Dieses Blog durchsuchen

ALL TAG

Montag, 19. März 2012

TERPLAN UND DIE KUNST DER RÜCKKEHR I.Teil


Dieter Schlesak
                           

                  TERPLAN
              Und die Kunst der Rückkehr


               


Erstaunlich ist, daß heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Litera­tur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene aufs Un­heimli­che und Paradoxeste real zu werden scheint; daß auch die jahrtau­sendealte Tradition wieder einströmt,  wie im Traum stößt bei dieser Öff­nung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Er­lebnisse auf­genommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erin­nerung" (Freud)

Zu den  Anfängen  zurückzukehren,  bedeutet Heiterkeit. Heiterkeit bedeutet zur eigenen Bestimmung zurückzukehren.  Tao Te King


Hätte Ihr Buch nicht auch Die Macht der Gefühle heißen können?
Nein. Denn sie schwanken ja ständig zwischen Macht und Ohnmacht.
Nichts, was wir bisher produziert haben, ist gegen Auschwitz eine
hinreichende Waffe. Also müssen wir auf die Unruhe vertrauen. Suchen,        immer wieder suchen.     Alexander Kluge







                                                         I
                                                    1                                



                                                    2





Auch heute sehe ich Jann nackt vor mir: Sie steigt in die Wanne, ins Weiche, ins Schaumbad. Und dann tauche auch ich für Minuten ein.
Es klopft, und ich schrecke hoch. Es ist nicht ganz unerwartet meine Mutter. Sie steht vor der Tür. Ich höre sie:
 Ist das Bad frei?
Sie fagt es so wie früher, als ich mich noch darüber ärgern konnte. Ruft es mit dem gewohnten scharfen Ton und dem siebenbürgischen Singsang in der Stimme:
Michael, bist du es? Ich bin daaa.
Ist doch komisch, genau wie im Traum, der holt uns also jetzt alle ein. Und immer weiter gehen die Worte vor der Tür:
Host tea gad geschloofen? Gaden Morjen, gaden Morjen. Wie wunderwunderschön diese Morgenfrische.
Sie wirkt so unbekümmert. Sie lebt weiter, und es ist wie immer. Auch bei Jann fällt mir diese Unbekümmertheit auf, und die ist sehr tröstlich, tröstlich ist dieses Selbstverständliche, Gottseidank bin ich nicht nur mir selbst ausgeliefert; als könnte man gemeinsam einen Tag neu erschaffen. So geht’s dann weiter, auch wenn ich manchmal glaube, es kann nun wirklich nicht mehr weitergehn! Wäre ich allein, würde alles immer mehr hinein wachsen in die Erinnerungen, die mich ausfüllen, so daß die Außenwelt immer kleiner wird, ganz von mir abfällt, könnte dann gar nicht mehr unterscheiden, was nur geträumt und was Wachsein ist, und dann würden sie mich wohl einmal einliefern: Weiße Kittel, ein Wagen, alles sehr sauber und alles verschwindet in einer weißen Landschaft in eisigem Seelenschnee.
Jetzt steht sie nicht mehr vor der Tür, horcht sie? Unsinn. Mit sechzig fürchtet man die Mutter nicht mehr, Abnabelung längst gelungen, nun wir sie das Kind, und doch auch wieder nicht, wenn sie mit besorgtem Blick sagt: Du sollst dich nicht mehr mit "diesen Sachen" beschäftigen, es schadet dir! Als wäre für die nur der Augenblick wirklich, nein, auch der ist eine aufblitzende Sekunde wie immer aus der Vorkriegszeit, als wäre gar nichts geschehen. Als ginge alles ewig so weiter, jaja, "Ewiges" und "Hehres", das irgendwo am Himmel hing wie eine stahlblanke Wolke, unten aber der Dreck des "rauhen Alltags". Warum kommt sie mir, genau wie auch Janns Eltern oder wie mein alter Freund Adam, warum kommen sie mir so naiv und zugleich beneidenswert lebenstüchtig vor? Ungebrochen; als wäre es nicht untergegangen, dieses Leben?
Dies ist die Frage, so steht wenigstens nichts mehr fest und bewegt sich auch nicht mehr, und es ist ein fahler Schein, fad und oft sehr abgestanden, daß man schreien könnte vor ohnmächtigem Warten, es zuckt in den Händen, Lähmung und nervöses Dasitzen, gefesselt an ich weiß nicht was und ich weiß nicht wie. Sicher kein idealer Zustand, so haben sie natürlich immer noch recht, kein Beispiel fällt mir ein, was es dagegen zu setzen gäbe, weil es keines mehr geben kann! Wie wunderwunderschön, ja. Und dabei redet die Mutter pausenlos weiter, sitzt im Garten, liest, und auf seinen erstaunten Blick, den sie nicht zu deuten weiß, antwortet  sie entgegenkommend: Weißt du, ich bin doch aus einer andern zeit! Bin aus einer andern Zeit, sagt sie eifrig mit dem gewohnten Aufwand an Ton und Geste.

                                           4
So muß sich einer anhand dieser unvorstellbar anderen Zeit Terplans Irritationen vorstellen. Ihm schien es nämlich, daß seit seine Mutter hier war, erst eine Woche, es nun im Garten, in der Küche dieses Hauses, sogar im Schlafzimmer, eine ganz merkwürdige Vermischung von Zuständen gäbe, fast so, als gingen nun unsichtbare Geister hier um.
Er öffnete die Badezimmertür, steckte vorsichtig den bärtigen Kopf heraus, wie er es in Anwesenheit von Gästen meist tat, und verschwand dann fast geräuschlos in seinem Arbeitszimmer: Schnell, um sich dort nochmals der Gegenwart zu versichern. Die grüne Milde der Umgebung sah durchs Fenster herein; still wars, auch auf dem umgepflügten Feld des Nachbarn; in der Ferne das Meer – blinkend. Er hörte ein Summen, als hätte er Fieber, aber nur die Zeit stand still. ein leiser ziehender Schmerz wurde spürbar, der ihn mit kleinen Schlägen weckte und zu schreiben zwang, denn was er sah, stimmte mit den Gefühlen nicht mehr überein; und manchmal sehnte er sich nach dem Getöse einer Großstadt, New York etwa, München oder Berlin, wo seine Freunde lebten, Adam und Chris. Immer wieder hatte er versucht, in Berlin zu leben, aber immer wieder war er weggezogen und hatte sich dann im toskanischen Bergnest Aliano in die rasende Ruhe, in dieses Zentrum, wo trotz allem noch etwas voranzukommen schien, vergraben, war hinein getaucht, hatte sich damit vermischt, sein Leben völlig in diesen tödlichen Wirbel einsaugen lassen, der ihn langsam verschlang und aufbrauchte, als müßte er sich zu Tode schreiben, um endlich auch bei jenen zu sein, die er seine Personen nannte, um so stellvertretend die Schuld abzutragen, die an einem anderen Ort nicht abzutragen war, dort, wo die Tat nicht geschehen war, diese aber ermöglicht hatte – in den schreienden, in den gebrüllten Befehlen. Dort, wo sie jetzt alle waren: Millionen Opfer und Millionen von Tätern - in einer unvorstellbaren Ferne des Todes. So schlug er also mit diesen Hämmerchen seine Zeichen auf das noch unbeschriebene Weiß eines Blattes, das er hoffte, einmal wenden zu können.
Er schlug fast verzweifelt die Hämmerchen auf ein noch unbetretenes, weißes unwegsames Gebiet, Zeichen und zahlen, als säße er vor einem klingenden Instrument mit 24 geheimen Zeichen,  als wäre es jener verborgene Rest, den der Herrgott nach seinem Verschwinden noch zurückgelassen hatte, und als müsse man eine besondere Tonfolge wie einen verlorengegangenen Schlüssel, dazu eine geheime Lautkombination wiederfinden.
Michael schrieb zuerst den Traum dieser Nacht auf. Und brachte dann den gestrigen Tag in diese vorgestellte innere Ordnung: sah diesen plötzlich so hell bewußt und ganz neu vor sich auftauchen:

                                            5
"Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! – Mutter hatte wie jeden Morgen seit acht Tagen vor der Tür gestanden, geklopft, sie wollte uns, Jann und mich, davon überzeugen, daß wir uns 'lüften'  müßten; Jann hatte sie schneller überzeugen können. Jann stand in ihrer Schreibzimmertür; beide öffneten wir unsere Türen also an diesem Morgen, ich merkte wie ich unter der energischen Obhut dieser trostreichen Einfachheit meiner Mutter aufatmete, als könnte nun alles wieder neu beginnen. –Wie wärs mit einer Bergwanderung, sagte sie.
- Carrara, Michel Angelo... Jann sah mich fragend an, hochaufgerichtet, erwartungsvoll stand sie da, und neben ihr klein und gebückt, aber unruhig und agil meine Mutter. Komisch, daß die beiden da zusammenstehn. – Nein, um Gotteswillen, nein, wehrte ich ab. – Warum nicht?
- Da wirst du nur depressiv! Kein Grün, nichts, nur weißer Stein.  Schöner wär es doch, nach Torcigliano zu gehen – durch den Wald, wundervoll der Geruch der süßlichen Lianenblüten, lockte ich! Und auch die Blumen, da gibts wildwachsende Myrten, herrliche Sträuße könnten wir pflücken. – Und nah am Blick entlang, blau wie der Äther, eine Glockenblume, kommentierte Jann ironisch.
Mutter prompt: Vielleicht ist dies der große Gott, vor dem ich mich verneige. Joi, wie wunderbar, und stürmte gleich trotz ihrer achtzig mit Floh, dem kleinen Hund, los, als wären wir die Alten. Sie lebt allein. Vater ist nun schon seit fünfzehn Jahren tot. Sie hat es gut verkraftet. Fast ist es so, als wäre sie jetzt freier, ungehemmter; er hatte sie ein wenig unter Kuratel gehabt. Sie spielte immer das junge Mädchen, war es (unangetastet von den Ereignissen) vielleicht auch geblieben. Aber wer von ihnen wurde schon wirklich 'angetastet'?
Mutter fühlt den Schmerz des Vergehens, aber sie glaubt nicht an die Abwesenheit. – Sieh, Blüten, kein Blatt gleicht dem andern, und sie sind so winzig. Und witzige Kronenköpfchen. Zählt die Gänseblümchen ab wie früher als Backfisch... er liebt mich, er liebt mich nicht, liebt mich, nicht... liebt mich. Lacht, wird dann verlegen, als erwache sie. Na sowas. Und dann stehn wir an der alten Kapelle. – schau, die alte Kapelle! Innen rosa und golden, abgeblätterte Farben, Wind und regen als Zeitbleichen, was war. Mutter steckt den Kopf neugierig hinein ins Kühle. Empfinden an Haut und Haar, als zähle sie Verbotenes ab. Besonders gläubig war sie nie, im Gegenteil. Sie streicht sanft über das grob-bäuerlich geschnittene Madonnenbild. Und wars nicht so (du sprichst mir aus der Seele): Da wandern sie durch Pinienduft/ natürliche Marienlieder/ Maria vorstellbar/ und grün/ in einem spitzen Grashalm/ Aufwärts/ Wachsend.
Vielleicht/ ist er ja gar nicht/ Tot. Dort oben lebt Er/ Unberührt...
Ihre tänzelnden Schritte, ihre kurzen weißen Hosen, der Oberkörper gebückt, der Kopf, das Gesicht durchfurcht, lang die fast muskulösen Beine, blaugeädert und gezeichnet, die Füße in groben Schuhen bewegen sich wie selbsttätig fort auf dem Wiesenweg; Und wie würde sie böse werden, wenn ich von Zwerg Nase spräche, es mir hier einfiele, als läse sie es mir am Krankenbett wie früher vor. Früher siebenbürgische Hausmannskost, Eintopf. Kleinbürgergerüche auch im Bücherschrank. Du bleibst! Ekel schon damals vor dem Alltag und dem Geklirr des Bestecks, der Teller. Abwaschen. wie alles wirklich verkommen ist, das spürst du im Alter; wenn wir die Todesgefühle wie eine allgemeine Krankheit auch auf den Augenblick übertragen... Daß wir immer noch da sind!? So bewegt sie sich auf dem Wiesenweg, Füße in groben Schuhen, tänzelnd, wippend, einen rosa Stern im  Mund, in der Hand, Grashalm durch den Mund gezogen: Joi, wie zu Haus die Steinnelken. Und die andere Hand hält den Klee. Wo liegt hier das Glück begraben? Nimmt die zu große, zu dunkle Sonnenbrille ab (die braucht sie wegen der Lichtempfindlichkeit – die Augen schmerzen und tränen).
- Ein Fernglas müßte man haben, schade, daß wir kein Fernglas haben, sagt Jann.
Und Mutter mit ihrer Stimme – wie ein spätes Echo: Joi, kannst du dich erinnern, zu Hause bogst du dir heimlich Großmutters Opernglas bei.
- Und hielt es verkehrt, um zu sehn, wie winzig ihr wart.
Blaue Vitrine, Kredenz wie ein Gebirge aus Glas, vorsichtig hinaufsteigen, das Futteral innen rot ausgeschlagen: ein Kern mit dem Gerätchen, roch nach Parfüm, letzte Aufführung im Stadthaussaal, was wars: Freischütz oder Götterdämmerung? Großvater auf der Veranda, zeitungslesend, vor seinen Nachrichten versunken, so merkte er nichts, und ich sah mit dem Opernglas hinauf in das blaurote Licht, oben, wo die Morgensonne blendete: Im Glas dort die Laterna magica, die eine Geschichte abzog von Dr. Faust und seinem Pferdefuß, Blut floß aufs Papier, ein Pakt; und wenn ich die Lider zusammen presste, schwammen in den Tränen wasserhelle Geißeltierchen und Amöben. Mit dem Gucker ins Blaurote sehn! Meinte, so besser sehn zu können, was Oma, Mama  und Tante Friederike am Frühstückstisch erzählten. Wenn ich das Glas umkehre, die Vergrößerungsseite auf sie richte: So erzählte ein großer roter Herzmund aus dem Gräfinnengesicht Tante Friederikes im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt: Und der Fährer kam mät Goebbels uch dem däcken Göring äm ofnen Wogen ze as. Und der Führer kam mit Goebbels und dem dicken Göring im offnen Wagen zu uns. Und ich machte ihm einen Frühstückskaffee mit Semmeln. Und Mama tanzte begeistert auf dem Parkett dazu Czardas, lachte in den höchsten Tönen. Aber weißt du, was die dicke Frau Sturm geträumt hat, na, das war was, die hat dem Göttlichen von oben mit dem süßn Bärtchen evangelischen Hendl und Kraut offeriert. Doch der Adjutant war beleidigt, es müsse schon was Edleres sein, ein Hase, Wildbret, Rehbraten zumindest. Auch die Knödel schlug er aus. – am schönsten aber hatte die Oma geträumt: Nämlich, daß er sie auf der Stelle küsste, wegholte und heiratete. Im Schilderhäuschen salutierten alle Wachen mit weißen Handschuhen. Die Mannsleut sangen.
Oben aber, in der Mansarde, gab es die eingebauten Schränke. Und dort suchst du nach dem Geflüster. Und aus dem Zimmerchen hör ich die Oma, die Mitzmother, zu meinem Vater sagen, sie schluchzt dazu, und die Tränen fließen ihr über die Wangen: Kuurt, sie wördn das Künd noch umbrüngen, das Küüünd, schreit sie.
Vielleicht stimmts, und ich bin noch gar nicht da? Erwache wieder, wer erwacht? Sehe. Wer sieht? Wer bin ich? Ich sah Mutter vor mir, sie stapfte da in ihren weißen Hosen, Jann neben ihr. Worüber reden sie? Ich ging ihnen schnell nach, Mutter wandte sich um: Ah, da bist du ja wieder.
Und ich sagte ganz unvermittelt: Redet ihr immer noch über das vergessene Nachtglas? Aber was solls, was willst du denn heute damit, es vergrößert doch nur unsere Phantasmen; Gegenwart, wann war das? Na schau, sagte Mutter erstaunt. Es wird jetzt alles unsichtbar, erklärte ich: Alles bildet sich zurück, wird kleiner und kleiner, auch wir, bis wir wieder ein winziger Traumpunkt geworden sind! Ist die Welt nicht aus einem mikroskopischen, sehr dichten und unausgedehnten Kern gewachsen und explodiert, wie aus einer unendlich konzentrierten Träne?! – heißts, der Urknall also. – Einer hat das also getan? - Keiner, sagte Jann ganz ruhig: Das ists ja. Aber geh, ist nicht wahr, stellt Mutter verwirrt fest – und schaut uns beide an, als erlaubten wir uns mit ihr einen Scherz. Freilich, Jann glaubt sie aufs Wort, was ihre Verwirrung nur noch steigern muß: - Schau, das Meer, die große Träne – schade, kein Fernglas!
Dann gingen wir bis zum leeren Platz, der sich vor uns auftat, ein Ort, wo niemand mehr wohnt; nur noch die Kirche steht verlassen da. Viele Blumen auf dem Vorplatz, und der Frühlingssturm heulte von den Höhen, ich meinte das Geknatter der Gewehre zu hören und das Schreien der Frauen, das Weinen der Kinder. Jann erzählte, was hier im Krieg geschehen war. Und Mutter ging nachdenklich und schweigend über diesen leeren Platz; ich dachte, es gibt in Europa kein Land, wo sie nicht anzutreffen sind diese Schnadmale deutschen Wahnsinns. Mutter aber sagte vorwurfsvlle: Weshalb hab ihr mich an diesen Ort gebracht... gräßlich...! Das können deutschen Menschen nicht getan haben!
   Es war ein schöner Tag, das Meer blinkte wie ein Farbklavier in der Ferne, der Horizont war nicht schwebend , sondern scharf begrenzt, man sah die Insel des toskanischen Archipelags, immer grüne Pflanzen rochen besonders stark nach dem Gewitter der letzten Nacht.
Inzwischen waren wir in der kleinen Bar von Santa Anna angekommen; wir saßen auf einer Terrasse, Weinlaub, grün, über und neben uns der Sonntag. Mama leckte genüßlich rundum ein eigelbes Vanilleeis, als ginge sie all dieses nichts an; ganz versunken und fast gierig: Als gelte es, sich noch zu beeilen oder etwas schnell zu vergessen.. Jann und ich aßen etwas Brot und tranken Rotwein. Ich sagte: - Roter Kaffee, nicht kalter. und Mama probierte den 'Kaffee', nippte und lachte verschmitzt: Ist ja Wein! Scherze – um zu vergessen? Dazu gehört ein Lachen, als lebe man dabei schneller. Und Wortverbindungen fielen ihr ein: Wein und Brot gegen den Tod.
Jeden Tag war sie da, diese Angst, auch Mutter könnte sterben, auch sie einfach nicht mehr da sein, der letzte Mensch und Zeuge der Vergangenheit: Dieser Ort, wie weit hat er sich doch schon entfernt, wird einmal ausgelöscht sein und verblasst schon mit ihr, tönt, schluchzt und schlägt zu, da ich jetzt nur noch aus dem Vergleich lebe, einiges beim Namen nennen kann: Was wir so in der Gegenwart sehn, erscheint oft unter jenem innern Namen. Mutter sagt zum Beispiel: Joi, sieh den Schatten, den Wald, grüner Wald wie zu Hause, eine Wand, grüne Wand, lauschig, Taumel meine ich, als hätte ich Schwammerl gegessen, als hätt ich einen Schwips oder wer weiß was, Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Oder Pilze, Parasole, die wir hier unter den Kastanien am Brunnen sahen: Sieh ein Parasol, Pilz, weißt du noch, Tante Cäcilie hatte fast damenschirmgroße Parasole unter den Tannen, Staubwolken riech ich, ihr rotes Mauthäuschen gleich an der Straße, und über die Felder liefen wir an den Fluß, an die Kokel baden, Krümmung, Wasser, einer ertrank, das passierte, in den Letten wurde er wieder gefunden. Andreas, du weißt, Andreas mein Cousin, wir liebten uns sehr, die ganze Kindheit, die war gemeinsam, der fand den Ertrunkenen, Andreas, sonst ein Familienathlet, schöner Bub, schöner Mann, war wie ein Siegfried, blond, wasserblauäugig, aß fünfzig Zwetschgenknödel, rief menj Boch jubiliert, und mit ihm holten wir riesige Parasole, unter den Tannen standen die Geheimnisse wie Wichtelmännchen mit riesigen Hüten, wie Chinesen oder so. Schööön.
Du weißt, wo Andreas während des Krieges gewesen war, sagte ich.
Bitte, mach ihn nicht schlecht, sagte sie und redete unbekümmert weiter:
Parasole hatte Andreas in den Fäusten: Unter den Tannen... und Pfifferlinge kamen in die Tokana und Täublinge mit Speck gebraten, wir aßen, Vater aß keine, fürchtete Pilzvergiftungen, ganze Familien starben bei uns an der Verwechslung: Sie aßen arglos Knollenblätterpilze.
Ja, was ist der Tod  - eine Verwechslung?
Während sie eifrig gestikulierend erzählte - sie kann das – leckte sie begierig an ihrem Eis, das süß-klebrig auf ihre tadellose weiße Hose tropfte. Joi, da habe ich mich bekleckert; und wischte und wischte, zu Hause muß ich mir die Hände waschen, unbedingt. Du kannst es auch hier in der Wirtschaft, sagte ich: Dort die Tür zur Toilette. Komisch, Mutter konnte diese Tür nicht öffnen, war fast schüchtern in der fremden Umgebung auf der italienischen Sonntags-Terrasse mit den Karten spielenden und trinkenden Männern, sie brachte die Tür nicht auf, sie sei verschlossen. Gehen wir, es ist zu laut hier, lieber in die Natur, in die Stille! Sonst ist sie doch laut, und hier nun hilflos wie ein Kind, diese Eisentür, grün gestrichen, der Beton dieser Terrasse rissig, darauf stand sie nun... Wie aber, wenn ich diesen Beton sehe, es gibt Worte, Beton – da denke ich an ein kleines Beton-Regenwasserbassin im siebenbürgischen Garten, unter dem Klofenster, Worte, die Mutter, sie sagt es, nicht mag – Beton-Kammer, im Beton mauerte die Mafia ihre Opfer ein... Beton. Grüngestrichene Tür aus Eisen... Zellen, Baderäume, Andreas weiß es besser... Wenn ich in seinen Kopf hinein sehen könnte, fragen: Andreas, woran denkst du bei rissigem Beton oder Eisentüren, oder wenn aus dem grünen Kachelofen etwas Gas ausströmt. Als bei uns in Schäßburg einmal Wehrmachts-Pferdebaracken brannten, roch es nach verbranntem Fleisch, nach verbrannter Haut und angesengtem Haar, neben der Lederfabrik wars, lichterloh brannte es, ja, da lagen Schwaden süßlichen Gestanks über der Stadt; sonst rochs nach Lohe am Kokelufer, zuweilen nach Kadaver, abgezogenen Fellen, Haut, ja auch Haarberge gabs, Gerbsäure in Bottichen. einmal fiel ein Kind in den Bottich mit weißlich schäumender Gerbsäure, sagte Mutter, wie schrecklich; man brachte das Kind ins Spital, die Säure hatte den ganzen Körper zerfressen, Haut und Fleisch fielen Stück für Stück ab, bei lebendigem Leib fielen sie ab; das Kind starb nach wenigen Tagen. Der gute Hans-Onkel, der Bruder meiner Mutter und Tante Cäcilies Bruder, sagte sie, der Hans-Onkel, der mit den guten Händen, er war Arzt, du weißt, ging täglich ins Spital, aber er konnte auch nicht mehr helfen, - er ist natürlich tot, der alte Arzt. - Er war nicht alt. - Aber er ist tot. Und Andreas auch. – Natürlich. – Woran, wenn er dies jetzt hören würde, dein Cousin, der Blonde, der Offizier bei den Wachmannschaften war, du weißt? Woran würde er denken? – Nervös soll er gewesen sein, konnte auch das Wort Beton nicht mehr hören und sehen, hatte eine Phobie gegen jede Art von Rauch.

