar nicht darstellen könne,
es werde zum Kitsch, „ja, schlecht gemalt ist diese Lichtflut mit dem so
satten, fast feisten Christusgesicht, das da himmelt! Nein, er kann nur die
Qual, den Schmerz malen. Das kann er wie kein anderer.“ Sagte ich.
Wir
gingen wieder, schweren Herzens, denn es war schon halb vier, und um fünf wurde
es dunkel. An einer Apotheke vorbei … und du, ja, du dachtest an mich, drängtest,
dass ich nochmals den Magensirup kaufe. Ich sprach zuerst deutsch, der
Apotheker antwortete französisch, als habe er nicht verstanden. Auch das
hattest du mit dem Herzen gesehen:
„Ach, der Apotheker, der erst auf dem Weg von der Kasse zum Gitter Deutsch gelernt hat“.
„Ach, der Apotheker, der erst auf dem Weg von der Kasse zum Gitter Deutsch gelernt hat“.
Und Sie: Wir näherten uns der Plaine d’Alsace und die
Wolkendecke riss auf. Sonnenstrahlen fluteten den Piemont. Feenlandschaft in
Graublau-Schattierungen, von Ruinen bewachter Eingang ins Seelenreich. Am
Horizont löste es sich im Himmel auf. Kitschig schön! Nein, eigentlich gar
nicht kitschig. Der Blick in das V war ein Rufen nach uns. Das Tal ein weit
geöffneter Mund, aquarellierter Gesang der Sirenen, ich wollte da hinein und
mit Ich ganz verschlungen werden. Nur wir hätten Zugang gehabt, aber wir
verpassten die Ausfahrt und fuhren weiter zu meiner Lieblingskapelle nach
Dambach. Beim Durchqueren des Dorfs fiel uns auf, dass alle Geschäfte zu waren.
Bis uns klar wurde, dass die Frenchies ja was zum Feiern hatten! 11.11.1918! Stacheldraht,
Verdun, Versailles und das Beschließen neuer Wegbereiter zum zweiten
Jahrhundertgemetzel. Tröstlich: Die Kapelle stand da wie immer. Man steigt die
paar Stufen hinauf und wenn man sich umdreht, hat man einen wunderschönen Blick
über das Dorf mit seinem mittelalterlichen Kern, den windschiefen Fachwerkhäusern
und der dahinter beginnenden Rheinebene. Wie ich es genossen habe, mit Ich die
Kirchen zu besichtigen. Alle. Und dass er Kirchen so gern hat wie ich, das ist
schon ein Glück. Die « Armleuchter » ragten aus der Wand und der
Barockaltar in dunklem Kirschholz hätte überladener nicht sein können! Ich
fielen wieder witzige Bemerkungen ein und bei allen Szenarios, die er so
erfindet, tauche ich gleich ein und bin dann dort, war selbst am Schnitzen und
der Meister hielt uns noch einen Holzklotz zum Ornamentieren hin. Hinter der
Kirche liegt ein verborgenes Ossarium. Eine Art Erdkeller, die Toten aus dem
Stadtfriedhof wurden nach den Schwedenkriegen dort hineingeworfen, hat mir mal
der Pfarrer erzählt. In der bescheidenen Krypta häufen sich Knochen und Schädel
in einem wirren Durcheinander. Da ist nichts geordnet oder feinsäuberlich nach
Unterschenkel und Schädel aufgeschichtet. Man blickt in schwarze Augenhöhlen
und verschobene Unterkiefer, auf schadhafte Gebisse und bleiche Gebeine, da
mögen der Metzger und Tuchhändler, Geliebte und Betrogene, Gefangene und
Wächter nebeneinander bis aufs Jüngste Gericht beisammen sein. Über der
schmiedeeisernen Tür wurde eine Tafel angebracht mit der Inschrift:
„Ce
que vous êtes, nous l‘étions. Ce que nous sommes, vous le serez.“
„Das was ihr seid, sind wir gewesen. Das was
wir sind, werdet ihr sein.“
Ich schüttelte es. Wir liefen Hand in Hand
zum Auto und nach einem kurzen Stop und Kartencheck vor einer Winstub ging’s weiter
nach Colmar. Unsere Hände ließen sich nicht los. Eigentlich gab es selten nur
Momente, in denen wir uns nicht an der Hand hielten. Unsere Hände passen
ineinander und ich spüre noch die Wärme, die von Romans Hand ausgeht und den
Unterarm hinaufkriecht bis zum Brustkorb. Wie verschmolzen wir manchmal waren.
Wie unwirklich beinah, jetzt, wo meine Hand alleine ist. In Colmar dann zum
Parkplatz, wo ist der Autoschlüssel? Schlüssel gesucht, gefunden („Gib mir doch
dann den Schlüssel!“) und losgezogen zum Musée d’Unterlinden. Nomen est omen.
10 Minuten früher, und wir hätten noch Einlass vor der Mittagspause erhalten.
So waren wir zu spät und hatten die Wahl zwischen sofortigem Aufbruch nach
Todtnauberg oder der Kreuzigungsszene. Ich wollte zum Celan und ich verstand
ihn. Andererseits wäre es zu schade gewesen, das hier nicht „mitzunehmen“ und
wir rechneten uns die Wegstrecke und Anfahrtszeit aus. Ich wollte den Altar
unbedingt mit Ich sehen und überredete ihn, doch noch bis 14Uhr zu warten. Wir
schlenderten an einem kleinen Kanal („Was ist denn das für ein trübes
Wasser?!“) zum Münster, wo ich Ich in die versteckte Bildhauerkunst
mittelalterlicher Gesellen einweihte: den Münsterständer.
Colombe hatte mir einmal den kleinen
Colmarer Bürger am Seitenportal des Münsters gezeigt, der in Hockstellung unter
seinem Wams und Beinkleid einen erigierten Penis verbirgt, wobei man sich
selbst bücken muss, um ihn zu sehen. Der Steinmetz hatte beim Meißeln
sicherlich die nachfolgenden Generationen von Voyeuren vor Augen und muss sich
wochenlang auf seinen Arbeitsplatz am Seitenportal gefreut haben.
Ich filmte begeistert das Fries, überall ist etwas zu
entdecken gewesen, eine lange Reise in ein paar Minuten. Wir betraten die
Kirche, Touristengruppierungen ließen sich den Bau und seine Geschichte
erzählen, Sankt Martin stand mit Römerrüstung und Kreuz vor dem Altar, eine
neo-klassizistische Figur aus bemaltem Holz, heroisch, so, wie ich’s nicht mag.
„Wieso hat der ein Kreuz? Ist das nicht anachronistisch?“ Zum Glück weiß Romanle
auch nicht alles und wir näherten uns den Insidern im Mittelschiff. Vorne, wo
die christliche Gemeinde einen Tisch mit gesegnetem Wein, Grapefruitsaft,
Gugelhupf und Brezeln vorbereitet hatte, und wo jeder sich nehmen durfte, was
er mochte, fragte ich gleich die Dame hinter der Behilfstheke. Martin war im
4.Jhd n. Chr. römischer Soldat gewesen, bis er zum Christentum übergetreten
ist. Martin von Tours hieß er („Ich Herr Lehrer, ich ich ich!!!“) und hat als
Mönch bei Portiers das erste Kloster im damaligen Gallien gegründet. Zum
Heiligen aufgestiegen ist er, weil er als Soldat vor den Toren Amiens seinen
Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt hat- so die Sage. Und eigentlich
muss ich es ja wissen, hab ich doch als kleines Mädchen auf meinem Pony den Sankt
Martin- Festzug durch Landshut angeführt, einen viel zu großen, goldgefärbten
Plastikhelm auf dem Kopf und einen schweren, grünen und rotausgeschlagenen Umhang
um die Schultern, der bis über den Pony-Hintern reichte. Hinter mir die
laternenbewaffnete Kinderschar der Landshuter Kindergärten, was in komischen
Fotos festgehalten irgendwo in Mutzendorf modert. Ich weiß nur noch, dass ich
dann bei der Sankt Martinskirche den Mantel ausziehen musste, obwohl es
arschkalt war, und mit meinem Plastikschwert so tat, als würde ich den Mantel
in der Hälfte durchhauen. Die Kindergärtnerin zog in der Zwischenzeit an einem
Reißverschluss und weg war der wärmende Stoff. Das war vor 25 Jahren. Tja. O
tempo vai.