Am nächsten Morgen sagte Mutter, sie sei in einem Traum an jenem leeren Platz mit der Kirche gewesen, sie habe die Menschenmenge auf der Dorfstraße gesehen, doch die Freude sei mit einer großen Angst vermischt gewesen. Dann aber habe sich gezeigt, daß diese Angst gar nicht so unberechtigt gewesen sei, denn die Leute hätten alle gehetzte Gesichter gehabt, sie wurden nämlich von Russen mit Hieben zusammengetrieben.
Aber Mama, es waren doch SS-Leute in Santa Anna! Sagte ich.
Sie aber völlig unbeirrt: Nein, russische Gewehrkolben  schlugen zu, und Fäuste von oben... vor allem Greise, Frauen und Kinder wurden so mmißhandelt von den Russen. Es war ein Gewühl – und das Portal der Kirche stand weit offen, und mit Kolbenhieben wurden die Sachsen da reingetrieben, in der Kirche zusammengepfercht, denn es waren ja viele, sehr vieel! Immer mehr und mehr Sachsen strömten mit entsetzten Gesichtern ins Innere der Kirche, der Platz vor der Kirche aber war übersät mit Stöhnenden, Verwundeten, am Boden Liegenden, Schreienden und Toten, nur manchmal noch einzelne Schüsse, wenn ein  Russe den einen oder anderen Verwundeten erschoß. Im linken Kirchenschiff, wo ein Platz auf einer Empore oder Tribüne, die schnell in einen Altar verwandelt worden war, bauten einige Russen hastig ein Rednerpult auf, und über den Beichtstühlen wurden Galgen errichtet, darunter aber standen nun die Gefangenen und sahen zu. Einige von ihnen kannte ich gut, sagte sie, und man hatte mir gesagt, die Hinrichtung solle gegen Abend stattfinden, es war aber erst zehn Uhr vormittags. Es hieß, nur wenige Auserwählte sollten gehängt werden, am Abend würde man die Kirche mit den vielen Mensch4en in den Kirchenschiffen anzünden. Gräßlich!

                                          6
Kindheit, am Fuß des Himmels, blau, ein Leben lang: das  Guckloch hinüber und nah. Berühren.
Barfuß liefen wir über die nackte feuchte Erde, fühlten Zementboden im Keller, Sonnenstrahlen fielen durchs Laub, zeichneten Muster auf alles Wegen; alles wie frisch gewaschen. Wir liefen durch Pfützen, Lehm, Gras zwischen den Zehen... Differenz, termini, Wörter, erst jetzt wie ein Kloß im Hals, etwas geduckt die Phantasie, die Türen geschlossen; oft zementboden.
Damals die Holzwege noch voller duftender Blätter, die Sonnenkringel, Kreise an der warmen Hausmauer: Muster auf dem Sandboden, unsere nackten Füße tasteten sie ab; und jetzt kehren sie wieder im Traum: ein Widerschein von Licht, hallend, dichtes Leben, eine Wiederkehr, ein Kreis...
Am Grabenrand hinter der Sommerküche, auf der Zisterne, unter den Rusterbäumen die Sonnenkringel, Schattenflecken, Muster werfend: Da wars schön kühl. Bei Familienfesten eine Durchreiche aus der Küche fürs herrliche Weinsteinkraut; der Graben: Holz- und Hohlweg rätselhaft, Mäuse in der Sommerküche, Angst der Frauen, sie könnten in die Scheide... in Kaminen über der Sommerküche der Uhu, zog die Lider den ganzen Tag verschleiernd übers Auge, und wenn der seinen Flug nachts zur Mäusejagd begann, als wollte er jene Angst auslöschen, träumten wir bereits. Zehnuhrkinderflüge – kein Problem, alle konnten wir fliegen, Schwerkraft aufheben, in uns noch keine bleierne Melancholie und Müdigkeit, Schwere, die zu Boden schlägt. Auf der Holzbrücke über den Graben noch trappelnd Roß und Reiter spielen, Blinde Kuh, Verstecken mit Onkel Andreas und Onkel A. und dann wieder auftauchen, kein Problem.

Ein Hahn hatte schon ganz früh morgens um fünf gekräht, und etwas später kam die Sonne, es kam der erste Sonnenstreif, und der fiel in Terplans Zimmer auf eine weiße Seite- es schien Terplan, als bringe der Sonnenstrahl eine Ahnung aus einer ungeheuren Ferne, wie die Vögel, aus denen es heraussang, wie die Kreaturen, auch die Blumen, die noch ganz unbewußt in der Welt ihren Schlaf und ihre ruhigen Träume träumen, und daher glücklich sein mussen" ein Wunder also und doch ganz wirklich, dachte Terplan, während er die Treppe in den Garten hinabstieg, um sie zu begrüßen, als sähe er sie heute zum erstenmal.  In diesem Alter der Welt, müssen wir ganz langsam und zärtlich mit Menschen und Dingen umgehen, dachte er, es ist vielleicht der einzig mögliche Widerstand heute in der Zeit-, und duckte sich nicht wie sonst, zog die Schultern nicht wie sonst ein, wie früher der Halbwüchsige, als ihm seine Mutter sagte, Michael, steh gerade, du hast wieder deine schlechte Haltung-, und ihm dann einen Stock zwischen die angewinkelten Arme steckte , die wie rückgebildete Flügelstumpfe ausssahen.  Haltung, ja, das sollte wichtiger sein als Fliegen, von dem er immer geträumt hatte, und als Kind ging er abends gerne schlafen, weil er dann meinte, fliegen zu können.
Der Morgen ist so taufrisch und jung, und Terplan hatte plötzlich wie als Kind Lust zum Barfußgehen im Morgengras-, es ist alles wie eine glückliche Fügung, dachte er, kein Wunder  es schwingt alles in Duft und Klang, es riecht nach Pinien und nach frischer Frühlingsluft, nach Berg und nach KarrünrauchUnd ein Vogel, wohl eine Schwalbe, schien eine n chliche Stimme zu haben.  Man mußte alles aufnehmen, dachte er, auch die Traum( d lan"sam, alles ganz langsam tun, mit vielen Pausen und ruhigen Atemzügen.  Was sollen da noch Worte.  Und er erinnerte sich, wie er sie als Kind gar nicht gebraucht hatte, er war schwer mit ihnen zurecht gekommen, und hatte in der ersten Klasse den Lehrer immer nur angestarrt, verdämmernd, war fast eingeschlafen, saß da mit einem Ring um den Kopf, und wenn er aufgerufen wurde, hatte er nur gestottert, er hörte aber, horchte, was die anderen sagten, und es schien ihm dann, als zerrissen sie zwischen den Zähnen die armen Dinge, Tiere und Menschen, und er beobachtete genau@ sie sahen das Huhn nicht an, wenn sie "Huhn" sagten, stachen mit einem langen Messer in den Hals des Huhns, durchschnitten ihn, und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte, das Huhn lief ohne Kopf im Hof her-um, bis es ohne Kopf eingefangen wurde, Blut rann in eine Schüssel, und er war erstaunt, wie dumm die Worte sein konnten, "Huhn", "Blut" "Laufen", "Holz", das er erst vor kurzem "sagen" konnte, wie ein Kotzbrei hatte damals das Gebilde vor ihm gelegen, und er hatte oben auf einem wackligen Gang gesessen, von unten stank das Klo herauf, das Eisen des Ganges war von der Sonne warm gewesen, das Holz auch, und roch so gut wie das eingelassene Holz der Brücke über den Bach, oder die Holzscheite, und die Balken auf dem Dachboden, wo die Wäsche ausgespannt wurde, Taubendreck weißgrau auf dem dimpigen Balken, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte, zwei drei Bienen über seinem Kopf summten, sie wollten zu den Blumen, zu Thymian, Lavendel, Majoran, zu den Weiden und Lindenblüten an der Straße, und sie dufteten, Duft kam die Nase hoch ins Hirn wie eine Droge, und war wirklicher, war viel näher als Worte-, und er sah plötzlich das Gesicht seiner Kinderfrau vor sich, wie es sich wollüstig verzog, wenn sie an der frischen Erde roch, und er war freilich viel zu klein gewesen , um zu verstehen, was die Leute damals in Siebenbürgen behaupteten, daß es eine zweideutige Ehe gäbe zwischen dem Blütenstaub und der Frau, Duft, Pollen und Geruch, große Nasen offene Löcher, lüsterner Mund, und ein Lippenblütler unter dem siebenfältigen Rock- Geruch und Rausch der Feldblumen und dem Orgi.gmils im Heuschober oder in der Scheune, den die Magd damals vor den Augen des Kindes vollzog, das neugierig zusah, die Magd mit Ernö fickte, dem grobknochigen Knecht, ihrem Lieben Gott, der aber nun als Tier nüt vier Füßen schwer atmend auf der Frau lag, schnaubend und hechelnd im Rhythmus der ihr gemäßen Natur und den hochschießenden wunderbaren Säften- Alles roch nach Erde, Heu, Zwiebeln, Kaminrauch, und sauer nach Schweiß, nach festem Boden, und nach einem andauernd sicheren Glück- Das Kind hatte kaum sprechen gelernt, kaum laufen, wie sollte es da etwas vom schnellen Zeitempfinden wissen können, hie und da ein stinkender Uraltford auf staubiger Landstraße, der wie ein Ungetüm krachend und hupend dahinkroch und 20 Kilometer in der Stunde zurücklegte, da war noch im Geruchssinn, und am stärksten nackt in der Sonne und im Frühjahrsgras einer Blumenwiese, eine so starke Wahrnehmung des flüchtigen Daseins auch im Parfüm seiner Mutter, nur außen schlugen manchmal Uhren mit langen Pendeln, sogar Kuckucksuhren mit einem bunten Holzvogel, der vor Schmerz zu schreien schien, daß schon wieder eine Stunde vergangen war, wenn er dort im Türchen erschien-, ein Tag war eine Ewigkeit, lang, lang, wie heute ein Jahr.  Und ein starkes, fast schreiendes Gefühl für sich selbst dort im Geburtsloch erinnerte Terplan sogar heute noch, er erinnerte sich, und blitzartig kamen die Empfindungen, taten fast weh, und er wußte, daß er durch ein haariges, stark riechendes Tier, durch einen Schlauch im Dunkeln rausgestoßen worden war mit klebrigem Blut hinaus ins Kalte.  Und daß er vorher in einer ganz anderen, einer großen Stadt gelebt hatte, wo man fliegen konnte, un je er
Gedanke sofort zu einem Ding oder zu einem Menschen wurde, und daß man sich hier auf der Erde lebenslang wie nach einem verlorenen Zuhause sehnte, und nur nachts manchmal im Traum dort 'in jener Stadt sein durfte.  Früher, da tat er nie etwas anderes, nur das, was er sah, jetzt aber waren seine Augen müde, Einsamkeit der Auge@hatte jemand gesagt, und er hatte nun auch hier in diesem to@-schen Bergdorf, wohin er seiner Kindheit nachgezogen war, etwas Neues geübt, zaghaft und langsam an die Dinge heranzugehen, als wurden sie sich wieder 'ins Inkognito zurückziehen können, die Bekanntheit, die ihn fluchen ließ, aufgeben, und sie.so, wie als Kind aus der Sprache fallen lassen, scheues Auftreten angesichts des unfaßbaren Abgrundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus.  Erleuchtung der Langsamkeit, dachte Terplan: Nie, nie schnell werden.  Anstatt nur Erinnern, lieber wirkliche Pausen; Zartheit, Zärtlichkeit, schon mit den einfachsten Dingen und durch sie, wenn wir es merken, scheint etwas Undenkbares hindurch.  Und er legte die Hand auf den angewärinten Stein der Treppe, auf dem er jetzt saß, und tastete die Vertiefimgen und Rillen dieser Landkarte einer steingewordenen Erinnerung von Milliarden Jahren nach, ließ dann auch den Stein seine Finger abtasten, den warmen Körper, die Waden.  Und die Katze schmiegte sich mit zwei ihrer Jungen, reizenden flaumig geschmeidigen Geschöpfen, die keine Schwerkraft zu kennen schienen, an ihn
an, und sprangen in kurzen hohen Sätzen dem Spiel der Sonne                   und 4
Schatten nach.
Doch er war sich seiner selbst und seiner Stimmungen und Zustände nie sicher, Templ'm war sich nie sicher, als wurde ihn täglich jemand zwingen zu vergessen, wer er wirklich war; und vielleicht waY'                    sehr viele, unzählige Personen schien er zu sein, und viele kannte er gar nicht.

                                                    7
In dieser Nacht träumt ich etwas sehr wichtiges. Als ich aber erwachte, hatte ich natürlich diesen wichtigen Traum wieder vergessen, die Zustandsgrenze war unmöglich zu überwinden; in der eignen Wärme geborgen, noch lange liegend, Jann neben mir, ruhig atmend, versuchte ich, ihn wieder in mein Bewußtsein zu holen, was nur ganz allgemein gelang: Das Leben auf unserem Planeten hatte sich radikal und entsprechend unseren Herzenswünschen und unserem Wissen von der Richtigkeit, die hier zusammentrafen, verändert. An Details freilich konnte ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, doch es war mir klar, daß diese fabelhafte Revolution nur im Jenseits, zu dem wir schon längst gehören stattgefunden haben konnte.
Als mir dann für einen Augenblick die Gedanken ausgingen, spürte ich unter der Decke meinen großen Proletarier, und ich mußte lachen, deshalb also war ich so optimistisch gestimmt gewesen; hatte also vielleicht von einer Frau geträumt. Und freute mich auf sie. Da wird, wenn auch in viel kleinerem Rahmen, ganz sicher etwas Entscheidendes geschehen. Ist doch keine Schande. Denk an Beatrice oder Grete. Unsterbliche Geliebte. Wo kämen wir hin, so ganz ohne, mit der lebenserhaltenden Poesie! Und dieses abgelegene Haus ist für heimliche Begegnungen und allerlei Beziehungen recht gut geeignet.
Auch die Sonne kommt bis zur Stunde und eben nun wieder zuverlässig jeden Tag, ist doch ein Wunder, und wir sehen es kaum, meinen, es stehe uns zu und sei selbstverständliche Folge, wie wenn ich den Lichtschalter andrehe, und die Lampe brennt, kleiner Alltagszauberer kurzschlüssigster Erfahrung. N' Morgen, Herr Cogito. Sonne war gestern da, also kommt sie auch heute wieder und morgen sowieso. Damit steht und fällt "alles".
Nach dem Frühstück mit Jann und Mutter, wir konnten schon draußen sitzen, und über den Bergkamm des Spranga blendete dann auch die Sonne auf unsern Tisch vor dem Haus, konnte ich es dann doch nicht lassen, in meinem Arbeitszimmer nach dem fehlenden Wort zu suchen, immer noch in der Hoffnung, jenes fabelhafte Erlebnis dieser Nacht doch noch in den hellen Tag zu holen. Doch fand ich dieses Wort, obwohl ich manchmal meinte, es liege mir eben gerade auf der Zunge, natürlich weder in meinem Gedächtnis noch in einem Wörterbuch, ich nahm sogar baskische, toskanische und siebenbürgisch-sächsische Nachschlagewerke dazu. Und auch eines der unterdrückten erogenen Zonen, das eben erschienen ist.
Trotz allem schien dieser Kampf gegen das Vergessen sehr nützlich gewesen zu sein; abgesehen davon, daß ich mich entschloß, von nun an ein Traumtagebuch zu führen, wurde ich hier von einem ganz langsamen Diktat auf die Zeile gezwungen, das das dort Erlebte zwar nicht unmittelbar in unseren Raum holte, doch schön meinen zustand wiedergab. Herrn Cogito nämlich rauchte der Kopf. Doch als er im Durchbruch endlich Licht sah, zählte er die Sterne seiner neuen Blitze. und als alles darin verbrannte, war er ganz durchsichtig. Und er durchschaute sich. die heute so weitreichende Empirie verbrannte er im Hirn wie in einer Müllverbrennungsanlage. und so rauchte tatsächlich sein Kopf mit Erfolg: Da diese Logik sich selbst aufdenkt und nicht vergißt und den Kopf zerbricht, kann die Liebe nun aussteigen zu allem was nur so anscheinend draußen liegt. So schrieb ich.
Als ich zufällig auf den Abreißkalender sah, wurde es mir komisch zumute. Jemand hat darauf geschrieben, am Dienstag wird alles besser. Pfingsten bedeutete noch immer, steht aber andauernd aus, sagt man bei uns in Transsylvanien.
Geschehen ist bisher genug, ja, viel zu viel. So ist der Stand der Apokalypse ziemlich ordinär geworden. Als Anlaß dient der Streit um eine berühmte Frau, der wir alle unser Dasein verdanken, eine Kuh übrigens, sie heißt Europa, griech. semit, von der Sonne Entfernen, Untergehn. Da ich aus dem Osten komme, denke ich, dort sei ich der Sonne näher gewesen. Das ist gar nicht so lange her; seit einer Woche nun endgültig, da ich fast schon entschlossen bin, die Hauptfigur nach Hause zu schicken! Ganz schlimme Krankheit nämlich, dahin nie mehr zurückkehren zu dürfen, wo man täglich, ja stündlich mit den Gedanken sich tastend aufhält. Ich halte es fast nur noch schreibend aus, da kann mir niemand in meinen Phantasiegebieten den Aufenthalt verbieten, sie sind vorwiegend transsylvanischer Art, dienen ihrer Erhaltung, Kindeskinder und Waisenkinder, die buchstäblich im Leeren hängen, eine Art Abgrund für diese Grenzgespenster. Seit sie mich vor 25 Jahren weggejagt hatten, meine ich nun zwischen die Beine dieser höchst grausamen Frau gekommen zu sein und nun auf einem ost-westlichen Diwan zu liegen, wo mir unter örtlicher Betäubung sämtliche zähne gezogen werden.
Meine einzige Freude ist die Lust auf dem Blatt hier, das ich noch wenden kann. Auch die Lachlust jetzt.
Doch die einschlägige Literatur, der ich mich so (leider bedenkenlos und naiv anfangs) übergab, ist erschöpft.
Zu Hause galt sie noch etwas, Worte waren gefährlich. Narrenfreiheit würzt nun meine Tage, macht die Ohnmacht erträglicher. Und das Bewußtsein, ausgewiesen worden zu sein, wie der erste Mensch. Und den Tod fürchte ich wie dieser. Meine Bemühungen, ein heiliger zu werden, mußten also scheitern. Und die Versuchungen stehen nun Schlange ; anstatt alte Engel – junge Frauen.

                                                   8
Nachmittag am Meer. Ich ging ins flaschengrüne Wasser, windkühl der Sand, Südwind, zwei Kinder spielten neben dem Treibholz am Ufer, aufgewühlt das Meer, plötzlich schrie das kleine Mädchen, der Vater rannte hinzu, um das in einer schäumenden Welle Verschwindende wieder herauszuziehen. Strafend sah eine unter ihrem roten Damensonnenschirm strickende Oma herüber zu den Fahrlässigen, Wassertriefend kam ich an den Strand, nahms blaue Handtuch, meine Mutter saß im windkühlen Sand und las in einem Buch, hochgezogen die Augenbrauen, ich winkte, meine Mutter also da an der Sandburg mit Kinderfahnen und Kinderburgen und Kindertürmen und Kinderkirchen aus Sand, auch sie also ein Gast hier, andauernd die Gäste auf unserer 'Insel', doch kommen sie nicht aus dem Unerwarteten, Offnen, von dort, wo sie Himmel und Erde berühren, sie kommen aus dem, was war, das Überraschende muß dann hier entstehen. Ich sehe ihr zu, vorher war sie im Wasser gewesen, klein, man sah nur ihren Kopf, die Schultern, die muskulösen Beine unsichtbar, jetzt gehen meine Blicke über ihren Kopf, das schüttere Haar, als wollte ich versuchen, in ihren Traum einzudringen, als könnte er sich mit meinem vermischen, sich ein gemeinsamer Raum bilden, jetzt – die Geschichte vom Herrn G., , der heute das Leben regiert nur noch wie in einem Buch, jetzt, nachdem der alte Herrgott sich nirgends mehr zeigt. Seither, seit über vierzig Jahren, aber gibt es kein wirkliches Leben mehr, nur noch dieses: das vergangen ist.

                                                9
In der Nacht hatte Mutter wieder schlimme Träume gehabt; meist gehen die Träume heim, todesgetrost heben sie ab, fallend; auch diesmal wars das heimatliche Labyrinth, fadenlos irrte Mutter ab. Jedesmal Hinterhöfe und Gärten, aber immer wieder Zäune und Gatter, vor denen sie abgesperrt stand und besuchte ihre Eltern, wollte an der Kokel ankommen, im Elternhaus ankommen (man weiß, es steht nicht mehr) – und kam dann an den Marktplatz. Hoftor, Eingang, wer weiß in welche weingeistduftende fassartige Höhle... Hier erfuhr sie, ihre Mutter sei doch da; Stricken und Schwatzen, an der Fassade wehten Hakenkreuzfahnen und Staatsfahnen, und eine Blasmusik von fern spielte Muß i denn, muß i denn. Und du mein Schatz bleibst hier.
Es war mir klar, erzählte sie: daß es diese Stadt nicht mehr gibt. Und eine Katze kratzte mich ganz tief am Arm, es blutete heftig, Fleisch war zu sehn, eine Wunde. Der Arm schien wie amputiert abzufallen, ich schrie und erwachte.
Aber auch Mutter hatte wieder schlimme Träume gehabt. Und Jann sagte, ihr träumt zuviel. Warum?
Schlimm war aber auch der wirkliche Augenblick im Bad. Ich hatte in der Wanne meine Füße ganz weißlich wie Totenfüße vor mir gesehen, sie kamen mir plötzlic so fremd vor, allem die langen Beine, die sich im Körper hochschraubten, ich sas, sie kamen näher, nah, und wenn ich die Knie anzo, konnte ich sei fast mit dem Mund berühren. Ich tats nicht.
Beim Frühstück erzählte dann Mutter von ihren Träzumen. Ich sha meine erzählende und gestikulierende Mutter im schwarzen Kleid wie in Licht getaucht vor mir; ihr Mund zappelte wie ein kleiner blaßroter Fish. Nachts, wißt ihr, sagte sie, da irrte ich im Traum, denn da war ich ja eine Zigeunerin, in Schäßburg wie eine Fremde herum, ich hatte ein langes Pendelkleid an, hatte aufgelöste lange Haare und war ganz durchnäßt, als wäre ich aus dem Fluß gekommen, so lief ich durch die Stadt und kam nie an.
Und dann erzählte sie, wie ja auch ihr letzter Besuch zu Hause schrecklich gescheitert sei: im Leeren zu Hause. Mutter war im vergangenen Jahr dort gewesen. Es gibt unsere Stadt nicht mehr, sagte sie beim Frühstück fast tonlos: Niemand kannte und grüßte mich, und ich konnte niemanden mehr erkennen und grüßen, obwohl die Straßen, die Häuser unverändert, wenn auch etwas verfallen da stehen. Freilich: noch da und doch wie längst vergangen da stehen! Sie sei dann mit der ehemaligen Stadt im Kopf durch die Gassen, etwa auf der Marktzeile spazierengegangen, habe dann auf einer Bank sanft und wie verloren geträumt und dann jene Orte besucht, die noch ein wenig wirklich zu sein schienen, die wie kleine Inseln herausragenden wirklichen Stellen berührt; doch alles sei so geisterhaft gewesen. Nackt seien manchmal die Gefühle herausgeschossen, so etwa im Zimmer, wo sie sich als Kind daheim gefühlt hatte, da konnte sie nicht anders, da mußte sie über den alten schwarzen Kachelofen streichen, behutsam, als könnte er sich in Nichts auflösen, kalt der Ofen, wenn auch immer noch schwarz. Ein anderer Augenblick der Wahrheit sein eine Kirchenbank gewesen: Die Klosterkirche neben dem Haus mit den übertriebenen gotischen Spitzbögen, die wie Häkeleien aussehen.
- Du weißt.
- Ich weiß.
- Du verzehrst dich danach, all diese Erinnerungen. Weißt du, sagte sie, da saß ich in der ersten Bank vor dem Dreiflügelalter, du weißt.
- Ich weiß.
- Und da kamen alle diese Bilder, ich sah mich als junge Frau, als wäre ich eine andere. Ich im Dirndl, Vater im weißen Hemd mit Krawatte, immer trug er Krawatte, auch auf dem Gebirgsausflug, wo wir uns kennenlernten; er also, einen Staubweg mit Freunden entlang gehend, gestiefelt, ich im Dirndl. Mit Freunden einen Staubweg entlang gehend, an Wiesen vorbei, oder auf einer Staubstraße stehend, einige auf dem Lastwagen, andere wieder rauchend und redend auf der Landstraße, oder er und ich auf der Brechtischen Wiese, ich im Dirndl, er im weißen Hemd mit Krawatte; zwischen großen Margeriten stehn wir, Geruch von Waldluft kommt mit dem Wind von der Breite, es zieht aus der Schlucht.
Und ein Jahr später dann die Hochzeit; auf dem mattglänzenden Bösendorfer Flügel häufen sich in unserem Speisezimmer die Geschenke, sie häufen sich auch auf dem Tisch und auf der dunkel furnierten Speisezimmerkredenz. Es war halb vier Uhr nachmittags. Das Auto, damals eine große Seltenheit in dieser kleinen Stadt, stand im Hof, war mit Rosen und Immergrün bekränzt... Braut in weißem Seidenkleid mit Schleppe, zarter Schleier mit Myrtenkranz über dem Madonnenscheitel, weiße Rosen mit zartem Grün im Arm, Goldkettchen mit blauen Saphirsteinen und Perlen am Hals; der Bräutigam natürlich Frack, weiße gestärkte Hemdbrust mit kleinen Diamantknöpfen, Hochzylinder in der Hand. Ein langer Hochzeitszug, vorneweg das Auto, dann viele Fiaker, vorbei an der Neuen Brücke, Eiskeller, damals noch an uralten Häusern vorbei, Hofeinfahrten, düstere Dämmerung, die das Augenlicht flackern läßt, Atembeschwerden wie in einem langen Faß, dem der Boden ausgeschlagen wurde, altersschwache Türen davor mit verrosteten Hängeschlössern, dimpiger Geruch, muffiger, weinsäurehaltiger Moder. Vor dem Altfrauenheim und Paulinenloch standen die Zuschauer, einige Gäste, vor der Klosterkirche dann der Kirchendiener Löw, genannt Schnich, der Stundturm schlug, der Trommler oben, 3. September32, ach die Venus da oben in der Nische, schön nicht, Brautjungfern in pastellfarbenen Tüllkleidern mit Blumen in den Händen, von der Empore die Orgelmusik des braven Daniel, die Altstimme dann der Blaszek: Wo du hingehst, da gehe auch ich, dein Gott ist mein Gott. Nach dem Jawort und allen Zeremonien des Pfarrers Wagner, Hochzeitsschmaus beim 'Sander', Festtafel mit Alpenveilchen; in einer Ecke die Zigeunerkapelle. Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Rede des Stadtpfarrers und anderer Stadtgrößen. Gläserklingen, Zigarettenrauch. Festschmaus. Tanz. Hochstimmung.
So also Mutters Erinnerungsfahrt ins Leere, in die Stadt der Geister. Auch das alte Stadthaus, den Hof, wo das blumenbekränzte Auto stand, gibt es nicht mehr! Nachts aber habe ich wieder geschrien, weil mein toter Vater neben mir lag. Und hörte noch die alte Frau Weiß, die Weißnäherin, die auf dem Zuschneidetisch, auf dem überall 'Spännadeln' lagen und Stoffreste, Schnittmuster für die Ewigkeit radelte, auch das Brautkleid, wie sie sagt: Es ist eine scheene Hochzeit gewesen. Und sie wackelte dabei wie gewohnt mit dem greisen Kopf, hatte nur zwei Zähne im Mund. Die Singernähmaschine surrte dazu ziemlich laut. Schlüsselblumen und Klee aber seien immer noch da, und das Herz sei ihr dabei aufgegangen, hatte Mutter gesagt.
Und wenn diese Bilder kommen, wärmen sie mich. Immer noch... Wieso kommen sie jetzt, als wollten sie mir etwas sagen. Sie sagen doch nur: Das war unser Ende. Ein eigener Weltuntergang steht noch bevor.
Keine Taufen und Hochzeiten zu Hause und Kirchgänger in Tracht oder Frauen in langen weißen Kleidern mehr... oder Großmütter mit Runzeln im Gesicht, einige mit Kopftüchern, Leberflecken und dünnem Greisinnenhaar. Dazu steife Hüte. Gemessene Schritte. Feierlichkeiten. Und überall die Orgel. nachher die Märsche.
Du begegnest niemandem mehr, den du kennst. Wenn du Glück hast, siehst du zwei, drei vertraute Gesichter. Aber ich ging dann die Wege, die ich gern mag, auch über die Burg. sie ist unverändert; durch die Tore hindurch zu den Türmen. Die Katzenköpfe, schon damals waren sie abgeschliffen. Überstanden, abgestanden, vergessen. Zum Stundturm. Zeit... ein Schlag.
Kleinbahn, die dem Markt zuschnaufte; nachgelaufen war ich ihr bis hinauf zur gelben Post und zur Konditorei Martini. Jemand schien da abzufahren und winkte und winkte, und nur noch die Hand war aus dem Fenster zu sehn. Ein schneidender Schmerz durchfuhr mich: Zu spät, zu spät! – So sah ich meine Mutter vor mir und hörte plötzlich Vögel singen; Notenköpfe ziehen über den Himmel. Die Erde ist kühl, an den Fußsohlen Lehm; ich laufe zum Sandplatz, ich fasse mit dem dünnen Kinderarm hinein in den Baum, ein Astloch da, fasse hindurch bis zum heutigen Tag, und ziehe den Arm erschrocken wieder zurück, dies Loch könnte zuwachsen, klemmen, ich wäre für immer gefangen.
Es ist diese Schwere in Mutters Herz, ihre Abschiedsunfähigkeit.
Sie versuchen, ihre Wohnungen in Deutschland den alten siebenbürgischen Wohnungen nachzustellen. Im fremden Raum stehn die verstreuten Reste der alten Dinge; sie ergeben keine Stimmung mehr, sie stehn verloren da, als wären sie mitgebracht aus einer andern Welt. Sitzmöbel in der gemütlichen Ecke, auf denen Pölster aus dem alten Rauchereck liegen, verschwommene Heimatbilder, Gefühle, Gewohnheiten: Kissen mit rotblauem türkischem Muster von Oma bestickt, ein Rauchservice, das früher auf dem runden Tisch im Herrenzimmer stand, mehrere Morres-Aquarelle, vertraute Landschaften, die alte Burg von Schäßburg so an die Wand geworfen wie vom einer Laterna magica aus der Kindheit, mystische, dunkle Augenblicke, die aber dem Licht nicht standhalten können, die innere Kraft allein könnte diese Dinge strahlen lassen.
Herrlicher Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blaß Venus und Mondsichel.
Bratenfett vom Vorabend längst verduftet, auch Rauch der Petroleumlampen. Die weiten Röcke der Großmütter lagen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf der Landstraße, noch kühles Staubmehl, Pferdeäpfel.
Mutter erzählt den eckigen, überschnellen Bewegungen voller Ungeduld, als wäre sie noch ein junges Mädchen.  Auch die hohe, manchmal etwas rauhe Stimme im vertrauten Dialekt, war etwas matter: diese Stimme$ die alles veränderte, etwas anrührte, was mich meine innere Zerrissenheit heftig spüren ließ.
Doch dann begann sie gleich von Bekannten zu erzählen von einem fünfundsiebzigjährigen Siebenbürger, der im September nach Hause gefahren t,"ar, obwohl er bei seinem Alter oft starke Schwindelanfälle gehabt hatte.  Er ist bis nach Schäßburg gekommen, sagte sie: du weißt ich wollte mitfahren..                                
Er fuhr dann weiter Richtung Kronstadt, doch kurz vor seinem Heimatdorf im Burzenland verlor er das Bewußtsein, das Auto prallte gegen einen Kilometerstoint gegen einen Brückenpfeiler, schlug dann gegen einen Chausseebaum' cUe Frau war sofort tot; er nur schwer verletzt.

Ich rf2chj& einen fauligen, faden Geruch nach Flupwasser. unu verwesung.  Irgendwo m@p es hier einen Schlachthof oder ein Schlachtfeld geben, dachte ich.  Eine Glocke bimmelt4vom gegenÜberliegenden Ufer, dort steht eine orthodoxe Kathedrale in einem Park,f-@ine Mutter s'tellt mich vor, ich kenne sie alle, sie kennen mich nicht, sie reden alle durcheinander, ihr Dialekt ist mir vertraut, einige sprechen   andere Rumänisch miteinander; hinter dem Gartenzaun seh ich Kreuze, ein eisernes Gittertor führt zu den Kreuzen, ein Nupbaum steht links von dem alten Tor, darunter ist der Tisch gedeckt, Vögel singen auf dem Baum, ich stehe mit dem Rücken zum Haus, vor mir der Flup, die Kirche, links das eiserne Tor, rechts ein verwilderter Nachbarsgarten, an der Ecke aber, noch auf der Wiese ein klobiger Doppelturm, der eine rund, der andere rechteckig, ein vergittertes Fenster, .Pechnasen und Schiepscharten glotzen mich an, vergessene, nicht' mehr zu mir gehörende Wehrtürme, ihr Museum; und es ist Jetzt,' alle sind um den weipcfdeckten Tisch unter dem Nupbaum versammelt, und es setzt ein bedruckendes Schweigen ein; als sei eine Todesnachricht angekommen: der Hausherr sagt in die peinliche Stille: Aber bevor wir zu essen anfangen, mupt du auf dein Zimmer, dir ist das Turmzimmer zugewiesen worden, die Betten sind wie früher frisch bezogen; ich hatte plötzlich Angst.  Ich hatte es geahnt.  Und nun wupte ich es.  Was ich aber geahnt und was ich gewupt hatte, ist mir entfallen. Einer der Söhne stand auf und führte mich in den Turm,' es schien mir, als müßte ich jetzt die Welt verlassen, der Turm war grausc hwarz innen, und nur eine primitive Holztreppe, eine Art Hühnerleiter führte nach           oben.

Mich wunderte dieses merkwürdige Pühänomen der nebeneinamder herlaufenden Erinnerungen, die sich dann manchmal treffen, gemeinsam kleine Knoten bilden, wie eben jetzt; gemeinsam kurz in der Außenwelt erscheinen, sich wieder zurückziehen.

Fehlt: Warum lachst du?


Und jetzt bist du müde geworden, Terplan, sterbensmüde. Wie ausgelaugt, ausgebrannt, und der Versuch, gegen dich anzugehn im täglichen Umgang mit dir selbst scheitert. Keine deiner Hoffnungen hat sich erfüllt. Die Jahre schlagen zu. Lebensekel, Erkenntnisekel würgt dich. Und die gute Jann hast du mit reingezogen, sie ist das Opfer deines Versuches zu verschwinden.
Und erinnerst du dich an den ersten Sommer eures Einzugs hier in Aliano – an diesen schlimmen Haus-Krach. Das Haus voll mit Gästen; ein Bienenhaus, ohne Honig. Da waren auch die Eltern da, das war der furchtbarste Sommer deines Lebens. Damals prallten deine und Janns Familie hier aufeinander , Jann und du: Streit bis aufs Messer. Deine Mutter trug den ganzen Tag eine dunkle Brille, damit man ihre verweinten Augen nicht sah.
Sie hatte im Eßzimmer am Tisch zu Gisela gesagt: Ich war immer völkisch eingestellt, und ich bin traurig, daß im heutigen Deutschland jedes Nationalgefühl verschwunden ist, als wir ankamen, haben wir dies schmerzlich erkannt. Und Gisela hatte darauf mit einer leichten Herablassung geantwortet, wie überhaupt diese Ostmenschen, so schiens jedenfalls, mit dieser freundlichen Duldung und Herablassung behandelt wurden: Daß man das bei uns in der Bundesrepublik eigentlich gar nicht mehr so fühlt, "national", das ist überholt.
Wir, die aus dem Wald, dachtest du voller ohnmächtiger Wut, arme Hergelaufene, in jeder Hinsicht ohne Vermögen. Wir Habenichtse haben natürlich im neuen Haus auch gar nichts zu sagen und zu bestimmen. Gisela belehrte die andere mit ihrem Informationsvorsprung.
Du hattest deine Mutter unbeherrscht angebrüllt. Sie hatte tagelang im Bett gelegen. Vater hatte neben ihr gesessen und hilflos gemurmelt: Ich laß das nicht zu, daß man meine Frau so behandelt.
Sie hatte geweint, sie saß vor dir, die Hände vors Gesicht geschlagen, wie ein Schrei ihre Tonlosigkeit da, nur unterdrücktes Schluchzen, selten, ganz selten eine starke Welle von Weh. Und wie du da an der Tür standest, hilflos redetest, redetest, ununterbrochen, dich von dem Raum nicht lösen konntest, wo sie saß, wo die vergangenen Jahre anzukommen schienen, so voll besetzt das Zimmer von ihnen, daß gar kein Platz mehr da war, daß du selbst dich kaum bewegen konntest, wie angewurzelt da standest oder dich vorsichtig bis zum Fenster bewegtest, hinaus sahst, als könntest du so wieder entfliehn, Atem schöpfen, ruhiger werden.