Ein bisschen erleuchteter mampften wir versalzene
Brezeln und sahen uns um. Ich aß auch ein bisschen und trank ein Schlückchen
Wein. Der Magen. Ich denke, es war nicht so einfach für ihn, dass er nirgends
mit Freuden hinfassen konnte, um sich zu stärken. Verwunderlich schon beinah:
Wo immer wir hinkamen, die Leute waren unglaublich freundlich, schon fast so,
als hätten sie auf uns gewartet. In den Kirchen ertönte nicht selten Orgelmusik,
sobald wir sie betraten und eigentlich baute sich die ganze Welt um uns herum
nach unseren Wünschen auf. Wir gingen durch unsere eigene Feenlandschaft über
die AnjaRomanerde. So ist es. So ist die Liebe, nicht wahr? So ist es, wenn
zwei Menschen zusammenpassen und sich gut sind. Da brauchen wir keine
Philosophen mehr.
verließen wir das Café und gingen zum sog.
Grünewald. Alles musste schnell gehen, wirklich Zeit hatten wir nicht, H+C
riefen. Die Frau an der Kasse zickte zuerst wegen Romans Journalistenausweis,
auf dem kein Datum stand, was Ich ärgerte. Die blonde Garderobiere flirtete mit
einem indischen Kollegen, ansonsten war es relativ ruhig im Museum. Die
beschauliche Stimmung, die ich sonst vor dem Altar bekomme, stellte sich mit Ich
aber nicht ein. Er war nervös und unzufrieden, hatte sich wohl etwas erwartet,
das nun nicht zutraf, die Kreuzigung, das Leid, meinte er, hätte er ja gut
darstellen können, der Grünewald, aber die Glorifizierungsszenen sind reinster
Kitsch, das hätte er besser bleiben lassen sollen. Ich fand das so nicht, im
Gegenteil, ich liebe diese Spannung zwischen dem tiefsten Leid und der verklärtesten,
hellsten Glückseeligkeit. Dass Maria dabei ein bisschen schief guckt und Jesus
verhalten aus einer Licht-Wolke heraus die Male zeigt, hat eher was
Traumhaftes, die Albgestalten samt Paulus im Gegensatz zum heiteren
Engelskonzert. Golgatha und Himmel. Dass aber auch noch Alltagselemente in der
Verklärung vordergründig sind, macht die Lebhaftigkeit des Ganzen aus. Ich wäre
gerne länger geblieben, ich mag das Museum so gern. Aber wir zockelten nach
einem Clogang wieder zum Auto und gaben Gas. Bei Breisach über den Rhein: „Das
ist nicht das Schlechteste…“ und dann am Regenbogen vorbei hinein in die
dunklen Wolken. Eine irre Stimmung, blauster Himmel, dunkelste Wolken, Regen
irgendwo, weiße Wölkchen am Horizont, goldene Lichtfetzen auf schattigen
Bergrücken, dazwischen das Grün der Ebene, ach, und die Sonne tat gut!
Eigentlich ist diese Reise eingebettet in Kitsch und Romantik gewesen. Ich
frohlocke hier ja auch schon in höchsten Tönen und finde mich klebrig wie
rosarote Zuckerwatte. Ist das die Verliebtheit? Schrecklich.
Die Normandie
23. August über Elsaß-Lothringen, Metz, dann Verdun nach Caen und Riva Bella in der Normandie.
Auffällt in dieser deutschlandzugewandten
Gegend Frankreichs, dass viele Kämpfe hier stattgefunden haben; es gibt so
viele Militärfriedhöfe. Wir fahren auch durch Valmy. Oder jetzt Verdun. Zuerst
zur Gedenkstätte, zum Ossaire Douaumont, mit dem Turm, der wie eine Granate gen
Himmel ragt. Und ein unübersehbares Feld von Kreuzen. Nur Franzosen. Das
Schlachtfeld von 1914, damals die aufgewühlte Erde und die zerstückelten
Menschenleiber. Im Wäldchen bei der Tranchée des Baionettes noch Grabenreste.