In der Nacht hattet ihr beide kaum geschlafen; ein starkes Gewitter wie die Stimmung, Sturzbäche von Frühlingsregen waren auf das Dach gefallen, dazwischen fahle Blitze durch den geöffneten Spalt des Fensters. Erinnerung an den Wutanfall: Als wäre nun die seelische Arbeit von Jahren zerstört, als wäre die nun völlig vergeblich gewesen. Auch später immer wieder Kräche auch mit Jann, als wären sie zurückgeworfen worden in die düstere Zeit des Anfangs, als sie noch jünger waren und dieses elementare Aufeinanderlosgehn noch ertragen konnten. Schlichen mit sandigem Gefühl und höllisch gestörtem Gleichgewicht die nächsten Tage durchs Haus, wortlos aneinander vorbei, mit verweinten Augen.

Jann brachte ihn zur manchmal Weißglut, indem sie ihm seine zu langsamen Reflexe, seine Abwesenheiten und seine Anpassungsmängel an den westlichen Lebensstil ankreidete, dauernd an seinem Verhalten, an jeder Handbewegung, an seinem geduckten Gang, seinem Autofahren, seiner Sprechweise, seiner Art einzukaufen, zu essen, sich zu waschen etwas auszusetzen fand. Schon im er­sten Jahr die Hölle.  Sie saßen dann da mit versteinertem Gesicht und künstli­cher, verkrampfter Kälte um sich, verbissen und sich selbst strafend in ihrem Elend, in diesem Jammer, den sie nicht anrühren, den sie nicht öffnen konnten mit dem Denken, mit dem besser lösenden und ausweitendem Verstand, der abprallte wie  von einer dunkeln Wand: aufgetürmtes Ner­venrot; und sie litten an dieser harten Konfrontation, die aus Gründen, aus Ei­genschaften entstand, der sie nicht Herr (oder Frau) sein konnten - Wände, die sie nicht selbst aufbauten,  sondern etwas kochend Anonymes in ihrer Seele, das stärker war als sie. Die Jahre hatten es dann noch größer werden las­sen, sie hatten sich gegenseitig verletzt, und jedesmal waren die Spuren in ih­nen tiefer geworden, die Gedächtnisspuren gespannter und geladen mit alten halbvernarbten Wunden, die dann alle zugleich aufbrachen, wenn sie nur leicht berührt wurden und zu einer schrecklichen Explosion führen konnten. Es war mehr als ein Mensch ertragen konnte, und es ist wie ein Wunder, daß sie nicht auseinandergegangen waren! Denn oben auf dem Berg in jener Einsamkeit verstärkte sich alles noch ins Ungemessene, wurde hinausgeschleudert in ein Außerhalbderwelt. Wofür muß ich denn büßen, wofür? stöhnte Terplan dann. Oder begann  in seinen quälend einsetzenden Schuldgefühlen und gräßlichen Regungen zu wühlen, die die gegenwärtige Menschennatur beschert, da sie so weit entfernt ist vom Evangelium, sich aber in unseren Breiten evangelisch oder katholisch oder orthodox nennt.
     Seine Exfrau Maria war orthodox getauft, und wie zum Hohn: Diese Regungen der Selbstbestrafung bei  den Evangelischen vor allem, dachte dann Terplan, dieses sofort einsetzende Bedürfnis, sich selbst zu be­schimpfen und niederzutreten, noch schlimmer, als er es sonst mit Hannah getan hatte,  aufwühlend und nervenrot hochkommt. Und die innere, die bessere, die größere Stimme, die in jahrelanger Seelenarbeit auch in Terplan immer besser zu hören gewesen war, kam meist zu spät, oder sie drang nicht durch, stieß dumpf an jene Wand, die auch vom Verstand nicht zu durchdringen war, und an der sie sich nur verletzten, die beiden sonst so gut Verbündeten. Sich viel­leicht gar davor fürchteten, vor solchen Ausbrüchen böser Geister, als wären sie dann besessen - und sich zurückzogen! Aber nein, die Stimme be­hauptet, sie habe keine Angst vor "Ihnen".  Und Terplan spottet , wenn er wie­der im Klaren ist: Na, dann man los, mein Lieber meine Liebe! Warum  verläßt du uns gerade dann, wenn wir dich am meisten brauchen, und läßt uns dann im Stich!?

In der Nacht aber sah er sich im Frühlings­garten von S., noch sehr jung, Duft nach Kirschblüte - oder Jasmin, ferne Musik,  und ging mit ei­ner Frau einen Liebesplatz suchen. ...die Szene mit Johanna, die fiel ihm jetzt ein, in Aglian am Ende des Maultierpfades ein Jasminstrauch wie zu Hause in S. Duft von Jasmin, betäubend, doch er empfand manchmal auch hier auf dem Berg nichts mehr, roch nichts, war leer, wie hinter Glas die Welt, kein Rauch aus Kaminen! So auch nichts Weiches, wie bei der Rückkehr von Deutschland hierher nach Aglian. Hannahs Kuß, weiche Lippen unter Jasmin, feucht und doch verschlossen, samtig, darin ein Versinken wie in einer rosigen Blüte. Diese große Freude, wieder hier zu sein. Zorn kommt leicht, wenn die Sinne taub sind. Vielleicht in Deutschland geschehen, an einem der letzten Tage. Und dann streiten wir, dachte er: es ist schmerzhaft, ein  Lebensriß.  Er saß im Zug nach München, sah zum Fenster hinaus, alles blieb andauernd zurück, diese Täuschung ist wahr. Er saß still, nur seine Schreibhand und der Zug bewegten sich:  Mit Hannah bis zum Hochsieden im Wort "Trennung" gestritten. Du hast bewußt weggehört. Stimmt sogar, dachte er: das dauernde Alltags­gewäsch bei Tisch zehrte an meinen Nerven,  hier aber ging es um den Tod. Der Streit war mehr ein Streit aus Scham gewesen. Und doch ein tieferes Indiz des Zustandes, daß die Ortsbeschreibungen und die Tat­sachen hier wichtiger sind, als der Fall selbst: Seine Abneigung ge­gen diese besondere technischen Pingligkeiten der Westdeutschen, er hatte ande­re Reflexe, die auch nach Jahren hier nicht  nachge­kommen waren mit dem to­pographischen Topfitsein, diese Absenzen, in denen er anderswo ist, und er weiß, daß ihn nur in diesem Zustand Gedanken und Phantasien berühren, jetzt nicht der Ort, sondern der Tod:  Leiden und sich nicht leiden können. - Schlaf­lose Nacht. Schwere Gedanken. Und Hannah hatte dann gesagt, er erinnere sie an den alten Timon, der ge­gen alle Dinge, Wesen und Menschen wüte, der Zornige, der sich absperre, nichts hören und nichts fühlen wolle. Seine Aus­brüche, wie in Zwangslage, da er nicht wußte, was mit ihm geschah. Auch der nächste Tag - lustlos und müde, und wie eine Flucht all diese Geschichten. Schön. Und er war er­schrocken, als Hannah sagte: "Heute will ich aber eine echte Geschichte von dir hören." "Echte Geschichten? Die gibt es doch hier bei euch nicht mehr, vielleicht früher mal unheimliche," brummte er.
da erwachte ich aus diesen Bil­dern, die gleichzeitig da sind, immer gleich­zeitig mit dem, was außen ge­schieht, über die Stirnbahn zie­hen. Auch Cris hatte es immer wieder gesagt, und wiederholt es zwischen den Zeilen, ich spüre deutlich den Einfluß, und er reißt nie ab: Du mußt dich dem was geschieht überlassen. Ich: übergeben als wärs ei­ne Kapitulation? Ja genau so, sich übergeben, auch wenn es dir übel wird, wenn alles hochkommt, Fet­zen für Fetzen, Alp für Alp, es ist auch Schönes da, Kindheit und Mutter, die Blumen am Wegrand... Schlüsselblumen gelb am Hang. Ein Kuckuck.  Doch welch mieses Ich, das gewachsen ist in der Kälte, kapituliert da und vor wem?  Dort sein bei  den Toten, wo du in Gedanken andauernd schon bist? Nur noch in diesen Gedanken schreibend leben und leben im Tage Buch? Rei­send den Moment beschreiben: Röntgenaufnahmen. Nur wie pack ichs, nicht nur ein Gerippe das Blatt hier ein einzelnes Blatt da herabgeweht ein wenig eingerollt verwelkt das kommt nie wieder fällt mir aber jetzt auf. Und schon wie wir an der Serra milchiges Wasser an den wuchtigen Marmorblöcken vorbei kamen an der zer­störten Kirche: verfallen dieses Gefühl für die Hänge den Wald dieses Frei­heitsgefühl, dachte ich, wie faß ichs hier ist es nicht...
      Und deine Mutter hats auch empfunden Hannah;  furcht­bar, dein Vater hat keine Freude mehr.
     Ja, sagt Hannah: wir waren mit ihnen auch hier oben, und er konnte kaum gehen, und vor einigen Jahren da waren wir im Re­staurant vor Pruno, man sah den Forato von der Glasveranda aus, da kam er nach dem Essen, als wir nach Pruno fuh­ren, da kam er nicht aus dem Auto: Wir gingen allein zu den alten Na­tursteinhäusern und zum Kastaniental.
     Schon vom Tode gezeichnet die Eltern. Und Hannah seufz­te, sie kennt die­sen grausamen Abschied noch nicht. Weißt du, das erinnert mich an den letzten Besuch meines Vaters hier, es war auch ein September, und da wollte er nicht mehr aus dem Auto steigen, und mild auf seine  Art sagte er:  geht nur,  geht, seht euch alles an, ich bleibe  hier im Auto, ru­he mich aus. Und ich erinnere mich wie er irgendwo in der Pisaner Gegend wir, waren in die Pisaner Berge gefahren, bei einer alten Kirche es, war vom Auto nur ein kleiner Aufstieg bis zu jener Kirche, sich an der Wand festhielt,  fast umge­fallen wäre;  und als ich ihn fragte, Tata, was hast du? Ist dir nicht gut? Da versuchte er, es  zu verber­gen, um nieman­den zu stören, niemandem den Tag zu verderben. Er lebte nur noch kurze Zeit.  Stalingrad hatte er überstanden, und er­zählte davon,  im Januar, wie er "damals" damals im Januar, aber "damals" war er erst 38 Jahre alt gewesen,  das Auto im Schnee angezündet hatte, um sich und zwei Verwundete zu wär­men; so waren sie mit dem Leben davongekommen mitten im rus­sischen Winter bei 30 Grad Minus. Er war Fahrer einer Autoko­lonne ge­wesen., und hatte noch etwas Benzin. "Damals".  Und jetzt: kurz nach seinem vierundsiebzigsten Geburtstag starb er, der Krieg die Kriegsfolge in ihm, Pneumotorax, die Lunge, ja, die Lunge war es:  hatte ihn umgebracht. Am Schluß fror er entsetz­lich, der Körper machte nicht mehr mit, denk ich es mir aus, nein, jetzt ist er auch hier bei uns wie der An­dere ... doch er antwortet selten,  meldet sich nie.

 Viel­leicht werde ich die Totengespräche  mit meinem Vater deshalb hier aufnehmen müssen. Viel­leicht habe ich seither in jener Regi­on einen sehr nahen Jenseits­verwandten, weil ich mit dem Ge­fühl mitgegangen bin; mein Gefühl, meine Liebe wurden auf ei­ne andere Ebene gehoben, sie haben so seither eine Verbindung in jene Sphäre, die früher einmal der  Himmel hieß.  Ich werde dazu den Besuch von Lucas, von Michum, der kleinen Tat­jana und vielleicht von Dr. S.  beschrei­ben müssen ...
     Aber die kennt doch noch niemand?
     Sie werden sich durch ihren Besuch vorstellen! Und auch wenn nicht alles genau so   stattgefunden hat, wie ich es be­schreibe, du wirst es mer­ken und wieder kritisieren, wenn es hier ankommt, wird es so wirklich werden, wie noch NIE.

„An Mutter sieht man es, wie die Umgebung, wie der Zustand sie verändert. Ihr großes, jetzt im Alter fast bäuerlich geschnittenes Gesicht ist viel feiner, erinnert an ihr Jugendgesicht, etwas von dessen Schönheit schimmert durch, während der Gesichtsausdruck auf all den Fotos von Aliano, wo sie einfach große Angst vor dem Krach, vor jenem alten Krach hatte, jenen Kränkungen, die Jann, die aber auch ich ihr zufügten, verfallen, zwurnend, dumpf aussah, so daß sie ganz alt und geduckt, unbeherrscht und fahrig wirkte, so sehr spiegelte sich Stimmung und innerer Zustand in ihrem Gesicht. Und nun hat sie auch das Leid seit Vaters Tod verändert, sie sieht distinguierter aus, die Selbständigkeit, zu der sie gezwungen wird, läßt sie außerdem fester sein, auch in der Rede, und immer ist ein wissender, ein wenig gemildeter Unterton da: Ihre sonstige Lautheit ist gedämpft, ihr Lachen und ihre Bewegungen feiner.

Nun war sie abgefahren in ihr neues Zuhause in A., Baden-Württemberg. Jeder Abschied war schmerzlich, es konnte der letzte gewesen sein. Und jedesmal schien mir Aliano fremder als vorher, der Boden weniger fest, jener Boden, den ich mir mit Mühe geschaffen hatte.
Und doch war es auch eine Erleichterung, trotz allen Wehs, denn sie verkörperte meinen innern Zwiespalt; in Janns Anwesenheit  wurde nie über Siebenbürgen gesprochen. Mein Abgrund – die Kluft zwischen Mutter und Jann. Die Ältere durchschaute die Machtverhältnisse, auch hier ihnen hörig, und tat so, als wäre ich Luft, das tat weh. Ist sie in der  Fremde nun eine Beziehungskünstlerin geworden?

Nach Vaters Tod war es einsam in der Wohnung, und es schien mir als könne sie dieses Zuhause nicht mehr allein 1 zusammenhalten'.
Sie merkte es und sagte: Ich kann euch nun, nach Vaters Tod, kein so warmes Zuhause mehr bieten.
Sie war traurig und unsicher.  Aber ihr Heimweh, sagte sie, das habe ,40tIch ja nun gegeben, das sei nun überdeckt, da sei sie fast geheilt: E-c liege ja nun hier, alles liege hier.  Alle E,%innerungen wie unter der Erde»
Ich sehe zum Fenster hinausg Waldrand der Alb,'eine Wiese, habe den Blick über eine neue Kirche, ökumenisch genutzt; daneben fahren Kin.der Schlitten.
Und ich sehe dann von draußen nach drinnen, Interieur de s Zimmers** immer wieder die alten F;otos.  Und die vielen Aquarelle, Vaters Sonntag




Mutters Gesicht hat viele Falten, die sich nach dem Tod ihres Mannes vertieft haben.
Sie ist von der westdeutschen Umgebung angeschlagen und weiß nicht, wie ihr geschieht.
Noch bei ihrer Aussiedlung aus Schäßburg und kurz danach in A. hatte sie ihr fröhliches ausgelassenes und kindliches Temperament, die Stimme etwas zu laut. Aber überströmend und so schön naiv. Wie sie mich am Telefon begrüßte, stürmisch, das tat mir gut, hatte dieses Kindlich-Gefühlvolle anfangs in jenem Land des gemessenen, kühl-höflichen Betragens und der Distanz immer sehr vermißt, war doch anfangs auch so gewesen, überlaut, überschäumend, ein wenig verwildert, stark, selbstbewußt und ungehemmt, wohl für diese geschniegelten überzivilisierten Seelen unerträglich oder auch faszinierend, je nach Typ, für jene, die in ihrer seelischen Kargheit keinen lauten Ton vertragen konnten, sicher eine Zumutung: Wie für die verletzliche Iren, die diese unbeherrschten Aussiedler anherrschte, mit Schweigen und mit Frostigkeit irritierte.
Das erste Jahr der Eltern in der Bundesrepublik, es scheint ungehuer fern zu liegen, diese Zeit, als sie ins angestaunte Paradies West kamen. Da hatten sie eine kleine bezugsfertige Wohnung in einem neuen Block gemietet und richteten nun ein: Wiederherstellung des verlorenen Elternhauses per Versandkatalog, dachte ich damals böse. Vater maß wie früher alles. Beide bewegten sich agil, als wäre ein Neuanfang (siehe, ich mache alles neu!) und strahlten. Ein junges Ehepaar – so wirkten sie. Und waren doch beide um die siebzig. Mutter begleitete ihre Anweisungen für die Handwerker mit einem sich verselbständigenden Finger, mit dem sie auf die Dinge zeigte.
Im Block vis-à-vis war die Häuserfront angekohlt. Leute sagten, die Mieterin, eine fünfzigjährige Frau, sei dort verbrannt. Sie hatte kurz vorher noch mit ihrem behinderten Sohn Kaffee getrunken, und als er dann fortging, hat sie die Tür versperrt, sich ins Ehebett gelegt, sich mit Benzin übergossen und sich angezündet. Die Flammen schlugen haushoch aus den Fenstern, sagten die Nachbarn. Die Frau war nicht mehr zu retten; die Polizei fand nur noch ihren halbverkohlten Körper.
Ich hatte am Vortag zufällig ein Foto von einem bundesdeutschen Feinkostgeschäft gesehen, das neben dem Foto eines alten Spezereiladens in Schäßburg lag. Ich war betroffen. Auch ein Haus mit Torbogen und abbröckelnder Mauer aus Schäßburg und eines aus der Nobelgegend Refrath bei Köln sah ich plötzlich vor mir: Reihenhäuser wie aus Pappmaché, konnte sie vergleichen; schnurgerade alle Linien, alles so neu, daß das Auge daran abglitt, als sei da Nichts. Nichts zum Ausruhn für den Blick, nichts Vertrautes, alles viel zu neu. Die Häuserfronten und Formen sind leer und von einer schmerzhaften Schattenlosigkeit und Verlassenheit.
Es sei die Kälte, sagte ich: Eine Krankheit.
Und Mutter wunderte sich: Woran können nur diese gesunden wohlhabenden Menschen leiden? Sie haben ja alles. das aber war am Anfang ihrer Übersiedlung nach Deutschland. Jetzt fragt sie nicht mehr. Jetzt schweigt sie.
Vater hatte nichts als eine Aktentasche von zu Hause mitgebracht, darin: Zahnputzzeug, Schlafanzug und eine Flasche Zuika. Sein Gesicht war durchzogen von unzähligen Falten. Nur Mutters Ausdruck blieb froh und offen. Als hätte man es nun geschafft! Das Ärmliche und Laute der Durchgangslager-Phase lag hinter ihnen, aber auch das Freundlich-Naive, das Liebe und Enthusiastisch-Ungehemmte, wenn Mutter mit lautem Joi! auf mich zustürzte oder laut rufend ins Telefon schluchzte.
Im Grunde bin ich eigentlich noch gar nicht hier angekommen, sagte Onkel Hermann, Mutters Bruder, der Arzt einmal: im Grunde meines Wesens noch nicht hier angekommen.
Er träume immer noch von zu Hause – nach vierzig Jahren.
Und dieser Druck auf der Brust. Was ist das nur? Früher kam dieser Druck abends, regelmäßig mit der TAGESSCHAU. Jetzt morgens beim Aufwachen. Dann nimmt der Tag seinen Lauf, man wird mitgenommen, vergißt. Ist ja dann erleichtert. Abends aber wieder dieser Druck. (Rotwein hilft, aber nicht immer.)

Ich bin hier in Schwaben eine Fremde geblieben, hatte Iren, Hermanns Frau, gesagt: fremd nach vierzig Jahren. Ob das an der Sprache liegt oder an der Art der Leute? Sie hat eine heisere, ein wenig rauhe Stimme. Hermann rollt sanft den Satz. Hebt die Stimme. Wir werden hier nie mehr heimisch werden, sagt er. Wir müssen unsere Substanz aufgeben; andererseits aber wieder haben wir diesem Land viel zu verdanken.
Sie saßen vor dem kleinen Serviertisch auf der Couch und tranken Weißwein. Mutter nickte zu Hermanns Erklärungen, war aber sonst seltsam still. Sie verehrte ihren Bruder, nahm alles an, was er und Iren sagten. Er war schließlich anerkannter Arzt und außerdem schon vierzig Jahre "oben". Überhaupt fiel bei den meisten, die von "unten" kamen, eine merkwürdige Schwerfälligkeit, eine laute und hektische Hilflosigkeit auf; die meisten wurden dann im Laufe der Jahre immer stiller und gedrückter, erkannten, daß sie sogar über sich selbst zu wenig Bescheid wußten und an etwas litten, was man in der hier gängigen Fremdwörtersprache "Erfahrungs- und Informationsdefizit" nannte. Es war aber viel mehr: Dies äußerte sich in einem Stillvorsichhinleiden, in einer gewissen Dumpfheit, wie nach einer schweren Krankheit, nachdem das Fieber gesunken, der Rausch verflogen ist, ein Rausch, der anfangs einen jahrzehntelangen Druck von ihnen genommen hatte. Der Wahrnehmungsverlust, über den Mutter zunächst klagte: Daß nichts mehr richtig schmeckt und riecht, alles "aseptisch" sei, war der entscheidende Einbruch einer ihr bisher ganz fremden Welt, eben jener rasenden "Gegenwart", von der man zu Hause abgeschirmt gewesen war. Dies "Kalte" schien nur das wichtigste Symptom einer neuen Krankheit zu sein, von der nur die kleinen Kinder verschont blieben. Am Schlimmsten, vor allem für die Älteren, war, daß sich nun zeigte, wie falsch, wie ganz und gar nur eingebildet die Voraussetzungen gewesen waren, nach denen sie ihr Leben aufgebaut hatten, und auch jetzt noch versuchten sie, daran festzuhalten, wie Vater, als er noch lebte.
Dabei war die Ankunft, die Übersiedlung doch so hoffnungsvoll gewesen!
Vom Nürnberger Bahnhof mit zwei Autos über menschenleere fränkische Land nach A. Kühe und Schafe auf den Höhen zwischen Dinkelsbühl und Ellwangen/Jagst. Als wäre nicht schon alles für uns vergangen, konnte man da plötzlich ein weiches vertrautes Abendlicht über den Häusern sehen. und auch in den Zimmern bei Hermann, wo das FEST stattfand, war es als Widerschein da. Dieser Tag also noch nicht abgestanden, vom dreißigjährigen Warten sauer geworden. Vater sagte beim Festessen, sein Leben sei seit fünfzig Jahren schon ein andauerndes Warten auf Frieden gewesen. Und so gehe es vorbei.
Aber im schwäbischen A. war er glücklich. (Ich will und kann vergessen! Hier gehöre ich zum Staatsvolk; die Angst ist weg.) Ich sehe den blonden Jungen meines Bruders Hannes auf dem Bahnsteig; er läuft auf mich zu; meine Schwägerin Christine starrt aus ihrenvor Müdigkeit schwarz geränderten Augen geradeaus. Der Junge wirft mir eine einzelne weiße Nelke zu, ich denke: Welch ein Hohn. Rita, die Tochter, steht da, stumm, erregt, ein Staunen schüttelt sie bei dieser Ankunft.
Christine hatte den "schwarzen Mann" gesehn, im Ausreisefieber, in der Angst, "sie" lassen sie nicht ziehn; Hannes war schon gefeuert worden, die täglichen "Sekkaturen" nahmen zu, und seine Frau drehte durch. Christine fiel eines Tages hin, schlug um sich, wurde starr, mußte für mehrere Wochen in die Klapsmühle.
Aber seither, sagt sie, habe ich diesen Punkt außerhalb. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod: Ich schwebte über mir, sah mich, nein, den Körper, am Boden liegen, lachte darüber, amüsierte mich; nun hatte ich kein Interesse mehr an ihm. Es kann mir ja nichts geschehn. – Ein Duft, der näher ist als jeder Sinn. Auf der Schwelle, wenn ein bißchen Licht aufscheint, uns wissen läßt, was keine Sprache weiß: Die Einsamkeit ist groß, aber alles klingt, als gäbs einen grenzenlosen Frieden...
Vater zeigte seinen Ahnenpaß – stolz, denn er hatte ihn aus der alten Heimat rausgeschmuggelt. Und so war er ja auch im Rechtsnachfolgestaat des Dritten Reiches sofort als Deutscher anerkannt worden.
Mit Stempel und Siegel, sagte er: Da gabs kein Problem. Der Ahnenpaß wurde anerkannt.
Ich las ziemlich entsetzt auf der zweiten Seite des Dokumentes:
"Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der anvertrauten Jugend hineinbrennt. Adolf Hitler."
Kackbraun gebundenes Objekt, mit Adler und Hakenkreuz: Alle meine Vorfahren kamen mir wie gebrandmarkt, alle Toten gebrandmarkt vor:
"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann deutscher Volksgenosse sein! (Programm der NSDAP, Punkt 4).
Der Ahnenpaß stellt eine Urkunde im Sinne des Gesetzes dar."

Vater las ungeniert aus dem Ahnenpaß vor; schließlich sagte er: Ich bin nun endlich frei, hier zu Hause, dem Staatsvolk zugehörig, das war ich nie. Stolz las er gedankenlos oder gedankenverloren:
"Inhaber ist arisch und rein deutschblütig."
Ja, das war damals schon wichtig, meinte er. Aber hier in Deutschland ist es auch wichtig. Wie ich hierher gekommen bin, hab ich den Behörden diesen Ahnenpaß eingeschickt, und sie haben mich sofort als Deutschen anerkannt, andere brauchen ja Monate oder gar Jahre dafür.
Über kurz oder lang wird der Ahnenpaß ein Pflichtausweis für jeden deutschen Volksgenossen werden, und es ist dann zweifellos vorteilhaft, bereits Inhaber dieser Urkunde zu sein...
Vater hat ihn sich angeschafft, jahrelang versteckt (bei Haussuchungen Angstgefühle wegen des Hakenkreuzes auf dem braunen Umschlag) und bei der Aussiedlung ihn dann ins Mutterland mitgebracht. Auch Janns Vater Gregor besitzt einen, mit riesiger Ahnentafel (weit über 1800 hinaus; Stichjahr der Ariernachweispflicht bei der Parteiaufnahme.)
Vaters Daten, groß auf der ersten Seite:
Kurt Karl Erwin, geb. 1905 in Kronstadt/ Siebenbürgen
Karl Josef, geboren 1879 in Bistritz/ Wagner Maria Luise, geb. 1881 in Kronstadt, seine Eltern, der S.-Großvater und die S.-Großmutter.
Der Urgroßvater hatte sich germanisieren lassen: Franz Leopold, geb. 1833 in Bistritz.
S. Josef, geb.   in Tyrnau/Böhmen, gest. 1842, Schneidermeister, katholisch, kam aus Böhmen, heiratete eine Bistritzerin, am 9.2.1825: die Katharina Karolina Apollonia Mast, geb. 1808.
Vater sprach sehr gern darüber:
Die sind möglicherweise aus Schlesien nach Böhmen gekommen, dort konnte man ihren Namen nicht aussprechen, und so wurde er der Schlesier genannt, nehme ich an. Und zur Zeit der Doppelmonarchie 1867 wars wohl in Siebenbürgen günstiger, einen deutschen Namen zu haben, und so hat mein Urgroßvater, der Bistritzer, seinen Namen eben lautlich verdeutscht.
Mutterland hieß Deutschland mal früher bei uns zu Hause. Mutter-Land - und jetzt der Vers dazu, als wär er ein armer Maikäfer. Und der Vater. Und der Krieg. Und der ewige Frieden. Auf dem Waldfriedhof in A. Und draußen vor allem Schnee. Unter dem Schnee die Blumen. Fußstapfen, wohin die führen. Vogelspuren ins Kalte. Und doch kein richtiger Winter mehr. Wie einst in Stalingrad. Wie einst. Und weißes Leichentuch. Licht durch die Bäume im Mutterland. Gießkannen aus Plastik, Eiszapfen daran. O wie ist es kalt geworden. Friederike sangs früher. Und jetzt reden wir über die Toten, über ihre letzten Tage in A. Wie friedlich sind sie beide gestorben. Friederike an Krebs. Wie viele Wünsche blieben unerfüllt. Es blieb ein riesiges Loch.
Jetzt gehe ich über einen Friedhof, er liegt in Deutschland, er ist klein. Tausende von Namen, Daten. Und da werde ich liegen, mit "allen" vereinigt. Die Flucht war vergeblich, ihnen zu entkommen. Sie kommen immer näher, sie sind schon da. Ein ganz neues Land, jede Tei­lung aufgehoben, jede Spaltung vorbei. Vorbei.
Und rede mich jetzt wie einen Fremden in der dritten Person an, als wäre ich ein Anderer, und bin ich nicht ein Anderer? Also: Eigentlich wollte er ja nur das Grab seines Vaters besuchen. Zwar naßkalter Novem­ber, es war der November vorigen Jahres gewesen... wer zählt sie noch, die Jahre, die Jahre... alles vergangen, -  er aber, dieser DS, ist trotzdem noch da: In diesem besonderen Jahr, bevor sein Winter kam, sein letzter. Regen. Nebel im Gesicht, im Herzen. Le­ben, wer es umkehrt. Die Beine gehen ohne ihn, treten auf vergilbte Blätter. Bald wirds Schnee geben.  Alle Jahre wieder? Wie lange noch. Aber wer spricht da, seine Stimme in mir, als hätte er mich jetzt  hypnotisiert, Schnee, dann er­frieren die Blumen, spürt das vereiste rote Blatt, sagte er: Mimosen liebte sein Vater. War selber eine. Kleiner Kopf, Brille, abgeschabte Brauen. Und D., der Sohn, sah immer noch das Loch vor sich, da hinab, dumpfes Geräusch, Erdschollen, dun­kel, hinab, ein Loch. Da siehst du hinab, da bleibt dein Blick drin gefan­gen, kannst ihn nicht mehr zurückziehen, feuchte Erde, Lehm, Insekten, Erdgeschmack fad, Wurzeln, alte Blätter, schon vermodert, fallen darauf, du kannst den Blick   aus dieser Klammer, eingezwängt im Loch, nicht befreien, da wirds dunkel, verwirrt. Wer aber sieht den frisch aufgeworfenen Grabhügel, wer schluchzt da, - der eingegrabene Blick? Wo hast du nur deine Augen? Lang her. Dort der Steinmetz Roth, der Grabkünstler von zu Hause, der langsam und mit schwungvollen Bewegungen wie der Zeichenlehrer Donath seinen Namen schraffiert: Goldbuchstaben auf Marmor, als schnitten die ins Fleisch, der Stein ganz heiß und weich. Schreiben ja,  das das Sterben ersetzt, es aufhebt, so­lange du liest. Das Leben aber fehlt, und den Namen schreibt ein ande­rer. Er hat also doch eine ganz andere Vorstellung vom Schreiben, als ich, als wir, entzog sich also genau ins Alte, das er so vermißte, zurück, zurück der Spindel Spur, die­ser Unsinn vom "Referenziellen", ihr Okzi­dentalen, sagte er, Wasserkopf. Und hab mich selbst infiziert, sagte er: Was denn "schraffieren", sogar der Stein ist tot, sagte er. Aber es gibt eine Verwand­lung und kein Ende, sagte er: wir kehren in den Zustand zurück in dem wir Millionen Jahre waren, bevor wir in den Körper kamen. Dieser Unsinn - zwei Hände Erde, dump­fes Geräusch auf Holz, Erdschollen. Gibst den Geist nicht auf beim Able­gen des Leibes, D. Sag nicht Seele, D., sag Nichts; es löst sich etwas vom Körper, inneres Leben verselb­ständigt sich im Alter von Jahr zu Jahr mehr, Wahrnehmungen nehmen ab, Außenwelt nimmt ab, die Täuschung Welt schwindet langsam, da willst du fort, um am Leben zu bleiben?
     Ich bin kein Überlebender, ich bin ein Überlebter. Alle sind wir Überlebte, nur merken es wenige. Zukunft gibt's keine, es sei denn, sie setzt sofort und schlagartig ein. Das Vergessen ist zu groß. Und das Vergessen des Vergessens.
     Aber diese Briefe, ich sollte doch wenigstens diesen Briefwechsel mit meinen Heimweh-Freunden aufgeben. Heimaten gibt's doch nirgends mehr, Dieter, sagte mein Vater:  sah mich scharf an mit seinen schwarzen Taschenlampenaugen: und dein Heimweh... oder Heimat, alles antiquiert, jetzt wo Europa in aller Munde... Hirngespinst, ein Hirndracula, Dieter, ein nichtexistenter Ort, der dich vernichtet, der macht dich doch fertig.
Aufgeben oder in die Stadt ziehen, die Einsamkeit aufgeben, mein Nirgendwo...? Ha, lach ich ihm dann ins Gesicht: Wenn das so einfach wäre; schon von der Lage her unmöglich. Lache noch stärker, Ahn: Nur wer sich aufgibt, wird ein Brief... Aber ich bereite mich doch vor, sag ich dann, endgültig heimzukehren, die Freunde dort warten, ich muß ein Zeichen geben. Und, denk nur daran, der Aus-Landsdeutsche war noch nie auf Patmos.
 Keiner wollte Pfingsten bei mir bleiben, Freiheit, Freizeit dient zum Autofahren.

Abends Bilder im Fernsehen. Mutters Wohnung. Man sieht auf dem Bildschirm DIE SCHLACHT BEI LEUTHEN. Preußen. Gleich zu Beginn Fußamputationen in einer Kirche. Von Preußen ist die Rede, sag ich. Gloria, sagt sie. Schreie in der Kirche, sage ich. Der Alte Fritz, sagt sie. Menschenkörper. Es ist eben gerade Geschichte, eine harmlose Reprise, sage ich. Handlung, wie sie im Buch steht. Die Kirche sieht aus wie eine Metzgerei. Fleischhauerei, sagt Mutter. Und jetzt predigt ein Pastor. Wie schön er spricht, vom Vaterland spricht er. Ein großes schwarzes Loch, sag ich. Denk an unsere vielen Toten.
Der letzte Punkt, so nah. Zu Hause schon schlug der Kuckuck, mehrere gleichzeitig. Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holzkuckuck, der schlug Viertelstundenweise den Tod an. Verneigte sich davor, bunt. Und im Sommerhaus der Echte aus dem Wald. Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung. Wie lange noch. Und im Baumgarten das Paradies, keiner wußte. Man fürchtete die Fledermäuse. Sie schwirrten im Rauchfang. Ums Dach unter den alten Rusperbäumen. Sie könnten sich im Haar verfangen. Und die Mäuse, oh, man hatte selbst ein schwarzes Loch, feucht, da konnten sie rein. Entsetzlich. Wer sich gehen ließ, war ihm verfallen. Das Liederliche. Das Grauen. Wehe wenn die Abwehr versagt. Soldaten sind Soldaten, in worten und in Taten. Sie kennen keine Lumperei...

Weißt du, Mama, was deine Abwehr angestellt hat?
Bitte, hör auf damit. Du bist immer so negativ!
Ja, ja... die so leuchten "positiven" Gestalten kennen freilich keine "Lumperei".
Ich hatte auch noch diesen Wahnsinn begangen, zwei alte Freunde von Mutter, den Vik und den Andreas zu besuchen!


Wir waren also beim Vic, dem Apotheker Capesius in Göppingen gewesen. Eine schöne Gegend. In der Ferne der Dreikaiserberg. In Göppingen lebte er nun, wie viele Landsleute aus der SS ist er nach dem Krieg nicht mehr nach Siebenbürgen in die alte Heimat zurückgekehrt. Hat ein Trauma.
 Ich weiß, die Wunde.
Ein Klausenburger Gericht hat ihn zum Tode verurteilt. Doch er hat Heimweh. Und kann nur noch unter Lebensgefahr nach Hause zurückkehren. V
Vielleicht Gesichtsoperation? Falscher Paß?


Zum Beipiel diesen Psalm im alten Deutschv noch reinen@ise
"Da siehattu abermal allen heiligen Yns hertz wie'Tnn den Jod,
ya wie in die hölle.  Wie finster und tunchel ists da von alleriley betrübten anblick des zornigen gottes.
In der Gegend kann es keine Psalmen geben.  Und ich höre das G teil jetzt ab, vom Sand, mitgebracht aus der Marktapotheke von GÖffingen, wo ich Dr. C. und seine Frau traf, die mich herzlich grüßten un , d zum Kaffee in ihre kleine, etwas fin-tere i13hnung e luden.  Dort sägten sie:
(Übernehmen aus So nah!!)
O-TON
Kassette II-1 Dr.b.: Von Auschwitz sind insgemsamt 231.coo Personen...
F.C.:    noch lebend weggekommen... noch lebend weggekommen
FC:          Und wieviele sind ermordet worden?

Dr*C.:     Gleich an der Rampe?...

F.F.:         In den ersten Jahren sind ja viele... Dr*C,:oo, Männer und Frauen.,.,
F.C,:        Gespritzt worden ( senkt die Stimme).  Nur hat man ja ni-hl mehr das Tempo mit dem Spritzen einhalten können... was n gebraucht hat. (Kaum hörbar.  Seufzt.)
Dr.C,       i Männer und Frauen wurden aus den Ungarntransporten 113.c tätowiert.. Sammeltransporte ...