Und ich wage nicht zu pinkeln, als entweihe ich etwas. Dabei denke ich, wie
lächerlich, hier spritzte Blut, wirbelten Glieder in der Luft, wurden Köpfe
abgeschossen; Schweiß, Eiter, Brand, Schreie. Und ich wage nicht meinen
winzigen Strahl Urin nach 80 Jahren hineinzumischen? Welch Heuchelei jedes
verstummende Gedenken an solchen Orten. Hier müßte man weiter schreien, sich
wie wahnsinnig gebärden, verrückt werden beim Gedanken, immer noch auf dieser Erde zu leben.
Die Maas, jaja. Die
Marne, ja. Immer haben die Deutschen angegriffen. Oder die Preußen. Schon die
Reklame für Neugierige: "Village Gavlois", 2 -Sterne-Hotel.
Eierpfannkuchen und Apfelwein. 10 Minuten bis Verdun. Cộte 304 und Mort-Homme, macht zornig.
24. August. Riva Bella, Normandie. Zuerst das Meer hier, diese wunderbar frische
Atmosphäre erinnert an Ost- und Nordsee. Nach Cabourg, Houlgate, Deauville, vor
allem Honfleur und Le Havre. Sehr schöner Tag, am Schluß Käseeinkauf in Pont
L`Evêque.
25. August Caen,
Bayeux, Arromanches. Auch hier wieder Militärfriedhöfe. Die Landung
der Allierten am 6. Juni 1944. Riesige Pontons, die einen künstlichen Hafen
bilden, Monster jetzt im Wasser unter Ebbe und Flut. Geschmack von Tod und Blut
überall. Eisen, Schießen, Panzer stehen als "Denkmal" da. Geschütze.
In Bayeux der Teppich der Schlacht von Hastings 1066. Ein Tapisserien-Epos über
Verrat und Strafe und Tod Harolds, des Vertrauten Wilhelm des Eroberers, den
Harold verriet, sich zum König der Angelsachsen machte, von den Normannen dann
geschlagen wurde.
In Caen
auf der Festung. Die Stadt wurde im Krieg fast völlig zerstört. Doch auch
frühere Kriege sind spürbar: Hier in der Kathedrale St. Etienne die Gebeine Wilhelms. Es ist gerade Messe, das mehrfach ausgeraubte
Grab, auch von den Hugenotten ausgeraubt, nur ein Teil der Gebeine ist noch da,
konnten wir nicht sehen.
Kriegslisten. Fort Douaumont von den Deutschen
genommen, von nur 19 Mann als Zuaven
verkleidet. Oder auch in Rouen, Johanna, die Verurteilte, aber nur zu
lebenslänglich, weil sie widerrufen hatte. Doch die Engländer waren entsetzt,
sie wollten den Tod. So wurden ihr eines Morgens nur Männerkleider hingelegt,
Hauptanklagepunkt war ja gewesen, dass sie gewagt hatte, Männerkleider zu
tragen. Das war ihr Tod.
Mont St. Michel.
27. August Der gute alte Michael, so auch wieder nicht,
wie er da auf der Spitze steht: gepanzert, mit Schwert, und eisernem Strahlenring.
Wie idiotisch menschennah der Herrschaft. Dabei willst du doch wirklich prüfen,
Michael, wie es um unsere Seele steht, schlecht. Und die Kräfte, mich dagegen
zu wehren, nehmen ab. Kaum kann ich erwarten, dass Er mich von den niedrigen
Seelen, die dumm dahinleben, trennt, und mitnimmt in den postmortalen schönen
Zustand. Mich gar vor den mich anfallenden Dämonen, also jenen, die entkörpert
weiter so tun, als wären sie noch im Fleisch,
beim Himmeln schützt. Auch eine Reise zum Mont Gargan in Süditalien wird
nicht helfen.