F.C.:        Und wie Hffimmler in Auschwitz waren warst du da schon dort'i
Dr*C*:*,* nein..*
F.C. : Warst also noch nicht dott!  Aber der Sohn vom Draaser hat er geheißen?(Ja)p der hat nach Hause geschrieben quaei: Heute wa unser oberster Führer da, eben der Himmler, und hat Auschwibtz in spiziert, U"d er ist auch nur ein Mann wie jeder anders ... er ha ihm nicht imponiert ...
Tee Haben Sie Himmler gesehen?
Dr*C.:     Er ist sehr in meiner Nähe gewesen am Schluß...
Das also ist der Vik, wie meine Mutter.sagt" sie kannte ihn g hat als Mädchen mit ihm getanzte Und mir hat er Pfefferminzplätz in der Apotheke ZUR KRONE/re-schenkt.  Er ist ja f ein , ann wie jed andere.
-27o-
Von Auschwitz sind insgesamt 231.ooo Personen...
...noch lebend Weggekommen
lebend weggekommen.
Und wie viele sind ermordet worden?
Gleich an der Rampe? ...
In den ersten Jahren sind ja viele...
Männer und Frauen...
gespritzt worden ( senkt die Stimme): Nur hat man ja nicht mehr das Tempo mit dem Spritzen einhalten können... das man gebraucht hat.( Kaum hörbar.  Seufzt.)
Männer und Frauen wurden aus den Ungarntransporten 113.ooo tätowiert ... Sammeltransporte..
ar
Und wie der Himmler in Auschwit       warst du schon dort?
Nein...
Warst also noch nicht dort!  Aber der Sohn vom @raaser hat er geheißen?
Ja.
Der hat nach Hause geschrieben, quasi: Heute war unser oberster FÜhrer da, oben Himmler, und hat Auschwitz inspiziert.  Und er ist auch nur ein Mann WIE JEDER ANDERE... er hat ihm nicht imponiert..._
-Haben Sie Himmler gesehen?
Er ist sehr in meiner Nähe gewesen am Schluß ...
Schöne Gegend.  In der Ferne der Dreikaiserberg.  Doch nach Hau-
                      se, in seine, in meine Vaterstadt, dierf                               der Apotheker nio:@-
                      mehr zurückkehren,                               Ein Klausenbur-
                      gor Gericht hat ihn                               zum Tode

verurteilt.  In Abwesenheit, in aller Abrfesenheit.  '«--


Nein# er# Dr,« Cou sei an auf keinen Fall soweseng er habe nie aeli-,Jz. tiert# er sei eben verwechselt worden mit dienen Dr, Klein# ebenfalls Siebenbütget# »gn konnte niemand mehr fragen# denn er war
In Bergen-Belson von den Briten              worden, Als mitver,-
antwortlich für das entsetzliche Grauen In Betf#en-Beleen.  Der pothaker na t@-
S bau#          "@ht zu Tode gebracht   woi
sind n                          den.  Man konnte nicht
wahr auviel Nehtune "geben für sie* Und es kam alle* aus dem guten und kam bis bergon-Balten * Bergen-Belnen wir für 12ooo Leute eingerichtet und 12o coo waren nun da.  Ja# wie sollten die gesund lebt»* Die* die über mich geschrieben hat# hat auch über BergenBeleen geschrieben* Sie wer auch dort*** Und da'vagt 349# wie schön war es doch und wie ordentlich in Auschwitz# da sind die Leute gleich verbrannt worden# die Toten# hier hat man nie einfach# weil es zu kalt war und kein euerunfjanatortal war# In Hof aufg@ etapolt und die Ratten haben *ich vermehrt an denenw Und denn sind die Ratten In die garakon gekommen und haben auch da enge*, Ta Furohtb*r4
FCt in# es ist furchtbar*
Cs 3ai und das schreibt *Ja In ihrem Buche Ts Aber wie heißt die Frau?
Ct Zu Haue* hab töhe in den Akten***
Fctzsollen wir nicht nach Haus* gehen#  Kaffeatrinken!
Und auf den Weg 4o dtf Wohnung# die Frau ging neben ihm# korrigierte Ihn sanft# wann er einen Gedäbhtniaaunfall hatte» anfing zu stottern der Grauhaarige# der Alte Maanige Mannt der neun Jahre hinter Gittern gesessen harter kaum fähig* zu begreifen was mit il geschehen war# schuldunfähig - värtotdigteur sich immer noch.W mit schwerer Zunge.,.# der Landsmann" der Kindheiteapothakart
Diesen@ich will nur sefen@@Kl@ein war totg ihm konnte «n 98 nicht mehr in die Schunhe schieben$ die Leute aus Israel aber wollten auch einmal gerne nach Deutschland ke»en und zieh mit ihren Freunden treffen» und mal hier etwas einkaufen können usw* Und so Ist der Doktor gekomen und hat allen# was auf den Klein $tanzte awf wich eiftteatellt, weil ich auch ungarisch spreche*..
                        und dahn hatte                   Eigentlich 2wei Zeuge
                           "U
                                                                      daß lch@ain den Tagg                                    wo

er #tkouiiaen ist# ernten Pfingattag oder zweiten Pfingetta'#, Ich habt genau zu Haus* daß ich nicht dort war.  Und Ich war d«als in Berlin während der Pfingettaeuo beim Bäcker Pepi# das ist ei n Schwab# der wer dort als Sturobennführer In der Zentrat-SS-Apothakoo In Berlin# Und Ich war In Berlin zu Besonh * Und da waren zwei Schwestern* Und diese Uhwestern waren# waren@ die eine beim Abendessen beim Bäcker# da hat* allen #""en' was es In aanat gib+*,/# das war auch dar**
Da** also ist der Vik# wie Meine Mutter sagt@',

                        ins,# hat als )Wdohen alt ihm nie                                                       form
                                                                                                        tanzt*       ir hat er Pfef            Jnz-




                        Plätzchen #*schenkt In so                                         hake 0Zur Krone* 4,       war In

                      meiner siebenbüll                   «                             to Und nun@,@                en wir alle hier$
                                                                                                                                       9 ]«vier - eng

                                           Auch in Auschwitz# sagt er# war     ja                                                                                                         ein     ganz gewöhnlicher Betriel
                                           Viele hatten ihre Familien dabei,     to                                                                                                        gab     eine deutsche Schule»

Die Familien hatten Gärtchen und Häwooheno Man ging jagen und ti-
A 0
Weihnachten vor allem.

                                1                      das mit Ihrer Karriere; Sie kamen ja, WL4rdev2eingezogen-



                             *"3 ",2"
                                                _j                                                             -

len hac h München und Üachau ... fragte ich@ Apotheker"'Nein, ich war von Wien zuerst nach Berlin geschickt, im Ersteklassewagen und alles; vorher, bis Wien waren wir von Siebenbürgan im Viehwaogon gekommen,bis Wien auf Stroh...
Vom VOMI Assentierte.'
Z'Sicher, wir sind in'H'ermannstadt assentiert worden, vom Dr. Weindel, ich war ja vorher rumänischer Hauptmann bis 43,da
gabs dieses Abkommen, daß alle Deutsch@ zur SS müssen...-,1
Und dann kamen Sie von Berlin zum erstenmal in ein Konzentrationslager?  Sie haben ja vorher überhaupt keine Ahnung davon gehabt?!
Doch.  Nicht vom Konzentrationslager direkt, sondern vom Zentralen Sanitäfoslager in Warschau See
Sie kamen also von Warschau nach Pachau.».
wir kamen nach Berlin, dort sind wir 8 Wochen  herumgelaufen, haben ihnen bezahlt, damit sie unsere Uniformen nur langsam schneidern, das hat der Bäcker Pepi e in Schweb organisiert, dem hats kolossal gefallen in Berling wir haben dort Zigaretten und alles gehabt, hat eine Schachtel Zigaretten hingelegt und hat verlangt drei Karten in der ersten Reihe"in der zweiten*Reihd - in der Frie-derichstraße g4&bs ein Kabarett, a\ la Poele Betg-"eie wie in Paris..* das war Herbst 43.  Und dann sind wir alle zusammen geschickt worden zu einem österreichischen Apotheker, der in Warschau das Zentrale Sanitätslager hatte, und wir sollten uns dort allmählich an die Sache eiWÖHNEN . Und der hat auch soln wenig Schulung gehalten vom 43SOLUtiN BEFEHL und da 0 man eben alles tun mußwas befohlen wird*.  Es gibt KF-INC-
W I D D E R R E D E#
Das kannte man ja schon von zuhause! -@Ja, das kannte man so gut 'j@daß die @achsen z gdit gehorchten dort ... Wenn so ein SS-M.ann einen Auftrag bekam, führte er ihn auch durc@ egal was... Jaja.. Und mir hat der Wirths gesagt: "Ich hab im Lager Sondervollmachten, ich kann @.zz erschießen lassen...mich erschießen lassnn,:. --3a, weil du dich gewehrt hast zu selektieren,- sagt seine Frau. @a, und ich hab mich dann sofort ans Telephon gehängt und hab mit dem Popi gesprochen...'
lfe%- Aus Harmannstadt stammt                   aus ner?' Nein"      dem Banat.  Und dert- hat sofort mit dem Gruppenführer gesprochem, mit einem von den Gruppenführern in Berlin, die beim Führer waren, der höchste-: von der Arzeneiabteilung, ist ein großer Mann gewesen , körperlich groß. Und der hat den Standartenführer Lolling, das war der höchste Arzt über die KZs, den hat er zur Sau gemacht.  Was da passiert sei.  Es komme da ein Apotheker mit Erfahrung und will euch halfeng arbeiten, und dann stellt ihr ihn in einen Betrieb, der gar nichts mit der Apothekerei zu tun hat.  Sie worden sofort hinfahren und Ordnung i3chaffeh!  Und dann ist er nach Aus chwitz gekommen.1@Der Liblling - oder wer?.;. @Ja.  Und sie haben mich dann eingeladen zum Wirths.  UNd so bin ich befreit worden.  In Warschau also haben wir das mit dem absoluten Befehl gelernt.  Ich habs mir aber nicht gefallen lassen",t,


Ists nicht übertrieben, Michael, wenn du so allergisch auf längst Vergangenes reagierst, fragte Mutter. Und ich: Ists nicht so, daß auch sonst, bei viel geringeren Mordtaten, der Fluch einer bösen Tat jahrzehntelang, jahrhundertelang auf einem Ort lastet, so daß die Leute ihn meiden und sogar Tote ihre Ruhe nicht finden können, bis die Schuld getilgt ist. Wie sollte das dann nicht millionenfach verstärkt sein bei diesen unvorstellbaren Dingen, die quälend am Abgrund unseres Gedächtnisses liegen?
Carmen zum Beispiel, deine Schwester, Carmen rührt nicht daran. Carmen sagt: Ich bin so, wie ich war, rühr nicht daran. Und du, Michael, laß die Finger davon, du schadest uns!
Sie verzieht ihr Gesicht. Haßt sie mich? Nein, sie mag mich. Aber alles ruht. Ist alles nur ein Warten? Kocht da etwas auch in ihr, in ihnen allen? Nur – sie wissen es nicht?
Als ich in A. anfing, von meinem Besuch bei Dr. Capesius zu erzählen, gar das Tonband holen wollte (es holte), die ersten Apothekersätze breit und unkultiviert da rausklangen, gabs eine peinliche Stille.
Was willst du damit?
Darüber nachdenken.
Widerwillig blätterte Carmen in den Büchern, die mir der Auschwitzapotheker mitgegeben hatte.
Sieh, auch Onkel Andreas ist hier angeführt, sagte Mutter erstaunt.
Du willst doch nicht etwa darüber schreiben?! fragte Robert in scharfem unangenehmem Befehlston. Das würde uns doch alle nur belasten und uns allen schaden.
Und dann verschwanden die beiden. Carmen und Robert waren plötzlich "furchtbar müde".
Vater sagte nur abwehren: Ich war immer nur Privatmann.
Und Mutter: Denk doch an unsere schönen Feste zu Hause.
Aber der Apotheker habe doch sicher einen Knacks davongetragen, sagte Mutter eifrig und ein wenig aufgesetzt bedauernd. Als wär er ein Analphabet, so spricht er, und ist doch ein studierter Mensch. Auch habe er ja immer etwas Brutales gehabt, fügte sie leise, fast schuldbewußt hinzu.
Hermann, der mit Iren zum Abendessen gekommen war, meinte auch, bei Andreas wisse man ja nicht, ja, zugetraut habe er ihm so manches. zumindest sei der immer ein Neurotiker gewesen.
Alle atmeten ein wenig auf. Hier hatte der Arzt gesprochen. Das war die Erklärung. Jetzt hatten wir es. Dr. C. war ja schließlich neun Jahre im Gefängnis gewesen. Da war doch alles in Ordnung.
Ich aber ließ nicht locker:
Willst du seine Taten etwa kriminalisieren, als wäre er ganz einfach ein Verbrecher, den so ein Richter für alle andern "bestrafen" kann, als wären alle andern frei von Schuld: Es war doch ein ganz allgemeiner Zustand damals.
Ja, aber was war das für ein Zustand?
Hermann meinte, keine Vergangenheit ließe sich fassen.
Und Mutter sagte: Wir waren andere Menschen damals.
Iren meinte, es sei kaum jemandem möglich gewesen, den Alltag, in dem man gefangen war, zu überschreiten. Wie viele Leben müßte man haben, um nur auch einen Bruchteil dessen zu erfahren, was wirklich geschehen ist. Es sei ein Gefühl, eine Stimmung.
Er habe Eindruck gehabt, sagte Hermann, daß in der offiziellen Geschichte über jene Zeit und auch in vielen Erklärungen, weshalb es nun so war und wir so gewesen sein sollen, unser Leben gar nicht vorkommt. Meines jedenfalls nicht.
Es läßt sich gar nicht genau in Worte fassen heute, sagte ich.
Aber was meinst du eigentlich? fragte Mutter bekümmert. Ist alles schlecht, was wir damals gelebt haben, war unser Leben verfehlt?
Nein, das meine ich nicht, nur, daß die gleichen Gefühle und Gedanken von damals heute nicht mehr möglich sein sollten, aus gutem Grund, aus schrecklicher Erfahrung. Und daß wir das alle nicht begreifen, weil unsere heftige Sehnsucht nach jener Umgebung zu Hause Unwissen mit einschließt, als wären diese Gefühle nicht durchtränkt von Falschem. Man müßte endlich einmal einen radikalen Schnitt machen können!

Andreas; von ihm geht auch heute noch eine Sanftheit und Rastlosigkeit aus, sein Gesicht hat etwas Irritierendes, das auf die Anwesenden übergreift, die nicht wissen, was sie so unruhig macht. Als ich ihn mit Jann in Innsbruck besuchte, da war seiner Freundin Helga, einer blonden Frankfurterin, der Streß des dauernd mit ihm Zusammenseinmüssens anzumerken. Sie war sehr nervös und ging unruhig von einem Zimmer ins andere.
Andreas hat eine weiche, pastorale Stimme. Und singt dann am Klavier ein Schubertlied. Plötzlich ist er absent. Starrt auf einen entfernten Punkt außerhalb des Raumes.
Helga merkt, daß Andreas vom Wein nicht eingeschenkt hat, nur mir und sich selbst, tippt ihn vorsichtig an, ähnlich wie man Irre berührt, sagt: Das war aber nicht höflich! Sieht ihn mit einer milden Wut an, als sähe sie ein Brett vor seinem Kopf, an dem nicht zu rütteln ist, und gießt selbst das Glas voll.
Andreas hatte nur 'ja, ja'  gemurmelt, kaum etwas wahrgenommen.
Du willst also ein Buch schreiben, erkundigte er sich neugierig: Was beschäftigt dich?
Die Ursachen unseres Verschwindens.
Aha, aha, du bis also kritiksüchtig! Nietzsche hat da ein schönes Wort: Menschliche Tugenden: Güte, Hilfsbereitschaft, Edelmut usw. sind nichts als eine Art Luxusgüter, die wir uns nicht immer leisten können. Das habe ich irgendwo bei Nietzsche gefunden, und das möchte ich unterschreiben.
Es sind nicht die obersten und höchsten Werte?
Ich möchte sagen, es gibt keine obersten Werte. Weltanschauung ist immer biologisch: Ich will leben und überleben.
Andreas' Gesicht war wie verweht, ein großes verschwommenes Ei.
Aber auch ich meine, fuhr er plötzlich ungewohnt leise fort: Gewissensfreiheit ist das Höchste.
Warum bist du dann nicht aus Auschwitz geflohen wie andere auch? Stand die Todesstrafe darauf?
Andreas sah mich mit den bläßlichen Fischaugen amüsiert an: Freilich stand die Todesstrafe darauf. Desertion. Aber nein, das wars nicht, an Mut hats mir nicht gefehlt. Aber ich war für Ordnung, für bedingungslose Disziplin. Wohin hätte ich auch fliehen sollen, es waren ja meine Leute, die dort das Sagen hatten, die mich brauchten.
"Dort" aber, an jenem Ort, geschah auch "Gräßliches", vor allem ganz am Schluß, 1945. Die Krematorien rauchten, sagte er, die Verbrennungsgruben waren gefüllt mit brutzelndem Fett der Vergasten, die keinen Platz mehr in den Öfen fanden, aber alle waren froh, wenn Hochbetrieb war, denn das Lager hatte dann genug zu fressen. Jeder Transport der Vergasten vergrößerte die Lebenschancen. Die SS war betrunken, suchte nach Gold und Diamanten, stopfte sich die Taschen voll, die Häftlingen im "Kanadabereich" ebenfalls, mit Geschmeide und Schmuck, Gold und Edelsteinen konnte man Kartoffeln kaufen, ein Aspirin. Sogar in der Asche der Toten wurde nach nicht geschmolzenen Brillanten gesucht. Im Großen aber, ja, da wurde das Gold der Zähne in Stäbe verschmolzen ins Innere geschickt des Reiche, um die Staatskasse zu füllen, die von wegen Endsiegsanstrengungen leer geworden war. Vor allem gabs mehr zu essen, weil die ins Gas Getriebenen in ihren armseligen Bündeln Lebensmittel mitgebracht hatten.
Die ins Gas getriebene Herde von Menschen, die in den Betonkammern schreiend erstickten, man kennt die Schilderungen. Auch Dr. Capesius hat da durchs Guckloch ärztliche Blicke geworfen, um den Exitus, der oft erst nach zwanzig Minuten eintrat, festzustellen.
Diese Erleichterung, weil die Suppe aus der Lagerküche durch die Abfälle von Lebensmitteln, von Todgeweihten hierher mitgeschleppt, etwas dicker wurde. Solche Suppen haben wenigstens kurze Zeit Hunger gestillt; Tod der andern: Hoffnung auf Verlängerung des eignen Lebens.

Dr. Capesius kam kurze Zeit, nachdem das Lager wegen Ansturm der bolschewistischen Horden geräumt werden mußte, genau wie sein Kollege nach Bergen Belsen. Andreas aber wurde Kommandant des Lagers Flossenbürg.
Ale meine Sendung über Dr. Capesius' Tätigkeit im Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde und darin Mutters Feststellung: "daß mein Jugendfreund Dr. Capesius wohl einen Knacks zurückbehalten hat" zu hören war, schlief sie, weil sie ihn "beleidigt" habe, die ganze Nacht nicht. Ob er jetzt wohl gekränkt sei, fragte sie. Die andern Dinge hatte sie einfach nicht wahrgenommen, die waren alle nicht an sie herangekommen.
Und als ich ihr die Stelle in meinem Manuskript zu lesen gab, wo Hermann einen Ausspruch Andreas' über Tante Cäcilie zitierte: Seine Mutter sei keine gütige Frau gewesen, strich sie das Wort "gütig" aus und schrieb "nicht immer selbstlos" darüber. Andreas' Tätigkeit aber, die an den "brennenden Gruben" , löste nichts in ihr aus. Ging es sie nichts an!?

Gesichter erstarrt. Befangen. Nicht Mitleid, nein, unklare Hemmung. Mund zu. augen auf. Gefesselt von der Grube.
Mein Freund Adam, der Häftling gewesen war, sagte, die gleiche Scham überfiel uns, überall, nach Selektionen, nach dem öffentlichen Prügelstrafen auf dem Bock, nackte Frauenhintern hochgestellt wie etwas, das nicht sein darf. Aufgedeckt, Handlungen wie Schnitte ins tiefste Gefühl. Eine Scham gegenüber dieser Schuld, die andere auf sich geladen haben. Oder die nackte Wahrheit, Qual, weil dies alles faßbar, wirklich, erlebt ist. Ein Schlag, die Uhr steht. Irgend etwas ist für immer vorbei. Nie wird mans abwaschen, vergessen können. Und ich war verwundert, daß die Deutschen diese Scham nicht zu kennen schienen. Hatten etwas, was wir nicht kannten. Wenige von uns rannten auf die Reiter zu, als das Lager befreit wurde. Gedämpft die Freude. Jetzt erst sollte das Elend beginnen; keine Ausnahme mehr. Man mußte nun damit leben, für immer. Darauf gibts  keine Befreiung.

Stimmt, sie kennen es nicht; es gibt eine innere Wand. Blei. Tatsachen und Befehle. In der gläsernen Seele metallischer Sprache gebrandmarkt. Und mich hat man beim Prozeß oft gefragt, sagte der Apotheker: Na, Sie hätten sich doch einfach an die Front melden können! Ich konnte mich nicht an die Front melden, ich war zu alt. den an der Front waren junge Ärzte, die Leutnants waren, die Obersturmführer waren, die wollten nicht einen Apotheker, der Sturmführer oder Hauptsturmführer war und dadurch nach SS-Manier das Kommando hatte.
Haben Sie es mal versucht?
Nein, da hat man gesagt: daß man nicht kann, daß man uns nicht braucht an der Front, man kann uns nur im Hinterland beschäftigen.

Andreas und Dr. Capesius gehören zu mir, wie ich zu ihnen gehöre.
Ich träumte unruhig in jener nacht bei meiner Mutter in A., daß wir uns wiedersahen nach tausend Jahren in einer Baracke, ich mit Frau und Kind und trug einen zerknitterten Judenmantel, grau, zusammengepfercht in einem lastwagen, ein kleines Gitterfenster, man sah von fern die Auen der Kokel. Und erfuhr später von einem Alten, daß er ertrunken sei auf dem letzten Transport, blau der Tank, der ihn überfuhr.
Als müßte ich nicht nur an den Opfern, sondern auch an den Henkern etwas wieder gut machen, zwei Hälften, zu denen ich gehöre.
Ich höre Dr. Capesius stammeln, sein großer Kopf wackelt, Augen starr hinter dunkler Brille. Und doch, ich weiß, er ist vor kurzem gestorben. Sein Tod? Ist er nun besser im Bilde?
Und seine Stimme in meinem Ohr ist immer noch da, breit und schleppend, als müsse sie schwere Gewichte mit tragen, müde. Das Anonyme aus ihm, das tödliche Klischee, wie früher, Gott abzuschaffen, die innere Stimme, die sich wehren könnte wider die Vergiftung, und den Befehl?
In einer Stunde werdet ihr euch wiedersehn... in einer Stunde... keine Angst..., soll er gesagt haben, unser Apotheker. Auch die Unbekannte kann dort an; kamen an ihr Mann und ihre Kinder. Ob er an jenem Tag, Pfingsten solls gewesen sein, an der Rampe gestanden hatte, weiß niemand. Er sagte vor Gericht aus, an jenem Tage sei er nicht dort gewesen... Pfingstbesuch in Berlin... ein netter Landsmann. Ich höre vom Tonband seine Stimme:
...da ist Sodom und Gomorrha, sagt er: Es gibt noch etwas mit der Unterwelt, irgend so ein Zitat, das auch vorkommt, wenn es dir mies geht, wenn es am allermiesesten ist. Der Himmel sei immer rot gewesen, sagt er, Luft voller Rauch, süßlich, du riechst es, jeder weiß... versengt nach Haut... Ja, man hat es gewußt...
Der naive Terplan aber verfiel nun ins Brüten. "Mir wurde es ja langsam klar", schrieb er, gleich nachdem die Gäset gegangen waren, ins Tagebuch, "was für ein furchtbares Erbe ich in mir trage: und ich kann es  nicht überwinden, aus meiner Seele rausschaufeln: ORDNUNG, dieses Geheimnis nach dem wir suchen.  Wie Ornung entsteht - das größte Geheimnis. Aus dem weißen Rauschen, dem Möglichen, der Überraschung. Doch wehe, wenn sei ein Fertzigteil, das Gewesene ist, ein Tick. Und  kürzen so das Leben um eine Ewigkeit. Wie ES dies schon im Sprachdurchlauf schafft, in furchtbaren Wortalchemien, die ja die Macht sind: KL, HSSZPF, RF, SS. Anerkannt sogar vom Papst. Zur Be­seitigung des WELT­ORDNUNGSWIDRIGEN ZUSTANDES, Chaos, die bolsche­wistisch-jüdische Aushöhlung und Infektion der Seelen (und Geschäfte), Kampf für den ordnungsmäßen LAUF DER WELT. Onkel Andreas hatte früher einmal Terplan eine ORGANISATIONS­SKIZZE  des ordentlichen Dienstweges in Angelegenheiten KL, geschenkt, die Skizze enthält auch die in der Praxis nachweisbaren Befehlswege (gestrichelt) mit handschriftlichen Eintragungen unseres Apothekers, der dankens­werterweise alle in der Skizze fehlenden Vernichtungslager als ordentlicher Sachse nachgetragen hat. Ich hatte sie Anbdrea gezeigt, der sah sie interessiert an, schob sie dann beiseite und erzählte weiter, wie sie, um dem zu entgehen, mit dem Kommandanten Höss gefeiert hatten, auch Weihnachten. Stille Nacht gespielt. Heilige Nacht, alles schläft einsam wacht. O du Fröhliche, O du Selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Mit dem Komman­danten Höß. Klavier gespielt, um zu vergessen. Lichterbaum, Wunderkerzen, um zu vergessen. Tannenduft. Alles schläft, eiin...saam wacht. Und tröstete sich damit, daß er noch denken konnte: Und das FEST als Versuch dagegen. Wie die Musik. Was ist das Ewige: Gegen das Verkommene, Verlotterte, Schmutzige, Unsaubere, und zu vernichten, was verfällt, wir: wollen das Lichte, Blonde, wider die feuchte Stelle. Am besten und besser als das Niegesagte oder die niegesagte Waise im Fest zu halten, darin wäre der Glanz des Nichts, der einzig  entspricht: Jahrtausende wie eine Sekunde, und wir, du jetzt noch, ich nicht mehr, eigentlich immer nur abwesend. Alles in die Flucht geschlagen, so zu sehen, ein langer Korridor, den du, ich weiß, oft träumst, halb geöffnete Türen, Türspalten darin Menschen wie Schemen, und durch die großen Fenster blickst du kurz, alles im Vorbeilaufen, Ereignisse, du läufst da durch, bist nirgends da, kannst nicht   ausruhn, die Einbildung, zu Haus zu sein, gar dahin zu kommen, wie du, entschuldige, Idiot, es versucht hast, ist genau so ein Schemen, kurzes Aufblitzen von Augenblicken, Bildpunkten.
     - Ja, seit das geschehen ist, hat der Rächer uns nicht mehr losgelassen, sagte ch zu ihm. Er hat auch Siebenbürgen vernichtet.
     Manchmal glaube ich, es ist die Ordnungswut, die uns zugrundegerichtet hat, Ordnung und Sauberkeit, Disziplin,  Pflich­kantigkeit...Es war auch Hitlers Wahnsinn,  durchaus in klinischem Sinn.
     Und ich spüre den analen Ordnungssinn auch in mir, Ordnung auf dem Schreibtisch, alles in Reih und Glied, Bleistifte, Federn, Papier, Bücher. Und fühle mich dann im Aufgeräumten wohl. Primitiver Kampf wider die Entropie? Schmallippigkeit als junger Lehrer, da mußten die Schüler in Reih und Glied stehen. Parieren. Und die nicht gehorchten, bekamen Prügel, Strafe muß sein. Ich war in Amt und Würden. Bei den Vätern war es noch schlimmer mit der Ordnungsbesessenheit und den zusammengekniffenen Lippen. Ihre Taten wären anders nicht möglich gewesen.O Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehn... Und ist es nicht so, daß dieses Lied, Kitsch freilich, doch am besten das Unwahrscheinliche ausdrückt, das freilich zeitweilig befestigt wird mit einer schönen Naturerscheinung, solange wir da sind, versteht sich, gesungen also während der Kriegszeit von den Frauen, die Angst um ihre Männer hatten, zu oft nämlich, kam dieser schwarze Feldpostbrief. Das Lied aber, ist das Gegenteil, auch Mutter sang: Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, und sofort dann weiter: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai.
     Der RÄCHER ist aktiv. Die Furie des Verschwindens. Es hat alles nichts genützt, sie hat gesiegt, auch im Kleinen siegt sie täglich, siegt dieses Unerkannte, das alte Nie, siegt jede Sekunde über uns:  die Rache  Entropie."

     Nein, da fand er doch diese Ähnlichkeit des heute aufgetauchten Cris mit den Opfern, den Dottore heiter vermittelnd und Ruts Geist ganz anders, ganz und gar das Gegenteil vom Tod, eher ein sich aufbauendes Leben, das den Schrecken hinter sich hatte.

     Ach ja, ach, ja, wie schön wars, als der Tod noch im Lied  gewesen war! Gar in Schuberts "Lindenbaum":  Terplan hörte es in sich singen, und er sah sich auf der Sandallee beim Sommerhaus in Siebenbürgen. als Kind auf einem Lindenbaum sitzen, ein Leinensäckchen um den Hals und süße Lindenblüten für den Tee pflücken, bei Fieber zu trinken. Und Mutters Stimme hört er: Sorg auf dich, daß du dich nicht vom Baum zu Tode fällst. Ich würde das Künd nicht da  hinaufsteigen lossen: sagt das heisere Stimmchen der schwerhörigen Großmutter, der Mitzmother, die mit ihrem zittrigen Stimmchen: "Am Brunnen vor dem Tore" singt. Und da steht ein Lindenbaum. Und träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Und rührt auch heute noch Terplan, rührt ihn mehr an, als jeder Tenor mit seiner feinen Gesangskunst;  die Mitzmother sang es vereinfacht, laienhaft zitternd, ja, tremolierend, mit dem Klang einer schrecklich unerfüllten schweren Sehnsucht und einem quälenden Heimweh nach ihrer Jugend: "Noch einmal achtzehn Jahre möcht ich sein!" in ihrer Stadt, die nur hundert Kilometer von S. entfernt war, doch die sie nie mehr sehen durfte. ( Wohin genau aber wollte sie "zurück", in eine ortlose Gegend: Noch einmal achtzehn Jahre möcht ich sein!) Aber auch sie variierte den "Lindenbaum" bei der zweiten Strophe bis zu den "kalten Winden" in Moll, und besonders anrührend bis zum Weinen bei der letzten Halbstrophe, ihrer Reprise "Nun bin ich manche Stunde", und dem "So manches liebe Wort", wie nun: ganz im Fremden und Verlorenen und Kalten, sich heftig zurücksehnend "Als riefen sie mir zu" und "Entfernt von jenem Ort", und griff auch ohne helles, warmes und atemkluges so maßvolles Schluchzen eines Tenors - mit ihrem ganz wirklichen Schluchzen dem Kind Michael ans Herz, daß er es bis heute nicht vergessen kann, ja, mit seinem eigenen Heimweh verbindet, das er fast schon vergessen hat, eine Wunde, die vernarbt ist, aber immer wieder aufreißt. Vor allem beim Hörbaren des  nur im Erinnern Hörbaren dieses Stimmchens: "Zu iihm mich iiiimmer fort", oder gar: "Hier findts du deine Ruh". Und sang es ganz bewußt als letzte Sehnsucht, wo sie im Tode sein wollte, fand aber die letzte Ruh dann doch nur in S. auf dem Bergfriedhof und nicht zu Hause  - bis heute. Ja. Das Gotterbarm. Und jener Sandweg, Sommerhaus, Leinen­säckchen, der Lindenbaum  mit dem Weinen im Singen der armen Mitzmother und das Herzzerreißende daran, das ihn packte ganz unmittelbar und stark, war das Unheimliche, das dahinter stand, das war nicht nur das Abschiedsweh, sondern verborgen das letzte Abschieds­weh wars, das dahinterstand, und eine ferne Heimat, die niemand denken wollte, sie sich verbot, da sie so unwahrscheinlich, weil so ganz anders und unerklärlich, wenn auch ganz deutlich in unserem  Gefühl steht, in ihrem Gefühl  erzittert.
 sondern kleine Leute, etwa anderthalb Meter groß, die hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis, einem Lichtkegel, der sich durch die Türe auf mich zu bewegte, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Jetzt war es ähnlich, ein vibratorischer Übelkeitszustand, und Gedächtnisfetzen kamen hoch. Ich war befremdet... Und hoffte noch rechtzeitig aufzuwa­chen... Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Mit ihr stehe ich vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanz­graben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, diese Adjektive, Frühjahr, wie ein verkapptes Verb, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropft ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hebt, donnernd fährt ein Güterzug mit Panzern vorbei. -  Und wenn diese geschmeckten Bilder sich zusammentun, ists ein dichtes Netz von Gerüchen, und dann sind wir im Paradies, jaja, in der Kinder Zeit; aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie ganz am Anfang die Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen  kriecht in Scheiben das Lampenlicht von der Gasse herein, und im feinen Strahl steht ein kleiner Silberengel und tanzt, tanzt, bis er ganz zu Staubflimmern wird. Und diese winzigen Engel berühren mich sanft und hoffnungsvoll Der Hohlweg im Baum Garten mit raschelnden, dürren Blättern, randvoll gefüllt, darin Waten, Geruch mürbe Erde Blatt zerbröselt, und ein Holzweg fällt ein, Laufen der Kinder, holprige Wege, unter dem Nußbaum ein Sandhaufen, und ein Astloch, da vergruben wir Sand  bis das Loch zuwuchs... und eben fährt Bubi auf grünem Rad surrend den Weg hinab.   Unten am Steinplatz aber der Fiaker, Brr. Hoh. Pferde, wie nah. Und aus dem Fiaker stiegen die Mitzmo­ther und der Großvater, klein mit Stock, Brille und Hut, die dicke Warze unter dem milden hellblauen Auge, die Mitzmother mit Sonnenschirmchen, ächzend, fettleibig den Weg hinauf, die Steigung am Lindenbaum, vorbei, ich hör ihr zittriges, zerbrochenes Stimmchen, wehmütig: Ich schnitt in seine Rii­inde, so manches süße Wort.  Und hinter ihnen Erschi, die Magd aus dem Szeklerland, mit einem riesigen Henkelkorb, da gabs Eß­bares, frische Kipferl vor allem, Semmeln, Yoghurt, Mineralwasser, Borsek oder Wasser aus Homrod.  Dahlien blühten, dieser unbestimmte Geruch in der Luft, Geruch von Holzfeuer, gebratenen Pilzen, ein blauer flimmernder Himmel, eine Feder­wolke, und darüber, dort, sieh, Mama, der große Engel mit einem Kopftuch, der fliegt.  Die blaue Luft wie eine feste Glasglocke. Dann verwischte sich langsam das Bild und wurde wieder zur Wolke.


Am Morgen war Terplan wie gerädert, und er versuchte seinen Zustand  durch Schreiben zu verändern: diesen Zustand, der in ihm aus dem vergangenen Leben nachhallte, und den er "draculös" nannte: "Auch ich bin andauernd zwischen Ost und West, also zwischen Sein und Nichtsein herumgereist, mein Herz unentschieden; doch diese Unentschiedenheit gehört zu meinem Wesen; die Formen, die beruhigen, eine gewisse Lebenssolidität, die so tut, als wäre sie alles, es ist das erregende Abenteuer, da zu sein, und die Tragik dabei zu vergessen, nahm ich vom Westen, auch von jenem in mir, den mir die strenge Erzie­hung und Disziplin beschert hatte, Disziplin gegen dies ewige Aufgestörtsein, diese Unruhe, dies andauernd nicht fertig sein zu können und zu wollen, das Improvisieren, die Vorläu­figkeit; die Sehnsucht bekam ich vom Osten mit, aus der Bo­denlosigkeit und dem andauernden Mangel, die Sehnsucht in die Ferne, anderswohin zu kommen.
      Terplans Traurigkeit war chronisch, er war sehr oft traurig, doch wei­nen konnte er nicht, staunte und be­unru­higte sich fortwährend, und die meer­grün gesprenkelten Au­gen, die ganz klein sein können, als wollte er die Welt ver­schwinden lassen,  sind in letzter Zeit öfter angstvoll ge­weitet; es machte auf ihn einen  deprimierenden Eindruck, daß alles fremd war, die Fremde hier bedrückte ihn. Und Hannah hatte recht, ihn manchmal  "Idiot" zu nennen -  oder "du Kindskopf", wenn er seine Schreian­fälle  und wilden Aus­brü­che hatte. Er war zwar kein Kind, aber es fiel ihm schwer, mit Erwachsenen umzugehen, er mochte sie nicht, er liebte keinen, er fühlte sich aus irgendeinem Grund mit ihnen nicht wohl, er spürte, daß sie nie echt sind, sich andauernd nur verstellen, und er mied ihre Gesellschaft, ist heilfroh, sie loszusein, in den Großstädten steigert sich alles zur Qual, und er ist lieber hier allein; auch Hannah ist lieber mit ihren Blumen und Sinnen hier allein, und allein mit ihm, so passen sie gut zusammen. Und vielleicht ist die­ses der tiefere Grund, weshalb sie hier im fremden Land und auf einem einsa­men Berg leben.



                                                    III



Doppelt- in RN: streichen!
                                        Keine Einsamkeit schmerzt mehr
                                                    als die Erinnerung an Wunder.
                                                               Jossif Brodsky

      Die Passanten stießen uns an, boxten, weil ich nicht mitschwamm im  Menschenstrom. Dabei hatte ich doch keinen Gipsarm. Für körperlich Behinderte wird hier viel getan. Die meisten meinen, ich sei  durchaus da und "kerngesund." Keiner sieht mir etwas an. Doch es ist seit einiger Zeit alles  anders. Zeit gilt nur zufällig noch, wenn ich auf die Armbanduhr sehe; bevor ich losfuhr, das Auto hatte ich im Parkhaus am Bahnhof gelassen, die Stadthölle und der Ring mich aufnahmen,  dachte ich: jede Handbewegung muß nun anders werden, und sie wird es; jeder Gedanke tut weh. Fast tröstlich war es; da  drohte mir ein Autofahrer, weil ich mich nicht eingeordnet hatte. Dieser idiotische Verkehr, dachte ich. Aber die Vergangenheit holt uns ein, nicht nur die eigene. An einer Ampel überquerte eine Alte, den Fußgängerüberweg, sie trug ein Kopftuch, wie man es hier nun immer öfter sieht, alte Bäurinnen scheinen wieder auferstanden zu sein an Fußgängerüberwegen, sekundenweise eine Schutzzone für Menschen; es war an der Ampel bei Grün, vielleicht eine Sizilianerin oder Griechin, mit einem kleinen Mädchen an der Hand, vergewisserte sich, daß der Wagen in dem ich  saß, nicht anfährt, überquerte schneller den Fußgängerüberweg, Ich beobachtete sie bei Rot, das Gesicht dieser Alten... in mir brach etwas auf, als wär sie wieder da meine Kindheit, und ich meinte eine Blume, eine gelbe Himmelsschlüsselblume vor mir zu sehen, die ich ganz deutlich sah  an einem Steilhang, Weiden, Fliercher schnedden, sagt ein kleiner Junge, ein Duft auch nach frischgemähtem Gras,  und Erde, dazwischen in mir die Blume, die ich vergessen hatte abzugeben beim Erwachen, und die mich am Leben erhält, eine Erinnerte. Unzeit hier. Und ich mußte zurück, viel weiter zurück als in die Kindheit, das war mir klar. Etwas wie Herzweh. Oder Herzzerreißen der Dinge, und meinte einen Kirchenbaß zu hören in einem kleinen orthoxen Kirchlein, und Onkelchen, der Pope singt: Der Tod  mit dem Tode besiegt.   
     Und als ich dann wieder im hellen Licht der Straße stand, schien es mir, als wäre ich aus der Klinik  entlassen worden. 
     Die andern aber haben mich ganz schön angetrieben: lichtschnell in der eignen Assoziation haben die ihre Agentur, Stimmen, drängen zum Aufschreiben, wie auch jetzt wieder, und ich nahm  als erstes im Auto mein Notizbuch, bevor ich losfuhr, die Stadthölle mich aufnahm. Nur zwischenzeilig komme das Wahre an.
     Ich fuhr Richtung Theresienwiese.Heimweh in dieser hupenden, stinkenden Straße:als wär sie wieder da, diese Blume, eine gelbe Himmelsschlüsselblume, ein Duft  nach Gras und Erde. Und hier nun die alte Narbe. Der Sohn. Maria.