Was bleibt vom
Besuch. Vielleicht soll man sich hier eine Messe aus dem 10. Jhdt. vorstellen.
Gregorianischen Gesang, aber auch in dieser Stimmung ist das Gift des Abendlandes
voll da. Und vergeistigte Innenwesen
sollten wir nicht Engel nennen, auch der Poesie wegen nicht. Wie nehme ich die
Hülle weg, um auch mein verseuchtes Ich anders zu lenken, als in dieser
Tradition. Waffengeklirr, Bekehrungseifer. Zwang. Ja, eine Zwingburg, so
erscheint der Mont und ganz nah, Grausen der Gemäuer. Nur von ferne ist er
feenhaft, schön. Und als Mirakel der Natur inmitten des Meeres und des Watts
zeigt er, was er eigentlich hätte sein müssen: Einsamkeit,
Weltabgeschiedenheit.
Was kann ich erinnert
von ihm wiederholen, Stimmung im Wissen vom Geschehen steigern? Hundertjähriger
Krieg, verbrämt mit dem Wort "Rosen"? Die Schlachtfelder hier eine
verspätete Rache?
Nun ja, der
Kreuzgang, der Innenhof. Gestickter Stein. Oder die Merveille: Gästesaal. Die
Spitzbögen, der Wald von Bögen und Durchbrochenem. Und dass ein bestimmtes
Bauprinzip, dass die Gewölbe auf einem diagonal verlaufenden Bogengerippe
ruhen, so war Gotik erst möglich - ist das alles? So waren dickleibige
romanische Gewölbe unnötig, und schlanke, geistige Gewölbestrukturen eben mit dem ziselierten Licht entstanden.
Dem Architekten fiel das ein. Woher fiel es ein? Das Apriorische beherrscht
auch die Baugeschichte!
Schon 708 brach
jener durch, der den "Drachen" besiegt hatte, woher kam er, dieser
Heilige Michael, wer war er? Was ist diese postmortale Schicht des Himmels
überhaupt, und weshalb konnte der Bischof Aubert von Avranches an die
Tatsächlichkeit des Anrufes im Traum nicht glauben, ähnlich wie einst der
Apostel Thomas nicht? Als sich der Glaube ans Sichtbare, an Reliquien und
Mauern, Waffen und Güter noch nicht verfestigt hatte, dieser Umgang mit
verfestigten Illusionen, die als Machtschutz und Machtschutt angehäuft wurden?
Dreimal wurde er aufgefordert, ein Kloster auf dem Mont-Tombe zu gründen, und
erst als er nach-drücklich von einer unsichtbaren Geister-Hand berührt wurde,
glaubte er es. Die Delle im Totenkopf -
der schmückt den Kirchenschatz von St. Gervais in Avranches - ist noch als Reliquie zu bestaunen. Mit Mühe gerettet
von der Furie der "Revolutionäre" von 1789, die auch den Mont
beglückten, daraus ein Staatsgefängnis machten, gleich daneben in der Merveille
eine Schneiderei, die Kirche eine Fabrik für Strohhüte, Theater und
Kornspeicher dazu. Schon 1791 verließen die letzten Mönche das Areal. War das
nun eine Lösung, war nun der Geist endlich befreit, die Grenze nicht mehr
vermauert? Mitnichten. Nun kam die Wut des Praktischen erst recht bis in jedes
Detail zum Zuge. Totenkopf und kostbare Handschriften wenigstens wurden
gerettet. Doch auch in Avranches wütete der Plebs, zerstörte die Kathedrale,
jene, wo Heinrich II im Büßergewand Abbitte geleistet hatte wegen der Ermordung
des Thomas Beckett im Dom von Canterbury. Und da denke ich jetzt nicht nur an
Eliots Stück, sondern auch an die beeindruckende Schrift Becketts heute, der
sich aus dem Totenreich über Computer "gemeldet hatte" in
einer Cottage des irischen Lehrers Ken Webster... Verrückt.
Auch in Coutances, wo mir ein Optiker die Brille reparierte, ist wichtiges
Herkunftsland literarischer Themen, aber auch des Mordes. Von hier stammt die
Familie Hauteville, Tancred, Roger, Manfred, Robert Guiscard - die Normannen,
die die Königreiche in Sizilien begründeten.
St. Vaast und Rouen
29./30. 8. Jeder Schritt körperliches Leben ist
eigentlich eine Katastrophe, nur Tücke der Objekte in ihrer Kleinheit,
beschäftigen nicht sie mich andauernd, auch jetzt, obwohl ich St. Vaast von vorgstern, Rouen von gestern beschreiben müßte,
"Größe". Ha. Nicht nur die
Abnützung der Furie rast, sondern auch ihre Erniedrigung auf Schritt und
Tritt. Cioran hat Recht, wenn er
behauptet, das Glück könne nur einer Selbstpreisgabe gleichkommen, also Demut?
Dann erst steigern wir uns. Früher habe es Götter gegeben, denen man sich hingab,
und jetzt, sind wir freier, da es sie nicht mehr gibt!? Das Nichts aber? Und
unsere Sehnsucht frei zu sein? Mitnichten. Die wird durch solche
"Götter", wie die Klomuschel und das Strichmännchen und das zerkrümmelte
Brot, der Papierkorb, der alltägliche Dreck blockiert! Tage und Nächte
andauernd voller zermürbender Gedanken leben. Wir sind potentielle Mörder
jener, die in unserem Umkreis leben; dass wir es nicht tatsächlich sein können,
frißt an uns, und wir versauern als willensschwache blutlose Versager."
Allein und in Freiheit zu leben, ohne das tägliche Geseiere, die
Erniedrigungen, das andauernde streitende Geschrei.
Alles, auch St.
Vaast ist von ihm, dem „Teufel“- eher dem „Mephistopheles-Gift“ - überschattet.
Groll. Mit diesem Gefühl umgingen wir das große Fort am Meer. Der Festungsturm
mit dieser Kappe, man denkt an Don Quijote. Unsinnige Militärzone. Wofür heute.
Schöner Rundspaziergang am Wattenmer. L. hat Angst, Schwindel, kann auf der
Mauer nicht gehen. Der gleiche Turm auf der Insel von St. Vaast. Von hier ist
Jakob II, Sohn der Maria Stuart mit Unterstützung des Sonnenkönigs 1692 gegen
England und Holland aufgebrochen. Die Katastrophe dann vom Kap Hougue. Am Leuchtturm
von Bartfleur, vorher der Hafen, gefährliche Strömungen, furchtbare Brandung,
Klippen, Felsen. Der Turm sehr hoch.
Hier also die
Schlacht. Dann Flucht nach Hague.
Überall diese
Spuren von wahnsinnigen Machtkämpfen. "Geschichte", Tod. Doch als
wäre ich da der "Wahrheit" näher, am schlmmsten ist die
"Normalität" und Banalität. Sowohl der Schrecken, als auch die
Schönheit - sind außerhalb. Jeder Engel ist schrecklich. Dies also ist es, was mich wieder atmen läßt,
der Abgrund, den wir andauernd vergessen im banalen Getue.
Zurückgeblättert: Besuch des Seine-Tals mit den Klöstern Jumièges und Wandrill. Wandrill vor
allem, weil Maeterlinck hier war, das Kloster sogar wieder
von Mönchen bewohnbar gemacht hat? Heute kennt niemand seinen Namen, ich
frage nach ihm im "Magazin", wo nur lauter katholische Bücher und
Kitsch verkauft werden.
War hier einmal ein Geisterort. Wie in
Rouen mit Jeanne. Ihre Stimmen machten
sie so stark und handlungsfest. Doch die Stimmen brachten ihr auch den Tod
durch die Inquisition. Jetzt ist das Kloster intakt, die Aura des Pförtners
strahlt viel aus, eine subtile Geistigkeit. Und ich lese von der
Hauptbeschäftigung der Mönche: "lecteur divin" lectio divina. Qui
parle ainsi et l`ahme qui écoute et répond. Un sorte de "rumination"
ce mot qui fait image est lui aussi traditionnel, dass der Geist langsam das
Herz ergreift. Doch selten läßt sich in der Landschaft lesen, auch wenn
diese sonst zur absoluten Präsenz zwingt, ist es heute schwer, solch eine
"Lektüre" zu finden! Eine, die ich nicht vergessen kann, ist das Val
di Csesne mit Kühen und vielen normannischen Strohdächen, abgeschieden, dass es
war, als berühre tatsächlich der Geist der Landschaft hier, die Aura das
Herz. Hier würde ich gerne leben.
Weniger in Jumièges direkt an der sanft-gewaltätigen Seine, wo wir am Ufer
Mittagessen, darüber nachdenken, dass die Selbstmörder von Paris hier
vorüberschwimmen müssen. Und Jumièges, die Ruine mit dem schönen Park, ein
anderes Schandmal der Revolution, es wurde einem Holzhändler überlassen, der
das Kloster sprengte.
Rouen, Jeane d´Arc
Vor allem aber in Rouen ist der Bauzirkus anhand der
Kathedrale an ihr abzulesen. Der Macht-
und Glaubenszirkus. Jede Stadt ist eine Mühle der Vernichung, heute besonders,
schon damals aber war es so. Thron und Altar, man kann die Revolution sogar
verstehen. Natürlich gehts um Geld und Macht:
1190 beschließt das Kapitel, die Kirche mit einer hohen Mauer
abzuschließen, Handwerker siedeln sich an, machen den Bürgern Konkurrenz, denn
sie müssen keine Steuern zahlen. So reißen sie die Mauer nieder. Das Kapitel
exkommuniziert die ganze Stadt, 6 Monate keine Taufen, keine Begräbnisse,
Hochzeiten etc. Bürger stürmen die "Immunität", schneiden den
Priestern die Genitalien ab. Genau so ist es mit Jeanne, zuerst lebenslänglich,
dann Tod, nach einigen Jahren rehabilitiert, im gleichen Gebäude des
Erzbischhofs, wir gingen daran vorbei, und die "Verräterin" wird dann
1920 heiliggesprochen. Verwüstungen der
Glaubenskriege.
Auch die Gräber
zeigen die Eitelkeit, den Grund, warum darüber Kirchen angelegt werden, um
Protzentum, Macht und Reichtum zu zelebrieren, nicht etwa Gott, den
Konkurrenten. Etwa Louis de Brézé und Diane de Poitiers, die wurde Frau
Heinrich II. Früher schon seine Mätresse. Sich für die Ewigkeit präparieren
lassen in diesem Gräberzirkus, so etwa: Richard Löwenherz hat hier eine
Tumba mit seinem Herzen, der Körper kam
nach Fontevrault, die Eingeweide bestattet in Poitiers. Ekelhaft. Diese
Reliquien, als wäre der Körper, das alte Kleid zu diesem Spektakel am besten
geignet! Lächerlich alles. Auch etwa, dass der Butterturm des Doms finanziert wurde mit Spenden für die Erlaubnis, während der
Fastenzeit Milchprodukte essen zu dürfen. Bei der Qualität von Käse und Butter
hier - der Reichtum des Butterturmes wird so verständlich!
Und weiter geht die
"Geschichte", die ja sowieso eine Geschichte der Narrheit und
Verworrenheit ist! "Macht" und Gloire. Neuer Zirkus 1562 -
Hugenotten besetzen Rouen, plündern das
Gotteshaus der andern, zerschlagen Gräber und Skulpturen, schmelzen den Schatz
ein. 1683 spendet Ludwig XIV zum Wiederaufbau, natürlich, auch geraubtes Geld!
Und dann die Große Revolution: die Zerstörung geht weiter, alle Metalle,
Kupfer, Blei, Gold, Silber, ebenso die Glocken werden eingeschmolzen. Die
Achskapelle für ein Getreidelager vermietet, das Ganze wird zum "Tempel
der Vernunft", hölzerne Tribünen, die Kirche wird zum Konzertsaal. 1822
ein Blitzschlag, der Turm wird beschädigt. langwierige und eitle Diskussionen.
Schließlich wirds ein gußeiserner Turm. Und natürlich muß nun zur Ehre der
Bürger der höchste bekannte Turm dieser Erde entstehen: 151 Meter. Man merkt
die Absicht ...
Schließlich kommen
die zivilisierten Allierten, Bombardements am 19. April 44, das südliche
Seitenschiff wird völlig zerstört. Der Luftdruck zerstört weiteres. Wie wird
der Zirkus weitergehen. Halt, auch schon 1787 wird der wunderbare Mittelpfeiler
des Hauptportals beseitigt, um Platz zu
schaffen für eitle und protzige Prozessionen des Klerus, für seine
Selbstdarsteillung.
Wahr ist schon, dass
nur sterbende Gottheiten Freiheit geben. Wie jetzt nach dem Tod der
Welterlösungsidee auf rot. Verbrauchte
Gottheit. Doch die Psychologie des
Irdischen beherrscht alles, der Haß, weniger die Sehnsucht. Sklaven, Fremde,
die Rom erledigen wollten. Doch es stimmt: das reichte nicht. Selbsthaß wars.
Der Plebejer, der Nichtse. Und der Sohn war selbst einer, ein Niemand, der zur
angenagelten Leiche wurde. Schimpflichen Tod starb. Aber Erniedrigung - ist sie nicht eine sublime Erhöhung?
Bald aber
bemächtigten sich die Reichen und Mächtigen des Amen und machten daraus ihr
eitles Spiel. Ihre Verbrechen in Seinem Namen, der das genaue Gegenteil wollte.
Caen/Rouen. Rilkes Gedichte zu den Domen meinen etwas
anders. Und doch sind sie peinlich. Es ist jene Sehnsucht, ja. Die in uns eingepflanzt,
trinken will, alles ergreift, es trinkbar macht. Trunken sein will an allem,
dann erst schwingen kann. Und dann sagt, ohne dass es weiß, was es sagt:
Gottseidank, weil die Namen besessen machen, wirr ertrunken. Die Tiefe, ja,
Cioran hat recht, die Tiefsinnigkeit, das einzige christliche Geschenk, das
kannten die Alten nicht, erschöpften ihre Götter nie. Das Unsichtbare, das Bild
gewann, nicht umgekehrt, das Bild, wie es vor dem Unsichtbaren steht, es den
Sinnen schenkt, was Leben träumend nennt, ein Stein, ein Baum, ein Hain, dass
mir die Sonne überfließen könne, ich eingestanden bin, was außen ist,
vernichtet sich, und brennt in mir was ein: es ist dabei und schwingt im
Zentrum, und sei es noch so oft aus Stein. Ein Bild, ein Saum, und klein geht
ab, so unverwüstet wie ich mich noch nie gehabt, gesund und hell, was niemals
mehr so ist.
Die Gefühle, die
Rilke ins Wort bringt, sind durch Inspiration eingegeben. Hier aber im Bild
entzündet, aus der Metapher wachsend, also literarisch und fein gemacht, was
ganz wirklich ist, und keiner Festrede bedarf. Und doch ist die Festrede hier
steigernd, dass wir das Unten ablegen, klettern, und alles, was für sie normal
ist, auch wenn sie was anderes sind, als Kirchenräume.
Die erste Elegie:
die der Toten! Und die Deutung? Holthusen (rororo) sieht sie, die
übersinnliche, mediale Begabung Rilkes. Etwa die Geschichte von Schloß Berg am
Irchel. (S. 136). Wie Duino. 1920 sind Rilke
Gedichte von einer fremden geisterhaften Erscheinung diktiert worden:
Ich müßte eine Novelle dazu montieren! Mit inneren Monologen aus den Elegien.
Die neue Struktur: Rilkes
Geistergedicht. Orpheus als Stellvertreter, Schreiben als Brücke!
"Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden/ Reichen erwuchs seine weite
Natur."
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