DER SOHN
     In der Sankt Paulstraße angekommen, erzählte ich es auch meinem Sohn. Sagte, es sei wie ein Déja-vu-Erlebnis gewesen, die Bewegungen, der Ausdruck der Alten sei mir sehr vertraut. Ich bin gern mit dem Jungen zusammen, er ist jetzt zwanzig geworden, bin gern mit ihm zusammen, er ist einer der wenigen, der mir glaubt.
    Immer wieder an diesen Ort zurückzukehren, das war Michaels Leben, sah erstaunt auf seinen Sohn. Jetzt habe ich einen Eisbeutel auf dem Fleisch, es brennt wie Feuer, meine Brüste sind geschwollen,    Milchfurie. So hatte ihm Maria vor Jahren nach Deutschland geschrieben. Ein Junge, der dir ähnlich sieht, nur dir. Unglückseliger. Da kannst du deine Finger und Zehen sehen. Es sind deine. Die Haare genau wie  bei deiner Geburt: ein wüster schwarzer Haarschopf. So, als hätte nicht ich ihn geboren, sondern eine andere Frau. Daß es ihn gibt, ein Zufall, ein Wunder. Nichts.O Mann, wie Leben und Tod zusammengenommen, wäre ich dir keine große, sondern eine kleine und erträgliche Last gewesen. Jetzt fallen mir vor Erschöpfung die Augen zu. Was gedenkst du jetzt mit deinem Sohn zu tun? 
     Tempi passti.
     So einfach ist es nicht. Er ist  20 und ich kann jetzt
mit ihm über alles sprechen. Ohne Boden nach der Herkunft fragen? Er frägt nicht. Er sagt nur: wenn ich könnte, würde ich den Schalter abdrehen, alles auf Null stellen.
     Ich stelle mir sein Ich vor. Könnte er nicht so reden: Ich bin im Zimmer meiner Mutter, wohne da, daß ich hierher gekommen bin, ist klar, doch wer weiß, wie. Im Krankenwagen, ja. Von dem, was übrigbleibt, ist zu sprechen, und endlich Abschied nehmen. Doch habe ich keine Willenskraft. Als hätte ich den Platz meiner Mutter eingenommen, schlafe in ihrem Bett.
     Es sind 20 Jahre vergangen seit meiner Flucht. 20. Lang zum Leben, zu kurz zum Sterben. Was bleibt. Sie hat ihr Leben für ihn geopfert, ihre Investition. Jetzt stehn sie zwischen Tür und Angel, im Streit. Sie schreit ihn an, steht da in ihrer selbstgeschneiderten Jacke, mit Tand behängt, wie ein schöner Clown, das Gesicht ist wie Bronze geworden, ich denke, eine edle Indiofrau. Er aber, sein schmales Gesicht mit der beherschenden Nase, gerötet, schreit zurück in den Spalt, wo sie steht im Schutz der zu kleinen Öffnung, draußen, und als dränge er sie noch weiter aus dem Raum, geht er drohend auf sie zu, schneidend seine Stimme.
     Sie ist gegangen. Wir sind allein. Immer muß sie Recht behalten! sagt er. Und die andern Unrecht, auch wenn es umgekehrt wahr ist. Ja, sage ich, deshalb habe ich mich ja von ihr scheiden lassen. Diese Frauen, sagt er, sie wollen einen immer nur einsperren, für sich behalten.
     Im italienischen Lokal auf der Landwehrstraße hatte der Streit begonnen. Warum habt ihr mich überhaupt gezeugt, sagt er mitten in eine Stille hinein. Ich leb nur euretwegen weiter, auch euch zu Liebe.
     Eine unheimliche Energie kommt da zum Vorschein seit er verliebt ist. Sein reines junges Gesicht mit den blaugrünen Augen strahlt vor Wut, als nun Maria anfängt auf ihn verbal einzuschlagen in ihrer ennervierenden Art mit ewigen Refrains.
     Es geht um das Verlassen des Elternhauses. Der Sohn hat eine Freundin, er will ausziehen, er will sein Leben beginnen. Du kannst ja gehn, sagt sie mit vor Eifersucht zitternden und angstvoller Stimme. Hat sie mich deshalb, hat sie in dieser Panik nach mir gerufen. Sie will, ich soll ihr helfen, oder sie möchte wenigstens einen Zeugen haben. Er war mein Ersatz. Er nabelt sich endlich von ihr ab. Aber für sie ist es eine Katastrophe. Sie redet vom Altenheim. Vom Grab. Wohin soll ich gehn? Sie lehnt sich zurück, nippt vom Wein, ist wie erstarrt. Ihr Gesicht bekommt einen hektischen Anflug von verhaltener Nervosität, die jederzeit ausbrechen kann. Er ist stärker als sie. Er hört jetzt weg. Ist abwesend. Sie hat Angst vor dieser zweiten Scheidung. "Ihr flüstert hinter der Tür. Ihr werft mich aus dem Zimmer. Ihr treibt alles hinter meinem Rücken.Ich sehe euren haßerfüllten Blick." -  Mir macht er keine Vorwürfe; er sagt nur: Bin ich denn schuld an ihrer Scheidung, an ihrem Umzug von Ost nach West. Daß sie hier  fremd ist, und die Sprache nicht beherrscht? Daß ich zu den Behörden gehen muß, mich so verstecken kann. Daß ich ihr die Akten übersetzen muß und ihre Gedichte? Bin ich an ihrem mühseligen und nervenaufreibenden Beruf schuld? Und diese Scheißwohnung, so wie in ihr, so ist auch außen keine Ordnung. So wie in ihr diese Angst, einen freien Platz zu lassen, horror vacui, wie bei Patienten, sagt er. Woher weiß er das alles? Plötzlich ist er auch an der Drogentherapie interessiert und fragt mich aus. Der kleinste Platz, sagt er: in der Wohnung ist vollgestellt mit Schund. Mit Dingen, Nippes, Tassen, Andenken, Zeichnungen. Ich kann in diesem Durcheinander, wo das Atmen schwer fällt, nicht mehr leben. Stühle aus dem  Längstvergangenen stehn herum, Tassen, alte Kleider, Kinderbücher. Sie kann nichts wegwerfen, sie kann nicht vergessen. Jetzt will sie zurück, eine Villa in den Karpaten kaufen, hat aber keine müde Mark übrig. Sie läßt sich immer nur betrügen, sie ist wie ein Kind.
     Ich bedauere sie, sage ich. Hast du kein Mitleid. Nein. Wir gehn jetzt dem Ausgang zu, an der Garderobe ein Spiegel. Er sieht hinein. Übrigens, sagt er, wenn ich in einen Spiegel sehe, erschrecke ich, weil ich noch nicht realisiert habe, 20 Jahre alt zu sein, ich meine immer noch den kleinen Jungen von damals zu sehen! - Was soll ich da sagen!
     Ja, sagt er. Doch je mehr ich mich an das neue Bild gewöhne, umso klarer wird mir die Trennung. Ich muß weg, um nicht krank zu werden. Sie macht mich wahnsinnig.
     Und dann jene Szene zwischen Tür und Angel.
     Ihr Wutausbruch. Doch keiner fürchtet ihn mehr. Ich bedauere ihre schreckliche Ohnmacht. Früher terroriserte sie damit alle. Jetzt bietet er ihr Paroli. Er ist stärker als ich, und ich sehe ihn verwundert an. Wie hat er das nur geschafft, trotz seiner Krankheit. Mein Leben habe ich für dich geopfert, schreit Maria, keine Gefühle von dir. Du bist kalt wie ein Fisch...
     Hör auf mit dem Quatsch, brüllt er zurück, zitternd vor Erregnung, das feine Gesicht blaß vor Wut.
     Und als sie draußen ist, schreit er: ich haue ihr noch eine runter, ich schlag auf sie ein, wie sie es getan hat, jahrelang!
     Es ist doch deine Mutter, vergiß das nicht. Ich würde es bei meiner Mutter nie wagen, so zu reden, sage ich erschrocken.


Terplan mit seinem Sohn in der Sankt Paulstraße am Fen­ster, ein wenig abwesend, wie meist, und meint plötzlich zu wissen, daß alles, was ihm im Leben hier zustößt, mit seiner Absenz, mit dem Vakuum zu tun hat, mit einer schmerzenden Leere, die ihn ausfüllt, mit seiner Unmöglichkeit zu lieben, der Bruch mit Ornella zeugt davon. Der alte Streit mit Maria, weil jedes Fest zer­brochen ist, die Kindheit immer noch in ihm fault.
      Die Welt ist alt. Und sie ist eigentlich schon verstorben, und lebt trotz­dem weiter, ein lebender Leichnam. 
    
     Überall im Zimmer lagen Spielkarten herum, Zauberutensilien  von Michael oder Leachim, wie er sich nennt, und seinen Namen nur "verkehrt" akzeptiert! Er tritt vor Publikum auf, und der schlaksige Zwanzigjährige mit der kräftigen Nase und dem dunkelblond gewellten Haar, das er sich, den Vater nachahmend, gern lang wachsen läßt, ist stolz drauf. Ob es nun gut geht mit dieser Droge des Auftretens und des äußeren Erfolges? Maria meint: Ja. Terplan zweifelt. Er ist abwesend und der Junge muß sich schützen. Seine Schuld, kein Vater gewesen zu sein, und doch einen Sohn zu haben!
     Leachim ist verletzlich, er hat viele Ängste Er hat anfangs hier sehr gelit­ten, als Kind noch Kung-Fu, diesen Kampfsport, chinesische Selbstverteidi­gung geübt, ja, genau dies: Selbstverteidigung. Der Schock des Weltwechsels saß anfangs tief. Jetzt kennt er nur noch die Folgen, mit denen er leben muß, von den Ursachen weiß er wenig. In der Schule hatte er es schwer, er, das "Ausländer-Kind", das er nicht war: Maria hatte einen deutschen Paß. Und sein Vater hatte ebenfalls einen deutschen Paß. Nun gut, der Zauberer mit dem Zy­linder und dem Flitterkleid, schmächtig und blaß, dunkelumrandete Augen.
     Leachim liegt oft. Ist oft müde. Schon jetzt. Er versucht sich mit Hilfe der Phantasie  aus der Härte des Alltages herauszuspielen, ihn so umzuge­stalten, daß er erträglich wird, er und die Umgebung, auch Maria oder Terplan in ein Fabellabyrinth reinzuholen, und da nach Wunsch das Geschehen zu beeinflussen.
     Blitzartig wurde Terplan in der Unordnung dieses Zimmers bewußt, daß dies sein Leben war, das er nur träumte.  Vater und Sohn kramten in den alten  Mär­chenbüchern und Spielsachen des Jungen, amüsierten sich über "Frau Holle" und "Schneewittchen", und Le­achim nahm dann seine neuen "Besseren Ge­schichten", vor allem Castaneda und Zauberbü­cher. Er meinte, die  alten Bü­cher könnte er nun an eine kleine Nichte verschenken und "weitergeben". Doch einige Märchenplatten  wollte er behalten. Sie seien eine Erinnerung daran, daß er vielleicht doch auch hie und da einmal eine Kindheit gehabt habe! Und Maria kamen die Tränen in die Augen.
     Terplan träumt noch immer von zu Hause. Auch Maria träumt vom Schwarzen Meer, von der Donau. Es ist etwas abgeschnitten in ihnen, losgerissen, es kann wohl nie mehr heilen. Nicht einmal der Zauber, die Musik können heilen. Und wenn  der Junge noch flüchten kann, ihnen ist das unmöglich, die Erinnerungräume, die wehtun, bleiben für sie weiter eine Drohung und Gefahr, es ist ein großer, drückender Ernst, der zu Hause noch weich war und ver­schwommen, hier aber hart ist wie Stahl. Und alles ist unaus­weichlich, Flucht unmöglich.
     Terplan sah, wie jung, ja, schön Maria trotz ihrer fünfzig Jahre noch war. Wie schafft sei das nur, dachte er, trotz der seelischen Strapazen dieser  fünfzehn Jahre, kein einziges graues Haar zu haben, keine Falten im Gesicht; nur um den schmalen Mund ist ein harter Zug. Und dann erschrak er,  wie sie sagte, sie sagte es so nebenbei: "Die Zeit der Liebe liegt in der Ver­gangenheit, und sie war doch so schön, nicht wahr, ich zehre davon, es gibt für mich keine andere mehr."  Und er verstand, weshalb sie immer noch keinen neuen Partner gefunden hatte, obwohl sie immer wieder davon sprach, sich nicht scheute, Zeitungsannoncen, Heirats­anzeigen aufzugeben. "Aber der Junge, der Junge", sagte sie: "Es wäre doch ein Verrat. Wie du verraten hast! Mit sechzig vielleicht, mit sechzig, wenn der Junge aus dem Haus ist!"      
     Der Junge begleitet den Alten spontan zum Bahn­hof, zum Nachtzug nach Italien. In der U4 an der Theresien­wiese sagte er, "du hast es auch nicht leicht mit deinen bei­den Frauen, Maria ruft dich, wenn Not am Mann ist, ruft dich  in ihrer Panik hierher nach München, und jetzt mußt du zu Hannah fah­ren, weil in Italien diese sintflutartigen Regengüsse alles über­schwemmen, sie Angst hat. Oder einsam ist." Würde er seiner Freundin sagen: Mein Vater, der ist OK? Einer, der ihn verlassen hat? dachte Terplan.
                Ob er sich an die gemeinsame Reise nach Berlin erinnere? fragte er den Jungen.
     "Freilich erinnere ich mich", sagte Michael mit seiner immer noch leicht mutie­renden Stimme. "Da war ich acht."
     "Und wir standen an der Mauer, ich wollte dir das zeigen, kurz nach eurer Ausreise aus Bukarest. Und da gab es einen ähnlichen Vorgang des Umwegs, der sich in einer Sekunde voll­zog."
     "Daran erinnere ich mich nicht."
     "Aber du erinnerst dich doch  an die Quadriga."
     "Daran schon, auch an die Posten. Und an den Hasen, der über die Gren­ze hoppelte, da schoß keiner, weil der und auch die Vögel frei seien, so sagtest du."
          "Frei, mein Junge, ist nur unser Satz, der seltsa­me Vogel. Und der müßte viel mehr  noch und bis in die kleinsten Details alles einbringen, um das Erlebte und Gesehene zu verstär­ken, ja, aufzulö­sen. Verstehst du?"
     "Mir schon klar!" Dabei sah er  Terplan mit den grünen, etwas ver­schleierten Augen an, als müsse er um Entschuldigung bitten, es nicht ganz begriffen zu haben.
     "Aufzulösen! eingeweicht, eingetaucht in unser ganz nor­males taghelles Bewußtsein, das abnimmt, an den Rändern schon aufbricht.  Weißt du, was ich meine? - So wie du früher die Märchen als wirklich erlebt hast. Nichtwahr?"
     "Ja, ich verstehe. Wie das Gefühl beim Klavierspiel."
     "Weißt du, was ein Traum ist?"
     "Nein, aber ich träume."
     "Die Grenze verschwindet", sagte Terplan behutsam. "Seit ich jenes Er­lebnis hatte, ich hab dir doch davon schon er­zählt,  ein Gedächtnis war in mir aufgebrochen. Dies Fallout des Paranormalen, nicht wahr. Und die >Wirklich­keit< wird immer fahler und gespenstischer, und den Rest besorgen die Strah­lungen. Und oben auf unserem Berg, wo ich mein Haus ha­be, da wird auch das Grün davon erreicht, das Gras, die Trau­ben nehmen die innern Zerfallszei­ten mit auf. Verstehst du?"
     "Ja, es steht ja auch in den Zeitungen."
     "Als hätte die Welt ihre Grundlage verändert. Oder die ewige Grundlage beiläufig die Welt, sagte Terplan. Und sie sind sogar in unseren Schläfrigkei­ten die Sekundenpausen, sind ein Tor. Und die Toten können sich jeden Au­genblick bei uns melden, sie sind ja nicht tot, das ist nur eine Legende unserer Ver­nunft. Solch ein wichtiger Moment war für mich auch  jener Augenblick damals in Berlin..."
     "Ja, ja, aber davon weiß ich nichts mehr... " 
     "Habt ihr heute Geschichtsunterricht gehabt?"
     "Ja."
     Der Junge mit den meergrünen Augen blätterte gelangweilt im Buch:   "Das mit dem Fallout würde mich viel mehr interessieren!" 
     Terplan sah erstaunt auf seinen Sohn, der erwachsen gewor­den war, mit dem er sich unterhielt, als wäre es für ihn nun  ein Spiegel.
       Es war kurz vor der Abreise. Und er fragte:
      "Wieder gen Süden?"
      "Nein und Ja. JANEIN. Ich muß, die Arbeit ruft."
       "Lucca?"
      "Ja, Lucca und Siebenbürgen.Ich muß endlich Klarheit haben."
      "Seit 15 Jahren suchst du danach!"
      "Seit 4o. Aber nun bin ich der Lösung nah."
       "Hat das mit deinem Traum zu tun? Weißt du etwas Neues?"
      "Ich habe den verdammten Turm gefunden. Und in ihm den Traum."
       "Welchen Turm?"
      "Früher war es der Sprachturm ... in dem man eingesperrt  war.."
      "Und heute?"
                 "Es ist der ganze Körper, nicht nur der Kopf! Nein, alle Körper, die wir je ge­habt haben..."         
     "Eine erregende Entdeckung. Aber kein Kunststück, bei dem Zeitauf­wand!    Also doch die alte Geschichte?"    
     "Eine tödliche Heimkehr! Doch es ist eine andere Grenze; und sie bleibt unsichtbar. Und das Fahrzeug ist der Tod, ein Augenblick Erhellung ohne Leib" ... "
     Vom Vater auf den Sohn, vom Sohn auf den Vater. Die Umkehr: Le­achim  ist Di­plomzauberer. "Es ist mein Beruf", sagt er;  er ist davon besessen, und dies rettet ihn. Nun war er  eingeladen worden, auf Schloß Solitude und dann im Palais Waldheim in Böhmen bei Kon­gressen über Barock und Manie­rismus zu zaubern. "Ja, die Schlösser", sagt er, "das gefällt mir. Hoffentlich spukt es da auch ordentlich. Brauchst keine Angst zu haben", sagt Terplan: "Es ist alles su­perreinlich und zu Tode renoviert!"
     Er zeigt Terplan seinen Zauber-Plan und das Arrangement des schwarzen Wunderka­binetts, Terplan ist erstaunt, daß er sich im Manierismus so gut aus­kennt. "Wenn mich etwas wirklich interessiert", fliegt es mir zu, sagt der Junge: "Ich muß leider stumm zaubern, so ist alles ein Problem der Gestik. Wortlose Zauberei. Dies läßt sich gut durchführen mit den Sym­bolen des Ba­rock und des Manierismus, es ist ja das Thema! Zauberstücke  sind da wichtig. Illusion. Etwas vortäuschen, die ehrliche Verstellung. Das führt di­rekt in mein Thema. Das Meraviglia-Stück (Wunder-Stück) oder Wunder­kabi­nett."
     "Ah", sagt Terplan, "wunderbar, du kennst dich aus. Manie­rismus. Weißt du, daß ich einen Helden in meinem Buch hab, der in jener Zeit gelebt hat." "Da kann ich einiges von dir erfah­ren." "Granucci hat sogar in solch einem Palazzo gewohnt: im  Palazzo  Spada in Rom. Da gibt es eine Säulengalerie, die nur 8 Me­ter lang ist, doch durch Illusion und Perspektive wirkt sie so, als wäre sie unend­lich lang. Der Eingang nämlich ist sehr hoch und breit, 5 Meter breit, der Aus­gang aber, den man dann in der Perspektive sieht, ist  nur 2 Meter breit. Und dahinter ist eine Statue zu erkennen, die aber nur puppengroß  ist, doch jeder glaubt, sie sei normal groß."
     "Ja, phantastisch, Inganno, Täuschung, ehrliche Täu­schung! Durch einen Effekt.  Auch Du arbeitest damit?"
     "Ich werde eher geführt, ich weiß nicht, wer mir all diese Geschichten eingibt und so auch erzählt!"
     "Schon diese Einfälle sind Wunder. Glaubst du an Engel?"
                                                "Natürlich, Engel sind ganz gewiß da. Die brauchst du ja auch.“

Vater war gestorben wie' das Land; ein Tod, der immer  schnmerzt, bis er selbst alles auslöschen wird;  sein Gecshmack und Geruch ist in mir und wartet. Weiß, wie das erste Leintuch.  Wie der kalte Schnee, den ich als Kind in den Mund nahm.
            Marias  Mutter     war  da. Die Nächte standen still.  Die Angst kam langsamer an als bisher.  Das Würgen nahm ab.
Dann waren die vier Wochen um; Die Behörden: Das Passamt; Der Beamte.
Das Warten vor der Tür.  Lange Bänke.  Sein Blick, prüfend, kalt, abweisend.  "Wir möchten die Aufenthaltsgenehmigung verlängern."
"Oder hatesie die Absicht für immer in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben?!!"
"Vielleicht", antwortet Magdalena naiv.
"Was heißt hier 'vielleicht', bittschön: entweder-oder.  Das müssen Sie wissen!"
"Bitte, nicht so schnell; das ist nicht so leicht.  Nicht so schnell, bitte..."
"Sie haben Zeit bis Ende September, dann aber, bittschönl.' eine bestimmte und genaue Antwort.“
Die Mutter braucht eine Vollmacht.  Vielleicht steht ihr eine Rente zu. In sich aber trägt sie das Leben der Verirrten.  Und die Toten geistern in ihr, und ihre Seelen, sagt sie, besuchen sie jede Nacht.
Ihre Kleider hat sie mitgebracht; einen alten rumänischen Trach-
tenrock; gestickte Tischtüther4 Vasen und Ikonen.  Und eine eint, ver-
zieht schmerzlich das Gesicht;/-einer der Heiligen Drei Könige unter cfem vcrlöschendeii Stern.  Es könnte Melchior sein.  Hörst du es singen. -Schnee knirscht unter den Schuhen.  Steaua sus rgsard.  Kopfunter und vergraben -in vielen unsichtbaren Blättern.  Nein, nein, es ist nichts, es tut lücht mehr weh, gottseidank, es ist wie bei einer schweren Krank-heit, wenn der Kranke zu schwach- ist, um Schmerz zu spüren.  Wir sind nur sehr allein.  Verlassen; und der Boden steht oben, er steht am Himmel, und du mußt, es ist lange bekannt: auf dem Kopf gehn, um ihn zu erkennen.
Das Land aber, das Land, das sehe ich jetzt von außen, wenn ich diese Dinge, die, MU ter mitgebracht hat, in die Hand nehme, und die
so riechen, sich so anfühlen, wie ich es gewohnt war, so vertraut.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen