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Montag, 19. März 2012

TERPLAN UND DIE KUNST DER RÜCKKEHR III.TEIL


TERPLAN.  DRITTER TEIL


Das Nebenbei, das Unwichtige haftet. Was sonst war, Krieg, Soldaten, die nach Zigaretten rochen, und hatten gelbe Finger, auch Vater, kam als solche Botschaft  an, vertraut, denn da dachte ich noch nicht, so konnte sich schöne Erinnerung bilden. Und was erhoffst du dir, daß Schreiben nicht mehr nur Verlorenes, Wirk­lichkeit überhaupt ersetzen muß. Wolltest in S. ein Schriftstellerhaus gründen, alter Träumer.

Besuch bei den jetzigen Besitzern, zu Fuß durch die Cornesti, nein zuerst über den "Neuen Weg", da sah man schon die beiden bekannten Ausblicke, Steilau, die Sommerhäuser klebten am Berg, vertraut, wir gingen am Kinderspital vorbei, ja, sagte ich, hier konnte man ab­kürzen früher, bei der Orendt-Neni, da stieg man in einem Zaunbereich über ein längsgestrecktes Brett, an beiden Seiten über zwei Pfähle gelegt, eine Brücke sozusagen von Grundstück zu Grundstück, keine Metapher, da stieg man, auch Großvater, wenn er aus der Stadt durch die Hüll­gasse kam, es war näher, Abkürzung,  da stieg er über dieses Brett. Jetzt gibt es dieses Brett sicher nicht mehr, wer weiß, wer jetzt da wohnt, und wir gin­gen lieber am Fielkischen Schlößchen vorbei,  -  alles steht noch, hier fielen ja keine Bomben, ein Dorf, sagt Jann, so ländlich,  - gingen wir am alten Brun­nen vorbei, diese metallenen Säulen, wie Wasserzapfsäulen, Hebel, das Wasser zischt in dickem Strahl hervor, da tranken wir, da füllten wir die weißen Flaschen, denn Wasser gabs im "Baumgartenhaus" nicht, nur Re­genwasser in der Zisterne, Kochwasser holte der Zigeuner Puscas von der "Lehmkeule", der Ziganie, mit einem Eselchen das  vor die "Tinne" gespannt war. Wasserleitungen gabs noch nicht, und der Brun­nen am Schleifengraben, den Großvater graben ließ, hatte kein trinkbares Wasser, es war zu weich. Immer wieder wurden weiße Flaschen an einem Faden da hinabgelassen, um das Wasser zu probieren, er trank es mit Todesverachtung, wollte erfolgreich sein. Ja, diese Brun­nenhäuschen mit Dach und Gitter, sogar ein versperrtes Tür­chen, damit da niemand Dreck reinschmeißt, reinspuckt gar, die Purliga­ren, ein Rad, eine Kette mit Eimer gabs auch, das quietschte. Und es roch nach Farn und nach dem dicken, haarigen Blatt, haarig,  fein wie das Ohr junger Hunde, "Balster­bläd­der", sagte Mama. Und nach Schrot roch es an diesen Ohren im Schleifengraben.

Das Herz schlägt mir höher, wenn ich an den "Drachen" denke, an sein Dreieck, es blieb mir, Gottes Auge und der behaarte Ausgang zur Welt. Mein Kinderdrachen aber, wir nannten ihn: Alf, zusammengeklebt aus Packpapier, in der Schnittwarenhandlung meines Großvaters, mit Kleister aus den Resten und Stützen für Stoffballen, kleinen Leitern aus Hölzchen zusamengeklebt, die Schnur war lang im Frühling, der Himmel hoch mit Vögeln, doch alles war für immer schon vergangen, nur wußten wir es nicht. Und später das Denken beim Abschied und beim Tod: an Weggang/ Abflug/ Aufstieg? Uns gehört der Rest des Fadens, und daß wir ihn kannten. Der Rest des Fadens/ Drachensteigen. Spiel/ Für große Ebenen ohne Bäume und Wasser. Im Offenen Himmel/ Steigt auf/ Der Stern aus Papier, unhaltbar/ Ins Licht gerissen, höher, aus allen Augen/ Und weiter, weiter// Uns gehört der Rest des Fadens, und daß wir dich kannten. Mein Kinderdrachen, zusammengeklebt, ihn gibt es nicht mehr. Ja, was war gestern, was geistert durch mein Hirn, fixiere die Spur, die kehrt nie wieder, welch Reichtum ist das/ Vergessen. Auch das Vergessen freilich der Märchen, der Phantasiefiguren von damals, der Lindwurm und die Niblungen, Attila,  sein Hof nicht weit von Schäßburg, heißt es: Blut das härtet, und nur ein Lindenblatt fällt, die verletzlichste Stelle: der Tod."
 Ich  höre  Vaters Stimme,  diese Nähe,  so als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf,   als strahle  wieder  eine gelbe  Wand,  als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, und er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein,  oben von der Terrasse  schießt  du ihn  in  den  Schleifengraben,  zur  Lehmkeule,  oder hoch in den blauen Himmel.  Als wärs ein Erwachen: Und jetzt bist  du  wieder dort,  für Augenblicke diese Terrasse,  das Haus sehn,  den Maul­beerbaum, ich schmecke die blauschwarzen Beeren.  Dort gegenüber, dort hinter dem Maulbeerbaum,  und Seidenraupenspinner,  Arachne, sagte Daniel, der Organist, damals, die Purdis, die Ziganie, nicht alle entkamen den Transporten, Mariuca nicht,  Jani nicht und Janos nicht,  nur Puşcaş  entkam  den Todestransporten,  Onkel Andreas mit Rune war dabei, wie durch ein Wunder war Puşcaş entkommen,  der mit dem E­selchen,  der in der Tinne das Koch-Wasser brachte,  wenn man ihn rief, über das Tal hinweg: Puuşcaaas, kein Trinkwasser, nein, nur zum Kochen das Wasser, mit dem Eselchen, und dann  stand die Tin­ne, faulig roch da das Wasser unter dem Schopfen. Jetzt aber sind wir oben in einem neuen ,,Reich", geschafft und  sogar  gelöscht, was ein Krieg war   frei,  alles frei und schön ins Verschwinden. Doch etwas blieb, Etwas dazwischen, das tickt weiter in mir. Wie fassen wir es, wie fassen wir uns mit diesen Händen,  die sie verbracht ins Gel­ände, sie, und das Gras wächst noch immer, auch    auseinanderge­schrieben,  lies richtig,  lies, auch zurück, lies auch rückwärts und laß dir die Augen dann übergehen,  alle  Augen  sind  anders, trocken  und wüst.  SIEBENBÜRGEN LAND DES SEGENS,  Land der Fülle und der Kraft, sang die Großmutter, das hatte so dunkle Innenräu­me, der Klang vibrierte, eine Kindheitsmelodie,  ein großes Enig­ma,   weite  Kornfelder,  Gold  und  Weingärten,  Bauern,  Hitze. Überlandfahrten.Und dann dieser ,,Meeresboden"  einer  ,,längstver­flossenen  Flut" und Todesflut,  gehört zum Bodenlosen eines tief tönenden Gefühls, und zum Mord, Maschinengewehr,  Bombe und Cello am besten,  SS-Gebrüll  und das zittrige Stimmchen der Toten.

Ja, auch hier überzieht Staub die Disteln und Gräser neben den Reifenspuren? Kamille und Täschelkraut dünn und ledern? Nein, ich gehe jetzt auf einer asphaltierten Straße, muß ja auch sein, wie hätten die Autos der Anwohner hier auf solch einem alten Karrenweg für Ochsenwagen, überall darauf der „Käbesch“, die pflatschige Kugscheiße  fahren können? Kutschen mit den Großltern, oder der   K.-Großvae, wnen er zu seinen Patienten auf die Dörfer fuhr, wurde doch mit einem Pferdeleiterwagen abgeholt, hier, genau hier an der „Tornatz“, dem alten Holzhaus, wo ich jetzt stehe: nein, das gibt es nicht mehr, jetzt ists ein richtiges, aber verkommenes Haus. Erkenne ich etwas wieder? Hinter dem Vorschein des Jetzt sind meine Erinnerungen, verdeckt, zubetoniert, in Gefahr von diesem Schein des Wirklichen ausgelöscht zu werden? Hier der starkabfallende Abhang zum Bachufer, der bisher mit Akazien bewachsen war, jetzt ganz kahl wie eine Wpüstenei, und stinkender Schutt und Müll, das ich mich angeekelt abwende. Kein Mensch. Kein Tier, lautlose Stille. Nur oben, rechts wo der Gemüsegarten mmit den Paradeis, dem Ägrisch, den Ribisel war, Tante Friederike emsig schaffte, in anderes furchterregende Betonbau, eine Garage und zwei weiße gebrauchte  BMWs. Und ging nun den schönn alten Fahrweg hoch, was, halluziniere ich, weiter Asphalkt, und keine alte Holzbrücke mit alten Rusperbäumen im Blick.
Ich hatte ja vorsichtshalber schon telefoniert, mich angemeldet. Wurde auch reinkomplimentiert. Nichts mehr war zu erkennen, nichts. Die schöne alte Veranda, die viele bunten Glasfenster waren durch eine Mauer ersetzt worden, zwei Fenster ansttat der Glaswand, von hier hatte man einen wunderbaren Blick auf die Burg, die Stadt. In zwei kleine Räume war die Veranda abgeteilt worden, ebenso das Schlafzimmer, komisch, das „Telefon gabs noch, von hier in das Buben- und Mädchenzimmer in der Masarde,  ein Rohrtelefon, da redete man hinein, und oben konnte man die mahnende Rede des Großvaters wohl hören. Die Treppe gabs noch, die Zimmer ebenso, die Verschläge auch. Ich sah mich nahc der alten Sommerküche um, die gab es nicht mehr, auch da ein Betonraum. Und am betonigsten war die riesige „Werkstatt“ oder Kammer oder Schopfen oder was? Dort hingen Würtse und halbe Schwiene. Speckseiten. Anstatt des schönnen  Michaeltischen Hohlweges mit der Holzbrücke, alles tzugecshü+ttet, die Holzbrücke abgerissen und im kalten Winter verfeuert, ebenso die großen Rusperbäume. Und wo mal der Gemüsegarten Friederikes gewesen war mit der Tannenhecke, eine riesige Doppelgarage.
Mein Gott, warum haben ausgerechnet diese bundesdeutsch verseuchten Sachsen das Haus gekauft, und nicht eine Rumäne, ein Zigeuner oder Ungar, die hätten es mehr oder weniger verfallen und verkommen lassen, und es wäre alles noch so, wie damals, restaurierbar. Aber jetzt, wie soll man diese Mauern alle abreiußen,den Beton sprengen? Nichts mehr war möhglich. Ich trank höflich im ehemaligen Stiefken, das noch am ehesten dem Großvaters mit den alten Weltkriegsillustrierten ähnelte, den schlechten Wein, verabschiedete mich, bot einen extrem niedrigen Preis, und ich würde es mir noch überlegen.  Zeigte aber offen meine Enttäuschung.
Als wäre auch da ein Bombardament gewesen, hätte alles in Schutt und Asche gelegt, auch den alten Schopfen, den Hof mit den Katzenköpfen, die Tannenhecke, den Nußbaum auf der Terrasse, den Eichplatz auf der Terrasse, die Nische mit der Bank. Als ich  Jann 1990 das Haus gezeigt hatte, das Grundstück, wir bis hinauf zum Malerwinkel gegangen waren, und wir sogar, mehr spaßhalber, unter zwei Aspfelbäumen nach dem sagenhaften Familienschatz, den Cocosei, den Goldmünzen gegraben hatten, war alles noch wie früher gewesen.  Wie ein Bild dessen, was nach 89 noch alles zerstört werden wird, erschien mir das arme Sommerhaus, in dem ich keine Nacht hätte schlafen können, zu wund wären meine Erinnerungen da an den Betonwänden abgeprallt. Nein, unmöglich, dies Haus wollte ich nicht! Und ich werde das auch Mutter sagen!
. ….

 Und wenn du nach Szesbrich fährst, in deine Kindheitsstadt, wird’s nur Gefühle vergeblicher Erinnerung geben, du schlägst dich an mit deinen Träumen an ihrem Vergangensein - abgestanden, liegengeblieben der Schmerz: Ich sehe Vater, er kommt aus der Stadt, er führt sein grünes Rad an der Hand, riecht nach Tabak, schiebt das Bizzikel, Mächel darf mit schieben, sie kommen am Lindenbaum vorbei, am Duft. Schwer ist der Duft. Süßlich. Tee, der die Heiserkeit nimmt. Oma singt. Alle singen. Schwermütig: am Abend, wenns still ist, die Oma mit ihrem dünnen Stimmchen: Am Brunnen vor dem Tore singt, zittrig, mit einem wie zerbrochenen Stimmchen, tremoliert gerührt in einen leichten Wind, der die Äste des Maulbeerbaumes bewegt. Gut für die Seidenraupen, sagt der Großvater. Seidenraupen, das sind legendäre Tiere. Da steht ein Lindenbaum. Ich schnitt in seine Rinde, so manchen süüüßen Traum. singt  also mit heiserem Stimmchen, die S.-Oma, die Mitz-Mother, als wär ihr Stimmchen angewachsen ans dunkle Wort, als wärs ein Flakon, aus dem ein herber Parfümduft kommt, aus ihren Schatullen. Der Flakon hat eine gelbe Quaste und steht auf ihrem alten Spiegeltisch. Sie wollte mich immer moniküren und kömmen, die Mitz-Mother.
Das Wetter ist wechselhaft. Zum großen Kränzchen von Mutter kommen alle Freundinnen. Man spricht darüber, daß Booth Rob Krebs hat; aber er geht trotzdem einen halben Tag ins Amt. Frau Friedel F. hat ein kleines Mädchen geboren. Es wird Kaffee getrunken, mit Schlagsahne. Friedel F. erkundigt sich nach Onkel A., der sich nun auch endlich freiwillig melden muß. Ein feines Bild von Gerhard in SS-Uniform wird herumgereicht, er ist schon Sturmführer und sieht schmuck aus. Mutter erzählt von Sles, der eine Karte geschickt hat; Sles steht an der Grenze zu Bessarabien: Sie heben dort Schützengräben aus und schlafen in Zelten, marschieren in Regen und Dreck. Wozu?
Im Herzen versuchten wir, uns einen neuen Himmel aufzubauen, sagte Mutter: einen schönen deutschen Himmel. Und abends im Bett beteten wir: Läwer Hergottata loß asen Vother wedder gesangt aus dem Kräch hiemen kun.
Aber der liebe Gott ist doch längst gestorben, sagte Onkel Daniel. Mächel, der vor dem Blaupunktfensterchen auf einem Stuhl steht und einen zackigen Marsch dirigiert, kann sich das nicht vorstellen. Ob das Begräbnis wohl auch mit Blasmusik war oder ohne? Adjuvanten etwa?  Und ein Solotrompeter; dirigiert wird das Ganze vom Herrn Generalmusikdirektor Schlüter.
Aber nein, der ist ja schon im Warthegau, wo er hungern soll. Daniel aber sagt, auf den leeren Thronsessel im Himmel habe sich ein ekelhafter Kerl gesetzt, einer mit einem Pferdefuß, nein, mit tausend Pferdefüßen, ein Tausendpferdefüßler oder Pferdetausendfüßler. Wie schnell der sein muß. Onkel Daniel ist ja früher Stuhlrichter gewesen, muß es also wissen. Der K.-Großvater aber war nicht begeistert, er schrie, Daniel sei schon fast ein Volksverräter: Die Kirche ist doch die Kirche des Volkes, die Volkskirche, eine völkische Kirche zum Schutz der sächsischen Nation, wie in der Tartarenzeit. Der Osten, der Osten, das Chaos droht. Man muß zusammenhalten mit Gott und dem Führer im Herzen. Ja.
Und schon mit dem Tod im Kopf, schrie der Organist zurück. Er wurde blaßrot und dachte wohl an seinen SS-freiwilligen Sohn Andreas, der ihm großen Kummer machte, dieser Andreas. Das mir!
In der Zeitung standen Jubelnachrichten. Duce-Helden hatten einen britischen Geleitzug versenkt: 15 Dampfer, 98.500 Tonnen. Ob mit oder ohne Menschen? Ein Zerstörer torpediert, ein zweimotoriges Flugzeug abgeschossen.

Die gestoppten Gesichter. zum Beispiel Onkel A., der Töff – nur noch ein Foto. Darauf der Doppeladler: Montanistische Hochschule Leoben. Und seine Unterschrift mit blauer Tinte. Und auf Großvaters Fotowand gab es ein spätes Bild über dem Schreibtisch, man sah darauf A.s "sonniges Lächeln", sein ovales Gesicht, weder nordisch noch ostisch geschnitten, ein wenig abstehende, kleine, leicht verformte Ohren (die haben uns als Säuglinge alle nicht richtig gelegt!), kleiner Glatzenansatz, wie hinein geschnitten  ins Haar, genau wie ich selbst auf meinen Uni-Fotos sieht er aus. A. blieb immer so (jung?) Da schaut mich ein netter Junge etwas vergrämt an. SS-Mann? Die Runen hat jemand vom Foto vorsichtig und sorgfältig getilgt. SS-Mann? Die Familie, vor allem sein Vater, aber sogar auch seine Liebste, sie haben ihn so weit gebracht. Er zögerte, er war zu weich, er war gegen das Soldatsein, dazu gar nicht geeignet. Doch wer sich nicht meldet, wer feige sich drückt, ist ein ehrloser Hund. Ja, so hieß es, und ein Verräter. So wurde er ein Teil davon. Auf dem Foto aus Leoben noch völlig unbeschwert, ein wenig zusammengekniffen die Augen, wohl wegen des Fotografenblitzes. Ein Ansatz von Grübchen. Rührend der breite Rockkragen, einfacher grauer Anzug, weißgepunktete Krawatte, ein nicht gerade tadelloser und etwas schiefliegender Hemdkragen. Dahinter eine undefinierbare graue, eine unheimliche Wand. Die Arme abgeschnitten wie auf jedem Brust- und Paßfoto, keine Beine.
Wenn er auf Fronturlaub kam, setzte er mich hoch auf seine Schulter, trug mich. Wir machten einen Tagesausflug auf die Breite, Eichplateau, tausendjährige Eichen mit lauschigem Schatten. Ich halte meine Hände über seinen gestutzten Kopf. Hitlerscheitel. "Läuseallee", sagt er. Damit sich das Haar besser hält, hat er am Morgen ein Netz auf, riecht nach Pomade und nach Kölnischwasser. Die Tellermütze hing an der Garderobe. Ich spüre seine Stirn.
Wenn die Sonne dann untergeht, die Nacht kommt, werden alle weich. Wie aufgelöstin Wehmut. Georg bläst die Trompete aus den Wiesen. Alle sind gerührt. Der Mond löst die Landschaft in Silber auf, sagt Tante Cäcilie. Der Mond kommt und singt: Der Mond ist aufgegangen...
A. ist in Zivil. aber er sieht auch in Zivil stramm aus. Andreas sieht in Zivil noch strammer aus. Alle halten sich gerade. Brust raus, Bauch rein. auch ich soll es so machen: Brust raus, Bauch rein, und der Turnlehrer Kraus klopft mir auf den Bauch. Auf die Finger. Oder auf den Hintern. Mama auch. ein kleiner Mann. Der Onkel setzt mir lachend seine kappe auf.
Heute hat er keine Tellermütze auf. Ich spüre an seiner Stirn, wenn ich mit den Händen den Kopf umfasse, um mich festzuhalten, eine klopfende Ader,. es ist heiß, eine Buhlenhitze heute wieder und anstrengend.
Ich kann ihn nicht mehr vergessen, diesen Töff, er war ein guter Kamerad. Am vorletzten Tag seines Heimaturlaubs waren wir gemeinsam im Kino, im Astra-Kino in der Baiergasse. Töff holte mich von zu Hause, vom Holzmarkt, ab.
Es wird der Film "Fridericus rex"  gezeigt. Sehr spannend.
In der Pause sagte ich: Heinz Rühmann in "Hauptsache glücklich" habe ich schon gesehn, und Ilse Werner. Ich stritt mit Töff wegen der Filmschauspieler, sie sind persönliche "Liebchen". Ilse Werner ist ja meine Lieblingsschauspielerin; weil sie ein Grübchen beim Lachen hat und so flott pfeifen kann; Ilse Werner habe ich in "U-Boote westwärts" gesehn. Das Gefühl des stählernen Eingesperrtseins unter Wasser; das bange Sehen durchs Periskop. Aber: Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern.
Zitternd saß ich im Kino. Catte, der beste Freund des Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich, soll im Hof des Schlosses erschossen werden. Friedrich und sein Vater stehn  am Fenster. Ein Sandhaufen ist zu sehn, darauf kniet Catte.
Friedrich: Doch möchte ich sagen, daß mein Sinn gewandelt. Und bitte Eure Majestät, daß sie mir hilft.
König: Mein Sohn, mein lieber Sohn!
Ich an der Kino-Brüstung, Platz 27/28. Greife nach Onkel Töffs  Hand. Der lächelt mich durchs Dunkel und Surren und Flimmern an: Es ist ja nur ein Film, menj Jang. Beiß die Zähne zusammen!
Friedrich: Ich darf nicht weinen, sonst geht mir meine Festigkeit verloren. ich halte sie mit Mühe.
König: Tritt zum Fenster!
Friedrich: Die Mannschaft harrt noch, das Gewehr bei Fuß. Ein zweiter Sarg. Er ist für mich bestimmt?
König: Er war für dich bestimmt, fand ich dich anders!
Friedrich: Vor kurzem, Majestät, noch hätt' ich wohl
                 Gebeten, laßt mich meinem Freunde folgen.
                 Jetzt sag ich: Laßt mich leben, Majestät,
                 Denn ich gehöre meinem Vaterland.
Wars nicht so, daß Friedrich, der gern Flöte blies, und Catte ungehorsam waren, desertierten? Insubordination! Weinender Vater, aber hart, grausam. Gerührt; und doch mit bestem Gewissen: Hinrichten! Das konnte ich nicht verstehen. Auch meinen Vater nicht, wenn er mich schlug und dabei weinte: Aber es muß sein!
Dann fühlen königlich im Volke Alle, klang es mir aus dem Film entgegen: Und jeder hat sein Ich vergessen. Und tut, was recht, und weiß nur seine Pflicht.
Ta ta ta ta tatatatatata. Vater blies Fridericus rex  auf seiner "Backentrommel", blies die Backen auf und tremolierte mit der flachen Hand.
Als wir dann ganz benommen aus dem Kino auf die Straße traten, dachte ich da draußen: Ich träume ja. Wo ist Catte?
Und dann mußten wir zum Haarschneiden. Mutter hatte es angeordnet. Es ist schlechte Luft beim Friseur Roth. Über der Tür ein Glöckchen. Beim Öffnen: ein ton. Der Ton schwingt weiter. In der Frisierstube roch es nach eingelassenem Fußboden, Pomade, nach Kölnischwasser, im Spiegel konnte man den Fußboden und die Gesichter sehen, Scheitel, gestutzte Köpfe, Nullerköpfe der Kinder: ratzeputzekahl . Der Großvater ist auch da und läßt sich mit einem großen Pinsel einseifen, ein scharfes Rasiermesser blitzt aus vielen gerahmten Spiegeln; Kopfwaschen?
Der Großvater glaubt an Gott, er ist Kurator; am Sonntag sitzt er im Kirchengestühl ganz vorn. Was ist dein Wille, mein Gott? Du sollst mich lieben und sollst mir gehorchen, ich bin der Herr, dein Gott.


Jetzt war gerade auch der „Amerikaner“, der Mischonkel, Amis und Cäciliens Bruder zu Besuch, der Schiffsarzt, einer, der nur mit Millionären zu tun hatte auf Luxusdampfern, und der Misch erzählt eben, wie auf der letzten Kreuzfahrt ein amerikanischer Milliardär an einem Herzinfarkt verstarb, und da hat er, der Schiffsarzt ihn einbalsamieren müssen. Der Mischonkel saß unter dem Nußbaum und erzählte, und wenn er erzählte, kam niemand zu Wort, nicht einmal das Mundwerk der Tante Cäcilie war ihm gewachsen!
„Und da hab ich meinen italienischen Assistenten dauernd zu ihm gecshickt, weil ich mir meiner Kunst nicht ganz sicher war. Carlo, geh, schau mal nach, wie er aussieht, hat er sich noch nicht verfärbt?“
Er erzählte unmögliche Geschichten, die sich „wirklich“ zugetragen haben sollen. So habe sich in Neapel eine italienische Opernsängerin in den Grafen Telek verliebt, dabei sei er ein Phantom gewesen, und habe so am Leben bleiben wollen, indem er der Sängerin Blut trank.
„Awer Misch! Wollte ihm die Ami solche Geschichten untersagen. Die jungen Frauen aber riefen: „Erzill, Mischonkel, Erzill“!“ Und erzählte die grausigste Geschichte weiter, am Schluß aber schloß er immer mit einem Arienfragment: „Innamorata, mio cuore tremante. Voglio morire!“
Diese  Dauerflucht aus der Wirklichkeit“, höre ich Mama sagen: „ Auch seine Reisen, er ist bis nach Australien gekommen, er war viel in New York, oft in Triest, und dort hatte er auch einen unehelichen Sohn, der Julius hieß. Ach, es war ja typisch für ihn, daß ihm das alles nichts ausgemacht hat.“
„Ich würde ihn gern kennenlernen, mit ihm sprechen! Geht das…?“
„Mein Sohn , das geht nicht..! „Warum nicht? „Bei ihm geht das nicht! Er hat sich vielleicht aufgelöst, er hatte keinen festen Kern. Auch das war ja typisch für ihn, es hat ihm alles nichts ausgemacht. Er hat es einfach weggeschoben! Und als unsere gute Grießi, meinen Großmutter, seine Mutter, mal nach Triest gefahren ist, wo auch sein jüngerer Bruder, der Willonkel, der dort die Militärakademie besuchte, Offizier werden sollte, krank war, Misch studierte Medizin damals, sie sich einen Passierschein verschafft hatte, sie war schon eine sehr tapfere und energische Frau, da tut sich die Tür auf und es stürmt ein kleiner Junge herein, und die Grießi warf nur einen Blick auf den Jungen, drehte sich mit strafendem Blick dem Schwerennöter zu und sagt nur kurz: Awer Misch!! Der arme Julius trat in der Familie aber nie in Erscheinung, der Mischonkel hat ihn einfach unterschlagen. Und schnapode behandelt. Das war scheußlich. Der Julius, Sohn einer Triestinerin! Er wollte ihn nicht anerkennen. Aber der fuhr dann jedes Jahr nach Rumänien, pflegte und versorgte Hansonkel, den jüngeren Bruder vom Mischonkel, der krank war. Und geizig war der Misch auch noch. Wenn er von seinen Weltreisen ins kleine S. kam, da hatte er erst am Bahnhof die Ide, daß er seinen Nichten etwas schenken müsse; und da gabs am Bahnhof so einen Ständer mit Schundliteratur, dort hat er schnell ein Buch gekauft. Mir brachte er „Die kleine Dagmar“. Die Ami konfiszierte das dann sofort. Und wenn er von seinen diversen Bräuten in den Häfen erzählte: Wießt tea, det Fritzi, dat hat ech scher franjdert. Weißt du, die Fritzi, die hab ich fast geheiratet, die hat mich fast rumbekommen! Dat hat mech scher ämeränk bekun -. (Großes Gekicher und Gelache.  Vor allem mein Vater lachte da herzhaft  schallend). Mer hadden schien de Möbel bestallt. Awer ech hat mich dron doch schniell aus dem Stuuw gemacht. Wir hatten schon die Möbel bestellt, aber ich hab mich dann doch schnell aus dem Staub gemacht! Ein schöner Kerl war er ja, aber voller Neurosen und Ängsten. Fritzi, sagte er zu meiner Mutter, net wohr, hegt kit nichen Besack. Und wenn dann doch ein Besuch kam, dann verschwand er durch die Hintertür und ab in den Wald, um ungestört zu sein. Nun hatte man damals den Stadträuber Majorkowitsch gesucht, ausgerechnet auch in unserem Steilauwald, die Gendarmen waren hinter ihm her. Und wenn der Mischonkel dann so durch den Wald wanderte, begann er Gespenster zu sehen; er war leger angezogen, weiße Hose, blaues Hemd, Tennisschuhe. Und plötzlich hörte man ihn dann von oben aus dem Wald rufen: Hopphopp, Fritzi, äs de Bienesupp fertig. Ist die Bohnensuppe fertig? Wäßt ihr, sagte er dann anchher, et kamen plötzlich zwin Polizisten, und ech docht, nett datt dä mich hoppnien, datt dä dinken, ech wer der Majorkowitsch. Ich dachte, daß die mich festnehmen, meinen, ich sei der Majorkowitsch.
Ein Horror wars für ihn, wenn er wegmußte, als hätte er Platzangst. Er mußte ja seine Urlaubstage teilen zwischen uns auf der Steilau und Tante Cäcilie im Mühlenhamm. Da war er schon ganz krank, wenn es hieß, morgen müsse er in den Mühlenhamm. Er war lieber bei uns. Und ein wenig autistisch, wie er war, fiel ihm jede Veränderung furchtbar schwer: Sall ech na wedder än en ander Bäd, ech halden dat nett aus. Uch des Driem do. Soll ich denn wieder in ein anderes Bett, ich halte das nicht aus. Und dann diese Träume dort. Vor den Träumen hatte er ständig Angst, ging ungern schlafen, der Arme. Manchmal ließ er auch einen fahren. Tea Misch! Sagte dann die Ami. Awer wat, do hot doch nor der Stahl gekerzelt. Aber was, da hat ja nur der Stuhl gequietscht.
Er hat auch an der Börse spekuliert. Und auch verloren. Zuletzt hat er in New York gelebt. Aber das ging nicht besonders. Er war schrecklich empfindlich und oft gedankenverloren, kaum geeignet für das Großstadtleben. Und er hatte ständig vor irgend etwas Angst, alle Dinge rückten ihm auf den Leib, und vor jeder Berührung grauste es ihm. Immer gabs Krach, wenn man seine Bettwäsche wechseln sollte. Ihr seid ja verrückt, sagte er dann: kaum hab ich mich an einen Polster gewöhnt, nehmt ihr ihn mir schon wieder weg. Ebenso genial ging er mit seinen Hemden und mit seiner Wäsche um: Kaum hat man sich an ein Hemd gewöhnt, reißt ihr es einem schon vom Leib. Ihr seid ja fanatisch mit eurer ewigen Putzerei und Wascherei.
Er war hochintlligent und begabt. Er konnte zehn Sprachen. Und er sang Opernarien auf Italienisch á la Caruso. Ich hör ihn noch heute, seh ihn, wie er datsteht und singt. Aber er war eben auch furchtbar nervattich.  Nachts wie gesagt, hatte er Alpträume, schlug richtige Schlachten im Traum, er flog, da kamen die Ungeheur, alle weichen Dinge krochen ihm angeblich tief in seinen Leib, in seinen Kopf rein; daher gabs auch Streit wenn er seinen Pyjama wechseln sollte, vor allem, wenn die Pyjamas aus Barchent waren, ihm Hautausschläge verursachten, Allergien, so daß es ihn entsetzlich juckte.
Und wie gesagt, der Mischonkel dachte nur an sich. Hat auch seinen Sohn, den Julius verleugnet. Andreas hat dann diesen Sohn später wiederenteckt. Andreas hat Sinn für Ahnen- und Familienbforschung; er ist schon ein Familienathlet, ist davon überzeugt, daß Ahnenforschung das wichtigste überhaupt sei, was es für uns geben kann! Er war auch der erste, der sich einen Ahnenpaß machen ließ! Mit den Runen. Merkwürdig, nicht, daß Andreas ein Familienathlet ist. Aber er ist gar nicht aus der Art geschlagen, wie der Mischonkel. Doch etwas Gemeinsames haben sie ja trotzdem, sind bedie nervattich, Willi, sein Bruder, war sogar mondsüchtig! Er lief bei Vollmond  um den Küchentisch und rief: Ech sterwen, ech sterwen, ech sterwen! Wir hatten alle Angst davor! Er war dann wie ein Gespenst ganz blaß und übernächtig!
Doch Sorgen machten uns allen auch der Tallo, der blaßgesichtige Jüngste, ein Kriegskind war er, wie meine Mutter sagte, laßt den Armen, sekkiert ihn nicht, er ist ein Kriegskind,  war blutarm, hatte schreckliche Prüfungsängste als Abiturient, und fiel dann auch durchs „Back“, hatte wie gelähmt vor der Prüfungskommision gesessen und kein Wort herausgebracht. Alle, alle waren sie nervattig, sogar die andere Seite, der Bistritzer Großvater.
Du siehst, alle haben da etwas Verschupptes, vor allem aber Tante Cäcilie hat das, dies Hysterische, die Reedritis und das Sprunghafte.  Und Ulrike, meine Cousine, die doch in Bukarest mit diesem Mircea, dem armnen Teufel, der sich aus dem Fenster getürzt hat, gegangen ist, die ist genau so überschäumend und neurotisch-nervattich.
Der Mischonkel aber, der war amüsant, der war köstlich. Hast du es nicht erlebt, wenn er vorzeigte, wie man tanzt, das war oben auf der blauen Veranda im Baumgartenhaus: Tatatatata, Paß, jetzt, hallo, so! Wäßt ihr, isi hun mer än der Danzsteangt gedanzt: Taratatata, Paare jetzt! Kamm, mer sellen et probieren. Und die Ami protestierte:  Misch, ech bidden dich, mach net esi en Komedie mät den Känjdern! Und er: Na kitt en Zickipussi. Und davor hatten wir Angst, Friederike und ich, wir sträubten uns, konnten das nicht ausstehn, wenn er uns in den Arm nahm und uns schmatzend auf den Mund küsste. Ekelhaft, wie ein Reptil. „Kaiser Franz Josef“ hieß sein Schiff, Heimathafen Triest. Hast du diese alten Fotos gesehen, köstlich: Kaiser Franz Joseph im Hafen. Kaiser Franz Joseph im Sturm. Kaiser Franz Joseph auf hoher See! Köstlich, diese alten verblichenen Aufnahmen.
Wann war das gewesen?
Naja, das knann 1934 zur Zeit deiner Geburt gewesen sein!
Und da gabs wohl große Temperamtesunterschiede zwischen Michschonkel und dem Großvater??!
Ja, das mußt du dir vorstellen, wenn der Mischonkel sich produzierte. Der K.-Großvater sah mißbilligend auf den unbeherrschten verweichlichten Schwager. Dieser Kosmopolit und Weltenbummler, schon ganz undeutsch in seiner Art; der Großvater aber diskutiert mit Oberbaurat Jacobi über die Stadtsanierung. Gerät in Eifer. Dabei gings vor allem um die Kanalisation, die nicht anständig durchgeführt worden ist.
Wollen wir, sagt er ärgerlich, die unterhalb des Galtbergs und den Knopfes  gelegenen Häuser in der Unteren Baiergasse, der Hinter- und Schaasgasse  und teilweise am Marktplatz vom Grundwasser befreien und verhindern, daß die Schmutzwasser das Innere der Stadt, besonders im Winter, in ekliger Weise verunreinigen? Und wollen wir die Ausbreitung der Kläranlagen mit ihren durchaus nicht einwandfreien Ausflüssen in die Kokel, den Hundsbach, als ziel setzen, so werden wir in absehbarer Zeit nachholen müssen, was wir sonst fast umsonst bekommen hätten, wäre der Zufall des Krieges nicht gewesen und damit die enorme Geldentwertung. (Der Umtausch der Kronen in Leu brachte fast 60% Verlust!)
Der Oberbaurat nahm einen Schluck, sah den Obertierarzt freundlich an und wies darauf hin, daß ja einiges vom Magistrat geleistet worden sei, so ist es ja nicht, alter Freund. Auch ihm beleidige der unangenehme Geruch in der Stadt oft die Nase, vor allem im Frühjahr und im Herbst, wenn der Grundwasserspiegel sich hebt, aber schließlich sei die Neuregelung der Feldhut, die Verlängerung der Burgpromenade, der Bau der Stierstallungen – was dich, Karl, ja besonders ehrt – dann die Asphaltierung der Park-, Bahn- und Schaasergasse, sowie dann der Martin Eisenburgergasse und der Albertstraße
Aber unser Tallo machte dem Großvater Sorgen. Ist doch sonst so forsch, wenn er "die Männer" des Coetus beim Skrobatiusfest , bei den Aufmärschen mit der Blasia streng anherrscht: Wer spricht da im Glied!
Sehr ungeschickt, abwesend. Liegt im Braten. Ziehn ihn dann auf, die älteren Geschwister; vor allem dieser Fratz, die schnippische Eri, sonst ja seine Lieblingsschwester, die Schnuck, aber auch der sarkastische Hermann, sonst verträglich, der Hamuker. Und dann wettert unser Töffti los, stampft mit den Füßen auf, leicht unartikuliert wütend, als hätte ihm jemand seine offnen Nervenenden berührt. Er ist ein Schwieriger, seufzt der Tierarzt. Trabt schnaubend und prustend davon über die Katzenköpfe des Hofes, durch die Baiergasse, manchmal mit der Agnethler Kleinbahn um die Wette, die der Post zu faucht und pfeift, es kaum schafft; da hat er wenigstens einen "Überlegenheitsspaß", sagt er.
So ein Schäßburger Frühnachmittag. Aber dem Jungen kommt wieder sein sonniges Lachen, wenn er die dunkelblaue Mütze mit den Oktavafarben abnimmt und Bekannte grüßt; verraucht ist der Zorn af des Schkäpsen, seine Schwester und det Schwenj, seinen nüchtern überlegenen Bruder. Was die sich einbilden! Als er ins Lager zog... Gut, dies Lager zur Ertüchtigung. Gegen dies Weiche und Verträumte in uns, sehr gut. Zum futtern nach schwerer Arbeit, also Bewässerungsgräben ausheben bei Trappold, gestählter nackter Oberkörper, "Arbeitsmänner" marschieren mit geschultertem Spaten in Reih und Glied und ein fröhliches Lied auf den Lippen.
Heute wollen wir marschiern,
einen neuen Marsch probiern,
übern grünen Westerwald
ja da pfeift der Wind so kalt...
Oh, du schöööner...
Zum Futtern, kräftige Kost war da nötig.
Vor allem dieser kleine Affe, unsere Eri, verspottete ihn, Kinder sind ja grausam: sie, als hätte sie den Veitstanz lacht und quiekt, flettert und macht alle nach, ein Irrwisch; A. hatte seine Initialen (Karl K.) auf die nach Vorschrift eingepackten Lebensmittel geschrieben: K.K.-Bonen. Sie gaben ihm alle möglichen Spitznamen, Töffti, Tallo, Ali. unser Irrwisch spottete: K.K.-Bonen, kaiser-königliche Bohnen, und führte dazu einen Indianertanz auf.
Dabei sollte diese Göre wissen, was wir Männer leisten, denkt vielleicht der arme A.

Das greift ans Herz, Lied und Vogelstimmen, und gesunde Oberkörper, wie die Zukunft leuchtet auf dieser Lichtung. Kameradschaft. Gemeinschaft, da gehört jeder dazu, sogar die Stupsnase, das häßliche Gesicht, das Schielen, die hervorstehenden Backenknochen – all das wird geläutert, wenn der Mann in der Formation erscheint, hier im Spiel wird sogar die Säufernase plötzlich reingewaschen vom Morgen, alles Jüdische, alles Asiatische verschwindet. Vielleicht geerbt? Jede heimliche Schuld der Ahnen, die einer im Blut mitzuschleppen hat als vielleicht unglückseliges Erbe, das ihn unrein, minder machen könnte. Manche sind vielleicht körperlich etwas behindert  und leiden seelisch unter den unglückseligen transsylvanischen  Depressionen, wohl ein Erbe unserer jahrhundertealten Inzucht.
Unbeschreiblich tief greift es ins Gemüt, das es aufwühlt, so daß die Tränen locker sitzen. Heil, heil, heil möchtest du immerzu rufen. Teil dieses zuchtvollen Einmannwesens sein, das wir sind, wenn wir soldatisch, nicht in der Masse, dem Sauhaufen stehn, wenn es in uns hineingreift, wie ein tiefer heiliger Gehorsam, mitschwingend im Herzen, nicht im trüben, nein im geläuterten bewußten Willen, der gestählt alle deine Glieder durchdringt, und du dich straffst, spürbar im Marsch, wenn es deine Beine hochreißt, wenn es dich dabei durchrieselt im Entzücken, dazuzugehören im Rhythmus des einen Taktes, den kosmische Wellen zu durchzucken scheinen, unbeschreiblich in der Größe, unsichtbar im heilgen Mitmarschieren für die Idee, Teil der Idee.
Auch der Strom dieser Reden aus dem Reich, der uns durchgießt, der uns erhebt, ist unbeschreibliches Entzücken, erhoben zu sein, ein Sein zu sein, als solches ein Sein hocherhoben im Strom des Deutschseins, wir sonst ausgeschlossen in der fernen Heimat, nun zum Reich und zu seinem Führer und zu seinem Volk zu gehören.

Am nächsten Tag sah ich im Holzmarkthaus Fotoalben an (sie waren immer noch da, bei der überstürzten Aussiedlung vergessen worden), las Zeitungen, las vergilbte Familienbriefe aus alten Kartonschachteln, aus Schuh- oder Schokoladeschachteln und Koo-i-noor-Büchsen; nahm Fotos aus einer Blechdose, auf der Kinder mit Tschakos und Holzschwertern hintereinander hermarschierten; abgebleicht freilich die Dose, mit Kratzern auf der Farbe, daraus zog ich wie beim Zaubern das bekannte braunblasse Großvaterbild hervor: Karl K. saß als kaiserköniglicher Offizier auf einem Schimmel, war ein Herr, saß aufrecht im Sattel; auf einem Klepper neben ihm der Bursche; Galizien 1917. Winzige Negative in der Koo-i-noor-Schachtel, oder Faschingsfotos aus den dreißiger Jahren, gelblich, die Umrisse kaum erkennbar, wie Geisterbilder – schwebend, leise Stimmchen schienen hörbar zu werden, schienen hervorzukommen, auch die Figuren wurden lebendig; im Zimmer ein rumoren wie zu Hause: Ich sah das Herrenzimmer auf dem Holzmarkt, es muß 1934 gewesen sein, Frühjahr, Mutter mit dickem Bauch auf dem Eckdiwan. Ich muß wohl im Kommen sein – um sie herum die Großfamilie, Onkel A. im dunklen Anzug mit Gerda, auch sie elegant, als Jüngste die beiden auf dem Boden hockend, A. und Gerda nun schon lange tot, tot auch mein Vater, der hinter ihnen saß, eine dicke Hornbrille entstellte sein Gesicht; dann Franzonkel, Hildetante, Friederike ganz jung und mit Konch, Gustitante und Hermannonkel; am grünen Kachelofen lehnt Rosika, die Szekler Magd, nur ein Schatten ist von ihr zu sehn; auch die Bibliothek ist nicht erkennbar. Alle sind tot, außer der jungen Mutter und dem damals Ungeborenen.

Die Gartenwege sind schön gekehrt und geharkt. Auf dem Verandatisch liegt die blaugepunktete Decke, und auf dem alten blauen "Glaskasten" von Ami, Eris Mutter, steht im dicken Tonkrug ein großer Feldblumenstrauß. Ami hat die Riesenportion "gefüllte Ardei" eben fertig und schickt Marischka, das ungarische Dienstmädchen, mit der "Bremer Speise"-Creme in den Keller. Harry, der Schäferhund, liegt schläfrig vor der Verandatür. Plötzlich spitzt er die Ohren, und schon ertönt vom jenseitigen Bachufer Tante Cäcilies melodisches "Hopp hopp", der Familienbegrüßungsruf. Und bald gibt es eine stürmische, lautstarke Begrüßungsszene. Ja, das ist die geliebte Tante Cäcilie, wie immer in ihrem weißen Kleid, den Florentinerhut mit dem schwarzen Samtband auf dem Kopf, ein Wortschwall in unnachahmbarer Schnelligkeit ergießt sich zur Begrüßung über alle. Ruhig, still daneben Onkel Daniel mit seinen gütigen blauen Augen. Dann ihre zwei Söhne, Andreas und Reinhard.
Nach der Begrüßung werden die Badesachen hervorgeholt, und schon gehts  hinunter zum Schaaser Bach. Unter dem Wehr, am "Dusch" erfrischen wir uns. Nach dem Bad essen wir Himbeeren im Gemüsegarten und schütteln den Sommerreisapfelbaum. Auf der Terrasse, unter den alten Eichen ist dann die lange Familientafel gedeckt. Jeder nimmt seinen Platz ein, der Großvater begrüßt die Gäste, und Tante Cäcilie sagt ein Gedicht auf: Immer hat sie ein Goethezitat bei der Hand. Alle sind ergriffen und gerührt. Aber bald gibt man sich den leiblichen Genüssen hin. Die "gefüllten Ardei" werden aufgetragen.
Ergriffen und gerührt. Soo schön. aber dann hebts "Tschawalles" an: Alle reden durcheinander. Tante Cäcilie am schnellsten, zungenfertigsten. Man kann sein eignes Wort nicht verstehn, brummt Eris Vater.
Diese schlechte Familienangewohnheit. Warum schreien sie? Unbeherrscht. Keiner hört dem andern zu. Wie ein großes wabberndes Wesen umgibt die Großfamilie alle, zieht sie zu sich rein, diese Atmosphäre der Nähe auf der Eichterrasse an den reichlich gedeckten Tischen – ist dick zum Schneiden, mit den Händen faßbar, und man bewegt sich sicher in dieser Umgebung, im kühlen Schatten, in diesem Element des glücklich Vertrauten: Alles ist so einfach und schön geordnet wie die Schüsseln auf dem Tisch. Und doch - warum schreien sie alle durcheinander. Als wären sie gefährdet, als müßten sie ertrinken oder sich gegen irgend etwas selbst behaupten? Es ist so, als wären sie alle mehr, als stände ihnen mehr Selbstbewußtsein zu als sie bekommen, als sie hier jedenfalls brauchen können. Oder ists ein Rausch, dieses Zusammensein, in dem man das tägliche leise ziehende Unbehagen, diese leise Angst vor dem Kommenden vergessen kann?
Die Männer sind ruhiger. Als hätten sie sich an eine Ahnung von etwas Unvermeidlichem längst gewöhnt; man ist hier so schön geborgen, und doch ists so, als wäre dies alles nicht mehr ganz wirklich; der Nußbaum, die Terrasse, der Blick auf die vertrauten Konturen der Burg, die Buner Berge, die Nähe hier: die Tannen, der Huflattich zwischen den Steinen – alles ist schon wie längst vergangen, wie stehngeblieben, wir: auf einer kleinen Insel.
Eris Vater sagt manchmal: Seit dem verlorenen Krieg von 1918 und dem Zusammenbruch der Monarchie ist nichts mehr so wie es war.
Der Himmel bedeckt sich plötzlich mit dunklen Wolken, es ist drückend schwül, konnte nicht regnen. Dann endlich sausen dunkle Schatten lautlos über die Erde. Ozonduft, Frische. Erste große Gewittertropfen. Schnell die Stühle reintragen.
Und als wir dann gemütlich im Sommerhaus auf der Veranda sitzen, meinen wir zu träumen. Krachend schlägt der Blitz in der Nähe ein.
O Jessus, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, ruft die Ami erschrocken, als könnten sie die Worte schützen wie ein zauberspruch.
Ja, es sind ferne Heimaten in uns, Wolkenstreifen, wir denken immer, es könnte jeden Augenblick etwas Schlimmes passieren.
Und Andreas sitzt am Fenster und sieht auf die Silhouette der Burg, die zwischen den tiefhängenden Regenwolken und den Regenstreifen gerade noch zu erkennen ist: Es schüttet. Es trietscht; durch den Hohlweg schießt schon gelbes Lehmwasser, die Wege sind kleine Bäche.
Andreas fühlt sich einsam, verlassen.
Und Eris Vater versucht, das Gespräch wieder zu beleben. Aus dieser Stimmung heraus redet er laut in den Raum, die Worte wie schwere Brocken.
Wieder politisiert er, kann es nicht lassen:
Und tatsächlich ists so, als sei seit 1918 alles tiefste Provinz bei uns. Das war doch anders, als wir noch zur Monarchie gehörten; als sei man abgeschnitten. Budapest oder Wien waren ja auch weit; ja, aber Bukarest – die neue Hauptstadt, es kommt mir vor, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Sie wollen uns verschwinden lassen, einbauen in ihren Staat: Andreas ist wieder sehr erregt. Das wird ihnen aber nicht gelingen.
Er steht auf wie elektrisiert und trommelt an die Scheiben: Die neuen Minderheitenverträge werden nicht eingehalten. Und wem gelingts, in den Staatsdienst zu kommen wie früher. Was sollen wir noch hier?
Schon während des Mittagessens, als er seine dreißig Zwetschgenknödel hinunterschlang, übermütig rief: Menj Boch jubiliert!, hatte er sich über diese Unverschämtheit, die sich die Walachen leisten, ereifert.
Jaja, die haben wieder führende Parteigenossen verhaftet und dem Buchhändler Ambrosius verboten, "Mein Kampf"  und andere wichtige deutsche Bücher im Schaufenster auszustellen. Stell dir das nur mal vor, nachdem doch die Bewegung im Reich solch einen grandiosen Sieg errungen hat!
Man hatte bei dem Geschrei nicht viel von diesen Männersachen gehört, die Worte waren versickert. wie von einem großen Wesen, einem Kobold, werden alle, aber vor allem die Frauen befallen; eine leichte Hysterie liegt in der Luft, als könnte jederzeit einer wirklich anfangen zu toben, zu weinen, sich die Kleider in Fetzen zu reißen. Aber nichts geschieht.
Auf der Bücherstellage von Eris Vater lagen die dünnen bräunlichen Hefte. Das letzte Heft enthielt diesen Aufsatz vom ehemaligen k.u.k.Rittmeister Fritz Fabritius aus Hermannstadt, und Onkel Daniel wetterte gegen ihn, man werde ja sehn, was aus dem gräßlichen Schwulst werde. Böse war Onkel Daniel auch, weil Andreas in die SAM-Arbeitsmannschaft eintreten wollte, sich dauernd bei denen herumtrieb und ungeheuer bombastisches Zeug von sich gab: Dieser Finsterling von einem Rittmeister ruiniert doch die Sachsen.
Zum Sommerfest des Karpatenvereins am Samstag in der "Villa Franca" (mit Blick von der Höhe auf das schöne Stadtbild. Waldhornmusik, Lieder und frohes Tanzvergnügen. Ein herrlicher Sommerabend. Bergheil!) hatte Andreas jenes Pamphlet des Rittmeisters mitgebracht:

"Weil nun hier gründlich auf allen Gebieten des Volkslebens mit der die meisten Volksgenossen beherrschenden ichsüchtigen Einstellung gebrochen und der Weg zur alten, wirklich und einzigen "deutschen" Lebensauffassung und Lebensführung gefunden und begangen werden mußte; weil den unorganischen, auf restlose Zerstörung wirkenden Kräfte organische, aufbauende, lebenweckende Arbeit entgegengestellt werden mußte... und aus der Verantwortung vor Volk und Gott ist die Selbsthilfe entstanden. Sie will:
1. art- und blutgemäßes denken, organisches Zusammengehörigkeitsgefühl im volke wieder wecken und fördern...
2. eine Kampfgemeinschaft aller sich für unser Hochziele einsetzenden, gleichgerichteten Kreise sein, weil nur Kampf schöpferisch ist...
3. die Grundlage für ein erdhaftes Leben, d.i. unsere Wirtschaft im deutschen Sinn so ordnen, daß diese nur ein Werkzeug und die Grundlage des völkischen und geistigen Wiederaufbaus werde; daß das Geld wieder dem Menschen und nicht dieser dem Götzen "Gold" untertan werden.
EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN – JEDEM DAS SEINE!"

Na, ist das vielleicht nichts. Wir müssen uns wehren und mehren. So ist auch dieser neue Mann, der Hitler, unser Mann, dachte Sles: Ein Retter in der Not.

Andreas lag mit seiner Liebsten im Gras. Geburten in Siebenbürgen können recht kompliziert sein, sagte er zu ihr. Kinder mit Wasserkopf sind keine Seltenheit, Alfen. Aber dieses muß bekämpft werden, mit allen Mitteln und unbedingt. Wir haben den Kampf mit den Ungeborenen aufgenommen . Daher auch der Jubel vor einem Jahr. Verstehst du? Seither träumen die Frauen vom Führer.
Wie es da durchschlug bei den jungen Leuten. Auch bei Mutter. Und es sag ja auch alles so jung und sportlich, frischgewaschen, sauber gekämmt und gebügelt aus. Und man turnte viel... Frisch, fromm, fröhlich, frei/ ist die ganze Turnerei.
Schlagt die Pauken und Drommeten
Turner in die Bahn
Turnersprache laßt uns reden
Vivat Marlitt
Vivat Vater Felix Dahn

Heil! Umschlingt euch jetzt mit Herz und Hand
Brüder aus Nord, Süd- und Überhauptdeutschland!
Daß einst um eure Urne
Eine gleiche Generation turne.

Volksgesundheit  also, um das Verschwinden zu bremsen, das dann eben genau durch den Versuch, es zu verhindern, eintraf, das große Heimatverschwinden auf die Art, wie wir es heute kennen.
Eben an jenem Tage also, als ich heraus sollte und partout nicht auf die Erde wollte, war der Stadttierarzt, mein Großvater, morgens dabei, über Land zu fahren.
Der Großvater war sehr besorgt, denn eine seiner Töchter war als Kind an Diphtherie gestorben. zu oft wurde von den Gefahren der Inzucht, den vielen Wasserköpfen in den Dörfern gesprochen und auch von den transsylvanischen Alfen, Geistern, die ihre mißgestalteten Kinder blitzschnell und hast du mich gesehn, mit dem gesunden Säugling  vertauschen  und sich gleich aus dem Staub machen, aus dem wir ja sowieso gemacht sind.
Onkel Georg war noch viel früher aufgestanden, als der Großvater. Kurz vor sechs und bevor er ins Büro ging, dem er im Elektriziätswerk vorstand, hatte er diesen Morgen eingeblasen. Er blies auf seinem Flügelhorn von oben aus den Wiesen den Trompeter von Säckingen:
Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen
Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.

Herrlicher Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blaß die Venus und die Mondsichel.
Bratenfett vom Vorabend war längst verduftet, auch der Rauch der Petroleumlampen. die weiten Röcke der Großmutter lagen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf der Landstraße, kühles Staubmehl, Pferdeäpfel.
Die Geburt – eine gefährliche Sache. durch fehlerhafte Haltungen und Drehungen des Kindes entstehen schon im Mutterleib Vorderhauptslagen und hintere Hinterhauptslagen, Gesichts- und Stirnlagen. Wie eine Schraubenspindel dreht sich das Ungeborene im knöchernen Kanal ans Licht, macht es jedoch eine einzige falsche Bewegung, folgt die so gefährliche Zangenextraktion am Beckenende.

An diesem Morgen war der Großvater früher aufgestanden, wie ein großer Engel im Nachtgewand im Hof erschienen.
Er nimmt die Zeitung, klemmt sie unter den Arm und geht durch den Gang am Stifken vorbei zur Eingangstür, aufrecht, nicht schlurfendHinterhauptslagen                   
, aufrecht wie ein Soldat; frische Morgenluft, Tannenduft schlägt ihm entgegen, er schnuppert und murmelt: Hiesch äs der Dach hegt. Und Vogelkonzert antwortet. Da geht der Mann mit der scharfen, leicht gebogenen Nase hinaus in den verkrauteten Hof, schreitet über die weißen Chlorodont-Spritzer, die die zähneputzenden Kinder auf dem gerippten und gewundenen Huflattich hinterlassen haben, geht im langen weißen Nachthemd, ein Erzengel in Pantoffeln, am Backofen und der "Wassertinne" vorbei zum Plumpsklo. Die fahrbare Wassertonne hat eine Deichsel für den Esel des Zigeuners: Ja, der Puscas muß wieder mal gerufen werden!
Öffnet die Plumpsklotür, setzt sich, entfaltet das Blatt.
Ein Blick in die Heimatspalte: "Das Landeskonsistorium beschließt über Volksgesundheit. Ausschüsse für Wohlfahrts- und Gesundheitspflege, weingeist- und tabakfreie Sonntage (Armen-, Kranken-, Waisen-, Krüppel-, Taubstummen- und Blindenpflege, Pflege der Schwachsinnigen und Geisteskranken, der Trinker, Geschlechtskranken und Schwindsüchtigen..."
Diese Zeit. Schwere Zeit. Große Zeit, große Sorgen. Hoffentlich ist das Kind nicht erblich belastet. Er starrt ratlos auf die gelesenen Zeilen. Blut muß reinerhalten bleiben. Manche in unserer Familie sind nervattich. Vor allem unser Misch, der Schwager. Und Töff ist oft sehr ungeschickt und abwesend. Gottseidank sonst munter: Beim Coetus ist Töff Fuchsmajor, er herrscht die Männer an, hab ich gehört: Wer spricht da im glied?
"Es predigt in der Klosterkirche, Sonntag, den 12 August: Pfarrer Georg Ließ, nächsten Sonntag, den 19.August: Pfarrer Georg Ließ... Erkältungskrankheiten, Nervenschmerzen, Grippe. Geistliche Abendmusik in der Klosterkirche, der Leipziger Thomanerchor kommt am Freitag, den 24. August..."
Er hustet vor Erregung, er schneuzt sich. Chronischer Katarrh. Sein Blick fällt auf die Zeile: "Togal löst die harnsäure, beseitigt die Krankheitsstoffe." Morgens im Bad Salzwasserlösung in die Nase, fast genauso gut, überlegt er, Naseneingänge frei halten.

Er steigt dann etwas später unten an der Tornatz auf den Leiterwagen, freilich nicht wie ein großer Engel im weißen Nachthemd, sondern nach dem Frühstück, das er auf der blauen Veranda einnahm und nachdem er sich in seinem Schlafzimmer reisefertig gemacht hatte, schritt er den Fahrweg hinab bis zur Tornatz, wo der Leiterwagen stand, der Herr Wagner und die Pferde warteten.
Der Großvater auf dem Leiterwagen fährt eben am Letjew vorbei. Im Wirtshaus sitzt schon der Hartmann, denkt er, verkommenes Subjekt, stiehlt dem Herrgott den lieben langen Tag. Pale säuft er; wer? der Herrgott? Dummerjan, der Hartmann doch wohl. es werden immer mehr und mehr. Gut, daß ich meinen Armeerevolver behalten habe. Auch Jagdgewehr für alle Fälle. Überfälle zunehmend. am schlimmsten die Aufrührer, Wahnsinn und Rebellentum.
Staubmehlstraße, große Wolke hinter dem Wagen, Ferne. Wie in der Fibel; bittschön, bei uns noch alles in Ordnung. Pferde traben und furzen, Hüh, überwältigend. Und gestern Hindenburgs Begräbnis. Ordnung herrscht. wider Pöbel und Revoluzzer.
Das ferne Ostpreussen, Neudeck um Mitternacht. Nur die Familie, dann Personal, Gutsleute, viele treue Bauern und Knechte. Die Treuedietreue. Von Neudeck bis Tannenberg standen sie, Tausende Treue Spalier. Die Sargträger nicht, die gingen voran: Zwei Hauptleute, zwei Kapintänleutnants, wie sichs gehört am Rand versinkender Geschichte.
Und bald kommts Kind ins Gassenhaus. Heut oder morgen,

Sache. Gezogener Degen, Reichskriegsflagge, Kränze ohne Zahl über dem Eingang, in eherner Ruhe Reichswehr, zwei Batallione Infanterie, zwei Schwadron Reiter.
Felder ringsum flimmern schön. Süße Heimat, komm bald wieder. Und zwei Batterien Artillerie, drei Leibregimenter, Präsentiermarsch, die Lafette mit Sarg, sechs Rappen; Fahnensenkung, Fahnenhebung.
Also oben, jaja, im Deutschen Reich, da ist alles in Ordnung. Pöbel beherrscht, der Achtzehner, die Schuld annulliert.
Aber etwas merkwürdiges haben sie oben eingerichtet. Schon dieses Wort Konzentration... Konzert,  nein auch in der "Dimineata" stand was von Gespenstern, die da rein müßten, Volksfeinden.

Im Januar schon hatte Hermann, der ja oben studiert, im Lokalteil "Aus der Heimat", Dachau-Innersdorf, gelesen, natürlich zuerst den Wetterbericht, den man überfliegt: Wetterbericht, ausgegeben am Samstag, den 13. Januar 1934, mittags noch vereinzelt Regen und Schneefälle, dann zeitweises Aufklaren, schmales Zwischenhoch, kein weiterer Temperaturanstieg.
Dann aber war die Rede von jener merkwürdigen neuen Einrichtung. Da stand: "Der neueste Wachkommandant. Der Führer des 1. Sturmbanns der 56. SS-Standarte Norbert Scharf wurde zum Wachkommandanten des Konzentrationslagers berufen."
Greuelnachrichten aber und Gehässigkeiten des perfiden Albion aus dem "Manchester Guardian", daß es in der neuen Einrichtung etwa 2700 Gefangene gäbe, daß einige mit feuchten Handtüchern und drahtumwickelten Ochsenziemern, die die Gefangenen sogar selbst verfertigen mußten... ja, daß einige von ihnen vermittels 25 – 75 schweren Schlägen zu Tode geprügelt worden sind, sind energisch dementiert worden.

Diese Feinde! eine Welle der Besinnung geht ja durch die Welt, hat gesagt Hutmacher Lingner, auch geschrieben im "Boten". Schriftführer Freiwillige Feuerwehr. zu Ehren großes Ereignis: 10 Steigerübungen, 12 Spritzenübungen, 8 Sanitätsübungen, 9 Gesamtübungen und 9 Vorträge, wozu also noch Punkt und Komma, wenns läuft wie geschmiert?  Übertragungen ausm Reich Spottpalast und war das Herz geht dir auf Mund auch über Mund auf und Mund zu aber ohrenbetäubend Jubel nämlich Heil Deutschland und da kommt er schon.
Also oben jaja da im Deutschen Reich ist alles in Ordnung. Pöbel beherrscht. Der Achtzehner, die Schuld anulliert.
Als ich im Achtzehner dann abrüstete, nach hause kam, da hatte sich auch in der Heimatstadt alles verändert: Bei der Neuen Brücke eine ungeheure Flut, das dahin schießende Wasser, das Trommeln der Wassermassen an die Fensterscheiben war zu hören, der alte Schopfen mit den Familienbriefen aus der Verlobungszeit, den Kriegsbriefen aus dem Feld: Galizien,  den Briefen von Misch aus Amerika – weggerissen. Ich konnte gar nicht nach Hause. Und alle Gesichter wie zehn Tage Regenwetter, fahl, "verwapelt", die alten Unterscheidungen paßten nicht mehr in diese völlig aufgeweichte Landschaft.
Vielleicht werden wir plötzlich und ganz unheroisch eines Nachts in der Kokel zusammen mit angeschwemmten Hühnern, Kühen, Schweinen einfach ersaufen. Oder auf dem Klo morgens beim Zeitungslesen. Das Haus stürzt ein. es wird unweigerlich nach einer Zeit einstürzen.
Wofür ist der alte Wilhelm gefallen. Soldatenehre. Fiel an der Spitze seiner Kompanie in Galizien in den ersten Tagen des Vierzehner, mit gezogenem Säbel erstürmte er als blutjunger Leutnant eine Anhöhe und brach im mörderischen Feuer eines Maschinengewehrs schon bei den ersten Schritten zusammen; die andern stürmten weiter. Und seine Mutter, die Grießi, soll genau in seiner Todesstunde einen Schrei gehört haben. Sie wußte: As Willi äs died. Äs gefallen. Pflichterfüllung, absolute Pflichterfüllung. Es gab damals keine Widerrede wie heute. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, zu fragen, obs Unsinn ist oder. Nein, wenn das Vaterland in Gefahr ist, dann darf doch nicht gefragt werden, das wär ja schon Verrat. Oder gar Gedanken – wie kann ich mich drücken. Wo solche eine Auffassung durchkommt, da ist das Kostbarste vertan. Dann ist die Idee des Vaterlandes tot... im kalten Licht des Verstandes wird alles zweckmäßig, verächtlich und fahl. Uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren Strahlen großer Gefühle zu leben. Dies Gefühl ist in uns noch lebendig. Und wenn nicht die Familie gewesen wäre, hätte ich mich gegen die Roten in Budapest gemeldet, die auf den kopf geschlagen.
Und gerührt erinnert er sich an den letzten Brief der elfjährigen Friederike, die ihm ins Feld geschrieben hatte: Wie sich Hermann ("Bübchen") freue, weil Vater ihm aus Galizien Fasanenfedern mitbringen wird. Und daß viele Schulfreundinnen krank seien. Sie lägen mit Scharlach und Pocken im Epidemiespital, es gäbe schon keinen Platz mehr.

Oh wie schön. Bahnhöfe
der alten Monarchie/ weiche Anfahrt
z.B. im tschechischen Laut/ böhmische Dörfer...
Büffel, Ziegen und Schnitterlieder/ Korn und kühle
Tonkrüge. Sensen geschultert. (Der Riese Tod!)
Tanzte Csardas, Polka, Hora, Donauwalzer.
Ein Kaiser mit Backenbart auf allen Briefen.

Aber über die neuen Einrichtungen im Reich, wie man sich der Volksfeinde entledigt, nein, da stand wenig im "Boten" und im "Tageblatt". Dieses komische neue Wort Konzentration... wie wars nur, ja eine Konzentration wars schon, konzentriert, konzentrierte Lösung, was denkt man sich dabei, Konzentrationslager. Da stand nur eine kleine, aus der "Dimineata" übersetzte Notiz über "Gespenster in die Konzentrationslager", die Phantome einer vergangenen Zeit. jaja.

Hermann freilich, der oben studierte und es genoß, hatte in den "Münchner Neuesten Nachrichten" gelesen: Dienstag, 21. März 1933. Am Mittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager eröffnet, teilte der kommissarische Polizeipräsident von München, Himmler, mit: Schutzhaft für alle, die die Sicherheit des Staates gefährden und den Staatsapparat zu sehr belasten, wenn man sie in den Gerichtsgefängnissen belasse!"

Auch daß sieben SA-Männer, die am 1.August in Schutzhaft kamen, derart mißhandelt wurden, daß zwei, Amuschel und Handschuck, starben, daß die Stadträte Hausmann und Lehrburger, der Reichsbannermann Aron, ein kommunistischer Funktionär aus Memmingen, insgesamt 50 Mann ermordet worden seien: dem ist heftig widersprochen worden.
Alles nur Zwischenfälle, falls überhaupt wahr; denn wo gehobelt wird, da fallen auch Späne; der junge idealistische Polizeipräsident Himmler hat nur das Beste gewollt, auch bekanntgegeben, daß es diese Lager gab, "ohne jede Rücksicht auf kleinliche Bedenken und in der Überzeugung, damit ganz im Sinne der nationalen Bevölkerung zu handeln." Gegründet wurde das Lager auf dem Gelände der ehemaligen Pulverfabrik K. Durchgeführt von Landespolizei, SS und SA. Und seit einigen Wochen kann man nun im Moor bei Eschenhof Gefangene arbeiten sehen; manche marschieren mit geschultertem Spaten aus und singen: Schwarzbraun ist die Haselnuß/ schwarzbraun bin auch ich, bin auch./ Schwarzbraun ist das Mädel mein/ gerade so wie ich. Hollari juwi-juwi hi trallera.
Im "Amper Boten" stand, daß die Verwaltung des KL vom Pg Gutsbesitzer Dinkler, Gräbenzell, gekauft worden war. Die Inhaftierten seien im Dinklerhof selbst untergebracht. Sie sollen sich in der Freizeit mit Spiel und Sport aufs beste unterhalten. Tagsüber kann man die Schutzhäftlinge frohgemut arbeiten sehen.

Auch bei uns ist einiges los. Das sah man auf dem letzten Feuerwehrball hier in Scheszbrich: Wie der Fritz Markus, dieser kleinköpfige Doktor, der Obmann ist wohl krank – die Polonaise anführte. Und die Hautevolee, Dr. Wolff da drüben, der Stadtpfarrer, Baurat Jacobi von der Stadtverwaltung, Dr. Seiwerth, der Bürgermeister, alle Brudervereine der Stadt, die sind auch alle auf Seiten der Erneuerungsbewegung, Schwarz hats in seiner Rede betont, alle Körperschaften sind eh durchdrungen vom neuen Geist. Unser Volkskörper sei krank, sagen sie. Vor allem diese Selbsthilfe von Fritz Fabritius ist fabelhaft. Wir sind hier im Südosten noch nicht am Ende. Auf genossenschaftlichen Grundsätzen aufgebaute Organisation verschafft Volksgenossen billiges Geld, Bau von Häusern, neuen Bodenraum, Hilfe im Wirtschaftskampf.
Habs im "Klingsor" nachgelesen: fremdes Recht und fremde Wirtschaftsweise haben das Kostbarste, haben das Innere des Volkskörpers, die Seele, das Rechtsempfinden krank und hohl gemacht, daß wir von Stufe zu Stufe dem Abgrund entgegen taumeln auf unserem Schicksalsweg, Keim zu innerer schwerer Krankheit.

Beeindruckend vor allem die Auffassungen des Hermannstädter Rechtsanwaltes und Schriftstellers Wittstock, der ja seit dem 5. Sachsentag juridisch so ausgezeichnete Auffassungen hat. Dieser Dr. juris hatte geschrieben:
"Es geht darum, aus der "Volksgemeinschaft" einen "kategorischen Imperativ" zu machen, und das heißt, die alte himmlische Forderung der Nächstenliebe und Menschenliebe endlich irdisch im einfachsten zu erfüllen. Es geht darum, an die Stelle der parlamentarischen Demokratie, die nie etwas anderes als Kompromisse und politische Tauschgeschäfte zustande gebracht hat und bei der die Politik kaum je mehr bedeutet hat als die Fortsetzung von Privatgeschäften mit anderen Mitteln, eine ganz neue Art der Staatsleitung zu setzen, eine Staatsleitung aus dem Volkswillen, eine Staatsleitung ohne Geschäftemacher und ohne Privilegien und auch ohne Übergewicht der Amtsstuben und Amtsformeln über das Leben selbst... Es geht darum, daß die Zufälligkeiten der alten Weltwirtschaft und die unverdienten Zufälligkeiten des Besitzes von Rohstoffen ausgeglichen werden und nicht länger zum immer frischen und immer brotlosen Kampfe zwischen den gequälten Menschen führen."

Und dieser Hitler wird dann das Problem lösen. Diese leidige Arbeiterfrage, diesen Arbeitsmangel. Das wird er. Den Deutschen von Gott gesandt: Gütiges Auge, blau.../ dunkle Stimme du.../ Und der Kinder treuster Vater,/ sieh, es steht geschart über die Erdteile hin/ Weib und Mann in den Flammen der Seele/ heilig vereint...
Aber Przemysl, die Festung, hat Hindenburg doch übergeben müssen, da haben wir fast geweint, damals im Fünfzehner.

Und die elfjährige Friederike schrieb mir aus ihrer Puppenstube und ihrem Puppenspiel, wo sie sich auch die andere Art von Adam und Eva ausdachte, wie Mann und Frau das Paradies gewinnen, schrieb mir ins Feld, ich erinnere mich an diesen herzigen Brief noch genau:
Wie teuer wird alles werden. Zucker haben wir immer nicht, man kann überhaupt nur noch Krustenkaffee ohne Zucker trinken, manchmal kommt es mir zu speien, so bitter ist er. Merglertante  schrieb Großi aus Agnetheln, sie solle ihr Zucker und Petroleum kaufen. Wir könnten froh sein, schon elektrisches Licht zu haben. – Wie kann man Hunderte von Feinden auf einmal schießen? was machst Du immer am Abend? Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß Du befreit wirst. Auch wie gut wäre es, wenn Du zu Hause wärst, ich kann es mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie das vor dem Krieg war. – Schlaf gut, unser lieber guter Tata, es grüßen und küssen Dich vielmals Deine dich so liebenden Kinder Friederike, Erika und Hermann, Dein kleines lustiges Bübchen. Kuß auch von der Mama. (Der Steieranzug steht Büberle sehr gut.)

Das Elend. War nicht das Elend beherrschend für die Frauen gewesen. Mit Fritzi hatte ich jeden zweiten Tag Briefe gewechselt. Galizien, Saloniki bei Turba. Und Fritzi hatte Angst wegen Rußlands Revolution. einmal schrieb sie mir: In Rußland herrscht das Chaos.
Misch war während der Wirren in der Ukraine gewesen, was hat er in der Ukraine gesucht? Naja, Geschäfte hat er gemacht, sieht ihm ähnlich. Für zwei Hendl erhielt er 200 Kronen, für eine zerrissene Hose 60 Kronen. Er war schon immer ein Zauberer und ein Tausendsassa. Ohne Hokuspokus kein Leben, sagte er. Goldenes Zeitalter der Sicherheit. Dauer. Gings damals zu Ende, 1918? Die österreichische Krone. Gold. Ordnung. Aus. Alles am rechten Platz, jeder wußte, wo er hingehörte. Zinsen genau berechenbar. Beamte und Offiziere, die den genauen Tag der Pensionierung wissen. Schon dem Säugling legte man ein Sparbuch an. Immer war eine kleine Reserve da für Notzeiten und Krankheit. Aus.
Bisher hatte man solide gewirtschaftet, man ging keine Risiken ein; verbrauchte immer nur einen geringen Teil der Einkünfte und machte Rücklagen, kaufte Grund und haus, dachte an die Zukunft. keinen Plunder! Aus?

Doch Kultur ist da, denkt der Alte. Musikverein Probenordnung: Montag gemischter Chor, Dienstag Orchester Vollprobe. Pünktlich und vollzählig erscheinen! Männergesangverein. Montag, den 13. keine Frauenprobe. Sonst gewöhnliche Probenordnung. Mata Hari im Astra-Lino. Ein Sensationsereignis... Greta Garbo und Ramon Novarro...

Nun gehts in die Stadtwohnung, den Ledersitz zu holen, von Berger gefertigt. die Albertstraße hinauf, am Eiskeller vorbei, Neue Brücke, Maria Theresia Brücke, uralt, Holz, dann durch Hoftor Baiergasse 49, Katzenköpfe grauschimmernd, ganz nah, rund erhoben wie eingegrabene Eier. Im Hof sägen sie schon das Winterholz. Früh heut, früh. Wohl für das alte Fräulein Hoch, naja, die hats nötig, die mit ihren kranken Füßen. Geruch von Öl, ohrenbetäubendes Sägegeräusch. Der Puscas. Buna dimineata, Domnule Doctor. Muncitit, munciti.
Dada. Kannst dich hier nur schreiend verständigen. Aber die Staatssprache, die neue, naja, die kann ich schon leidlich.
Der Ledersitz wird aufgesetzt, samt Decke. Nun kanns losgehn.
Am Fenster erscheint die Kranke. Fehlt. S. 176-178 Gress se Gott, Freiln Hoch. Gress se Gott, Freiln Hoch.
Gresr, C3tt, Herr Do!.<tr Die iLtegelähmte Junofer am Fenster.  Ist sofort wieder verschwunden.  Zumgotterbarm. Schüttelt die Teppiche nie.  Aber der alte Herr Zerbes eine gute Erscheinung"@geht noch aufrecht,ohne Stock wie .ein@oldat.            @etzt an der weißen Eingangstür.'
Hinter der Tür noch eine Tür, und dann eine ganz steile @Treppe hinauf.,Wie der'alte Herr das noch schafft" trotz seiner fünfundsiebzig.'rüstig, rüstig.  Aber die arme Hochmit ihrer Lähmung, ein Rollstuhl müßte her, doch so mit den zwei Krückstöcken, Zumgott.erbarm. Was für ein Kreuz.  Warum schlägt Gott die einen, läßt die andern heil und gesund an Geist und Gliedern.  Und auch sonst sind sie ja nicht mit irdischen Gütern gesegnet, wann sie das Haus nicht hätten, wären sie schlimm dran.  Wie der arme Hellwig da, der kleine Schuster sitzt den ganzen Tag in-seinem Loch und hämmert an den Sohlen anderer herum.  Bitter arm.  Und ist doch ein'Mensch unserer Sprache!, Frau stammt ja aus dbr Tschechei.  Ihr Rock zipfelt hinten wie ein Schwanz, immer länger.  Haben auch noch diese Rangen, vier oder iünf Kinder.  Gekindsel; kugeln dauernd in der Werkstatt herum.  Höhle. Ärmliche Verhältnisseg drei Stiegen hinunter wie in die Unterwelt.  Tageslicht an blinden S-cheiben, da ist keine Energie, um hochzukomt7en; vielleicht schlechtes Erbgut., wer weiß. blie unser armer Hartmanng der Pintscil unter dem Gang 4-m Hof.  Dieser wackliqe Gang.  Müßte befestigt werden, das Kind könnte hinunterfallen.
·   rt wie devot der Mann istg wenn die,Tür der Hartmanns offen stehtg riecht.% nach Kraut und Bohnen.  Armeleutageruch.  Und der Sohn spielt Ziehharmonika. Quäkt.*
Üf der Heide blüht ein kleines BlÜmelein
und das heißt, Erika, drei vier.

Takt, der Hartmann.  Ist schnelle schußAlä käme er aus dem lig und dienstbeflissen.  Hat ja was, sagt man, mit der Kraftehann.  Die mit ihren zehn Kindern.  Ist etwas unterbe-lichtet.  Ungewaschen, Geruch eingetan Wie die das alleine macht, das wissen die Götter, wer da alle.' Katschen wäscht.  Sie.natürlich. Wer den vielen Kindern den Hintern putzt, ess-en macht.  Kaum zu glauben, - eine F@au allein, und dann auch noch zu Wohlhabenden waschen(,'glvhn, sich für einen Tag verdingen. Na. bei uns wird 'Eri nicht waschen müssen, jetzt hat sie zwei Mägde; viele Windeln wirds wohl geben.  Großer Kessel.  Kochen die Kindersachen, die hellbraunverkackten und naßgemachten, Wie der Wind sie dann am Seil-im 'Hof in den Himmel heben wird, leer   Ginge dem Großvater durch den Kopf 9 Ärmelchen und Beinc'hen...                                   0

Die ungrisbhen Knechte für Ochsen und Pferde.
Rumänische Mägde tränken das Vieh.
Am tiefsten aber in unsere Erde
Bald die Staubmehlstraße Richtung Wolkendorf.


Sonst keine besonderen Vorkommnisse, außer daß ausgerechnet ausgerechnet an diesem Tag der Milchmann Heuschnupfen hatte und es keine Milch gab. Panik im Sommerhaus, wo die junge Mutter lag. Im rosa Mädchenzimmer. Oma sang eine Arie aus dem Freischütz und legte dazu mit den Mägden Sauerkraut ein. Ein Pirol flötete ganz unprogrammgemäß. Eichwald nah. Und Oma fielen schöne Verse ein: Monde wechseln und Geschlechter fliehn/ ihrer Götterjugend Rosen blühn/ Wandellos im ewigen Ruin.
Mama aber stand plötzlich an der Treppe, sagte atemlos: Ech dinken et hot ugefangen.
Awer gang, menj Känjd, sagte die Oma, die Angst hatte vor dem Vorgang: Tea host jo nor Bochwieh.
Ich hörte aufmerksam lauschend durch die Bauchwand zu. Dies war altmoselfränkisch oder ostletzeburgische – hierher verpflanzt.
Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Vater eben dreißig geworden.
Roszika, die Szeklermagd, aber schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie wurde los geschickt, den Ur, den Herrn zu holen, sowie den Fiaker zum Abtransport.
Als der Fiaker dann da war, stieg die Madonnengesichtige vorsichtig in den Koberwagen. Pferde furzten, schnaubten, pferdeäpfelten in den kühlen Staub. ich aber schwang mich auf, trat zu. Sie sagte: Au. Dann schwamm ich behaglich im Fruchtwasser, im Urraum des Buchstaben Thet, nun nach neun Monaten. Überhaupt in der Neun, die wie eine Nabelschnur aussah, zusammengewickelt und aufgerollt, ein Flurchen.
Albert, der Kutscher, kutschierte das Wägelchen mit dem schwarzen Regenkober vom Bock aus in die Cornesti, dann in die Albertstraße, über die Neue Brücke – eben katholisches Siebenuhrgebimmel, und da: sieh ein Storch mit roten Beinen, eingezogen und groß, flog über das Gefährt hinweg, da wie eine komische Ameise da unten voran krabbelte. Druckwehen dann schon im Fiaker heftig.
Im roten Gassenhaus wurde die Mama vorsichtig zu Bett gebracht, der milde Hausarzt war schon da, auch Sles, der junge Vater. Recht nervös, rückte dauernd die Hornbrille zurecht, setzte sie ab und wieder auf, war ein langer Lulatsch, schmal, blaß, nur im Hemd bei der Hitze, aber mit Krawatte; ohne diesen Knoten unterm Adamsapfel gings nicht, das gab ihm Sicherheit.
Der Sonnenuntergang dann, nach 20 Uhr, ganz normal, keine besonderen Erscheinungen, keine Klopfzeichen, kein Mirakel. Wie jeden Abend seit einer Woche kam gegen zehn der Komet Wipple-Jedtke, tauche auf unterhalb des Großen Wagens, nebliger Stern 3 zwei Drittel Größe. Von da eilte er zu Beta dem Bären.
Erst gegen Morgen setzten die schmerzhaften Preßwehen ein, als Scheszbrich mit allen Hähnen, Ferkeln, Fiakern, Hunden, Milchmännern erwachte, hörst da eben die Kleinbahn, wie sie den Markt hinauf stampft und ohrenzerreißend uns rücksichtslos eins pfeift; fenster der Gasse zu, wo das Hochsche Haus steht, offen, da bauscht sich der gelbe Vorhang, Luft; die Grünäugige atmet schwer. Rhaij edmen. Ticken der Uhr. Läuten, Turmuhren. Glocken, Engel singen. Summen in den Ohren. Krankhaftes Brausen aus dem Fenster, ferne Stimmen, ein Milchwagen poltert über den Hof, klopf, Kopf-Kopfsteinpflaster. und Michael müht sich auch ab, der schwarze Zigeunerkopf erscheint gegen acht und schreit vor Kälte. Und dieses harte Licht wie ein spitzer Pfeil. Man nabelt  ab, Schere und ratsch weg. und kalt. Das verschlägt dir den Atem, und jedes Wort ist zuviel. Hot hie uch alle Fanjerchen? Cha, cha, lacht der Arzt. im Steckkissen bist du wie eine Mumie eingepackt, ja. Erdenkind.

Ich stand auf, hatte einen neuen Schlafrock, erzählt Mutter: Und war glücklich mit meinem Kind. das heißt, ich hab auch viel geheult, denn da hatte ich eine Waage. Und meine Mutter sagte: diese Waage schmeiß ich zum Fenster hinaus, die macht dich ganz nervös und verrückt. Denn es wurde gewogen vor und nach dem Trinken. Und wenn ich dachte: Jetzt hat er gut getrunken, da kam nur ein Gramm oder zwei mehr auf die Waage. denn man ist ja furchtbar labil im Kindbett und überempfindlich. Und du lagst in einem bestickten Steckkissen. Großes und kleines Molton-Tuch, Dreieck usw. Bestickt hatte das Steckkissen ein junger Mann, der epileptisch war (Wieso?). Naja, Vögelchen und Hühnchen waren darauf. (Das wimmelte nur so von geschädigten bei uns!) Und jeden Tag mußte ein Mordstopf mit Windeln gewaschen und gekocht werden. Bis zu 24 Windeln am Tag mußte die Magd waschen. In der Küche am Herd. Der erste warst ja du, spieltest eine große Rolle in der Großfamilie. Baden, Wickeln und Füttern.
Zur gleichen Zeit war Großvater über Land in der Staubwolke des Leiterwagens Richtung Denndorf. Sles aber, der Vater, der Überglückliche mit seinem Stammhalter, stand mitten im Zimmer und stammelte und bedankte sich überschwenglich bei seiner Frau. Sie lag da mit diesem Winzigling in Weiß, dämmerte müde dahin, aber wohlig. Sles lief die Treppe hinab auf die Gasse und wollte Blumen holen, ein ganzes Blumengebirge. Bis zum Gärtner fuhr er mit einem Fiaker. Zu Eder. War liebevoll besorgt, fragte, wie es ihr gehe: Hast du noch Schmerzen, Eri?  Sie hört ihn heute noch dies fragen!
Dann aber wars Zeit für Sles, den langen Lulatsch, ins Geschäft, in die Schnittwarenhandlung zu gehen, die seinem Vater gehörte und wo er Prokurist war.
Auf dem Weg sah Sles in Kwieschinskys Kolonialwaren­handlung Orangen, Feigen, Pampelmusen... dies Frische und von weither Gekommene.
Werds später mal brauchen für Mutter und Kind.  Havanna Zi.-aril@@ Hoffentlich wird er kein Raucher . Kannst ja bei uns all'-es bestellen, die ganze Welt ist offen.  Driiben der Dror-erie Lingner sogar französisches Parfüm.  Für Eri.  Schmuck?  Er hastete an Kino vorbei.  Im Astra-Eino: "Die Nacht der großen Liebe" von Bolivari, Samstag, Sonntag.  Heute aber, Mittwoch und auch Donnerstag "Quick" mit Lilian Harvey.  Wann wird sie wieder ins Kino können.  Marisch kann ja solange beim Kind wachen.  Unsinn.  Was fällt dir ein.  Und da das Plakat: Am 24, der '2homanerchor aus Leipzig.  Die musica. liebst sie.  Erhebend.'Das Schwere geht auf.  Festlicle Abendmusik in der Klosterkirche.  Wie vor einigen Jahren, na, wie lang ists jetzt schon her: fünf Jahre bald, in der Thomaskirche zu Leipzig.  Wir werdn alt.  Wo der Werner wohl jetzt ist?  Läßt nichts mehr von sich hören.  Dachte mal daran, zu uns'zu kommen: Emigration, sagte er.  Na, da sieht er, was er von seinen roten Ansichten hat, hab ihn immer gewarnt, kommt doch aus gutem Hause.  Was Vater sagen würde, wenn ich mit so einem Freund da ankäme, Aber freilich, aufgenommen hätt ich ihn schon.  Wenn einer in Not ist, sogar eir»Gegner.  Was heißt@el@Gegner, Feind sogar.  Ach, diese blöde Politik.  Garstig Lied, steht -ja schon im Faust.  Hier wär er noch sicher gewesen, der Werner.  Sie haben '- unsere Nationalsozi.,',listen vor kurzem verhaftet und Haussuchuno- sogar bei Andreas, dem Heißsporn, oben auf der Marktzeil@ r-.@emacht. Na da waren aber die beiden SchöngeisterrDariel und Tante Cäcilie entsetzt", ... sehe große Märkte... Bunt- Sehe Käufer und Ver käufer Männer und Frauen in Stollen nachgefragt wirdt enge botenlillarktschreiür preiben an, 1

Hausfrauen prüfen am Stand kaufen Früchte häufen sich,Natur zu Berge, bunte Tücher aus dem brientathen oder Keränth sagttnir eine Stimme:
Tempel
Sagdad oder Karthage(, Babylon,Tyrus oder Heliopolis      auch im

Dionysos SP richt und und auf den Straßen 600 die Liebe,




Slegt lacht innerlich wendet den kleinen Kopf taucht.4. Aha denkt

gin@ 'Samtjackigen mit großen MadonnenaugefY/die ihm winkt, aha: Da haben wirs ja, auch hier scheint die Nachfrage abzunehmen, Inflationg nur zehn Gäste und vierzig Mädchenp darunter Südländerinnen und drübe diese ap,;ettitliche schlanke Schwarzee Also mit raffinierter Reklame
                                    das Überangebot an den Mann gebracht werden*** Und                                    wenns
                        soll




                        nach der Großen Hure aller Überweltlichkeit gehtg br6ngt die                        große




                        Katastrophe auch den seelischen Haushalt in Unordnung.Chäosg                        Schmerz


Alles zersetzen die Juden, das GROSGE GELD.  Gold anstatt Blut."



Sich nicht verlocken lassen, nein.  Sitte nur hereinspakiert, die
Herrschaften!  Auch die hier werden verkauft, schöü-e Reklame.  Und bei
Tiez die Schaufenster                 MeineSpeiialität, die Schauf elter
werd sie heute wieder mal vornehmen, der Latzt. wird die Puppen bringeng nackt, aber leicht umwickelt mit Tüchern, das schickt sich hier in unserem Kaff nicht, nein', nicht mal Schaufe&6terpruppe@ll Orwohl doch geschlechtslos, die brauchen -,ein Feigenblatt.  Und doch und doch, wenn die mal angezogen, dann sind sie wie wir auch,-wichtig/Boch nur dee
Kleider. @d                  in da
Vater immer wieder gesagt, der Professor lehrte es, ja Modewaren sind geheime Beziehungen w@ischen den Menschen halten das Leben in Schwung sozusagen.  Sei Tiez, aber auch auf der Straße in Leipzig,war das ein Gedränge, das können die hier sich kaum vorstelleng@da s"perrst'. du das Maul auf. Überall Kfaider, Mäntel, Hüte, Schirme, zwei Anzüge im Gespräch, englischer Kammgarn, feinste Marke, da hab ich einAUge dafür.  Zuei Hüte: m abe die Ehre!  Geheimnis des Lebens:und Kleider machen Leute# Aber der Junge soll Arzt werden oder Rechtsanwalt da werd ich darauf bestehen.  Oder bei Wertheim in Berlin Kaufhaus Wertheim, habs mir mal angesehn.  Uberhaupt Berlin!  Wär da gern noch geblieben, Reichshauptstadt.  Wertheim, König der Basare:
Und Modewaren, das-hab ich auch

Wandelst zwischen zartem Email mit japanischen Goldblumen

durch       den Erfrischungsraum            (im Kaufhaus Wertheim.

Diese       Juden!  Feurige Tropfen in Kreisel-$ Fächei-und Rin-form
Glühbirnenrank-en;und auf Metallflächen unter leuchtenden Fontänen und über die Kanten der erznen Balken streuen @ausend Reflexe aus; unter einer altfrä@ischen Hol@,decke.  Darunter drehen sich Damenhüte, die Damen-Köpfe daneben, die niemand beachtet, es geht um die Yiütg hier und dort um die Hüte, der ganze Spektakel ihretwegen: Museum des--überströmend Fertigen, im Moment verhaftet., damals, ais wärs ein illuminier'ter @fald
der Dinge und l@ffiützen unpersönlich, dieser            Abendg,
ewig schön und wunderbar, jeder Betrachter aber glaubt, er sei mit ihm allein.
Ließ @ich mit der Menge durchs Kaufhaus schieben.  So wi e
Sonntagsausflügler die "Landschaft" ansch         ßör;nalb, ent-

äu4 au
zückt, nicht dazugehörend, anders als der Bauer zuhaus bei

uns: der            schönen CTegerid Ear-t arbeiten muß, Hand

anlegt oder der Holzfäller. -wdanlegen.
Komm! @ltedie Mark in der Brieftasche./v-ater könnte den Wechsel erhöhni Unwillkürlich - Rßiz, doch daran teilnehmen
zu können, falls bei Kasse: das prickelt.
Aber die-3 klappt nun nicht mehr so4 Es sei etwas Neues im
Entstehn, sag@ auch der
Prof   LiAwsky, Ja-I@
Luxus, Reiz, Gier ist zu meiden, es schafft Rui--n, Abhängigkei': Nur ja keinen Plunder.  Sparsam und ehrlich, auch das Ausschweifende meiden, nicht wie ich in Leipzig damals in dieser Schlupfbude, kein liederliches Leben, das sind wir unserem Volk schuldi,7: Askese im Kontor, dazu Tab@", Kaffee, 'Lnee, H,@a.  Aber Vater war doch auch bei dieser Ilona in Bistritz und dann in Krons@uadt.  Wir sind doch keine Heili-en.
jK-,@ Anpassen m-Uissen wir uns schon.  Wichti,7, sind die Schaufenster.  Heute haben wir vor allem 1.Iarkennamen und Verpackundie werden ja so verk3,uft.  Absatz ist noch mehr als bisher das Zauberwort nach der -"@,leltwirtschaftskrise.  Reklametechnik, habs@ ja als 1\Iebenfach!  Wichtigste Techr-il-, heut.  Versprechen von Gl-Uck, wir glauben es!  Im alten Sinn gibts keinen Kaufmann mehr - sagt auch der Prof.  Ljsowsky, @leinun@sger,@-egstände seiten die Dinge inzwischen. l@leinungsvegenst@dnde.  Die Ware, pulverisiert i'n -mpfindungen, löst sich auf in Gefühle, du schmeckst dann den Namen, Kooiiior oder sonstwas: schon schmeckst du e s auf der Zunge.  Als wollte wirl.,lich der Welt@,eist, angekommen am Ziel, alles abstrakt und ideell verwandeln Und du kaufst und kaufst und kaufs'(-" und alles@chmeck'(I dann nach nichts, der Süchtige, Verführte: wie Tantalus in der Unterwelt: trinkt und trin'-"..t, und ew wird doch nie -elöscht, der alte Durst.
entlassen wo sie HALTUNG WAHREN müssen.  Jetzt sollten in wenig die Väter unserer Väter und Mütter sein, jetzt, wenn sie in Rente gehen, zuerst mir Angst, mit einem Gefühl des SichvWeigerns , dann nehmen sie es still an, und merken, wie schön es ist: kindlich zu sein.  Uns nichts mehr vormachen zu müssen, was sie nicht sind und nie waren: Wir führten die Befehle wider Willen aus in der Kette der Geschle chter, wie Vater vorsichtig sagte, als ich ihn danach fragte, weshalb er mich eigentlich geschlagen , seine Kinder geprügelt hätte, Und nach dem ersten ertta-inten: Ich?! kam dann das: Nein, gewollt hab ich es von mir aus nie!  Ge @ ngen hab ich mich dazu.  Denn: Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!


Bullenhitze. Ein Regen wäre gut. Das Sommerhaus. Wir haben gebaut. der Marktplatz. Die Katzenköpfe. Ein paar Szeklerwägen vom letzten Markt. Roßäpfel. Hab ich das Rezept? geh ich zuerst zur Drogerie? Noch eine Stunde Zeit. Nein, die Medikamente sind wichtiger. Türklingel. Guten Abend. Chloroformgeruch. Weiße Töpfe mit lateinischen Aufschriften ringsum. Nehm auch Pfefferminzbon­bons, mag sie. Hustensirup. dann die mandelseife von Ligner gegenüber.
Wird der Junge mal Inhaber werden? Kaufmann oder Arzt? Arbeiter? Ach geh. Bauer? Unsinn.
Was sich gehört in unsern Kreisen. Stammhalter. Wächst und gedeiht. Wichtig: Gradgewachsen und gesund. Deutsch soll er bleiben, so Gott uns beisteht. Mer wälle bleiwen wat mer senj!
Die Vorfahren meiner Mutter: die Wagner kommen aus Böhmen. und waren ungarischer Kleinadel: de Kerekes de Kerekes de Kerekes, Wagner auf Ungarisch.
Komisch, dreimal "von", die konnten nicht genug davon bekommen.
Ja, und Mutter war auch recht stolz. Sie hat sich leider immer für was Besseres gehalten, unsere Mitz-Mother, hat auf die "Bürgerlichen" herabgesehen.
Und hat auch den armen Franzonkel und die arme Marietant, die Geschwister des S.-Großvaters, schnapode behandelt; der Franzonkel sein "surkig", die Marietante stinke, sagte sie.
"In zarte Frauenhände" und das Benimm-Buch "Umgang mit Adligen" und "Beim Baron zu Tisch" im Bücherschrank.
Zur Hochzeit eine schöne Bernsteinbrosche. Die ehe wie unsere Gemeinschaft: ehrwürdiger Staub, hatte unser Freund Hensel gesagt, der Professor Doktor: da darf nichts einbrechen, nie. Das Chaos nicht. und seis nur ein Insekt, etwas winzig Kleines, das bleibt, fortdauert im rastlosen Getöse des Tages, im Gerede, in dem sie untergehn, unsere Tage. Hier aber klopft das Ewige im Stein. Begutachtete die Brosche, Bernstein mit Insekt, transparenter Insektenflügel, in diesem Abgrund haust das Ewige, hier höre ich das stille Rauschen des Göttlichen. Hier siehst du die Unverletzlichkeit aller Einrichtungen, das Ordnungsgemäße der Lebenserscheinung. Alles, was Gesundheit und Beständigkeit sichert, ist heilig, wie unser Boden hier, die Häuser, überkommen von den Vorvätern, oder die Ringe, die Stadtmauern, die Türme, wie ergraute Seelen. Ja: Alles, was sie gefährdet, ist frevelhaft, eine Sünde wider Gottes Willen, jede Veränderung, die Zeit ist das Maßlose, gegen IHN aufgestanden... So hielt Prof. Hensel uns und seiner Frau Ficca, die auch Grethe hieß, einen kleinen Vortrag, sagte noch etwas vom aufbewahrten tiefergrauten Staub, der allerdings entropisch dem Nichts zueile: unweigerlich. Und da war ich entsetzt: das hatte auch der gescheite Melas, der Übergeschnappte, mal gesagt: Mitten drin im Ewigen fühlen wir das schmerzhell Vergebliche...
Die melodische Uhr vom Turm schlug...
So stand es auch im "Großkokler Boten" zum Tage der Machtergreifung Hitlers: Revolution ist Sünde wider die Weltordnung. Jubel, daß wieder alles in Ordnung ist, daß Babel und Völkerchaos, Verjudung usw. aufhören. D.h. JEDEM DAS SEINE. Die Volksgemeinschaft wieder hergestellt. Der Knecht wieder Knecht. Der Herr wieder Herr.
Ewige Ordnung ist das Naturgesetz ewiger Leistungshierarchie. Alle sollten daran teilhaben. Nordisch sind die Träger der Herrschaft: Offiziere, Beamte, Lehrer, Polizisten. Händler und Kaufleute dagegen sollen nur ostisch oder fälisch sein. da bin ich dagegen. Richtig aber ist: Der Herr steht über dem Knecht – das ist Naturgesetz, genau wie ihre natürliche Trennung schon fixiert ist in Blut und Stammbaum. Daher die Könige. Jede Vermischung ist wider die Natur. Und wie sagte Hensel, auch mein Schwiegervater sagt es: Blut ist wichtiger als Gold!
Verwackelte, im Gelbton verschwimmende Geisterfotos: Mutter im Dirndl, Vater im weißen Hemd mit Krawatte; immer diese Krawatte; einen Staubweg zwischen großen Wiesenblumen entlang gehend, mit Freunden. Er in schwarzen Trachtenstiefeln, später dienten diese Stiefel bei der Feuerwehr und in der DM, der Deutschen Mannschaft – Fallschirmjäger sollten sie bekämpfen. Also entlang gehend einen Staubweg, an wiesen vorbei, Kornblumen, Mohn, Margeriten, oder auf einer Staubstraße stehend, einige Ausflügler auf Lastwagen, andere wieder rauchend und redend auf einer staubigen Landstraße. Wenn es regnete, platzten Sternchen im Staubmehl. An großen Wiesenblumen entlang gehend, unter Regenschirmen, laufend, sie im Dirndl, er im weißen Hemd mit Krawatte, immer trug er Krawatte, als hätte sie ihm Halt geben können, mehr noch vielleicht gaben die hohen Schaftstiefel Halt. Zwischen großen Margeriten stehen sie, der Geruch von Waldluft kommt mit einem östlichen Wind von der Breite, Hochplateau, tausendjährige Eichen.
Oder ein Faschingsfoto: Sie mit Rob, Vaters glattes schmales Gesicht ist ihnen zugewandt, melancholisch schaut er zu ihnen hinüber. Und es hängt über ihnen ein großes Bild, ein Kornfeld, roter Mohn, die Jesusjünger, Evangelisten, der Heiland einem Gewitter zugehend. Friederike sitzt am Boden des Fotos, nicht des Wandbildes, das im Foto hängt.
Friederike frech rauchend beim Fasching. Sie hat ein Kleid jener Endzwanziger an, hockt auf dem Boden unter dem großen Bild mit Jesus und den 12 Aposteln in Korn und rotem Mohn. Georg ist noch nicht dabei, damals hatte sie noch ihr Leipziger Liebchen, mit dem sie zehn Jahre lang Briefe wechselte. Aber der Heimat treu und dem Vater, blieb sie im Lande, hatte zusätzlich noch angst vor der Fremde und der großen Stadt im Reich. Hinaus durften nur die Männer. aber es rumorte in ihr, ein dauerhafter Schaden blieb zurück. Schaden auch der langen "Anständigkeit", der lebenslangen, der sauer gewordenen, bis zum Tode, bis in den wuchernden Körper hinein, seit sie Abschied genommen hatte von ihrer verzauberten Seele, die keinen Leib haben durfte. Über ihren Vater und über ihre Hochzeit mit Georg schrieb sie an ihren Lieblingsbruder, den sie Tallo nannte, hinauf nach Berlin/Charlottenburg, wo er Hoch- und Tiefbau studierte im ersten Semester, aber den Sommer über da war, und auch den neuen stählenden Arbeitsdienst nicht versäumte, schrieb also einen Brief voller Sarkasmus auch über sich selbst nach Berlin.

Doch gabs Tanz auch im Sommer: Mulatschak, Murri nannten sie die Partys, legten sich unter die Bäume, Sles und Georg, Friederikes Verlobter, schüttelten zuerst Äpfel, die süßen Goldparmäng, Birnen, blaue Pflaumen. und lachten. Oben am Himmel stand fahl der Mond und der Große Wagen. Wildes Gezwitscher der Vögel war zu hören. Sie lagen im Tau, in den Wiesenblumen, müde, angeschwipst und jung, Sles und Georg (Georg verhungerte in Rußland).

Die Jahre vergingen damals langsamer als heute. Doch langsam kam das entscheidende große Jahr 1940 heran. Und lauter Hochzeiten. Auch Hermann und Iren hatten in jenem großen Jahr geheiratet; oben im Reich allerdings. Es gibt ein Foto mit Iren, sie sitzt auf dem gelben Ruhebett im Baumgarten unter dem Nußbaum neben Michael, und sie spielen Lotto, ein Geburtstagsgeschenk.
Iren war damals mit ihrem Vater zum Hochzeiten ins Reich gefahren. Schon am ersten Tag kamen sie durch München. Dort hatten sie Gelegenheit, ihren Bruder Edwin zu besuchen. Edwin hatte Dienst in Dachau, höre ich Irens Stimme: Ich kam mit meinem Vater nach Dachau. Wir sahen erstaunt die Anlagen. Und mußten lange in einem kümmerlichen Besucherstübchen warten, bis Edwin endlich kam. er war unruhig und nervös; wir spürten die ungute Atmosphäre. Mein Bruder ist ja von Kindheit an sehr nervös, vielleicht weil meine Mutter so stark war, zu stark. Im Grunde war er schon als Kind schwierig, mein Bruder. Naja. und dann hat er eigentlich gar nichts erzählt. es war ein zeitlich begrenztes Wiedersehen, wie das so ist: Er hatte sich vom Dienst für diese Besuchsstunde freimachen können, ich weiß nichts, wars eine halbe oder eine ganze Stunde, er stand unter Zeitdruck. Und wir wollten uns später nochmals treffen, aber es kam nicht mehr dazu. Mein Vater hat so in seiner naiven Art gefragt: Was ist denn eigentlich hier los? Was sind das für Leute in den gestreiften Anzügen, und was wird mit denen gemacht? Und da hat mein Bruder gesagt, ja, also: Ziemlich schrecklich, was man mit denen macht. Die müssen von einem Ende des Lagers auf Schubkarren schwere Steine fahren, meist aber auch einfach schleppen, von einem Ende des Lagers bis zum andern Ende, und am nächsten Tag wieder zurück. So etwa. Bekommen nicht sehr viel zu essen. Und diese Arbeit ist so sinnlos, saublöd. Saublöd hat er natürlich nicht gesagt, er hat sich ja sehr zurückgehalten. Vielleicht hat er auch Angst gehabt, daß die Wände Ohren haben.
Iren studierte damals an der Münchner Kunstakademie. Sie erzählte: Aber mein Freund Ferdl, der ein Gegner des Regimes war, aus einer Überzeugung, die wir damals nicht nachvollziehen konnten, Ferdl wußte, daß man nachts in der Dachauer Umgebung Schmerzensschreie hören konnte. Wir waren ja richtige tumbe Toren, wir Siebenbürger, das kann man wirklich sagen: so kam ich mir vor neben diesen Kollegen und Kolleginnen, die schon ein bißchen weiter gedacht hatten. Gehört das nicht auch zur Voraussetzung dafür, daß dann jeder zehnte Siebenbürger SS-Mann wurde, eingesetzt mit vorbedacht in den Lagern?

Und „unten“, wie war das „unten“ damals 1939?

Friederike an ihrem kleinen Tisch mit Blick auf den Tannenwald, schrieb an Tallo nach Berlin, Englische Straße 1, links. Weihnachten näherte sich, stand vor der Tür. Tannen auch vor dem Fenster, oh, es duftete, Nadeln allüberall. Die Ami im Schlafzimmer hatte das Nähkästchen auf dem Schoß, nähte, flickte und sang: Weißt du wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt … Gott der Herr hat sie gezählet … Da zittert etwas Fernes in diesem Lied, Amis Stimme ist traurig, sehnsüchtig und lieb zugleich. Und drüben sitzt Friederike und schreibt. Sie sitzt in der ehemaligen Räuberhöhle von Tata, der nun Otata heißt, weil er drei Enkel hat. Friederikes Blick geht über den mit Katzenköpfen gepflasterten Hof, über dem Hof ein Stück dunkelblauschwarzer Himmel, alte Ziegelkdächer, funkelnde Sterne in der beginnenden Winternacht. Draußen auf dem wackligen Gang hört man Georgs Schritt, der aus dem Werk, dem Elektrizitätserk, wo er Beamter ist, nach Hause kommt, die Tür öffnet und einen frischen Duft von Kälte reinbringt.
„Nun bin ich schon vier Tage eine sehr glückliche, vergnügte junge Frau.“ Schreibt Friederike nach Berlin: Wo die Fässer mit Prudner Wein  standen, ein großer Wäschekorb, steht jetzt Georgs weißer Schreibtisch, an dem ich sitze. Die Wände blaßgrün mit einem ganz losen Blütenmuster… Hier aber in der ehemaligen Kammer sind Mäuse aufgetaucht. Mich schauderts. Dabei gibt es gar keine weißen Mäuse, nur weiße Ratten. Es sind die überstrapazierten Nerven…Stell dir vor diese Ratten, die könnte im Schopfen oder im Keller unter dem  Gassenhaus, wo jetzt die Juden Baruch wohnen, dann eklig gedeihen; stell dir vor, du gehst Äpfel holen aus dem Apfelkeller von den Hurten, wo Batull und Goldparmäng lagern, die schönsten sind für Weihachten, für den Baum und mit Wachs eingerieben, ja, und da springt dir eine große weiße Ratte ins Gesicht oder gar auf den Bauch, an die Beine, beißt zu, weh soll das tun, puh, du weißt ja , wie mich ein fast übernatürlicher Schrecken gepackt hatte, als im Schopfen unter den alten Weltkriegsillustrierten und den Feldpostbriefen eine Staubwolke aufstieg – ein ganzes Mäusenest mit kleinen quicksenden Mäuschen von Tata aufgestöbert wurde beim Ordnungmachen. Ich hab da geschrien, bin fast in Ohnmacht gefallen, und hab schlecht geträumt. Übrigens, nun hat Tata  in seiner Räuberhöhle hier nebenan aufgeräumt, es herrscht beispielhafte Ordnung. Aber jetzt ist ja sein Instrumentenschrank im Vorzimmer. Es stinkt dort schrecklich nach seinen Tierarztmedikamenten.  Nun bin ich neugierig, ob er diesen Winter die Instrumente, die nur verpackt wurden, überhaupt einräumt. (Aber schweig. Diesbezüglich bitte keine Bemerkung. Du weißt, wie empfindlich er ist. Und er könnte einen seiner jähzornigen Wutausbrüche bekommen. Bitte, lieber Tschudi, bitte, nicht!“ 

1939/40. Lauter Hochzeiten. Wie war das damals mit der armen Friederike gewesen?
Ja, sagte Mama, auch bei ihrer Hochzeit standen die Schnichs an der Kirchentür, nahmen den Trauschein ab und nickten: Schnich! Doch es gab einen seltsamen Zwischenfall bei Friderikes Hochzeit in der Kirche. Die Sopranistin Blaschek samt Frauenkirchenchor schrien plötzlich entsetzt auf, kein Gesang, Gestotter, Dissonanzen, abrupt riß auch Daniels Orgelspiel ab, eine Kirchenmaus war aus den Orgelpfeifen gesprungen, jagte über Daniels Klavieturen und den Sängerinnen zwischen die Beine. Fast hätte auch Friederike vor dem Altar auch geschrieen. Und im Baumgarten gabs Fledermäuse, die schwirrten im Rauchfang. Angst hatten wir alle, die könnten sich im Haar verfangen, gar in die Scheide glitschen. 
Innen – aber die feuchte Stelle? Alle mühsam beherrscht, sonst hätte es doch das Chaos gegeben, die totale Auflösung.
Ja, da muße man schon aufpassen. Das Schmutzige. Liederliche… jeder mußte sich zusammenreißn, sich nicht gehen lassen!
Ich weiß, ich weiß, Mama, damals, 1940, stand es in unserem „Großkokler Boten“; ich habs nachgelesen, da gabs eine Heiratsgenehmigung für die „Einsatzstaffel“, nur gesundens, reines Blut…
 Alle waren sie in der Einsatzstaffel, Vater, und Georg der Bräutigam auch. DM, hieß das. Deutsche Mannschaft… nichtwahr. Es hieß damals, daß nicht der Geldbeutel entscheident ist oder die Konfession, sondern die Sippe, auch die des Mädels, der Blutstrom , der sie trägt…
Ziemlich abstrus. Was willst du, so waren damals die Zeiten!
Ich habe im Schopfen einen Stoß Familienbriefe gefunden. Und auch einen Brief der armen Friederike. Nach der Hochzeit beschrieb sie Tallo, ihrem Bruder, der in Berlin-Charlottenburg Hoch- und Tiefbau studierte. ihre neue Wohnung: „Die Tapeten sind  oranglich-rosa wie die Blüten. Die Vorhänge im Wohnzimmer und die Möbelüberzüge in einem matten Grün. Im Schlafzimmer zitronengelbe Vorhänge. Es ist entzückend. Doch wenn ich an die Rechnungen denke, wird mir ein wenig bang. Ich habe es früher sehr schwer gehabt, nun ist alles abgefallen … Doch es sind sehr schwere Zeiten.“ Eri (das ist meine Mutter) „klagt über Rückenschmeren, die drei Rangen (das bin ich und meine Gecshwister) rauben ihr den Lebensnerv, solch ein Radau täglich, sie kann es nicht mehr aushalten. Die zarte Eri wirtschaftet in der großen  gekachelten Küche, im Garten, und nebenan lärmt die Löwische Tuchfabrik den ganzen Tag, immer das gleiche Geräusch, als wären Drachen in der Luft, die mit eisenbeschlagenen Zähnen klappern.  Ami möchte, die Eri solle endlich mal ins Sanatorium zu Dr. Müller, es ist ja ganz nah, nur über die Neue Brücke. Und sie soll unbedingt ein Kindermädel nehmen, zusätzlich zu Marischka, der Dienstmagd. Eri hat sie dann auch genommen, diese Magd aus dem nahen Szeklerland, Rosika mit einem heftigen Liebsschmerz im Leib. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt!
Ungarische Dienstmädchen, die meschelten, Eri hatte ja zwei Marisch und Rosika. Die kamen am Sonntag in ihrer Tracht mit den Burschen zusammen, schmusten und mehr. Und eines Tages heulte die eine, und auf die Frage, was denn sei, hieß es: A djermek schiert! (Ds Kind hat geweint!) Es stellte sich heraus, daß Rosika ihr Kind erstickt und auf den Mist geworfen hatte. Höllenqualen. Kurt befahl: Keine Polizei. Und der Doktor Piz Markus stellte einen Totenschein für das Würmchen aus und die arme Sau kam davon!“

Ich erinnere mich an die Klavierstunden bei Onkel Daniel. Der Organist sah mich mit nach innen gewendeten, wasserhellen Augen aus der runden randlosen Brille an, der Blick kam sanft, aus einer unendlichen Ferne, Energie und Versunkenheit, das Nervöse, Leichtauffahrende, vor dem man Angst hatte, paarte sich mit einem unerschöpflichen Enthusiasmus. 
Im etwas düsteren Raum war eine merkwürdige harmonische Disziplin, wenn er mit der feinen, wie panierten Stimme, die etwas belegt klang, den Takt gab; da er soviel schwarzen Kaffee trank und dünne Virginia Zigaretten raucht, von deren Duft das Übungszimmer erfüllt war und etwas von fernen Ländern und Welt spüren ließ, war das Eins-zwei-drei oder Drei-vier zur Czerny-Etüde, das wie ein Ritus klang, streng aber auch weich zugleich.
Sein Vater Daniel, so Andreas, habe den Substanzunterschied zwischen Liberalismus und Nationalsozialismus nicht gesehen: Es handelte sich nämlich gar nicht um einen Anschauungsgegensatz, sondern um einen Erlebnisgegensatz, eine Bewegung, aus der sehr realen Not des Volkes selbst geboren, eine Scheidung zwischen einer bürgerlichen absterbenden Menschenschicht und der deutschen Zukunft.
Es gab auch Streit zwischen Daniel und dem K.-Großvater, z.B. kurz vor Friederikes Hochzeit. Aber am Ende waren dann alle nichtigen und garstigen Familiendifferenzen  vergessen. Tante Cäcilie und auch Emmatante gingen ein und aus, hantierten mit Mordsgeschnäpper in der Küche. Friederike wurde "mit Liebe übergossen", wie sie in ihrem Brief nach Berlin schrieb: "Und es kam mir so recht zum Bewußtsein, wie schön es ist, wenn man nur die Gemüts- und Herzensseiten erklingen läßt. Sogar Onkel Daniel ist dann nicht mehr empfindlich..."

Sieh, da streckt Roszika, die Kinderfrau, ihren Schopf zum Fenster hinaus in den Duft des großen Gartens. Zu sehn sind im Frühjahr von oben: Die Blumenbeete mit violetten Spitzbuben, wie große Maulbeeren, dann Narzissen, Primeln, Pfingstrosen bis hinab in die Gartentiefe. Unter den hohen Tannen mit dem Steintisch gibt’s ein Geheimnis. Eine geriffelte Kaffeetasse steht noch vergessen da; sie bleibt in deinem Gedächtnis stehen bis auf den heutigen Tag. An Spargelbeeten gehst du vorbei bis zum Steintisch; Spitzen der Spargel, auch sie geriffelt, violett stoßen sie aus der duftenden Erde hervor, kommen aus der Tiefe; unendlich ist der Weg an den Gerüchen entlang.
Jetzt ist Winter. Die Seele mit Schnee bedeckt. Weißes Kleid. Leichentuch. Die Frauen weinen.
Und abends sitzt Roszi am Bett. Und Roszi erzählt, wenn die eltern nicht da sind, wenn sie im Kino sind; "Triumph des Willens" sehen sie gerade. Wenn du Angst hast, wenn in den Ecken die Schatten größer werden, wenn die Möbel knarren und die Violine auf dem Schrank leise klirrt in ihrem schwarzen Kasten, wie ein heimlich singendes Untier – ist Roszi da; es klirrt bei der Erschütterung, wenn draußen ein Wagen oder Auto vorbeifährt, die Albertstraße hinab zur Stadt hinaus; Räder rasseln unter dem Fenster (manchmal Tanks). Oben am Kirchturm schlägt eine Uhr; Glocken läuten noch spät, dann sitzt Roszi im roten Rock mit schwarzen Streifen und schwarzer Bluse am Bett: Wot ezer hotj näm wot etj Kiraj... Es war einmal, wie es niemals war, es war ein König... Und es war einmal, wie es niemals war, ein Ungeheuer im tiefen Wald. sieben Mädchen und sieben Burschen verlangte es jedes Jahr, sieben jedes Jahr. Immer wurden die Schönsten des ganzen Landes gerettet, Roszi rettete sie. Die Angst spannte sie auf wie schwarze Wolken und nahm sie dann wieder fort. Und hell schien die sonne. Niemals war da einer rettungslos verloren bei Roszika. Nach jedem Schrecken der endlosen Nacht kam die Frühe, die Allerherrgottsfrühe mit Kühle und leuchtender Morgensonne über den Garten, über die Beete, in den Blumen war immer der frische Tau; und durchs Gras konnte man laufen – mit nackten Füßen.
Der kleine Mächel ist verschwunden. Mächel ist nicht zu finden. Roszi  weint und klagt, wie man nur in  den Szekler-Dörfern klagt: laut schreiend, sich die Haare raufend, als Mächel nach stundenlangem Suchen verschwunden blieb; im nahen Fluß ertrunken – so dachten sie, so hatten die Nachbarn geflüstert.
Mächel aber hörte es, freute sich an der Trauer, wie sie alle um seinen Schatten liefen. (Ech hu gehiert, datt er mich gesackt hut, sagt er nachher.) Alles um ihn, er, versteckt bei den winzigen Küken im Hühnerhof, den gelben federweichen Bällchen, im Nest die frischen Eier. Zwischen den Nesseln mit Gritt, dem Lausemädchen, wie Mama sagte, geduckt, mit der Nase im Mist, mit Flaumfederchen im Haar. Braune, gesprenkelte, weiße Flaumfederchen: Roszika holt die Eier, faßt der Henne unter den Bauch.

Doch die Fotos... auch von Roszika gibt es ein Foto. Es gibt auch ein Foto von Roszi, Mutter und mir. Es ist wie ein Traumfoto – komisch, dieses Foto oder was darauf zu sehen ist, habe ich einige Male geträumt: Mutter steht am Hoftor neben dem Baruchhaus, hat eine merkwürdige Tellermütze schief auf, irgendwie gebirgsjägerähnlich; ich laufe mit froh erhobenen Armen auf Roszi zu, die im Vordergrund des Fotos steht. Sie hat eine grobe Wolljacke an, ihren roten Szeklerrock, Sandalen, lacht lustig, fast so lustig wie ich, und breitet die Arme aus, um mich dort einzulassen, in die Arme zu nehmen, ich laufe da in vollem Schwung rein, bin unterwegs, immer noch unterwegs auf jenem Foto, wo Mama am Tor steht, bereit auszugehen, mich an der Hand zu nehmen... ich aber laufe auf Roszika zu. Warum?
Wir gingen ja jetzt in die Stadt einkaufen oder um uns zu zeigen, war ja auch schön angezogen, Tirolerhosen. Als erstes kam uns die Fikkatante entgegen, ich murmelte nur verschämt: "Sgett, Sgett". Mama wurde wütend, komm sag doch wie ein echter deutscher Junge: Heil Hitler, reiß den Arm hoch... so! Noch wütender wurde sie in der Baiergasse, wenn wir dem "Führer" begegneten, unserem Essigfabrikanten, und ich nicht das Ärmchen hochriß.
Dabei hatte der Ortsgruppenleiter nichts Strammes, er hinkte, zog einen Fuß nach und war nur Philosoph, wie Mama sagte. Daniel aber spottete, da sei doch ein "rausschauender Pferdefuß", und ich meinte damals, es seien die Gäule des Honnesbatschi aus Pruden, der immer den Wein brachte. Dann klärte mich Daniel auf, das war in der Klavierstunde während des Etüdenspielens und beim Ticken des Metronoms, da sagte er, daß der Teufel einen Menschen- und einen Pferdefuß habe, woran man ihn erkenne. Vielleicht sei der Essigfabrikant, unser Ortsgruppenleiter, der Philosoph, deshalb so höflich, damit man über seinen hinkenden Pferdefüß hinwegsehe. Es sei fast wie eine Bitte und er brülle auch nie qie sein Vetter, der andere ausm Reich.
Mama aber sagte, es sei nicht schön, über die körperlichen Gebrechen anderer zu spotten; Daniel sei ein alter Griesgram und unser Führer der wichtigste und gütigste Mensch, den man achten und verehren müsse.
Mir aber war klar, daß dies alles zu den Erwachsenen, vor allem zu den Herrn Männern gehörte, auch dies Keuchen von Vater, wenn er mich prügelte, bis ich "Wasser verlangte", dies Kujonieren auch durch Otata, wenn er manchmal die Ami anschrie, daß sie bis ins Herz hinein erschrak, sie war doch so sanft und sang immer Opernarien, so schön und tremolierend, wie ihr Bruder, der Mischonkel und Amerikaner, der Schiffsarzt war. Sie sang diese Arien ausm Freischütz, den der Generalmusikdirektor mit dem Gesangverein einstudiert hatte. Aber nun brauchte man ihn nicht mehr, den Direktor Schlüter, in diesen schweren und ernsten Zeiten mußte man andere Lieder singen wie: Heute wollen wir marschieren, einen neuen Marsch probieren, tiurititoiti. Und : Übern schönen Westerwald, ja da pfeift der Wind so kalt... Und so wurde der Generalmusikdirektor und sogar Hermann, der als frischgebackner Arzt diese Übersiedlungsaktionen mit der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft begleitete, in den Warthegau gebracht und dort angesiedelt.
Und noch mehr hing es irgendwie auch mit den Baruchs und den Mendels zusammen, denn einmal, da ging ich mit Georg und Tata die steilen Treppen zum Gang des Baruchhauses hinauf, wir hatten ja die Schlüssel, gingen also den wackligen Gang meines Geburtshauses entlang über die Himmelstreppe zum Dachboden hinauf, da hörte man auch ihrer Wohnung das Radio auf Englisch. Da hörten die Mendels und die Baruchs "Feindsender", deutlich das Pausenzeichen von BBC. Und Georg sagte zu Tata: Du Sles, die müßten wir eigentlich anzeigen. Und Tata unheimlich ruhig: Nichts da. Nichts wird angezeigt, laß die Leute in Ruhe.
Vater war zwar wie alle in der DM (Deutsche Mannschaft) gewesen, aber überzeugt von der Sache war er nicht. Und er war genauso entsetzt wie viele, als die bekannten jüdischen Freunde eines Tages das Trottoir schrubben mußten. Auch das "Kauft nicht bei Juden" brachte er nicht an der Tür seines Geschäftes an.
Auch der Kolonialwarenhändler Kwieschinsky mit der schönen Lea, der die vielen Apfelsinen und Grapefruits, Zibeben und Rosinen führte, alles von weit her, bis nach dem fernen Afrika ging der Geruch aus dem gewölbeartigen Raum, blieb ungeschoren. Tafeln mit "Juden unerwünscht", die gabs beim Konditor Martini und beim Hutmacher Ligner und auch bei Misselbacher. Die Tafeln, die uns die Volksgruppe zugestellt hatte, haben wir zerrissen, sagte Vater. Also bei A.V. Hausenblaß neben der Gewerbebank waren die Schaufenster sauber. Dafür hing neben der Koprol-Reklame in der Vitrine der Apotheke "Zur Krone" das Schild "Juden unerwünscht".
Auch den vielen Puppen, die Sägespäne im Leib hatten, wie in der Manege des Zirkus, der unlängst neben der Feuerwehrkaserne an der Neuen Brücke seine Zelte aufgeschlagen hatte und wo ein Artist wie es hieß ohne Netz sich zu Tode gestürzt hatte, waren die Körperchen nicht aufgeschlitzt worden. Nach außen waren wir anständig, bei uns ging im Innern nicht alles friedlich zu.
Im angrenzenden ungarischen Gebiet aber, in Neumarkt, da war der Teufel los. Klar, die Ungarn mit ihrem Magyarorszag und dem eitlen Affen, dem Admiral Horty!
Die Weihnachtsmänner mit weißem Bart und roter Kapuze standen an der Ecke zum Spielzeugmarkt und den Koronderdeppen und hatten große Säcke, in denen Wünsche drin waren, daraus sprangen lauter geköpfte Puppen, träumte ich und schrie, genau wie bei einem anderen Traum, den ich öfters hatte, nämlich daß ich fliegen konnte und so spöttisch auf die Erde herabsehen auch im tiefsten Winter, wenn der eiskalte knirschende Schnee blinkert und blitzert so um die Weihnachtszeit, und da heulten die Wölfe und stürmten heran, ich aber blieb hohnlachend stehn, bis sie ganz nahe waren, um dann abzuheben. Im entscheidenden kritischen Augenblick blieb ich bleischwer im eigenen Gewicht hängen... und wachte auf. Ein gnädiger Gott, ja. Ob der immer so gnädig ist?
Es gab damals brutale "Judenverklopfer" unter uns. Auch Väter meiner Kinderfreunde schlugen in der Konditorei Martini Juden blutig.
Jaja, ich weiß. Roszika zeigte mir damals auch zum erstenmal, was eine Frau ist, samt schönem weiblichem Mondgewächs. Seit ich so "erweckt" worden war, sah ich dann regelmäßig durchs Schlüsselloch, wenn die schöne junge Tante Minch nackt in die Wanne stieg. Marisch und Roszi waren mir mit ihrer großen schwarzen Mutz noch lieber.
Doch das war Sünde, mußte verheimlicht werden, wehe, es erwischte mich jemand.
Ich hör noch, wie die arme Friederike erzählte, daß der Paul und der Franzi auf den ungarischen Mägdeball geschlichen sind. Jaja: Die sind quasi ausgerissen. Erinnert ihr euch nicht? Und sind mal ins fremde lockende Gebiet übergewechselt.
Und Mutter hatte auch gleich ihre Erinnerung dazu: Sonst sind wir ja kaum mit anderen in Berührung gekommen, wir waren hermetisch abgeschirmt... schon gesellschaftlich, das war ein Berührungstabu. Und als ich sagte: Der Franzi und der Paul sind einfach ausgerissen, weil sie sich auf dem ungarischen Mägdeball ganz schön saftig betätigen konnten, antworten alle im Chor: Ma genau. Jaja.
Weil die Ungarinnen viel freier waren als die Sächsinnen. Die braven Sächsinnen haben doch alle um ihre Jungfernschaft, ihr Tauschobjekt, gebibbert.
Awer Mächel!
Jetzt mischte sich auch Vater ein: Man mußte sittlich sein.
Darauf ich: Schuften und sonst nix."
Vater: Das Sexuelle mußte unterdrückt werden, ja., die andern Völker taten das nicht so wie wir!
man hörte Friederike lachen. Alle lachten, als sie nun sagte: Naja, die Szeklerinnen, die waren ganz wild, die tobten sich aus.
Ich: Dumm wart ihr, warum habt ihrs nicht auch getan.
Vater: Na, dann hätten wir ja die kulturellen Leistungen nicht vollbringen können im Südoste.

Der S.-Großvater hatte sich über die Buchhandlung Horeth ein schweres Buch kommen lassen, von Oswald Spengler. und eines von Chamberlain, dem Schwiegersohn Richard Wagners. er versuchte, sich selbst Mut zu machen und las in den neuen Büchern. Wir müssen unbedingt behalten, was wir haben, unbedingt, dachte er: Unsere Tüchtigkeit macht uns niemand nach. Gleichförmigkeit, Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, gegen dieses Sprunghafte.
Handel und Wandel, kein Fremder durfte Konkurrenz machen. Keine rumänischen oder ungarischen Geschäfte hier in der Stadt. Traffiken ha, kleine Klitschen. aber sonst! Hessheimer, Misselbacher, Essigmann. Unsere Firma und noch ein halbes Dutzend anders. Und die Gewerbebank erst recht. Das muß so bleiben. Weg mit dem Liederlichen und Schlimmen. In den großen Städten Sündenpfuhl. Bei Mossora diese Orgien. Die übertriebene Sehnsucht und das Sichauslebenwollen schwächt die Lebenskraft. Das anständige. Radikale.

Bei Festen, bei Geburtstagen machte sich der kleine Michael in die Hosen. Dies Bauchweh. Dicke braune Kacke. Dünnere floß die Beine hinab. Wagte nicht aus dem Klo zu kommen. Höllenqualen.

1933, da sollen Millionen Menschen auf dem Potsdamer Platz in Berlin wie im befreiten Rausch gesungen haben: Ich bete an die Macht der Liebe/ die sich in Christus offenbart...
Hermann war dabei.

Es gab keinen überzeugenden Zusammenhalt des Weltkinos mehr. Früher waren es die Götter. Jetzt war es der Herr Hitler. Das Eine, das Wesen, das Deutsche.
Aber, ereiferte sich Mutter: Die "Laffen", der Tausch Dolf und der schöne Falk saßen in Scheszbrich im Stadthaussaal vorn, kamen mit diesen Streifen und Hitler-Armbinden, setzten sich in die erste Reihe, noch vor den Stadtpfarrer.
Sie kamen ostentativ, entrüstete sie sich: geschlossen kamen sie hereinmarschiert, grüßten mit Hitlergruß, bildeten sich rauschenden Beifall ein, der immer ausblieb; und waren doch nur Hutmacher, Kaufleute, irgendwelche Handwerker aus der Vorstadt, diese "neue Elite". Am edelsten noch unser Philosoph und Essigfabrikant. diese Schwarzgestiefelten hielten sich für einen neuen Adel. Und waren doch nur Proleten. Lächerlich. Neue braune Hautevolee. Dabei hatte sie niemand gebeten oder gerufen. Und hatten nur alles nachgeäfft.
Mutter zeigte mit den Händen: So, hier, die schwarzen Hosen, die Streifen, die Stiefel, Hakenkreuzbinde. Stolz erhobenen Hauptes kamen sie rein. – Und wir mußten uns das lachen verbeißen.
Aber im Bücherschrank oben, bei S.-Großvater in der ausgebauten Mansarde, da stand neben "Mein Kampf" der Bilz: Naturheilkunde. Da gingen wir Kindern gern nackte Frauen anschauen, Klappbilder mit allen Innereien. Und da zwischen den Beinen: Die Scheide. Auch Fotos gibts von diesem Raum. Mich kommt herein, ruft, auf den eignen Stimmbändern spielen bis in höchste Tonlagen: Raus, ihr Fratzen, wat säkt ihr hä.  Und es schreit ihr das Aufgeschnappte zu aus einem Buch, gröhlend die Bagage: "Das Bürgertum ist to, es lebe die Bewegung. Heil." Ganz perplex sieht Minch auf diese Wastel.
Als Kinder lasen wir begierig: Und Adam zeugte... Und Isaak zeugte... und Abraham zeugte... und, und, und. Und die aufklappbare Frau im Bilz-Naturheilkundelbuch.
Und der grüße Kachelofen summte; draußen ein kaltes Schneien, Spatzen im Schnee. Spuren. Eisige Luft. Ein Vogelhuschen am Fenster.
Wir fanden keinen Aufschluß über dieses Geheimnis, nur unsere eigene Wunde, die wuchs; die Frauen trugen diese Wunde zwischen den Beinen. Und die schöne Minch kam herein und jagte uns aus dem Zimmer: Hinaus ihr Fratzen, ihr habt hier nichts zu suchen.

Und höre sie jetzt, lasse die beiden Toten hier wieder ins Leben zurückkehren, Friederike und Vater. Oder sind sie wirklich hier? Ich spüre ihre Anwesenheit und erschrecke: Wie hieß dieser Ball nur? Vielleicht wars ein Fasching, ein Mägdefasching. Und Mutter wirft ein: Vielleicht der Schariball? Nein, nein, nicht der Schariball, das war ein vornehmer Ball. aber auch der war ja anrüchig bei uns...
Auf unserem Dirndball wurde jedes Jahr alles schön arrangiert, mit Rutschbahn und Gebirgskulissen. Unter der Galerie im Stadthaussaal gabs eine Art Höhle, die Almascher Höhle, da drin weiche gemütliche Sitzbänke, ein Zelt, das war mystisch beleuchtet, halbdunkel. wir schlichen uns da rein, haben aber wirklich nichts angestellt! (Lachen). Und Vater mit fast trauriger Stimme: Na, wer hat da schon was angestellt!
„Ja, und die Gardedamen flüsterten: Die Kinder, die sitzen da in der Almascher Höhle mit ihren Freunden, ihren Liebchen im mystischen Dunkel. Und die Ami, besorgt um unser Seelenheil (Lachen), kam herunter, stand da unter der Tür der Almascher Höhle … kam herein, stand dort und sagte laut und deutlich: Friederike, Erika, ihr kommt jetzt sofort da raus. Kutt sifurt eraus! Und wir haben einfach gesagt: Nä, nä. Nein! (Lachen). Und meine Mutter mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das war eine große Heldentat. Wir haben uns herrlich amüsiert. Warum sollten wir da auch rauskommen! Heimlich waren ja damals die Sitten, wenigstens im Unbewußten, genau so locker wie heute!
Noch mehr als die Ami, wollte mein Vater alles bestimmen, alles, was wir tun sollten, hatte so zu sein, wie er es wollte!
   „Auch der S.Großvater hatte das Sagen im Haus“, sagte meine Mutter: „wenn ich aufsehe, ist er immer noch auf einem blassen Lichtbild zu erkennen, ein freundliches Gesicht mit hoher Stirn, randloser Brille, milde und doch – auch er neigte wie fast alle Großväter zu Wutausbrüchen. Wehe, ihr Ehrgefühl wurde verletzt. Es war die Duellgeneration. Mein Vater hatte Säbelschmisse im Gesicht, Mensur in Wien, wo er Tiermedizin studiert hat. Und der S.-Großvater verkehrte in Akademikerkreisen; organisierte Feste und gehörte dem Jochtverihn, dem Jagdverein an, Kontakt mit Professoren und Doktoren, so mit dem berühmten Raketenobert, der Gymnasilalehrer an der Bergschule gewesen war. Und Angeln ging er, er hatte zwei Angeln, eine mit Senkblei, saß dann auf einem zusammenklappbaren Jagdstühlchen an der Kokel und wartete mit Engelsgeduld, daß da ein Fisch anbiß, und du Mächel, warst ja oft mit ihm, hattest eine selbstgebastelte Angel: Haselnußrute samt Zubehör, von ihm spendiert. Lerntest Geduld als Kind, das wichtigste im Leben.„ „Ja, ich weiß, es waren fade Wassergerüche, Plätschern, Springen von Weißfischen in der stillen Wenchkrümmung. Er lehrte mich Hören, Lauschen, menj Jang, sagte er, de Ställ, de Ställ, hierst tea se.“ „Und er brachte manchmal einen Weißfisch oder einen Waller, einmal sogar einen dicken Karpfen nach Hause. Meist aber viele kleine Kokelfische, daraus ließen sich dann „Russen“, in Öl gebackenes Fischdurcheianander, das man mit den Gräten aufessen konnte, machen. Ich aß da mehr ihm zuliebe seine Ware mit auf, denn ich mochte Fisch nicht. Einmal kam er auch mit einem Hasen von der Jagd. Aber da hatten alle eine Spuri, daß er den irgendwo in einer Nachbargemeinde erstanden hatte, doch niemand ließ sich was anmerken, keiner wollte ihn kränken; er konnte furchtbar sein, und wir fürchteten seine kalten, stillen Wutausbrüche.“
„Das Jagen war damals sehr beliebt, ähnlich wie heute Fußball“, hörte ich Vaters sanfte Stimme: „Jagen war nobel. Mein Vater hatte sich von ganz unten hochgearbeitet, wie so viele seiner Generationkollegen, damals in jener wilden Gründerzeit am Anfang des Jahrhunderts. Die Not und die Entbehrungen, die Krankheiten und Einsamkeiten können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen; daß dann der Status des Herren sehr begehrt war und verteidigt wurde, ist verständlich; sie sind dabei sehr hart geworden, herrschsüchtig in diesem Fieber des Auftiegs und der gnadenlosen Konkurrenz. Vergiß nicht, es ist Hitlers Generation! Mein Vater war frühe Kriegswaise, sein Vater war als österreichischer Ulan im „Bruderkrieg“ bei Königgrätz gefallen; die Mutter, meine Großmutter,  blieb allein mit vier Kindern, sie hatte ein Wirtshaus an der Landstraße; es ging da sicher nicht sehr nobel zu; wüstes Volk kam vorbei, Fuhrleute, fidelnde Zigeuner, Bauern, kleine Handwerker. Trunksucht auf dem Weg zum Markt. Nach dem Markt. Johlen. Besoffene. Streit, Schlägerein. Mordfälle. Polizei. Untersuchungen, Kommissare, heißblütige Madjaren. Bistritz, unweit vom Borgopaß. Schon als Schüler litt mein Vater Hunger und Frost. Ein Kinderbrief aus jener Zeit ist erhalten, da schreibt er an seinen älteren Bruder Franz, der in der Kaufmannslehre war, um Hilfe: „Lieber Bruder! Theile Dir mit, daß ich in der dritten Klasse bin und die Mutter jetzt mehr Auslagen hat mit mir als bis nun. Daher, lieber Franzi, könntest mir auch was schicken, du vergißt ganz auf mich, wenigstens auch nur ein paar Kreuzer alle Monath, gib weniger aus und spare mehr, damit auch mir was bleibt. Es grüßt und küßt dich dein Karli.“
In Bistritz, im Gasthaus seiner Mutter, der Therese S. ist mein Vater nicht  lannge geblieben, er kam als Lehrjunge mit 14 schon nach Kronstadt, und mußte dort schon um vier Uhr früh aufstehn, alle Hausarbeiten verrichten, die Schuhe der Herrschaft putzen, Feuer anzünden. Er wurde dann Kommis, kam schon 1910, nach der Heirat mit seiner Mitzi (die mich später überall herumschickte, ihren Ahnenpaß zu suchen, denn sie behauptete adlig zu sein: Kerekes de Kerekes de Kerekes), kam mit ihr nach Schäßburg, trat dort in das Schnittwarengeschäft seines Schwagers Heinrich Hausenblasz ein und übernahm nach dem Ersten Weltkrieg die Firma.“
„Aber wars nicht so, daß deine Generation, Vater, im Grunde genommen nicht sehr autonom war?“
„Na, gar nicht!“
„Wars nicht so, daß eure Väter dominiert haben, sie wollten das Regiment führen!“
Es war meinem Vater anzusehen, daß er sich zurückhielt. Mißmutig trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch: “Ich muß eine Einschränkung machen; wenn ich nicht ins Gecshäft von Vater gegangen wäre, hätte meine Autonomie nicht so zu leiden  brauchen, weil er ja mein Chef war und gleichzeitig mein Vater!“
„Eben! Das war doch das totale Abhängigkeitsverhältnis!“
Und nun mischte sich auch Mutter wieder ein und wandte sich an Vater: „Weißt du, ich habe immer sehr darunter gelitten, wenn dein Vater mit meinem Vater Auseinandersetzungen hatte. Und meist gings ja um Häuser, ums Bauen, um Besitz, den immer sie uns gaben, dafür natürlich Gehorsam, Dankbarkeit und Liebe verlangten! So war das doch“
„Ja, das Grundstück im Baumgarten war dein Erbe. Mein Vater bezahlte das Haus. Und dein Vater mäkelte da am Haus herum, meinte, auch da befehlen zu können! Und wie gebaut werden müsse, könne er bestimmen! Und bekam einen Wutanfall, weil wirs nicht unterkellert hatten. Das machen doch nur die Schattertzigeuner, schrie er. Es war schon beleidigend.  Dein Vater wurde ganz blaß, saß da und zitterte heftig Er hatte ja das Geld gegeben, und er war auch gewohnt, zu befehlen.“
Das macht man doch nicht. Der Schwiegervater hat sich dann auch entschuldigt; es fiel ihm schwer, sich zu entschuldigen, man sah es ihm an.         Aber mein Vater kann ja auch furchtbar sein, um ein Haar hätte er mit dem Spazierstock auf den Gegenvater eingehauen, er hatte sich schon erhoben, da beherrschte er sich, vielleicht weil Eri ihn so bittend ansah; über ihren Vater hatte sie ja kaum Macht, über meinen schon! Wer hatte schon Macht über ihren Vater, nicht mal der Liebe Gott. Unmäßig war sein Jähzorn. Beleidigend wars irgendwie. Und die merkten es gar nicht! Schlossen uns aus, als wären wir unmündige Kinder! Und ich wurde einfach gar nicht gefragt, was ich dazu zu sagen hatte!“

„Ja, sie wollten das Heft in der Hand behalten.“
„Tyrannen?“
„Ach nein, so weit würde ich nicht gehen, doch sie bezahlten ja alles; wir hatten nur unser Gehalt, ich war einfacher Angestellter. Wir hatten dann noch freien Einkauf bis zu einer bestimmten Summe…“
Ich höre ihn, den umständlichen langsamen Baß meines Vaters:
„Und dann habe ich eben ohne besonderen inneren Zwang und meinem Vater zu Liebe  in Leipzig Handel studiert. Ich wollte allerdings noch den Dr. Juris und den Dr. Rer. Pol machen. Aber da hat Vater einfach gesagt.. dies geht nicht, da kommst du mir nicht mehr ins Geschäft! Er hat es ja auch sehr schwer gehabt, sein Geschäft aufzubauen. Schon mit 13 kam er in die Lehre, mußte hart arbeiten; der ganzen Familie des Meisters dienen. Prügel. Blaugefrorene Hände, vier Uhr früh aufstehn, Feuer anzünden, zehn Paar Schuhe putzen. Verhöhnt, erniedrigt. Er kam auf der Wanderschaft  als Wandersgeselle bis nach Vorarlberg. In Kronstadt wurde er Kommis und Prokurist. Und  dann die Heirat, der Eintritt ins Gecshäft seines Schwagers in Schäßburg. 1916, nach der Niederlage  unserer Truppen, General Mackensen wurde bei Marasti und Marasesti von den Rumänen geschlagen, wurde das ganze Geschäft in Kisten verpackt und nach Budapest abtransportiert; es kam dann nach dem Anschluß an die Walachei wieder zurück nach Schäßburg. Vater fuhr ja mit eisenbeschlagenen Reisekoffern nach Wien, Prag, Budapest, Pressburg zum Kurzwareneinkauf, übernahm nach dem Krieg die Firma unter großen Opfern. Es war sein Lebenswerk und er war sehr stolz darauf. Er war so schweigsam und still, er hat nie geklagt, und alles nur in sich reingefressen. Er bekam schon mit vierzig ein Magengeschwür, Magenblutungen, meine Mutter war so ängstlich bei seinem ersten Schlaganfall. Er aß dann nur noch vegetarisch; trank viel Milch, aß Gemüse, ich seh ihn noch heute, wie er dasitzt, die große weiße Serviette umgebunden, trinkt Yoghurt, ißt Topfenknödel, das Besteck hatten wir immer auf kleinen Metallständern neben den Tellern. Er hat sich wenig um Politik gekümmert. Aber Odnung mußte sein. Wichtig aber war ihm sein Bücherschrank, wo die nach Größe und Farbe sauber aufgereihten Bücher standen. Hinter Glas, hinter einem rauchfarbenen Vorhang. Bücher sind Spiegel der Seele, und es darf nicht jeder Fremde gleich sehen, was da für Bücher stehen. Kultur, ja, die Zivilisation aber zerstört alles. Er lehnte die Lebensformen der neuen Zivilisaton der Großstädte ab, las gern im Spengler: der sprach vom Untergang des Abendlandes. Und  er meinte, wir Sachsen würden am Leben bleiben mit einem starken völkischen Christus:
Wer auf die eigene Schwachheit blickt,
Der wird bald überwunden!
Zum Kampfe ist nur der geschickt,
Der Christus hat gefunden._

Und er schlug ein Kreuz, der milde Großvater, heimlich fast, denn er kam aus einer katholischen Familie, wurde nur seiner Frau  und der Umgebung zuliebe Protestant. Wer diesem Volksstamm angehörte, hatte ja seit Jahrhunderten nur Vorteile, und diese Vorteile haben dazu geführt, daß die „reinrassigen“ Sachsen im Laufe der Jahrhunderte dauernd andere assimiliert haben.“   

Doch bevor er jetzt gehe, wolle er mir doch noch etwas anvertrauen: „Du mußt die Dinge gar nicht besitzen, das macht dich unfrei, mußt dich nur daran freuen; ins Grab kannst du sie ja nicht mitnehmen; und hier, wo ich jetzt bin“, fügte er leise hinzu, „ sind sie völlig überflüssig! Und sieh mal, was haben die Großväter davon gehabt, haben geschuftet und geschuftet, sogenannte Bleibende Werte angehäuft, und dann, dann war plötzlich alles weg. Und das sag ich dir, es war für mich wie eine Erleichterung, als die Kommunisten uns alles enteigneten. Mein Vater aber, der ist daran zugrundegangen! Du weißt, der Schlaganfall…“

Sie tönt voll Ernst , sie tönt voll Macht, vom Berg die Glocke droben … Vier Männer müssen die Große Glocke ziehen!
So klang sie als Großvater begraben wurde. Ich saß mit Hannes, Carmen und Vater im Herrenzimmer; Vater war krank, Pneumothorax, krank war er aus dem Krieg zurückgekommen, aus dem Schnee, der Eiseeskälte bei Stalingrad; unten vor dem Haus ging Nitzá, der treue Zigeuner vorbei, er grüßte traurig herauf, er hatte den Domnule S. sehr gemocht! Vater sah wehmütig zum Fenster hinaus und sagte: „Er  wird nie mehr wiederkommen, der gute Großvater!“ Und Tränen rannen über seine Wangen. Hallt und rollt die Glocke übers Land. Das Tastbare, Trockne auflösen? Dies meine Hand, dies eure, ich seh die Flimmerhärchen auf der Hand.
                
Sagt Vater noch etwas über den Irrtum des Sehens? Daß es doch gelte, diesen aufzulösen? Oder hab ich das nur geträumt, wie überhaupt dieses seltsame Nachtgespräch? Eine glatte Unmöglichkeit, würde Jann sagen.  Er aber: „Lies  nach bei Dante!“ Daß sich nur dann das „Licht Wahrheit zeigen“ könne, wenn die Härte der Erde, der Dinge und auch das „Gefühl“ sich endlich als unwirklicher, ohnmächtiger Zustand erweisen, der aus der Welt fallen! „Du weißt es auch, kannst dich aber trotzdem nicht davon befreien, solange du lebst,“ höre ich ihn sagen; und nicht mal diese große Lehre unseres Elends in dr großen Ziet, dieser große Schock, hat dir geholfen! „Du spielst ja sogar an der Börse! Und hats ein eigenes Haus, das hab ich nie gewollt!“ Er war ja Kaufmann und hatte immer davon gesprochen, von dieser "„Schicksaltragödie der Täuschungen auf dm Markt!"“Und seit 1930 gebe es sie eigentlich gar nicht mehr, und trottzdem  schreien sie immer noch, in den Börsen, den Märkten, und in den Schlachthöfen. Nur die Verwalter haben es sehr gecshickt versteckt und verheimlicht, das Verschwinden nämlich: ine Lere, eine ungeheure Lücke sei zurückgeblieben, „der Betrug hängt im luftleeren Raum, in dem die entfesselte Unterwelt tanzt!“ Die Stimme wurde schwächer und schwächer, bis nur noch ein unverständliches Flüstern zu hören war, und dann ganz verschwindet!

Und dann nachts im Dunkeln, Sterne, manchmal eine Sternschnuppe über dem Land, ein dünner Strich,- der Mond wie ein Lidschatten umgkehrter Helle, unantastbar ein Rätsel wie der Tod. Und sagen sie noch, daß sie ein Engel besuche? Aus welchen Ordnungen? Vielleicht aus dem Empyreum?

Nun sitze ich also im gleichen Zimmer, sehe hinaus auf die Gasse, wo damals Nitzá vorbeigegangen war, seltsamerweise war sogar die Große Glocke zu hören, sie wird immer seltener zu hören sein, und ich schreibe an diesem Buch.
In der vergangenen Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, der mit Großvaters Tod zu tun hatte, und deshalb hatte ich ja heute wie unter Zwang über ihn geschrieben.
Im Traum, der mit diffusen Erinnerungen vermischt ist, steht die Mitzmother da draußen in diesem Garten hinter dem Haus. Sie steht, wie sie oft gestanden hat, im Gartenbeet unter dem Apfelbaum, dort, wo früher eine kleine Kinderschaukel angebracht war, steht dann da als wäre sie der Baum, der aus dem Beet emporwächst.

In jener Eimer-Ecke hatte ich einmal meine Schikappe verloren; Kibi war mit dabei; und wir suchten vergebens. Nach einer Weile sagte sie: Du mußt sich nur einmal mit geschlossenen Augen im Kreis herumdrehn, dann die Augen öffnen, schnell linsen, und wo dein Blick hinfällt und stehnbleibt, da muß die Kappe sein. Und tatsächlich: da hing sie, die Kappe mit den Ohrenklappen, ein einem Ast wie eine groß blaue  Zwetschge und schaukelte langsam im Wind. Am Zaun und jenseits des Zaunes sah man die Krautköpfe und die Wolfshunde des Senators Lang. Vielleicht hoppelte auch ein Kaninchen zwischen den Köpfen in unserem Sehbereich, schwamm in unseren Augen und ertrank. Über mir aber lag ein altes übelriechendes Abflußrohr, das keine Verbindung mehr zur Erde hatte. Und als ich dann glücklich, die Schikappe gefunden zu haben, mich umsah, erkannte ich meine Lieben in der Laube und Oma im Beet – alle sehr blaß und stumm. Wie angewurzelt saßen sie da und sagten nichts. Und ich denke: Wie schön, daß ich wieder zu Hause bin und alles so duftet. Da könnte ich genauer erfahren, ob nicht  mein Augenschein täuscht, und vor allem, was ich gern erinnere, als wärs meine einzige Speise, die mich am Leben erhält. Doch ich wage mich ihnen nicht zu nähern, sie nicken mir unmerklich zu, ich aber stehe stumm da. Ja, warum frage ich sie denn nicht, wie diese halb verrosteten Metallstühle in der Laube, das Metallgitter, früher wars grau gestrichen und rot, wie das alles wirklich riecht und warum ich nicht selbst daran rieche, hab ich denn keine Nase mehr? Wozu fragen? Wie blöd. Geschmack steigt dann in mir hoch, als hätte ichs tatsächlich gegessen: Eisen, Rost, alte Ölfarbe, halb vertrocknet. An der Laube winden sich große weißsternförmigzarte Klematisblüten hoch, in der Mitte leuchtet eine gelbe Narbe. Gehe nicht näher, fühle aber den alten abgeblätterten Rostschutz.
Regen, Sonne, rissiges Holz. Hätte gern gefragt, warum Tische und Bänke (mit einer Kette festgehalten, damit sie wohl nicht verschwinden) einmal rot gestrichen gewesen waren. Neben den Beeten stehen Carmen und Will, ihr schwerhöriger Mann, der ein liebes Gesicht
hat, aber finster schaut. Sie pflücken einen Apfel.
Dann sind wir plötzlich alle in einer Apotheke. In der Apotheke 'Zur Krone' am Markt; sie ist voller Leute. Dr. Capesius und seine Frau nicken mir zu. Jann kommt, streckt mir eine Mark hin. Eine Verkäuferin erkennt mich, wundert sich, daß ich so lange nicht zu Hause war. Herr Terplan, komisch, Herr Terplan, sagt sie. Wen sieht sie da? Wir kaufen Heilmittel und Pfefferminzbonbons. Als wir wieder auf die Gasse hinaustreten, nachdem wir uns artig mit Grüß Gott oder... verabschiedet haben (einer hebt den Arm und zeigt so mit den ausgestreckten zusammengelegten Fingern auf eine runde Uhr mit Glockenspiel, erkennen wir auf dem Markt sehr viel Volk. Es ist schon schwarz von Menschen. Alle in Schwarz. Wir gehen durch die Albertstrasse. Im Roten Wirtshaus schlägt uns Schnapsgeruch entgegen und ein Gröhlen. Viel Volk, ein plebejisches Fest. Und eine Schlägerei. Aus dem Garten unter den Eichen höre ich eine Ziehharmonika quäkend ans Trommelfell hauen: Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst, Rosmarie... wir beginnen zu laufen, es fängt zu regnen an. Schwere Regentropfen fallen. Überall Wasserlachen und Dreckpfützen, auch an Adrians Haus. Vom Zimmerplatz eine Staubwolke. An der Ecke zur Holzmarktgasse steht ein Fiaker und grüßt bedeutungsvoll, traurig und wie Beileid wünschend. Ich ärgere mich über sein Gesicht – wie zehn Tage Regenwetter; der versaut mir noch die Heimkehr. Ich wollte doch meinen Bruder Hannes auffordern, mit mir zu tanzen, wie früher, wir haben das als kleine Buben oft gemacht. Aber am Mansardenfenster steht einer, es muß der neue Einwohner sein, einer von der Geheimpolizei, der schaut finster herab, mit stechendem Blick. In der Laube sitzen sie noch immer.
Das hat man davon, wenn einmal diese Sehnsucht aufbricht. Wie im Märchen von Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod. Wehe, du bist abschiedsunfähig, gerätst ins Tal der Tränen und willst immer nur nach hause, obwohl du mit einem Satz schon das Paradies erreicht hättest, wie Großvater, der fort ist – für immer, und doch noch da. Gestorben und doch am Leben, also wie ein ewiges Leben in Schmerzen ist das, aber Zeit zählt keine Jahre. Wenn du einmal hinüber bist, alt-alterslos Gott überlassen, der alles geschaffen hat, auch das Nichtsein der Dauer und Steine am Wegrand, die melancholisch nur für uns gleichbleibend scheinen. Im Innern. Ihm zu: bewegt sich alles in einer andern Ordnung, als die Bewegung der Augen. Wehe, du willst nach Hause und fährst tatsächlich, wie ich es gewagt hatte.
Als ich nach Hause fahren wollte, sagten mir die Frauen: Tus nicht, deine Eltern sind doch schon seit hunderttausend Jahren tot. Und auch du mußt sterben. Und als ich dann endlich ankam, sah ich das Haus am Holzmarkt ganz zerfallen, das in der Baiergasse vom Fluß weggeschwemmt, verirrte mich zwischen Unkraut und konnte weder den Zimmermannsplatz noch die Wenchbrücke oder gar den Hof in der Baiergasse wiedererkennen.
Und Mirjam steht oben auf der Treppe, steht vor der weißen Eingangstür, steht immer da oben, weiß, blau ihr Kleid – auch sie lacht. Kimmste, Kleiner? Winkt, sie hatte eine zarte weiße Hand, sie streicht mir jetzt über den Kopf: Bursch, sagt sie, biste lieb?

Es ist wie der Lichtstreif unter der Türe, wenn im großen Nebenzimmer noch die Eltern sind, gedämpftes Reden vor einer Abfahrt. Im Hof aber duftet der Phlox. Buschig das Geheimnis, Wirte sind Rufe, Signale: Es ist aber spät, Kinder; geht schlafen! Oder: Essen, essen!. Alles, was nicht gesehen werden kann, hinausgeht und nicht der Liebe Gott ist, sagte Daniel: das ist des Teiwels!
Augen, meine Fensterlein, aber jenseits die Finsternis, fast schon der schlimme Tod, was solls hier noch: ein ander Wort. Sag doch, es sei der Sünde Sold. Und weiter, bitte, bitte. Es kann sein, daß du jetzt im finsteren Kreis der Unsichtbarkeit gefangen bist, darum, nur darum schon gestorben: Und doch noch am Leben, ein Schatten, Michael, nichts als ein Schatten des berühmten Teiwels, der sonst nur im Abgrund der Kokel; dort, wo die Wirbel sind: Strudel hinabziehn. Da sah ich meinen ersten Toten, käsebleich war er, der junge Soldat, sie stellten ihn auf den Kopf, er hin verkehrt zur Erde, todesbleich, das Haar wirr auf dem Kopf, im Gesicht. Licht drang durch; er erwachte nicht mehr. Wir standen am Rand, am Ufer der Kokel, standen neben Weiden und auf Gras. Oder war es Schotter, Sand? Schlammgar, und ein Abwasserrohr nah, glotzten mit großen Augen, die starr wurden, die glasig und angestrengt hinaus sahen, wohin, das war der Anfang.




Mutter ist die kleine tapfere Soldatenfrau. Und sing: Es geht alles vorüber/ es geht alles vorbei...
Sie sitzt auf der blauen Veranda und schreibt einen Brief an Vater an die Front: Hannes marschiert mit aufgepflanztem Stock an der gefällten Eiche vorbei und singt: Soldaten sind Soldaten, in Worten und in Taten.
Köstlich, denn eben legt Hannes an: Sturmangriff. Und dann übt er Parade, marschiert mit geschultertem Gewehr und singt wieder: Soldaten sind Soldaten. wir lachen über ihn, denn er ist ja so drollig. Großvater nennt ihn nur Dick, weil er wie eine Kugel aussieht, den Bauch aber so lustig einzieht. Brust raus, Bauch rein!
Mich hat Mama in den Film "Blitzkrieg in Frankreich" mitgenommen:
Was meinst Du, wie ihn das beeindruckt. Seither spielt er mit dem Panzer, den A. ihm aus dem Reich mitgebracht hat, nur noch Blitzkrieg. Auch Flugzeuge malt und zeichnet er. Denn in der Wochenschau waren Stukas zu sehen. die Luftschlacht über England.

Im "Großkokler Boten" steht es auch heute noch, daß Sonnabend, den 16. November 1940, nachmittags um 17 Uhr, von ihrem Standort Fogarasch kommend, vierzig Angehörige der deutschen Lehrtruppe zum Besuche unserer Stadt eingetroffen waren. Die Gruppe wurde auf dem Marktplatz von der Leitung der lokalen Volksorganisation und vielen Volksgenossen herzlich empfangen und willkommen geheißen. die lieben Gäste wurden in Privatquartieren untergebracht. Am Abend fand im Musikvereinssaal eine Zusammenkunft statt, die einen erhebenden Verlauf nahm. Kreisleiter Alfred Pomarius entbot den Gästen die Grüße der Deutschen Schäßburgs, für die freundlich gedankt wurde. Sonntag vormittag versammelte man sich zu einem wohlgelungenen Frühschoppen in der Wirtschaft des Musikvereinshauses. Nachmittags unternahmen die Gäste mit ihren Gastgebern und neuen Bekannten Spaziergänge, vor allem auf die Burg, wobei nicht nur das Museum, sondern auch die fachgerechte Führung von Julius Misselbacher und ein Verweilen vor der ehemaligen Folterkammer einen tiefen Eindruck hinterließ; ein kleiner teil der Gäste war in die benachbarte Gemeinde Marienburg gefahren, wo ihnen ein begeisterter Empfang bereitet wurde. Die Vertreter der Wehrmacht, deren Aussehen und Haltung vorbildlich war, schieden hochbefriedigt, entzückt nicht nur von der Aufnahme, die sie hier gefunden hatten, sondern auch von unserer schönen alten deutschen Stadt.
Dazu gab es Bilder über den Einmarsch in Bukarest und die Parade; endlich war der Schandfleck getilgt, seit November Marschall Antonescu an der Macht, und nun bald die Achse perfekt. Bilder mit Unterschriften: Luftwaffe beim Parademarsch. schwere Panzer rollen herbei. Links im Bild S.M. der König.

Als die deutschen Lehrtruppen einmarschierten, rissen sich die Volksdeutschen um diese Soldaten; waren untröstlich, wenn sie keinen bekamen. Man ehrte und bewirtete sie besonders gastfreundlich mit dem Besten was man hatte. Die schönste Seidendecke, die Gastdecke, das Gala-Gastbett bekamen sie zum Schlafen. Alles war schön und festlich zubereitet, sie wurden sehr verwöhnt. Und sie haben sich bei uns natürlich sehr wohl gefühlt. Der bei uns einquartierte Hauptmann Meyer-Göring war sicher kein Nazi, sondern ein Intellektueller, der viel für Musik übrig hatte. Eigentlich war er Jurist beim Zeppelinwerk.
Freunde von uns sagte, ihre Gäste seien sehr begeisterte Nationalsozialisten, Jungen, die für ihren Führer durchs Feuer gegangen wären. aber politische Gespräche wurden kaum geführt. Die Gäste haben solche Gespräche merkwürdigerweise umgangen. Über die Chancen von Krieg oder Frieden wurde nicht geredet. Auch Hitler wurde nicht erwähnt. Die Verhältnisse in Deutschland waren tabu.
Man kam eben nur selten gemütlich mit ihnen zusammen, obwohl sie manchmal beim Abendessen mit dabei waren. Unser Hauptmann erzählte eigentlich mehr von seiner Familie, von seinem sechsjährigen Sohn.

Die Ami schrieb Töff über den Einmarsch der deutschen Truppen in unserer Stadt und über unseren Gast:
Sein Chef Meissner ist Fallschirmjäger und hat sogar das Ritterkreuz. Er sei vor fünf Jahren in Siebenbürgen gewesen, erwähnte unser Kreisleiter und Philosoph in seiner Begrüßungsrede. Es wurde nämlich ein bunter Nachmittag bei Schoppelt im Männergesangverein gegeben, wo man an weißgedeckten Tischen mit den deutschen Gästen zusammensaß. Meyer-Göring hat sogar Michael mitgenommen, weil er auch einen sechsjährigen Sohn zu Hause habe. Es ist Leben bei uns eingezogen. Wir flaggen nur mit Staatsfahne und Hakenkreuzfahne. Die Leute reißen sich um die Einquartierung. Unser Gerhard spricht jetzt schon alles. Er hebt die Hand und ruft: Heil Hiker! Köstlich! Schlaf gut, mein Lieber, es ist spät und ich will noch baden.

Großes grobes Kriegspapier, sehr holzig. Mit Bleistift sind die kleinen Zensurnummern hingekritzelt auf Großvaters Epistel an Onkel A. nach Berlin-Charlottenburg. Der Brief hatte die Zensurnummer 43/522956 6050. Großvater schrieb, er habe seinen August-Wechsel bei der Vereinsbank eingezahlt. Auch hoffe er, "mit Mama noch in diesem Herbst hinauf ins Reich zu kommen", über Wien; und sie würden auch Erika und Friederike mitnehmen. Dann klagt er über die Teuerung (1940). aber dann zum Schluß: "Du schreibst verhältnismäßig wenig über Deine Prüfungsschlachten! Hoffentlich schlägst Du diese auch so glänzend wie die Armee die ihrigen in Frankreich. Hoffentlich wird dem perfiden Albion bald auch sein ähnlich verdientes Schicksal zuteil. Viele Grüße Tata."
Auch die Ami schrieb ihren Söhnen ins Reich: "Schaut zu und kommt Weihnachten nach Hause."
Sie wartete täglich auf Briefe; immer wenn Harry, der Wolfshund, unter dem Gang anschlug, der Briefträger also kam, lief sie ihm schon ins Treppenhaus mit angehaltenem Atem entgegen. trällernd vor lauter Nervosität.
"Die Teuerung ist enorm", schrieb sie: "Die Butter kostet schon 180 Lei das Kilo. und die Angst, daß die Männer einrücken müssen, ist groß. Hansonkel mußte sich melden. Was der Franzo seiner Mutter von den Unruhen und Pogromen in Breslau berichtet hat: gräßlich. Hier ist es noch sehr still, aber die Leute sind ziemlich gedrückt. Und Du, mein Lieber, hoffentlich hast Du Glück und kommst zu dem Professor, der Dich nicht zu sehr quält und eine Einsicht hat. Schlaf gut, mein Lieber! Sorge gut auf Dich, daß Du nicht krank wirst, zieh Dir auch die Weste zum Anzug an." Und dann gießt sie Wasser in den blauen Krug.
Wichtiger war das nächste Jahr. Hermann hatte sein Arztstudium erfolgreich beendet und war von Marburg nach Siebenbürgen zurückgekehrt. Er wolle seine Stelle als Arzt in einem Motzendorf im Erzgebirge nicht antreten, schrieb er an seinen Bruder nach Berlin, da für die Betreuung der bessarabiendeutschen Umsiedler in den Warthegau  phantastische Gehälter gezahlt werden: 25-30000 Lei. Und: Man werde auch vom Militär befreit.
Aber ein strenger Winter wird prophezeit; die Störche sind schon fortgezogen. Das Wetter ist wechselhaft.

Im Baumgarten gabs Fledermäuse, schwirrend im Rauchfang. Angst, die könnten sich im Haar verfangen, in die Scheide glitschen. Innen, die feuchte Stelle. Mühsam beherrscht: die Auflösung, das Chaos. Das Liederliche. Genau erklärt im "Boten":
"Über die Bedeutung des Judentums in unserer Wirtschaft. Da geht einem ein Licht auf: Die Juden verfügen bei einem Bevölkerungsanteil von 1,15% über zwei Drittel des Volkseinkommens."

Wer hätte auch den Eiffelturm besteigen können, 1940, wie eine schöne hohe eiserne Frau, Welschland im Nu genommen, sagte Onkel Ferdinand, der Lustige: Auf den Eiffelturm gestiegen, ganz Paris zu Füßen, so war man dankbar, Andreas auch schon Sturmführer, er, ein SS-Freiwilliger der ersten Tausend-Mann-Aktion, und also im Fronturlaub. Man denke sich dies Jenseits, sagte er: Glaubst es kaum, wenn du wieder zu Hause bist, Mutterns Küche, Grießknödel wieder und Ardee oder de Bienensupp, phantastisch, süße Heimat, ein goldner Bienenstich im Herzen. Und die Saat? Einst Meeresboden hier: so immer gegeben ein Versinkenkönnen ins Urgründige, ja, die Tiefe...
Ich erinnere mich: Es gab da einen Brand, ich rieche noch heute die verbrannten Tierkörper; Brennen und Weh, und bei Muttern alles mit Einbrenn gekocht, das schmeckt zu Hause wie nie. Einmal und nicht wieder. Werweiß. Muß i denn, muß i denn. Wann ich wiederum komm, wiederum komm. Und du, mein Schatz, bleibst hier. Tapfere Soldatenfrau. Und du mein Schatz. Undsoweiter.

A. Schmidt, der Erzengel der deutschen Volksgruppe auf dem Rapid-Sportplatz mit Schikappe, glattgestutzt und glattrasiert allesWuchernde wie die Phantasie: Sie marschierten gegen Paikles und ungewaschenes Schlamperhaar der Zigeuner und Juden, Nacken ausrasiert und schwarz-schnittigstramm stiefelnde Hosenenge und Stirn abgezirkelt mit Augengeradeaus und treukornblumenblauem Blick. Ehrlichgeradehelle: schritt eben die Front ab der Freiwilligen im breiten Mittelgang Richtung Schlachthof, da rief frech, unglaublich, so ein ungewaschener Walache, blutjunges Leutnantchen, nichtachtend heldisches Zusammenbeißen der kerngesunden Zähne, nichtachtend die Sauberkeit der Formation samt Opfermut und Tränenreiche: Fatschetz tsche wretz ün tzara noasträ, rief das blutjunge Bürschen, schwarzhaarig: und machet, was euch dünkt in unserem Lande. Worauf Erzengelrache auf dem Fuße folgte, nein, auf der Hand lag: Gesindel! Wie eine Fanfare jüngsten Gerichts erklangs aus dessen Munde, und klatschte die Hand als Backpfeife auf diese Mücke, die es gewagt hatte, hier fast auf der Wallstadt (wobei er an gefangene Waller dachte, die Siegfried nach siegreichem  Kampfe brät und ißt) das Reich zu beleidigen! Schänder und Schande dir – ruschine zie. Ruck zuck die Aktion: Erzengel-Begleiter stürzten schützend vor, recken, Knappen eben, um die Unsauberen, vielleicht Hunnen, aufzuhalten. Und die Kameraden des khakiuniformierten Frechlings auch, hielten die Rotentflammten fest, um größeren Skandal, gar diplomatische Verwicklungen zu verhüten. Duell gabs keins. Wieso, frage ich mich. sie ließen sich das einfach gefallen? Und mich packt jetzt noch die Wut.

Kampfergeruch, Geruch nach verbrannter Milch im Haus. Auch die Oma sitzt nun am Eßtisch und schreibt an unseren Töff ins Reich: Wir erleben alles mit – durchs Radio. Gestern sprach Fritzsche über seine eindrücke aus Flandern, es war spannend...
Großvater muß dauernd Pferde requirieren. Und während  die Oma nun nachdenklich den Federstiel ins Tintenfaß tunkt, kommt im Radio eben Aus dem Zeitgeschehen. Dazu die Tannhäuser-Ouvertüre. R. Wagner.
Jaja, es wird noch einmal ein Wunder geschehen. Vorsehung und deutscher Christus haben das Wort.

Und dann das erste richtige deutsche Weihnachten. Weihnachtsbaum aus dem Baumgarten. Den brachte der Schlachthausdiener Cloos und setzte auch äste ein. Morgen Kinder wird’s was geben.
Freilich gabs auch im Stadthaussaal oder im Sandersaal Weihnachtsfeiern, Krippenspiele, Theateraufführungen. Reden des Kreisleiters, der hinkend das Podium bestieg.
Er drehte sich da oben hochaufgerichtet, die Hände aufs Pult gestützt, der hohen Lichtertanne zu, neben der die Bannspielschar stand, und rief: Stunden der engen Verbundenheit mit Allmacht und Vorsehung über uns, Stunden einer eng gemütvollen Verbundenheit aller Deutschen untereinander. Und aus dieser Gemeinschaft der Herzen geht das Gedenken an Millionen deutsche Soldaten, die im weiten Europa in Ost und West, Süd und Nord ihre Pflicht tun für Heimat und Reich. Wir sind bei euch, ihr deutschen Flieger, Männer der Kriegsmarine, der Waffen-SS, der Wehrmacht. Wir sehen euch im Geiste vor uns, wie ihr zusammengerückt seid um euren kleinen Weihnachtsbaum aus dem Feldpostpaket oder auch um euren großen Baum in den Mannschaftsständen, den Quartieren des fremden Landes, in einsamer Ferne des Nordens, in Kasernen und Schiffen. Es duftet heimatlich nach Weihnacht, nach Tannennadeln im Kerzenschein, zu dem auch die Mundharmonika das Weihnachtslied spielt.
Und leise setzt dazu die Bannspielschar ein, vom neuen Musikdirektor im Gedenken an die Opfer sinnig als Weihnachtsgabe für die Front gedacht: O du fröhliche, o du selige...
Und alle haben Tränen in den Augen. Wie schön!
Der Gedanke wandert durch Raum und Zeit  zurück in das Glück der Kindheit und vorauf zu Sieg und Frieden.

Und auf der Friedenskonferenz wird dann alle Welt erfahren, daß das alte Burgund wieder auferstehen soll, dieses Land, das einst die Heimat der Künste und Wissenschaften war und das unser Feind Frankreich auf den Rang eines in Weinessig konservierten Blinddarms herabgedrückt hat. Wartet nur, Deutsche, bis er in unserer Hand ist, der souveräne Staat Burgund. Mit seiner Armee, seinen Gesetzen, seinem Münz- und Postwesen wird er der Modellstaat der SS sein. Schon nächstes Weihnachten vielleicht, wenn Gott will. Er wird die französische Schweiz einbeziehen, die Pikardie, die Champagne, die Franche-Comté, den Hennegau und Luxemburg. Also unsere Urheimat, da gehören wir dazu, denn das erste Hakenkreuz, es stammt noch aus der Steinzeit, wurde in Siebenbürgen gefunden. Wir gehören in diese uralte Kulturlandschaft der Kelten, der Burgunder, des Gral, und wie der Reichsführer sagte, wird die Welt starr vor Staunen sein über diesen Staat, wo die Weltanschauung der SS in die Praxis umgesetzt sein wird.
Eine eisige Kälte war hereingebrochen in diesem Jahr. Die Rotz gefror zu blaugrünem Eis am Bart der Bartträger, zwickte in unseren Nasen. am Nachmittag vor Heiligabend waren wir bis vier oder fünf im harschen knirschenden Schnee an der Burg, am Hinteren Tor, am Schulberg, weils dort steiler war, Schlitten fahren; am Friedhof wars damals verboten. Vorfreude, voller Erwartung, schon halb abwesend.
Großvater saß derweil vor dem Blaupunkt und hörte den Reichssender München: "Weihnacht ist das feierlichste unserer Feste und kein anderes Volk kann es so begehen wie wir. Unser allein ist das einmalig schöne Geschenkgeben dieses Heiligen Abends. Und das ganze deutsche Volk sendet sein Gedenken den Frauen und Müttern und Schwestern der Gefallenen. Nur wer vergessen ist, ist wirklich tot. Deutschlands Gefallene sind nicht vergessen. In einem einzigen Jahr hat sich das Gesicht Europas gewandelt. Es ist wie ein Erwachen durch den Kontinent gegangen. viele seiner Völker haben sich bereits aus ihren Fesseln befreit, die Macht des Goldes ist gebrochen. Unerschütterlich in ihrer Gewißheit ist unsere Wehrmacht beseelt vom glauben an den Führer, durchglüht  vom Gefühl der Gerechtigkeit unseres Kampfes."
Ja, es ist die Frontweihnachtsfeier. Und gewaltig setzt nun die Orgel ein: Ein feste Burg ist unser Gott. Und die Hitlerjugend aus München singt urdeutsche Weihnachtslieder.

Flüstern der Erwachsenen, diese ernsten Mienen, dies Nichtwissendürfen. sogar zu Weihnachten lag in der Freude und Vorfreude etwas von jener Spannung, wenn das Schlüsselloch zum großen Speisezimmer verhangen wurde, wo die Erwachsenen geheimnisvoll hantierten, eine sichtbare Tabuzone aufbauten.
O Tannenbaum, o Tannenbaum, du bist der schönste Baum, im Sommer, im Winter... auch dies Lied nun neu entdeckt aus altgermanischem lichtem Volksgut.
Das große Zimmer rings um unser Klavier, oben das Wagnerbild; die Glasschiebetür zum Herrenzimmer, wo Akten lagen und geraucht wurde und unser Hauptmann Meyer-Göring einquartiert war. Es hatte so eine Männerausstrahlung, Soldaten-Tabak und roch nach Vater: Armbanduhr, Haare an den Armen, Haare in der Ohrmuschel; große behaarte Nasenlöcher, Nikotinhauch, Bartstoppeln. Eine ungeheure Distanz, Schläge, wenn man zu nahe trat.
Das Christfest ist das schönste Fest, das wir auf Erden kennen. Ich empfinde jene Zeit immer noch als Glück. da hat Friederike recht. Da hat Mutter recht: Das Schöne. Oder das ungeheuer Fremde?
Ihr habt so schrecklich viel verheimlicht, alles mußte verschwiegen werden. Alle Konflikte wurden mit einer fetten Schicht von Gefühlsseligkeit zugedeckt.
Andreas ist so, seine Mutter ist so, meine Mutter ist so, bin ich auch so?
Wir sind uns so ähnlich, Michael, sagt Mutter und freut sich.
Ja, wir sind uns so ähnlich, wir sind gefühlsselig, wehre ich unwirsch ab.
Du machst uns Sorgen , Kind, du hast kein deutsches Herz.

Mit Onkel Andreas kroch ich unter die Tanne. Lebensbaum, sagte er, Sonnenwende. Auf die Geschenke fallen Tannennadeln. Duft. Wie geborgen da bei der Holzeisenbahn. Stearin vom Lebensbaum auf die gute Hose. Angst. Stock. Verstockt. Aber dann vergeß ichs. ein leichter feiner Hauch von Hysterie liegt in der Luft. Wie ein Traum. Seit wir herein geklingelt worden waren mit den silbernen Eierlikörbecherchen ins Festzimmer –welch ein Glanz. ein neues Leben. Vorher standen wir vor der Tür, drückten uns die Nasen platt am Zelluloidstreifen in der Schlüssellochgegend; der Latzi kam aus dem Geschäft mit einem Karren voller Geschenke, die wurden durchs Fenster ins Festzimmer gehoben. Morgen Kinder wird’s was geben, morgen werden wir uns freun! Dann das Klingeln, Tür auf: Der Himmel an Glanz und Wunderkerzen. Gedichteaufsagen. Stille nacht. Großvater brummte inbrünstig und falsch mit. Inneres Jubilieren; alle Dinge wie hochpoliert, als strahlten sie aus einem Kern heraus. Man merkte den Unterschied besonders, wenn man in die Küche hinausging, wo die armen Mägde das Festessen zubereiteten. Auch im Schlafzimmer gabs nur die gewöhnlichen platten und glanzlosen Dinge, die man kannte, schäbig stand das Gewohnte fahl in den Räumen. Aus dem Unscheinbaren rannte man schnell wieder ins Kerzenlicht; aus der ordinären Kälte in den Glanz. Mama sang wieder ihr : Kling Glöckchen klingelingeling. Jauchzend, verheißungsvoll. Ja, man muß den Eltern dankbar sein, sagte Vater, daß sie uns so was Schönes bescheren, fürs ganze Leben.
Vater las dann Hannes' Lieblingsgeschichte vor: Rosegger, "Als ich noch ein Waldbauernbub war". Im Südtiroler Wald, Schnee, Äxte, Heimlichkeit, Zauber. Und das Geschäft mit den guten Sachen. Das aber muß gegen die Feinde verteidigt werden.

Onkel A., der Töff, hatte mir einen Miniaturstuka unter den Baum gelegt: Denn wir fliegen, denn wir fliegen gegen Engel-Land. Engelland Ahoi. Und ich rannte um den Baum und "flog", ja "flog", Wwwwwww, Wwwwhhhhhwww. Weh und WHW, spottete Onkel Daniel, der Organist und Vater des Andreas. Aus seiner Richtung kam es, wo das Klavier stand und wo er eben seinen Dreiklang anschlagen wollte.

Vater wurde sehr traurig, als ich ihm sagte, wir seien alle falsch erzogen worden.
Haben wir also alles nur falsch gemacht?
Ihr konntet doch gar nicht anders...
Und das andere, das ihr gewählt habt, ist das etwa richtig?
Wir konnten auch gar nicht anders...
Der Bruch in deiner Welt, mein Gott, deinetwegen, in mir war sie ja auch vorhanden, diese Welt, also der Bruch in unserer Welt hat unseren Konflikt aufgeschoben.
Aber schuld an unserer Krankheit ist das Vergessen: Ich hob den Ton.
Welche Krankheit meinst du?
Jenes sogenannte deutsche Herz.
Aber Michael, das ist doch keine Krankheit! Wie kannst du so etwas sagen, du, ein sensibler Mensch?

Ein Hauch furchtbarer Einsamkeit in der Stube von Clemens M. Stickige Luft, Medikamentengeruch, Dämmer. Der Kranke abgezehrt, die Stimme rauh und belegt, der Mund trocken von den vielen Pillen; eine ganze Apotheke da auf dem Nachttisch; Fläschchen, Flaschen, Sprays, Döschen. Sterben in der Pflegestation eines Schlosses des Siebenbürgischen Altenheims in Deutschland. Deutschmeister, klobig, mit Türmen und Wassergräben. Lähmung. Trostlosigkeit. Das Ende eines unserer besten und aufrechtesten Journalisten. Hier liegt unser altes "Tageblatt", du siehst die Titelseite, sie gehört zu den Kindheitserinnerungen, immer lag diese Zeitung auf Tischen, Kommoden, Treppen, Küchenkredenzen; im Baumgarten, in den Stadtwohnungen, Hausenblaß, Holzmarkt, Baruchhaus – ja, auch auf dem Siechhof, wo die Eltern wohnten, bevor ich geboren wurde. das "Tageblatt" mit dem Namen des verantwortlichen Redakteurs, der ging, als das Hakenkreuz dazukam; es hieß dann plötzlich "Südostdeutsche Tageszeitung". M. verließ die "kommende Jauche", wie er zornig sagte. Er wußte, weshalb: "Wir sind die Zukunft, wir sind die Hoffnung aller Vergangenheit und gegenwart. Und deshalb müssen wir vom Geist, der uns erfüllt, Zeugnis ablegen..."
M. hatte auf Friederikes Hochzeit neben dem Wehrmachtshauptmann Meyer-Göring gesessen. Sonst gabs ja damals kaum Uniformen an der Festtafel, nur Feldgrau, die Hakenkreuzbinden, Braunhemden, schwarzen Stiefelhosen waren vor allem beim Ständchen der Feuerwehrmusik vertreten, die Georg dirigierte.
Flüsternd, kaum verständlich redete der Kranke aus seiner Betthöhle, heiser, hohl, als käme diese Stimme schon aus dem Jenseits. Und jetzt vom Tonband gehört, ists freilich auch eine übriggebliebene Stimme, die eines Schattens, der sich nicht mehr traut, da zu sein:
Ja, am 9. November 40 war das: höre ich diese Stimme, die sich seit meiner Kindheit kenne und dabei auch das heftige nervöse Zwinkern seiner Augen sehe: Es war im Gasthaus zur Traube in Mediasch . Da wurde die "Volksgruppe" unter dem neuen Capo Andreas Schmidt ausgerufen, ich war als Korrespondent dabei, hab dann im "Tageblatt" berichtet: Ausgerufen wurde die Volksgruppe unter Teilnahme einiger Gardistenführer. Und dann kam plötzlich das Erdbeben. Es zitterte alles. und weil sie so viel getrunken hatten, glaubten sie, es sei ihr eigenes Zittern, aber es war das Erdbeben. Und als man es ihnen mitteilte, daß es ein Erdbeben gewesen sei, da waren sie es recht zufrieden, denn nun gab es einen äußeren, erklärbaren Grund; sie wußten nun, daß es nicht ihr eignes Zittern gewesen war.
So sprach Clemens M., der es wissen mußte. Er zitterte nun selbst, der Tod war in ihm.
Ja, aber mit einer Hochzeit hatte alles angefangen, fuhr er fort: Mit der Hochzeit der Christa Berger, Tochter des "Schwabenherzogs", des Chefs des SS-Ergänzungsamtes. Gottlob, ein schlauer Schwabe. Der hat diese SS-Armee aufgebaut. Weil sich die Wehrmacht weigerte, der SS genügend Wehrpflichtige zu überlassen, verfiel er auf die geniale Idee, die Volksdeutschen einzuziehen, so etwa anderthalb Millionen Rekruten wollte er. Und wir hatten die ehre, die ersten zu sein. Und diesen Ehrgeizling, den Andreas Schmidt, der war ja so eine Rotznase, keiner kannte ihn, war Student in Berlin – dein Onkel T. hätte dir da einige erzählen können, er verkehrte ja auch in diesen Kreisen damals – diesen Schmidt also nahm sich der Schwabe zum Schwiegersohn. Denn die Fama geht dahin, daß der sich mit der Tochter eingelassen hatte, und so wurde er Schwiegersohn des Generals.
Jedenfalls zirkulierte bei uns damals der sinnige Spruch: "Hitler von Berchtesgaden – Schmidt von Bergers Gnaden!"
Das war eine schöne Hochzeit im Elternhaus der Christa Berger in Stuttgart. Papa Gottlob wohnte nobel. Es traf sich gut: Stuttgart war die Stadt der Auslandsdeutschen. Berichtet wurde nicht viel über diese rauschende reichsdeutsche Hochzeit, Blut zu Blut, Kuß zu Kuß, Speichel zu Speichel. Nicht sehr viel später wars dann: Erde zu Erde, Staub zu Staub, Asche zu Asche. Das Glück dauerte nicht lange. Es waren kaum 1000 oder 2000 sächsische SS-Freiwillige eingerückt, die ersten gefallen für Führer und Reich und für Schwiegervater Gottlob, da starb auch die junge Frau – an Schwindsucht.
Nein, es war keine kirchliche Trauung. Die glauben also nicht an Gott, flüsterte man bei uns. Dein Großvater, der Kirchenkurator, wußte nicht, was er dazu sagen sollte, denn er schwor auf seine "Volkskirche".
Und noch schlimmer wars dann beim Begräbnis, fuhr Clemens fort: Das Glück hatte ja nicht lange gedauert. Vielleicht hatte der Alte auch gewußt, daß die Christa Tuberkulose hatte, im letzten Stadium, fast wie die Kameliendame, noch ein krankblühendes Rosenjahr auf Wangen und Lippen, aber schon der Todeskuß. Gestorben ist sie in Kronstadt. Sie bekam einen Leichenzug, wie man ihn in Siebenbürgen bisher nicht gesehen hatte, mit einer Reiterschar als Eskorte, uniformiert. Die Grabzeremonie versah nicht der Bischof, sondern ein gewisser Kaufmes, ein Kapo der Wirtschaft und der Partei. Und noch schlimmer: Der Bischof war mit dabei, aber in Tracht.
Ja, ich erinnere mich noch genau, wie Daniel und Karl, dein Großvater, stritten:
Was sagst du da zur Haltung unseres Bischofs, Karl?
Daniel war selig und lief behende im großen Speisezimmer herum: Habs ja immer gesagt, dat äs nichen Chrest, mej Läwer. Um die Kirche geht’s, immer um die Volkskirche. Der Bischof Staedl aber in der Prozession: In Tracht. sonst nix. Daß ich nicht lache. Heidnisch ist die großdeutsche Madam verscharrt worden.
Darauf dein Großvater erstaunt: Nicht in seinem Bischofsornat also, dat verstehn ech nett. Ohne Kretz, wä et sich gehiert. Ungehörig das!
Er schwieg, ließ Daniel in die Luft reden.

Die Madam also, das arme Mädel, die junge Frau aus Stuttgart; ja, schwäbisch hat sie geschwätzt. Und wurde mit dem schönen Tersteegenlied hinabgelassen in die siebenbürgische Grube. Wenigstens soviel, murrte dein Großvater:
Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart; ich geb michhin dem feien Triebe, wodurch in Wurm geliebet ward; ich will anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.
So, so, murmelte Daniel.

Das deutsche Herz war ein kaltes Herz; wir trugen das Chaos in uns, das war nicht außen!

Als Vater an der Ostfront war, wurde er zweimal totgesagt; aber er kam wieder. Ein Jahr nach jener Parade mit Schellenbaum (den manche für den Lebensbaum hielten) wurde er vermißt gemeldet. Die Kinder in der Schule sahen mich scheu an; die Lehrerin behandelte mich zärtlich.
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod
Jetzt wetzt er das Messer/ es schneid schon viel besser...
So sang ein Chor. Ein gräßliches Lied.
Um sich gegen den unaufhaltsamen Tod zu schützen, gibt es Mittel. Zum Beispiel den Heldentod. Ich weiß, Vater, du wolltest nie ein Held sein. das hat mich immer sympathisch berührt. Du wolltest überleben, du wolltest für uns da sein und wieder nach Hause kommen.
Das ist viel.
ist das alles?

Stille Nacht, heilige Nacht. Die schönen, schönen Weihnachtsfeste.
Nur Mutter war meist sehr unzufrieden. Trotz allem Glanz. Es war eben nicht ihr Glanz.
Sie sagt: Es stimmt: Unsere Generation war entmündigt. Überrascht hob sie dann den Kopf und nickte: Entmündigt. Wir durften nicht reif werden.
Ich war davon merkwürdig berührt. Aber die Zeit ist vorbei, da sie noch Autorität vorspielen mußten. Jetzt treffen sie sich mit den Enkelkindern. Jetzt sind sie aus dem Raum entlassen, wo sie Haltung wahren mußten. Jetzt sollen wir ein wenig die Eltern unserer Väter und Mütter sein. Wenn sie in Rente gehen, zuerst mit Angst, mit einem Gefühl des Sich-Weigerns, dann aber still ergeben, merken sie, wie schön es ist, kindlich zu sein. Uns nichts mehr vormachen zu müssen, was sie nicht sind und nie waren.
Wir führten die Befehle wider Willen aus in der Kette der Geschlechter, wie Vater vorsichtig sagte, als ich ihn fragte, weshalb er mich eigentlich geschlagen, seine Kinder geprügelt hatte. Und nach dem ersten erstaunten: Ich?! kam dann das: Nein, gewollt hab ich es von mir aus nie! Gezwungen hab ich mich dazu. Denn: Wer sein Kind liebt, züchtigt es!
Aber dann fühlte er sich doch veranlaßt, seinen Vater zu verteidigen, als Mutter sagte: Unter Kuratel haben wir schon ein wenig gestanden! Ja, unter Kuratel.
Mit schief gelegtem Kopf, gerührt lächelnd bei der Erinnerung, meinte er: Wie hast du dich doch gefreut, als mein Vater die Kinder neu eingekleidet hat zu Weihnachten. Das war noch im Hausenblaßhaus, vierzig muß das gewesen sein.
Meine eigene Stimme: Es geht um diese bestimmte Art, wie wir gelernt haben zu handeln, wie wir gelernt haben, zu sein...
Unangenehm diese Stimme, fast keifend, nehme mir vor, beim nächsten Mal ruhiger zu sein. Beim nächsten Mal? Es gibt kein nächstes Mal. Vaters Stimme ist nicht zu erneuern, sie liegt ganz fest für immer und auch sicher "für alle Ewigkeit" in der Kassette: durch die Treue, durch die Pflichterfüllung unserem Volk gegenüber, sagt er. Und Mutter fällt ihm (wie immer) ins Wort, läßt ihn nicht aussprechen: ...sind wir das geblieben, was wir sind.

Sicher sind wir Sachsen nicht alle "reinrassig". Viele Dorftrottel. Durch die Inzucht? Nervattich alle. Schreikrämpfe oft. und die vielen Sonderlinge. Daher also die Naziwut bei manchen, wie bei Andreas?
Ja, weißt du noch? höre ich Mutters Stimme: Onkel Hans' Ordination, vis-à-vis von unserem Hausenblaß-Geschäft. Im gleichen Haus hatte der Zahnarzt Schuster seine Ordination, da geht man unter einem dunklen Tor durch, im Hof hinten ist der große Speicher des Kolonialwarenhändlers Hesshaimer & Co.
Ja, sag ich, da solls Mäuse in Mengen geben, sogar von weißen Mäusen hörte man. Wenn man die knarrenden dunklen Stiegen da raufgeht, muß man sich zuerst überwinden. Herzklopfen, poch, poch als Kind.
Unsinn, da fühlt man sich bei Onkel Hans doch geborgen. und krank waren wir auch kaum, höchstens mal eine Grippe. Dem Otata tropfte immer die Nase. Da gabs aber andere Fälle bei uns.

Stell dir vor, ich bin in der Baiergasse dem Birä-Will begegnet, erzählt Mutter ganz naiv und kichernd: dem Einwenigirren – der konnte, wenn ihn jemand ärgerte mit seinem phantastischen Können in hohem Bogen spucken, mit Eleganz und Präzision konnte er dem anderen aufs Ohr spucken.
Und dann stand sie da, ein wenig hilflos in der entstehenden pause, war aber sofort wieder da, auch die Pause nützend, wie auf der Bühne, das kann sie, mit verschmitztem Gesicht und doch wieder abwesend, als wäre ein Spieler in ihr, ein wenig zwanghaft, der Körper angespannt, die Muskeln hart: Jetzt will ich euch zeigen, wie die Milli tanzte, die Stadt-Irre, zum Libellenlied, zu dem wir als Backfische auch tanzten, gemeinsam im Reigen:
Froh, wie die Libell am Teich
Froh, wie die Libell am Teich
Froh macht sie und leicht und reich
Braucht nicht zu borgen, braucht nicht zu sorgen.
Froh, wie die Libell am Teich
Froh, wie die Libell am Teich...
Unendlicher Kehrreim und Singsang. Sie hebt die beiden Hände wie bei einem Ritualtanz der Derwische, und immer ein Bein abwechselnd geschwungen, vor und zurück, vor und zurück, und kann sich kaum halten vor Lachen. (Nun hat sie also nicht nur erzählt, sondern sogar gesungen und getanzt. Und kann deshalb lachen.)
In den besten Familien kam es vor, erzählt Mutter: Ich sehe sie noch vor mir, diese Milli, allen ein Greuel. Das in großen Strähnen wild wuchernde Haar unter einer großen schmuddeligen Baskenmütze zusammen gezwirbelt und versteckt, triefendes Auge, hängender Kopf: schlechtes Erbgut! Von der allgemeinen Inzucht; Suff, Sünde wider das Blut. sogar der Binder Heinrich, des Bischofs Enkel, war ja blöd, als hätte ihn Gott geschlagen. die alte Tante B., die hatte zwei Söhne, beide blöd. Vater wollte einmal ein gutes Werk tun, lud den Heinrich zu Weihnachten in die Baiergasse ein, es war schrecklich, was der dann tat. Ihr wißt es ja. Was nützte es, daß er phantastisch mit Baukästen umgehen konnte, wahre Wunder zusammenbaute, er war "surkich", verwahrlost, hat sich dann später überhaupt nicht mehr gewaschen und statt aufs Klo zu gehen sich auf den Bettrand gesetzt. Die Sanitäter haben ihn dann abgeholt und eingeliefert. Seine Tanten hatten ihm Vorhaltungen gemacht, und denen hat er eines Tages ein Telegramm geschickt: Abort geputzt, Heinrich.

Plötzlich stand sie auf, tanzte wieder vor dem Tisch, hob den Kopf, wackelte damit: so hat die verrückte Grune Mill zuhaus ihr Regenschirmchen gehalten und getanzt: Meschand, Meschand gesagt. Solche von Merkwürden, die gabs in unserem Städtchen. zum Beispiel auch den Schnich und die Schnichin, die Kirchendiener, die standen auch bei unserer Hochzeit vor der Kirchentür, nickten mit dem Kopf und sagten im Chor: Schnich! Sie nickten, machten einen kleinen Diener: Schnich. Was heißen sollte: "En hieschen gaden Dach wänschen ech!"
Mutter fletterte wie ein junges Mädchen, drehte Pirouetten und sang beschwingt: Bildschön, ja bildschön war die Milli mal gewesen, mit sechzehn, siebzehn Jahren ist sie übergeschnappt, die arme Milli, wackelte mit dem Kopf, konnte nicht mehr richtig sprechen, nur lallen, und ließ viel Speichel in dünnen Fäden zu Boden fallen, daß es alle ekelte. So hatte sie immer eine Silberspuckspur. Doch Klavierspielen konnte sie weiter, spielte fabelhaft, ibernatirlich, als würde sie einen Traum bedienen, als spielte jemand aus ihr. Leider sagte man ihr nach, sie habe einen jüdischen Großvater oder Urgroßvater gehabt, eben de Ballegrieß wor jiddisch!
Aber sie war noch für etwas anderes berühmt: Sie hatte eine Schmetterlingssammlung, eine ganz berühmte, von den Vorfahren geerbt. Solch eine Schmetterlingssammlung gabs auch bei Onkel Daniel und Tante Cäcilie im Mühlenham, und Andreas ging jeden Sommer Schmetterlinge fangen mit einem Netz aus Gaze, wie eine Maske oder ein Verband. Und die gefangenen Flutter wurden dann mit Stecknadeln aufgespießt und im Glaskasten aufgereiht; sie hingen über der alten Kommode im Mühlenham, diese verglasten Kästen. abends fing man die Totenköpfe, die waren ganz groß, und die schrien auch, ja, sie konnten beißen, wenn sie in der lauen Nacht hereinflogen, sich verirrt hatten. Vorher hatten sie sich vielleicht wie Motten um die Petroleumlampe getummelt, gesurrt, geflattert, und manche verbrannten, angezogen vom Licht. Bist du Schmetterling verbrannt, zitierte Onkel Daniel die "Selige Sehnsucht": Der Tod sei nur eine Verwandlung wie Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Daher müßten Raupen sterben, damit solch eine "lebende Zartheit", die Schmetterlinge, entstehen könnten. Überall der Tod, der so traurig stimme und mahne, mahne, mahne, so daß wir uns immer auf diesen Abschied vorbereiten müßten. flink lief Daniel zum alten Bücherschrank und holte die Bibel, schlug mit nervösen Fingern das Johannesevangelium auf und las mit hoher, ein wenig heiserer Stimme: Ich sage euch, wenn das Weizenkorn auf die Erde fällt, ohne zu sterben, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, wird es Früchte bringen.
Unsinn, sagte dann Andreas: Diese jüdische Bibel. Wir überwinden auch den Tod! Wir herrschen mit ihm, durch ihn.
Wie herrschen die! herrschte Daniel seinen Sohn dann an. Der Sanftmütige konnte dieses neue "Saubere" nicht ertragen (war er vielleicht selbst e Judd). dieses Saubere, Gesunde, wie die frischgestutzten, glatt ausrasierten nacken, die konnte er nicht leiden. Er selber hatte eine Künstlermähne um den Glatzkopf , Tonsur und Heiligenschein. Dieser glatte und geleckte Scheitel, der nun in Mode war, wie der Scheitel und die Seele des Tausch Dolf und der Haarknoten der Frauenschaftsführerin Kitz, so sauber wie die Nullerköpfe der Kinder, so rein wie die kornblumenblauen Augen, die hell in die sächsische Welt schauten, das ging ihm auf den Geist. Kornblumenblau sind die Augen der Frauen...
Und dann hieß es, jede deutsche Mutter schenkt dem Führer ein Kind. Bekannt ist der Spruch einer Bäuerin: Kommt der Herr Fihrer zu uns oder missn mir zum Herrn Fihrer fahren?
Mädle ruckruckruck an meine grüne Seeite...
Heilig Vaterland in Gefahren,
Deine söhne sich um dich scharen.
Heilig Vaterland, Heilig Vaterland...
Das stinkt nach Menschenstall und blonder Zeugung im Gewölle, volksrein, volksartig, volkhaft, völkisch, spottete Daniel: Der Volksschoß ist fruchtbar, daraus kriecht es... und die deutsche Mutter öffnet den Schoß für den Schlappschwanz des Führers; Millionen Kinder, Millionen Schafe für ihn. Kanonenfutter. Sieg Heil. Alles Kranke, entwurzelte, Unblonde, Feuchte ausmerzen, weg mit den Meckerern.
Entnordung, sagte Andreas, ist Bastardisierung. Schlingpflanzen, Phalusse, Schlangen des Urwaldes. Lichtbringer Zeus, ordnender Wille des Staates. Zucht, Zeus und Mann.

Kein Wunder, daß die Gesundheit so wichtig war! Großvater auf der blauen Veranda denkt es zum x-ten Mal: Tief drinnen im Herzen ist der Befehl.
Es regnet, Trommeln des Regens, an den Fensterscheiben rinnen lange Wasserfäden herab; als wäre die Welt in Tränen erstickt, denkt er: Diese Heißsporne wollen ja das Beste, die Erhaltung; aber langsam, nur langsam baut sich die Welt. eins nach dem andern, nichts überspringen. Nichts übertreiben, kurtsch äs des Mänschen Liewen, aber lang dauert die Tradition. Vor allem leisten ja unsere Nachbarschaften bei Gesundheits- und Wohlfahrtspflege große Hilfe. Weingeist- und Tabakfreie Sonntage...

Ich erinnere mich: "Sie" gehen im Garten spazieren, Daniel, Großvater, Andreas. (Dazu kommt noch Meyer-Göring mit dem Cello. Celloton wie eine Rose.) Die Frauen trinken Kaffee und stricken. Oder hat Mutter Kränzchen heute? Kühler Schatten auf dem Steintisch unter den hohen Tannen. Duft wie aus einem Harzparadies. Die Oma singt mit ihrem brüchigen Stimmchen ihr Lieblingslied: Kommt ein Vogel geflogen...

Allerdings hat es bei uns Paarungssiebung gegeben, die der losen Durchmischung des Blutes entgegensteht. Und hier ist dann die Frage vielleicht am Rande vertretbar, ob es sich lediglich um eine Gattenwahl nach äußeren Gesichtspunkten wie Besitz oder gesellschaftliche Stellung handelt oder ob in diese Grenzen, die so gezogen werden, auch bestimmte erbliche oder blutmäßige Zusammenhänge eingeschlossen werden müßten: Der dunkle Instinkt des Blutes ist es, der die Paare aus den Tiefen des rassischen Gewissens zusammenführt!
So ist es! hört man Tante Friederike vom Klavier aus dem Hintergrund sagen.
Heute, wo wir in einem harten Schicksalskampf stehen, ist gegen die Inzucht allerdings etwas zu unternehmen; es käme nur eine Durchmischung mit Reichsblut in Frage. Und das muß freilich sehr gefördert werden, viele sind dem nachgekommen. Die Frage ist deshalb so wichtig, weil ein bedauerlich hoher Prozentsatz an Stadtblöden, Dorftrotteln und Schwächlingen das Blut weiter verunreinigt. Gegen sie müßten besondere Maßnahmen erfriffen werden.
Was wollt ihr mit ihnen tun?...

Ich sehe alles vor mir, ich sehe ihn, den Onkel Andreas in seiner SS-Uniform mit Tellermütze und Totenkopf. Jaja, Andreas kam immer wieder auf Heimaturlaub, er war verdächtig oft zu Hause; diesmal war es ein Zigeunertransport, den er begleitet hatte, und er redete auf der Steilau im Sommerhaus beim Frühstück schon von der "Auslese", und daß wir stolz sein müßten, Siebenbürger Sachsen zu sein.
Aha, esi äs dat? Ausgelesen? Sagte der Mischonkel grinsend, nachdem er eine kurze Arie von sich gegeben hatte. Mio cuor... Siebenbürger Sachse zu sein, branjt jo än irschter Rah wirtschaftliche Vorteile. Na, gliwst et vielleicht nett? Bediente sich auf der blauen Veranda, die fast wie eine Lugesch war, wo man beim Frühstück saß, vom Lakes, denn die Ladewerch, das Pflaumenmus, schmeckte ihm nicht, und schmatzte.
Awer Misch, entrüstete sich die Ami wieder einmal.
Der aber tief ungerührt: Wohlhabende heiraten nur Wohlhabende in unseren Dörfern, näkest äs et andersch, das ist die wirkliche Auslese. Und genau so ist es in der Oberen Baiergasse und in der Cornesti, wo die ormen Danner liewen, rief er zum Fenster hinaus: Ba den Purligaren, wo es nach Bohnen und Kraut, Bienen uch Krokt, nach Angebranntem, nach Schweiß, no Schwieß uch Paleokes, uch et komm Sträzel git, nach Pisse riecht und nach armen Leuten, wie hier unten in der Tornaz und im roten Haus, wo der Ruch uch der Ruß den Odem benitt, wo die arme Lörinzi wohnt mit den sieben Rangen, dem Gekindsel, der Milch und den Kotschen, der weißbraunen weichen Kinderscheiße, die überall hingeschmiert ist, die Wände von den drao Murrentuppes, den Dreikäsehochs de mazen uch den zwe Mazkäddern, den Heulsusen, dä ständig fluren uch scheißen! Diese weiche Farbe! Und auf der Lehmkell, de Ziganie, mät zähn fafzähn Purdis, ohnen Owendämmes; naßkalte Stuben mit Kanonenofengedubber und Strohsäcken, wo es nichen Schumbäsken, nichen Hiebes git af der Scheif und nor en Ramasuri, wo die armen Frauen genommen werden von nach Pale stinkenden Männern, dä iewen aus dem Letjew kun, Gott verfluchend und kotzend, ihre Frauen wild verprügeln; das Inferno und dann die Lieb, verflachter Heangd, aus der dann das Gekindsel kommt, neue Arbeitstiere und Frühaufsteher, die sich beim ersten Hahnenschrei Nacht und Sand aus den Augen reiben müssen, wenn der erste Morgenstreif über die Buner Berge streicht und reitet gen Osten, wo Ferne zu sein scheint und Entkommen!
Und man war sich ja schon einig, daß es in unseren warmen Stuben Gottseidank feiner zugehe, das Inferno sei gezähmt, nur Prüdheit und Jähzorn... Ausbrüche... Ängste.
Aber es darf keine Zersplitterung geben, nein, das wäre eine Sünde wider die Weltordnung, ließ sich nun der Andreas vernehmen, der nur noch Reichsdeutsch sprach: Einheit ist alles. Krankheit muß ausgemerzt, aus dem gesunden Körper herausgeschnitten werden. Eiserner Zusammenhalt, das ist alles... dies Gerede, det Schkalieren, von den tameschen Kritikastern angezettelt, muß aufhören.
Sah mit schiefem Blick auf den Mischonkel, auch der angekränkelt von den Asphaltjuden in New York, Aufwiegler, Juden und Kommunisten, Asphalttreter, die vom Kampf zwischen Arm und Reich faseln, Bazillen sind das.
Kritik in jeder Form, schrie Andreas los, ist Zersetzung, Schändung des Volkskörpers. Der Führer Adolf Hitler hat das schon in seinem unsterblichen Werk "Mein Kampf"  prophetisch vorhergesehen und beschrieben, wer den Volkskörper vergiftet: Strauchdiebe und Pouletverkäufer, Schädlinge, Irre und Kranke, Hand in Hand mit den Geistesakrobaten und Tintenfritzen, doch es wird gelingen und zwar den heldenhaften Musketieren, die sich einnistenden Bazillen zu vernichten.
Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nicht, die Trommel schlug zum Streite, er ging an meiner Seite, der gute Kamerad. So wie Onkel Willi, der an der Spitze seiner Kompagnie mit gezogenem Degen eine Anhöhe stürmte und im Vierzehner noch in Galizien heldenhaft gegen den Feind im Dienste des Vaterlandes fiel! Die Grießi hat ihn rufen hören: Mother, Mother, immer leiser, bis der Heldentod ihn zu sich nahm!

Und so auf diese Art schrieb auch hier sich die Zeit voran. Mit großen Ereignissen. Sieben jahre gingen ins Land, als könnte alles ewig, ewig dauern, die Zeit nur Großes bringen.
Wenn die Sonne unterging, die nacht kam, wurden alle weich. Georg blies Trompete aus den Wiesen. Alle waren gerührt. Es klang weit ins Land: behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. Oder: Der Mond ist aufgegangen...
Nur im Familienfoto stand arm, weil unwahr, die Zeit still; wir aßen im Sommer Weinsteinkraut (Vater sagte: Sehr gelungen). Nachher eine kalte gelbe Creme, aus dem eiskalten Keller geholt, zehn Treppen hinab ins Feuchte: Eisig wehte es uns an... aber schön. In der Küche des Sommerhauses – ein Ziegelboden; es roch kräftig nach Rauch und Petroleum. Alles war umgeben von einer deutlichen Körpernähe (auch Vater roch stark nach Zigaretten), alles war klar in die Welt gestellt und doch sehr rätselhaft, mit Rändern, die sich im Dunkeln verloren, Schatten warfen. Wie neu und voller Überraschung; Angst. Grasspitzen im Hirn, Holzscheite im Schopfen; nur noch hier anwesend: die Bretterwände bräunlichschwarz. Es roch scharf nach Klo, nach Karbolineum, ich würde am liebsten durchfassen ddurch den Text.
In der Erde aber die ekligen Raupen. Daraus entstehen Maikäfer, sagte Großvater: Weiße Engerlinge, wie die Regenwürmer in der Erde. Mit dem Spaten erschlagen oder mit der Hacke.
Maikäfer flieg, Der Vater ist im Krieg, Die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg...
Roszika sammelt mit. Nach dem Abendessen steht sie in der Küche, wäscht ab. Darf ich unter ihrem Szeklerrock sitzen? Geklirr von Tellern und Gläsern, Plätschern von Abwaschwasser. Unter dem Rock riecht es nach Zwiebeln, Lauge und Seife. an der Glastür sind rot und gold und grün bemalte Fensterscheiben: Blumenornamente, Engelflügel. Das ist schön. aber vom Gang... eine Tür ins Band. Ein schwarzer Riemen, mit dem wird das Rasiermesser geschärft, hängt am Haken. Gehorchen, wer nicht folgt und gehorcht – witsch. Wer nicht... witsch, witsch. wer nicht. daß der Hosenboden raucht. Wer nicht. Bis du Wasser verlangst. Schreien und Weinen. In der Schule der Lehrer Finf, gelber Stock, ein Rohrstock. Wer sein Kind liebt... Wer sein Kind. Wer. Bis du Wasser verlangst. Züchtigt es. Im Garten wer nicht; witsch. Die Schwertlilien sind trotzdem noch da, auch die Sonne. Liebe, liebe Sonne. Komm. Bis du Wasser verlangst. Rotz. Weh. Tränen. Hab Sonne im Herzen. Es geht alles vorüber.
Es tanzt ein Bi ba Butzemann
In unserem Kreis herum, herum.
Er rüttelt sich, er schüttelt sich,
Er wirft sein Säckchen hinter sich.
Es tanzt ein...
Was hatte man da alles in uns hineingesetzt, auch in mich! Körperertüchtigung! Pficht, gehorchen. Keine Widerrede! Ich werd aus dir noch einen anständigen Menschen machen. Bück dich, bück, hab ich gesagt, Hosen runter, sofort, na wirds bald! Nein, neuin, bitte, bitte nicht! So, jetzt bück dich, so, höher … und jetzt gehst du und holst den Stock, wirds bald. So, jetzt… bück dich, höher… höher--- Witsch. Au, au au…
Und wahrscheinlich stand dem Schläger dabei der Schwanz, erregt war er, haute, und atmete schwer, wie beim Ficken.
So wars auch, wenn sie im KZ eine Frau durchpeitschten, festgeschnall auf dem Bock mit nacktem Gesäß, dem cshönen großen Mindsgewächs… und  so mancher holte sich dabei heimlich einen runter, während sie schrie, weinte, wimmerte…
Und sgar Misch erzählte von der Prügelstrafe auf manchen Schiffen, reauhe Matrosensitten?

Ist es nicht so,  höre ich plötzlich  Marthas Stimme: daß auch dich ein auf dem Prügelbock hochragender üppiger Hintern, weiß wie ein Gesicht ohne Augen, reizt, der Mund zwischen den Beinen schwarzgekräuselt und der Spalt wie ein Wunde rötlich klaffend... Wimmern, und Schreien, wenn der Stock  niedersaust, Weinen  der Gestraften erregt mich, das geb ich zu Und am liebsten würde ich auch deinen nackten Hintern so sehen und verhauen, ja.…
  Sie lachte verlegen, sah mich aus ihren Augenwinkeln so an, daß ich rot wurde, und  wie ertappt zu Boden sah; dann aber  ließ sie überraschend den Rock fallen, stand splitternackt  und gebückt vor  mir, dem Schamlosen da, daß der nicht wußte, wie ihm geschah und er aus allen Himmeln fiel. Ein Blitz. Martha, ein schöner Fleischbogen,  laut lachend; ver­stummte dann, selbst überrascht, sie hatte ja "zurückgesehen", und erkannt, wie ihre zwei ´Gesichter´ geisterhaft nebeneinander standen,  zwei Münder, rot und schwarz, halb geöffnet, die Beine  wie beim Bock-Springen in der Turnhalle wartend gespreizt, und sie atmete nun plötzlich  selbst schneller; also auch sie... ? dachte ich, da ich ja nicht wußte, wie ich diese plötzlich so körperlich nahe Erinnerung   deuten sollte, denn so wie ich sie kannte, hätte sie sich wehren, hätte sie arg böse werden müssen bei meinen Gewaltphantasien.
  Als dieser Kerl, der ich selbst bin, den zweiten Mund ihrer V, die wie eine reife Frucht unter dem weißen Mond hing,  küssen wollte, stand sie schon wieder aufrecht da, und hatte den Rock hochgezogen, als wollte sie den japsenden Mann narren und strafen: "Nun erzähl schon, Henkersknecht", spottete sie:  Ich bin gar nicht fassbar. Die Wut hat bei uns ganz andere Gründe:  Schönheit  ist die einzige Waffe, und der Arsch gehört dazu! Nun komm schon, mach den Spruch deiner Stadt wahr: Kannst mich mal! Und Leck tief vor deinem Untergang! Rache ist süß! Ganz anders als bei der Báthory? 
 
Auf dem Sofa. Auf dem Fußboden lauert er. Schreit. Flaisch, Flaisch. Bück dich. Bück dich. Bis du Wasser verlangst. auf dem gelben Schrank klirrt Vaters Violine. Ganz dünne Saiten. Witsch. Flagiolett.
Wenn ich an mein Bänklein knie
will ein bißchen beten. Witsch.
Steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu reden: Bück dich. Witsch.
Liebes Kindlein, ach ich bitt,
bet fürs bucklicht Männlein mit!

Ach, ich höre sie noch immer schreien, die armen Schweine in der Nachbarschaft, wenn sie abgestochen wurden, ihr Blut langsam rausfloß in eine Schüssel, bis sie tot waren... Vögel und Lämmer, Hühner und Tauben, brachen ihnen das Genick wie den Hasen... Als Kind hatte ich Angstträume, wunderte mich, machte große Kinderaugen, wenn ich den Leuten zusah, saß oben auf einem wackligen Gang, von unten aus dem alten, mit Katzenköpfen gepflasterten Hof stank das Klo herauf. das eiserne Geländer des Ganges war von der Sonne warm, das Holz auch, und roch so gut wie das eingelassene Holz der Brücke über den Bach oder die Holzscheite und die Balken auf dem Dachboden, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte, zwei... Unten aber am Schopfen und bei den Hühnerställen stachen sie mit einem langen Messer in den Hals des Huhnes, durchschnitten ihn gedankenlos, dieses wunderwerk war ja nur ein Huhn! Und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte, das Huhn lief ohne Kopf im Hof herum, bis es ohne Kopf eingefangen wurde. Blut rann in eine Schüssel, und ich war erstaunt, wie dumm Worte sein konnten. "Huhn", "Laufen", "Holz". ich weinte und lief in die Küche zu meiner Mutter, verkroch mich mit dem Kopf in ihrem Schoß. Angst vor Schmerz und Tod.
War das ihre, unsere Religion? Handwerk des Tötens?
Religionsunterricht? Na sieh mal an... Wer kommt da hoch? Petrenz, der Lehrer, "Herr Professor", ja, der ließ uns in Reihen antreten, wenn wir den Scheißkatechismus nicht auswendig hersagen konnten. Vor der Bank haute er mit dem Rohrstock auf den gespannten Hintern, Fleisch, Fleisch verlangte er, und der Rohrstock sauste herab, witsch... daß es raucht, heiße Hosenböden. Vielleicht, weil alle Versuche, mit dem Anfangsunrat fertig zu werden, gescheitert waren, an der eigenen wie an der äußeren Natur wohl.
Und der Größenwahn, so schrieb Andreas in sein Tagebuch, sei ihm zeitlebens  zum tödlichen Unglück geworden, schrieb es in sein heimliches Tagebuch, das nach seinem Tod gefunden wurde, und da verehrte er heimlich die Sonderkommandos, wie der Turnlehrer auch, der uns stundenlang Kniebeugen machen ließ, auf dem Tisch meist, bis wir herunterfielen.
Unsere Existenz ist eben immer und überall eine tödliche Existenz. heiße Hosenböden noch harmlos, auch wenn das tief hinein schnitt, das "Wort" sollte nicht vergessen werden. Mädchen bekamen die Schläge auf die "Kniewel". Hier also wurde der irdische Vater mit jenem anderen "himmlischen Vater" vollkommen vertauscht, und eine bessere Garantie zur Erhaltung der mores gab es gar nicht (Ich will dich mores lehren, du Limmel!).
Gelblichbraune Fotos, Rahmenheimaten, in denen die alte Aura aufscheint, mich hineinzieht, als gehöre ich zu den vielen Toten: Großvater als stolzer k.u.k.-Offizier, Friederike und Mutter als Röschen und Vergißmeinnicht, Oma in Tracht, aufgebockelt mit kostbaren Nadeln, Spangen, Perlen und Stickereien: Bürgertracht, in der Hand das Gesangbuch mit Elfenbeindeckeln und einer Rose aus dem Jahre 1887. Mit niedergeschlagenem Blick, züchtig und ein wenig unsicher neben dem selbstbewußten herrschsüchtigen Mann in Schwarz und mit Bärenfellmütze. Von den Vorfahren meines Vaters kein Zeichen, sie waren schwächer.
Auf dem abgeschabten uralten Ledersessel saß die Ami und sang unter dem lustigen Lampenschirm mit Glasperlenmähne, auf der Kredenz die Spieluhr mit gedrechselten Marmorbeinchen, lauter Melodien: Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein küüühles Grab.
In der Klosterkirche aber sangen sie aus dem Gesangbuch: Er will uns dadurch ziehen/ zu Kindern, die da fliehen/ das was ihm nicht gefällt./ Er will den Trotz uns brechen,/ den Eigenwillen schwächen/ und töten böse Lust der Welt.
Und im Stundturmmuseum gleich neben dem Paulinenloch, dem Geburtshaus des Vlad Tepes, hing ein großes Bild des Marsyas. Und der Großvater sagte: sieh, der Richter, der muß die abgezogene Haut des ungehorsamen Sohnes, den er zum Tode verurteilt hat, tragen!
Und im Musikverein sang die Ami mit ihrer schönen feinen Stimme, die mich "Weißt du wieviel Sternlein stehen" gelehrt hatte, das Gesangbuchlied: Und wenn ichs recht erwäge,/ sind es nur Liebesschläge,/ womit er uns belegt; nicht/ Schwerter sinds, nur Ruten,/ mit denen er zum Guten/ die Seinen züchtiget und schlägt.
Dieser Vater im Himmel war schon eine Wucht und enorm wachsam; ich stellte ihn mir vor, wie er nachts zum Fenster reinschaut, so etwa hinterm Vollmond, da sah man ein riesiges weißbärtiges Gesicht; und so betete ich brav, vor allem, als Vater im Krieg war, das Vaterunser und dann: Lieber Gott, laß unsern Vater wieder gesund aus dem Krieg heimkommen; und mach, daß wir alle, alle gesund bleiben. Glaubte auch daran, daß es helfen würde und war überzeugt, daß Schreckliches passieren mußte, wenn ichs mal vergaß.
Petrenz' Lieblingsautor war "unser" Heinrich Zillich, der Geschrieben hatte:
"Ich habe einige Jahre lang die Lebensgeschichte meiner Schulkinder verfolgt. Eine Bücherei wurde daraus. Ich wollte sehen, wie sich Familien sondern und verkreuzen, wie es dem Deutschen hierzulande ergeht. In den deutschen Dörfern und in den alten städtischen Familien ist es sauber und klar, aber wo die Deutschen nur vereinzelt sitzen, gehen sie unter.
Nachforschen nach soviel deutschem Untergang?  Seitdem ich die deutschen Truppen sah, bin ich ruhig. Was sind die großen Heldengesänge der Vorzeit? Gegenwart ist es... Unsere Gegenwart. Wir weinten und lachten, jubelten und beteten, als wir sie sahen. Du bist im Krieg ein Mann geworden. Ich könnte meinen alten Lehrstock aus der Lade nehmen und jeden durchprügeln, der im Hinterland ein einziges böses Wort gegen die Soldaten sagt. Ihr werdet einmal zurückkommen und Ordnung schaffen!
Die Besten fallen!"
Das lasen sie alle mit Begeisterung.

     Vater schlägt nicht mehr zu, Ferdi auch nich. Und keine Rut der Schule, Spanisches Rohr, Rohrstock, im Schrank neben der Kreide, Herr Lehrer Finf, hol sie, hol sie, hol dich der Teufel, schreit die Rute Flaiusch, Flaisch, pfeift durch die Luft, ihr Limmel. Sagt diese Stimme über meinem dicken Kopf am Wassermund, der wächst und wächst und wächst, bis er einmal zerplatzt. Aber Propheten gibt es keine mehr, sagt Onkel Daniel an der Orgel, spielt einen hohen Ton, Bach. Hörst du es flöten? Ich werde dir Flötentöne beibringen, daß du Wasser verlangst und blaue Striemen. Und der eine Großvater schrie den andern an, und eine Mutter die Großmutter, und grün und gelb im Gesicht, und Zittern am ganzen Leib, und Vater und Mutter, und wenn alle aufeinander eindreschen, alle, dann gibt es diesen Krieg. Jetzt kriegen die Engländer ihre Dresche von uns, und dann kommen die Russen an die Reihe, jetzt, im Großen Jahr, ganz bestimmt.
Wenn ich nicht die Wahrheit sagen will, dann gibt es Haue, aber kräftig, sie aber, sie aber haben alle ihre Heimlihkeitn, und lügen. Ein gewisser Tiresias könnte Aufschluß geben, sagte Onkel Daniel an der Orgel. Hörst du es flöten, die Sphären am Altar? Als wäre es ein Hochzeitstag, Hochzeitmarsch und Hochzitsnacht. Und dann sitzt die gute Mutter, wer ist die gute Mutter? – am Fenster, draußen schneits, Flocken fallen, leise rieselt der Schnee, weiße gute Finger klopfen klopfen auch ans Fenster, ans Thermometer, dann wieder Nähn, Stricken, Kreuzstiche, da sticht sie sich dann in den kleinen Finger, oder ists der Ringfinger? Es tropft ja, Blut, rinnt, tropft auf den Schnee wie einst bei Schnewittchen, so weiß wie Schnee,  so rot wie Blut, so ein Kind, Schneeweißchen und Rosenrot möchte ich haben, jaja, Blut ist ein ganz besonderer Saft!  
Und wächst schon der Bauch. Und sie kriegt dann ein Kind vom Heiligen Geist oder wem? Vom Blut? Als aber der Jung zur Welt kommt, stirbt meine Mama vor Freude und ich bin eine Waise. Und Vater heiratet eine ordinäre Person, eine Stallmagd , und so kommts zur Stiefmutter. Und wer ist der Vater?  Bei den meisten Kindern ist das so. Und dann machen sie ein Nebenkind, eines mit der rohen Person, ein Mädchen vielleicht, das sie gefutzt haben, im Bett, ich habs auch gesehn, da liegen sie aufeinander, da balgen sie sich in den Pölstern und kämpfen und weinen und schreien und zittern vor Angst, Vater haut sie, und sie beißt. Blut und Schweiß ists. Vor allem Blut, das rinnt ihr den ganzen nackten Leib herunter. Das hatte ich gesehn, die dachten, ich sei eingeschlafen und war doch wach. Wieder so tun, als wären sie oben und rein, als wären sie die reinen Unschuldsengel, immer beherrscht und nobel und ganz fein. Und nur wir die Wastel  




                                        VIII    





„Aber wir in unserem kleinen Nest,“ sagt Mama, „jetzt sind wir ja frei, ihr Körper ist bewegt, und singt, daß ich meine, wieder ein Kind zu sein:
„Afa der Gaß do stieht en Bank
net ze kurtsch uch net ze lank
awer fier en wevelen zwinzich
dennich net ze klinzich!
Awer fier en wevelen zwinzich
dennich net ze klinzich!


Daß der Mensch kein reines Instinkwesen sei, uständig senj, uch de Pflicht, das war das wichtigste in jenem Nest. Ech werdn schien aus dir  enen uständijen Menschen machen, schrie Vater, wenn er mich prügelte.
Nichts wissend freilich damals, ausgesetzt, unten liegend, der Riemen sauste. Nur strenge Blicke von überall her, wenn das „Instinktwesen“, der Wastel, die Strömung über mich kam; dann  blitzte das Wasserblau Vaters mich an, und Otatas Grau dazu.      
              
Die Küche roch nach Ruß und Rauch und Holzfeuer. Heimat deiner Sterne wurde gesungen. Gelb die Himmelschlüsselblumen am Hang. Und eine Glocke schlägt 
Es war ja viel losgewesen zwischen dem 19. Und 21. Juni 1941. Die Bannspielschar gab ihren Bunten Abend mit Liedern und Volkstänzen und dem Komiker Pancratz. Die Klavierschule Rechner-Plattner gab am 19. ihren erfolgreichen Vorspielabend. Der Musikverein feierte; es gab den Tätigkeitsbericht für das Jahr 1940; ein großes Jahr, in dem unsere „Volksgruppe“ gegründet worden war durch den großen Andreas Schmidt, unseren Volksgruppenführer. Das Bischof-Teutsch.Gymnasium hatte seine Abschlußfeier für 235 deutsche Schüler und 8 sonstige. Im Corso-Kino lief der Film „Herz, modern möbliert“ mit The Lingen, Im „Apollo“ „Was will Brigitte“. Von den Apotheken hatte die „Engel-Apotheke“ Dienst (bis 28. Juni). Eine Luftsschutzübung wurde abgehalten: Sirenengeheul – aber kein Ernstfall.
Niemand wußte, daß der Führer in derselben Nacht keinen Schlaf finden konnte: Es stand auf dem Spiel: SEIN Lebenswerk; SEINES  Volkes Existenz, die Existenz ganz Europas, ja, der Welt. Den Atem würde die Welt anhalten, wenn im Morgengrauen des 22. Juni mehr als drei Millionen Soldaten auf SEINEN Befehl zum Angriff gegen die Russen antreten würden, die größte Streitmacht aller Zeiten: Zwischen Finnland und dem Schwarzen Meer mit: 1200 Flugzeugen, 3500 Panzern und 7400 Geschützen. SEIN einsamster und schwerster Entschluß.

Der 22. Juni war dann turbulent auch in unserer Stadt; Vater ging morgens ins Geschäft, auf dem Weg hörte er, daß es Krieg mit Rußland gebe. Die öffentlichen Gebäude in der Baiergasse waren schon mit Staats- und Hakenkreuzfahne beflaggt. Er wunderte sich, daß einige Leute freudig erregt zu sein schienen, und daß immer mehr Leute auf der Straße zu sehen waren; auch an vielen Privathäusern wurden schon die Fahnen gehißt: Um halb zwölf Uhr Mittags bgannen alle Glocken zu läuten, und ich sah, als ich aus der „Kindergruppe“ nach Hause kam, eine Kompagnie Soldaten zum Marktplatz marschieren, und ich lief dann wie jedesmal mit den anderen Kindern hinter dem Spielmannszug her; ich dachte, die blasen wieder den zackigen Marsch, doch diesmal wars das Deutschlandlied und die Königshymne. Und die Leute sangen mit, einige freuten sich sehr. In der Kindergruppe hatten wir kein schöner Land in dieser Zeit“ gesungen, und der Konrad und der Rick hatten sich wieder mal geprügelt, um zu sehn, wer der Stärkste ist; im Sand wurde mit Panzern gespielt.
Zuhause aber war die Atmosphäre gespannt. Vater hatte die Einberufung zu seinem rumänischen Regiment nach Râmnicul-Vâlcea erhalten, und Mama weinte; Onkel Andreas und Onkel Hermann waren schon im Reich in der SS; man richtete sich wieder auf, als abend der Führer im Radio sprach, er schrie zwar ein wenig, doch die Erwachsenen waren alle tief ergriffen, saßen vor dem kleinen erleuchteten Fensterchen zur Welt in Otatas Schlaf- und Esszimmer vor dem Telefunkengerät: DEUTSCHES VOLK! NATIONALSOZIALISTEN! VON SCHWEREN SORGEN BEDRÜCKT ZU MONATELANGEM SCHWEIGEN VERURTEILT, IST NUN DIESE STUNDE GEKOMMEN...
Schon in der vergangenen Nacht hatte meine Oma, die Mitzmother vom Führer geträumt; und die Frau Sturmn, die in der Wohnung Parterre unter dem Gang wohnte, die dickliche Nachbarin, die wie ein Fettklößchen aussah, hatte ihrem Herzallerliebsten, dem Führer aus dem Reich, im Traum einen Feldhasen anbieten wollen. Das gehe aber nicht, hatte sein Adjutant gesagt: Es müsse wenigstens ein Löwe oder ein Adler sein! Wenn sie etwas anbieten wollen, gute Frau! Und dann  hatte sie sich einfach für das Köstlichste, etwas Siebenbürgisches entschieden: Evanghelische Hendl oder gefülltes Kraut mit Schweine- und Rindfleisch, ganz nach Beleiben und Wahl, gustös beides. Er hatte das Kraut gewählt, und hatte sich dann das süße Bärtchen genüßlich geleckt.
Der Führer redete noch immer im Radio. Und draußen marschierten die Schüler der oberen Klassen des Gymnasiusm mit ihren Professoren vorbei, an der Spitze aber die Blasia, die Ich hatt einen Kameraden spielte! Und man hörte Sieg-Heil-Rufe auf den Führer, auf Marschall Antonescu und S.M. den König Michael I.

Ich sehe mich mit verträumtem, völlig abwesendem Gesichtsausdruck auf dem Albersträßer Kinderrichttag im Sandersaal, scheu, timid, Einzelgängerkind, aber dann auch „Wastel“, der seine Geschwister kommandierte, schickanierte, und ihnen Gruselgeschichten erzählte, sich an ihrem Bibbern erfreute. So einer war ich also. In der Schule, der Knabenschule mit dem großen Hof und der Turnhalle, der steilen Treppe in die Klassenzimmer, beim Lehrer Sattler „Finf“, so gnannt, weil der „jetzt alle finf“ kommandierte, und uns mit dem Rohrstock die „Kiewel“ heiß schlug, Au, Au. Bitte, bitte nicht!, glänzte ich nicht, hatte mein schlechtestes Zeugnis der ganzen Schulkarriere, so daß meine Mutter heulte, daß sie solch ein Idiotenkind als Ältesten zur Welt gebracht hatte! Ja, ich war immer absent, nie dabei, wußte nie worum es ging, verträumt, weggetreten. Eben ein Maku! Und meine Kniewel waren oft rohrstockheiß.
Und 1941 war einer der kältesten Winter des Jahrhunders, - 35°, mein Vater im Krieg in Rußland, er kam mit seiner rumänischen Autokolonne bis nach Stalingrad.

Dann kam jene „schwere Zeit“, wo es WHW und Eintopf, und schwarz­umränderte Traueranzegn gab, und Heldenmütter und Heldensöhne. Meine Mutter und  Minch, deren Mann als rumänischer Oberleutnant auch an der Front war, zwurnten, weinten oft, und sangen in der Küche: Es geht alles vorüber, es geht ales vorbei!/ Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai!

Unvergesslich bleibt mir, wie Vater einmal nachts plötzlich da war, auf der Durchreise, stank nach Tabak und Schweiß, Roszi die Hände über dem Kopf zusammenschlug: „Joi as ur! alles so übernächtig, und er gerührt „Kändchen, Kändchen“ murmelte, mir über den Kopf strich.

Deutsche Truppen auf dem Marktplatz: Vor der Apotheke "Zur Krone", Gewehr bei Fuß. Ich ging mit dem Großvater da zur Ecke an der Gewerbebank, dann den Gehsteig am Geschäft vorbei. Es ist gerade Sonntag. Am Samstag dürfen auf wir marschieren – im Kindergarten. Morgen ist Sonntag, da fliegen die Engellein. Man bemerke die engellein erst, sagt die Tante: wenn die fort sind, so heißts; daher hat noch niemand eins gesehn. Am Trottoir im Hämchen marschieren wir also dann am Samstag, stampfen kräftig auf, sehr, und auf dem Kanalabflußdeckel besonders, das geht so bis ans Ecke zur Konditorei Martini. Da werden wir alle von Tante Berta verabschiedet und entlassen. Grüß Gott, Tante. Grüß Gott.
Unser Dr. C. aber, der Apotheker von der "Krone", der wurde assentiert, vom Dr. Weindl  in Hermannstadt; und dann gings gleich nach Wien, von dort nach Berlin; machten sich noch einige gute Tage mit dem Bäcker Pepi, Cabaret und so; und dann gings zum Anlernen ins Zentralsanitätslager Warschau, wo das Ghetto schon ratzeputzekahl geschossen worden war, wie er sagt: Von dort kam er nach Dachau; als Apotheker. Und dann weiter...
Am gelben Zaun stehe ich mit Vater, neben uns der Nachbarssohn, die siebzehnjährige Gymnasiast, der sich freiwillig zur SS gemeldet hat. Vater sagt: Kurti, sie sind doch noch zu jung.
Nein, ich muß. Jeder hat die Pflicht: Befehl des Gewissens; wer sich den schicksalhaften Ereignissen entzieht, ist ein Volksverräter.
Vater geht schnell ins Haus. Wollte nicht madig machen, murren.
Und ich setzte mich mit Kurti in den alten Ford seines Vaters. Der steht in der Garage. Kurti, rothaarig, blaß, ein Primanergesicht mit Sommersprossen, randloser Brille, öffnet den Schlitz und spielt mit seinem rotblonden Dingsda. Faß mal an. Warm und haarig. Dabei sagt er "klutzen", unter die Bank schielen.
Spanische Quitten, Anabis und Tulpen in Zaunnähe. Bei ihnen, bei Kurti von Kuales, im Vorzimmer des Jägers, des Stuhlrichters, hingen Hirschgeweihe. Zimmerpflanzen standen gleich hinter der Eingangstür. Es roch nach Ledergamaschen und Kraut, nach Parfüm. Und die Frau Kuales im Schlafrock sagt: Willst Sissigkeiten, Kleiner?
Kurti zog nach Wien, wurde dort von unserem Obergruppenführer Berger mit Handschlag begrüßt. Die harte Ausbildung; Grundlage für den Fronteinsatz. er kam nie wieder, fiel bei Smolensk. Wenige aus seiner Klasse kehrten zurück. Er war acht Jahre älter als ich.

... die neue Heldenzeit… Zeit, heldehaft und hehr.. Deutscher Wald schwarz, nurs Weizenfeld golden, die Kornblumen blau, wie die Augen der Frauen beim Lieben. Kornblu­menblauuuu…Mädel mein, sag nicht nein. Heute wollen wir marschiern, einen neuen Marsch probiern. Echter Mann, der die Kornblumenblauen verdient Vor der Kaserne vor dem großenTor. So wie Tallo jetzt, Scharführer in der Baracke, 1942 in Neuengamme, sich trösten und vom Heimweh kurieren muß... Städtle hinaus, Städle hinaus, und du mein Schatz bleibst hier. Konnte es kaum aushalten, wenn der Spieß ihn schrecklich buserierte, ihn Strafexerzieren ließ. Wenn i komm,  wenn i komm, wenn i wiederum kommm… Es ist so schön Soldat zu sein… Roosemarie! Hatte eben oben im Reich geheiratet, zum Trost. Ein Mädchen ganz  in der Nähe von Neuengamme, Zufallsbekanntschaft, die Liesl aus Bergedorf. Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Es wird noch einmal ein Wunder geschehn! Jaja.  Aber der Spieß buserierte weiter. Und schrecklich diese abgemagerten Gestalten im Lager. Viele Tote. Immer wieder Gehängte. Die Schwarze Wand auch. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst, Rosmarie... hier oben nah vom Sgaerack und dem Kanal. Keine Angst, keine Angst, Rosmarie!
Und schrieb nachhaus, schrieb ungern, doch linderte es das Himwih. Sie saßen als die Post kam im großen Herrenzimmer im Kreis und Mama las den Brief vor, Mama entzifferte mit Mühe die großen ungelenken Schriftzzüge, und alle waren aufgergt hatten gerötete Wangen, schließlich kam der Brief von oben ausm Reich. Heilig Vaterland…: „AO, 2 . August. Ihr Lieben! Habe den Familienbrief über Hansonkels 50. Geburtstag erhalten und die 5 ´Großkokler Boten`. Ich jabe mich sehr gefreut darüber und im stillen Gedenken an den Baumgarten, die Familie u. die beiden Feste, die  aufgefahrenen ´Genüsse´ vermißt. – Meine Arbeit hier ist sehr interessant und macht mir viel Spaß, nur leider muß man auch viel Wache schieben u. zwar in ähnlicher Art wie unser Andreas, und das gehört so ziemlich zu den ermüdendsten Angelegenheiten und so gilt ein entsprechend erhöhtes Schlafbedürfnis, nur so, daß ihr nicht zu sehr über meine ´Schreibfaulheit´ klagen sollt! – Andreas schrieb mir vor kurzem um Auskunft. Er will sich Studienurlaub geben lassen u. da mußte ich mich hier erkundigen, weil sie dort, wo er ist, nichts davon wissen wollen. Ich habe mir dann hier von einem Führungsoffizier des Batt. die genaue Bestimmungen geben lassen, auf die er sich berufen kann und auf Grund derer es ihm als Kriegsversehrtem unbedingt zusteht. Hoffentlich klappt es, daß er endlich von Auschwitz loskommt…
Soldaten sind Soldaten in Worten und in Taten, und kenen keine Lumperei, Valleri, vallera jucheissas, Roosemarie!
Ja, sagte Großvater, von Auschwitz schon gehört, da waren wir auch, Großherzogtum Krakau und Herzogtümer Auschwitz und Zator. Ach, Galizien. Weviele Fleischwunden, brandige Stellen nach der Schlacht, das Schreien der Pfede und der Verwundeten. Das wußte aber Tallo, der Karl Wilhelm hieß, nicht mehr, er war ja ein Kriegskind, der Arme, war anfällig und nervattich, er schrieb am nächsten Tag aus Neuengamme: „AO. 5. August. – endlich komme ich wieder dazu, den Brief zu Ende zu bringen. Gleichzeitig schicke ich die Gropßkokler an Hermman weiter. Inzwischen hat sich leider herausgestellt, daß alle Hoffnungen bezüglich des Wetters vergeblich waren, denn es ist auch am nächsten Tag das alte Sauwetter ausgebrochen u. heute sogar empfindlich kühl. Der Sommer kann übrhaupt keine Stunde sein. Wegen des Wetters hatte ich Schnupfen, doch das neue Mittel hat gnützt, meine Nase funktioniert wieder anstandslos u. vor alem der riesige Schnupfen ist nun endlich weg. Wenn ich auch noch nicht so tadelos durch die Nase schnüffeln kann, wie ich es mir wünsche. Ist der Gerhard F. tatsächlich schon  Obersturmführer geworden. Der hat Glück gehabt. Übrigens der Tommy war einigemale hier. Es ist aber bei weitem nicht so schlimm, wie ihr es euch vorstellt.- Mama soll sich jedenfalls, was meine wertvolle Wenigkeit betrifft, keine unnützen Sorgen machen, hier sind wir ungefährdet und haben auch gute Luftschutzkeller. Richtet bitte all den unterschriebenen Onkeln, Tanten, Vettern, Cousinen, Nichten und Neffen usw. Meine herzlichen Grüße aus. Es grüßt euch alle vielmals euer Tallo.“

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß. Hat ein Brieflein im Schnabel, von der Mutter einen Gruß.
Und muß doch lügen, ist Pflicht. Muß alles stramm zugehn, und Oberscharführer Heintze hats übertrieben, da hat er seine Wut ausgetobt, da er doch in Braunau am Inn geboren, und der Oberleutnant Müller ihm befohlen, zu Führersgeburtstag eine Rede zu halten, und ist blamiert, niedergeschlagen, suchte zuerst im Hemd Läuse.  Dann aber Stahlhelm auf.  Und einen Häftling genommen, einen aus diesem gräßlichen Elbkommando, mußten den Kanal ausstechen, schwankten wie Schatten unter Schubkarren, schwitzten kaum noch, halbverhungert, schwer mit Schlamm geladene Schubkarren, zuhaus gabs sowas nicht, auch wenn Tata hart umging mit uns, die Knochen wehtaten, immer dies Schuften, aber hier brachen sie zusammen, starben, und Heintze nahm einen: Los, du Schwein!  Nahm ihm die Kappe vom kahlgeschorenen Schädel, warf sie jenseits der Postenkette.  Los, hol die Mütze, du Schwein.  Und der mußte laufen, wurde von den Posten natürlich auf der Flucht erschossen.  Das war äh, nur ein Spiel hier, aber gräßlich.  Ich schau nicht hin.  Doch das Knalln und den Schrei hörst du doch.  Menj Läwen.  Und der Schädel ... da tauchen einige Tote auf Urlaub auf, halbseitig nur geschoren, das aber heißt, sie kommen in den Bunker, werden erschossen ... der Arestbunker, da schleich ich mich vorbei.  Da mußten wir die Russen reintreiben, es waren vierhundert.  Und man munkelte "Testpersonen", so sagte der Müller, Test, ein neues Mittel, Blausäure, heißt Zyclon oder so.  Das war im November 42, ganz am Anfang, ich war erst einen Monat hier.  Soll ich das vielleicht Mama schreiben?  Muß sie doch schonen. Ist ja auch streng, unter Strafe verboten.  Geheim.  Soll ich das der Familie nach Haus schreiben, mit dem Gündisch...
Der arme Tallo.  Seine interessanteste Tätigkeit blieb das Stollenbauen mit den Häftlingen, da war er nach Buchenwald bei Weimar versetzt worden... 1945 im März. ER war ja Tiefbauingenieur: Stollen bauen  und darin die Bunker sollten die Geheimdokumente des Reiches aufbewahert werden... für aale Zeiten, ein ganzer Papierberg im Kyffhäuser, und das Papier erblühe nun, Testament für die nächsten 1000 Jahre.  Kein schöner Land.
Im April 45 wurde Tallo bei Hottelstedt von jüdischen Häftlingen erschlagen.  Er und seine ganze Geschichte liegen dort unter einem einfachen Holzkreuz begraben.  Helm auf dem Kreuz.  Und der Kopf unten, die Erde.
Andreas aber kam aus Auschwitz nicht frei, doch blieb er am Leben, und seine Geschichte geht weiter, während die Erde dauerhaft ist, keiner weiß mehr, ist die Geschichte zwar auch dauerhafter als man annimmt, beständig, doch weiß sie allein, was sie nicht will, nämlich uns.
Achtet im Irren
euch nicht zu verwirren,
denn Morgen oder schon
heute Abend kehrt ihr zurück
ins Licht zum Jüngsten Gericht.
Hatte noch aus Neuengamme bei Hamburg, der arme Donner,  der Tallo, geschrieben, Neuengamme: wo er auch seine Frau kennengelernt hatte, Neuengamme, nie alteriert, eine Aliteration - linkerwerk, KZ, Konzern, Kriegswirtschaft, Krematorium,    Knast,    nur   die    psychiatrische Klinik fehlt zur Vollständigkeit.  Heute ist da ein Schilderwald, als     ich mit Jann auf dem Weg nach Sylt,  Karl Wilhelms, also Tallos, Frau (sie ist reiche Reedersfrau geworden) in Bergedorf besuchte, sah ich die roten Klinkerbauten, Teerweg, der Schilderwald, darunter FA.  Hermann Sparr & Co. Verfallene Lagerbauten, Stichkanal auch zur Elbe, wo Häftlinge durch Arbeit getötet wurden, das alles ist hjetzt mit Segelyachten besetzt, die da herumdümpeln, Hamburger Gutbetuchte spannen hier aus, ob sie das KL interessiert?  Ach, was, ein alter Hut, sagte einer, als ich den Folgen dieses Satzes.  Deutsch nachging.  Fachkundig erzählt einer von seiner Törn nach Dänemark, ob er den Fliegenden Holländern und Geistern begegnet sei?  Die hielten das für einen Witz, lachten dünn.  Deutsch.  Im Satz aber schreit ein Häftling auf dem Prügelbock, nacktes bluttriefendes Gesäß, zerfetzt, ein anderer stirbt beim Pfahlhängen nahe der Elbe mit ausgerenkten Armen, Heilig Vaterland in Gefahren, verurteilt, weil er sich bei der Arbeit hingesetzt hatte, ein Holländer, der :fatale Schwindelanfall hatte ihn gepackt: schwarz vor den Augen, Schwärze dann für immer.  Deine Söhne sich um dich scharen.  Der Kopf sank ihm auf die Brust, immer der Kopf.  Neuengamme ein riesiger Konzern von nationaler Bedeutung, schrie ihn Müller an, und du Schwein muckst auf, drückst dich, das ist Sabotage!  Bevor ihm die Arme ausgerenkt wurden, gellte noch diese Menschenstimme ihm in den Ohren, Kehlkopf, Stimmbänder, meine Stimmbänder, meine Arme, deine Arme, Kugelgelenk, Schultergelenk, Knacken, weh taten sie schon beim Strafkniebeugen, ausgestreckt, bleischwer, ging es damals vielleicht Tallo durch den Kopf: die Bergschule, und Arbeitsdienst hart wie Kruppstahl bei Kaisd, Fliegender Holländer stirbt, keine Kindermär. 12 Stunden schuften die hier, beim Postenstehn fallen mir die Augen zu.  Schwärze.  Reibt sich das Schultergelenk. über 70 Nebenlager.  Sehr kriegswichtig.Und ausgeliehen das Menschenmaterial, Tagesmiete 4 Reichsmark bei Blohm & Voss.  Deutsche Wertarbeit.  Blessing.  Continental.  Deutsche Werft.  Hanomag.  Volkswagen.  Und daß, wenn man "Heil Hitler" sagt, geht ihm durch den Kopf, noch ists keine Kugel: man es gar nicht selber sagt, sondern ganz wer anderer, und man so dasitzt und Läuse sucht, man sie in einem Hemd sucht, das gar nicht mein Hemd ist, und doch näher als der Rock, und daß gleichzeitig irgendwo ein Mensch mit Stahlhelm und grauem Rock herumläuft, der wo eigentlich man selbst ist, und Verantwortung tragen muß für ...

Ein Gefühl des Grauens, fieberhaft arbeitet es in dir, du lebst noch, träumst, faßt deine Hand an, sie krümmt sich ins Fleisch, beißt knirschend die Zähne zusammen, das kann doch nicht sein, du bist es nicht, du träumst, du wirst gleich erwachen, wie du auch aus den schrecklichsten Träumen erwachst, als sie dich in einen Schacht, brunnentief, ohne Ausgang und Nahrung und Wasser, ohne Leiter und Stricke, ohne Licht und Stimme, keine Nähe wie zuhause, alles hier fern vor Enge, kein Laut, denn es liegt innen, wenn du rufst, verbrauchst du die letzte Luft …

Ich meinte, aus diesem Gefängnis, genau wie aus meinem mich eng umschließenden Körper, nicht mehr herauszukönnen... als ich erwachte, wurde mir klar, wo ich war; ich rannte hinaus in den Garten des Holzmarkthauses, um diesem Fleischsack zu entgehn, sah aber um mich wieder nur noch eingesperrte: Bäume, Blumen. Wenn es jetzt in diesem Erinnerungshaus noch so weitergeht, drehe ich durch. Und stellte mir vor, wie wir immer kleiner und kleiner werden, enger und enger der Schacht uns umgibt – winzig, bis wir darin zerdrückt werden. Seit der Kindheit hatte ich sie gehaßt, diese Körper-Illusion. Etwa bei Tisch; rote Zwiebel, Käspalukes, Familienfeste, Geburtstage. Fressen, immer wieder Fressen, alles eine sich wiederholende Anekdote, im Detail sich selbst erzählend: Zeit vertreiben, die uns so durchgeht. Die Magd reinigt das Schlaf- und Eßzimmer, alle Böden glänzend, Parkett, voller Geduld, die Fußtritte löscht, mit denen wir auf einem nicht vorhandenen Boden stehn: Damit er mit ihrer Sklavenhilfe uns von Gott erhalten bleibe, immerzu für unsere tierische Bequemlichkeit. Ihr hatten keinen andern Gott mehr! Seht nur die Oberfläche. Glaubtet an nichts anderes mehr als an euren sächsischen Kleinsinn – hätte ich Mama am liebsten in die Küche nachgerufen, als sie im Sommer in Aliano gewesen war. Da hatten sie immer über das Mittagessen geredet, die beiden Frauen! Weißt du, was mich am meisten geschockt hat, sieh hier, sieh eine Vermischung , wie sie diesen Tagebuchaufzeichnungen, die ich in unseren Familienbriefen fand, zu entnehmen ist. Krass ists zusammengebracht, was heute räumlich getrennt ist.


Komisch, heute Nacht hatte ich von Italien geträumt:
Ich war an Kanälen entlanggegangen ans Meer, verbissen, stumm. Der Serchio neben mir. Und ich erinnerte mich plötzlich an den gleichen Spaziergang hier mit Jann: doch schon damals kam das Echo nicht, als Jann fragte, erinnerst du dich noch, vor einigen Jahren waren wir auch hier an der Pineta, am Serchio entlanggegangen, lauter Fischer saßen da am Ufer. Kein Echo mehr, nein. Als wäre die Seele ausgelöscht.
  In der Nacht dieser Traum: Ich bin allein in einem Labyrinth von Kanälen und Kanälchen wie in Venedig, gehe einen Kanal entlang, komme in ein Gewirr kleiner Gassen, springe mit einem kleinen Jungen über einen seichten Kanal, man sieht den schlammigen Grund, ich sehe auch das Pflaster genau, es sind Katzenköpfe von zu Hause aus S. Drüben wie die rötlichrosa Brücke und Sandstein in mir. Ich bin jenseits, aber noch kein Toter. Mit dem Jungen gehe ich in eine dunkle Treppenhöhle, da steht die verstaubte Kiste meines Großvaters mit dem Pferdegeschirr, dem Zaumzeug, dem Ledersitz, mit dem fuhr er über Land. Der Landarzt. Es riecht nach Formol und scharf nach Karbolineum. Am Geruch entlang wirds immer enger, ich muß schließlich aufwärts kriechen, oben ist Licht zu sehn, und plötzlich eine Stimme; du hättest mir aber auch einen bequemeren Weg bieten können. Ich sehe das strahlende, lachende Gesicht von früher, es ist Maria von Licht umrahmt, sie fasst mich an der Hand und zieht mich schnell aufwärts, da war ich plötzlich draußen. Ich hatte Angst im Foltergang von S. zu sein, und der kleine Junge, ich selbst also, war verschwunden. Doch Ruth beruhigte mich lachend, so etwas gäbe es gerade dort nicht. Und erwachte HIER. Wußte sofort, daß ich damit endgültig etwas verloren hatte.
     Eine Stimme          auch jetzt, wie bei allen entscheidenden Augenblicken; sie schildert das offene Fenster, und nur in der Kindheit, sagt sie: und im Traumzustand sind wir uns jener Freiheit bewußt,  zum eigenen Wesen  und zum innern Bewußtsein gehört, das sich auf die Existenzweise zubewegt, in der ich mich jetzt befinde. So ließe sich auch jene jahrelange Sehnsucht "heimzukehren" erklären. 

Am Morgen das Rauschen der Dusche; als wäre es das erste, das allererste Wasser  von zu Hause  als Kind, Wasser hat ein eigenes Gesicht, das sich auf der Haut formt, im Ohr, das sich verformt in mir, als würde es in den Bildern wandern, vor allem in den Augen. Und Haut, pergamentartig,  mu­mifiziert. Todes­bewußtsein, wie Menschen  im letz­ten Krebsstadi­um, bewuß­teres Leben, dachte ich... neben dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift: darauf Bad in Lettern, ganz gewöhnlich, man kann es lesen, es beruhigt. Lesen, wie sonst: Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhallen. Auch die Kleiderhaken, lange Bänke, wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper.

     Andreas sah die Nackten, weiß schimmerte das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an der eigenen Hand, der Schreibhand, das hatte er immer angesehen, bei einer Denk­pause, Schreibpause, zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in Gedanken, schreibend. Und Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf den Lippen, man marschiert eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer ein wenig schwächlich. Er hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben alles, hoben auf. Er wußte jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte, daß er einmal berichten müßte, Zeile für Zeile, alles, was am Ende geschehen, wenn es einmal gewesen sein wird, in der nächsten Minute gewesen, nachher: er ein Zeuge, daß es nicht vergessen  werden wird, was geschehen und gewesen war. Auch wenn er es gewollt haben würde, Sehend, Schreiben zu einer Beschäftigung gemacht zu haben, während es geschah, von dem alle wußten, daß  es einmal kommen mußte, nicht so für alle, schon öffnete sich die Tür, er ging, es erleben zu müssen, was hier, wenn der Satz weiter geht, unmöglich ist.
Andreas hatte es erzählt:
Da war doch damals eine gewöhnliche Scheune, zuerst, das ging primitiv zu, anfangs, weiß gestrichen wie ein Lazarett, darin zuerst, wenige Menschen, hineingeführt wie Kinder. Später vier große Blöcke. Menschen fließen dahin wie Wasser, unter blutarmen Bäumchen, angesichts eines verqualmten Waldes, schwere Lastwagen bringen die Menschen, niemand lehnt sich auf, alle ziehen sich brav aus, legen ordentlich ihre Kleider auf einen Haufen, merken sich die Nummer, gehn  zur Tür. Kinder spielen, ein Mädchen nimmt die Stoffpuppe mit. Hier, dieses ist ein Nachbild, ja, eine Seite Papier, nicht angesengt, keine Asche wie bei Zigarettenpapier, der Wulst Asche, Lippe grau, dünnstes Papier, manche schrieben darauf ihre Botschaften, anstatt weißen Rauch...
Es gab auch einen Block, mit einem Puff. Und einen, wo früher getötet wurde, jetzt ein Gong, während die Nackten im "Waschraum" sind, fertig für den Himmel. Sogar ein Dichter ist mit dabei, Fondane  ist mit dabei, er wundert sich, daß er nicht friert, keine Scham empfindet, bei sovielen Frauen, die ihn sehn. Im Waschraum boxen sie. Richtige Boxkämpfe. Und Konzerte, nebenan. Und wenn sie einen normal töten, ihn aufhängen, das ist ein Luxus, da spielt die kleine Kapelle auf.
Neben dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift: darauf "Bad" in Lettern, ganz gewöhnlich, man kann es lesen, es beruhigt. LESEN, wie sonst: Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhallen. Auch die Kleiderhaken, lange Bänke, wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper. Er sah die Nackten, weiß schimmerte das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an der eigenen Hand, der Schreibhand, das hatte er immer angesehen, bei einer Denkpause, Schreibpause, zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in Gedanken, schreibend. Und Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf den Lippen, man marschiert eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer ein wenig schwächlich. Er hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben alles, hoben auf. Er wußte jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte, daß er einmal berichten müßte, Zeile für Zeile, alles, was am Ende geschehen wird, wenn es einmal gewesen sein wird, in der nächsten Minute gewesen, nachher: er ein Zeuge, daß es nicht vergessen  werden wird, was geschehen und gewesen war ...Auch wenn er es gewollt haben würde, SEHEND SCHREIBEN ZU EINER BESCHÄFTIGUNG gemacht zu haben, während es geschah, von dem alle wußten, daß  es einmal kommen mußte, nicht so für alle, schon öffnete sich die Türe, er ging, es erleben zu müssen, was hier, wenn der Satz weiter geht, unmöglich ist...
Nur einer vom Kommando hat es im Kopf, ein Prager, als wäre es ihm bekannt, er sah es täglich, blieb aber freilich , mußte vor der Tür bleiben, eine Eisentür, innen voller Kratzer und Blutspuren, ohne Klinke. Und jetzt sind sie alle im Bad, die Türen werden verschlossen, dachte er nur im Bild, ganz ohne jeden Satz. Sie fürchteten hier etwas auszusprechen, was wirklich war, nur Trösten und Tätscheln und die Notlügen gingen in die Sätze ein, hinein ins Weinen und Wimmern, ein Schrei, wenn das Bewußtsein von einem plötzlich alles davon durchbrach, schrecklich hell wurde, dann sagten sie, man solle sich die Kleidernummern merken, um die Kleider wieder zu finden.

Das kleine Mädchen durfte ein Märchenbuch und seine Puppe mitnehmen ins Bad, eine Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen, seine Oma von Tränen erstickt, tapfer im Lesen, die Stimme überwunden, erstickt lesend.

Auch Andreas  versteckte sich oben auf dem Wachturm in einem Buch vor dem Tod, um das alles so wie es wirklich geschah, nicht sehen zu müssen! Steckte die Nase, sein Gesicht und alle Alp­träume in ein Buch, und sagte auch, sagte es voller Stolz, daß er doch andauernd  auf dem Turm Wachvergehen begangen habe. Weinen, Schreien, aber auch lautlose Stille, hie und da aber Gewehrknattern, wenn einer gegen die Grenze, die mit Starkstrom geladene Stachel­drahtgren­ze anrannte, um vorzeitig  aus dem Leib zu fliehen, Zwang, zu tun, was später geschehen würde, weil es jetzt keine andere Rettung mehr gab, als die wirkliche Rettung, vor der nur ein alter Nebel des Kopfes stand.
     Die andern aber mit dem Totenkopf: Ordnungsbesessenheit und zusammenge­kniffene Lippen. Ihre Taten wären anders nicht möglich gewesen. O Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehn... kam dieser schwarze Feldpostbrief. Das Lied aber, ist das Gegenteil, auch Mutter sang: Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,  und sofort dann weiter: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai.  Biserbricht! Und der RÄCHER ist aktiv. Die Furie des Verschwindens. Uns gibt es seither nicht mehr!!
    
Zu sehen sind nun wie ein Gebirge große Brückentrümmer, ein Trümmerhaufen  nur aus Lettern  und lauter abgeschnittne Zungen, doch alle wollten Ruhm und Ehre, hör ich nun Andreas leise sagen:  verschrieben sich dem Wahnsinn, um zu siegen wohl wissend freilich: wer ohne Ruhm verzehrt sein Leben, der läßt auf Erden keine anderen Spuren als Rauch in Lüften oder Schaum auf  Meereswogen...  Und was ist das für ein verfluchter Kerl, da redet wie ein schnarrendes Bandgerät, hat lauter Zahlen, Preistäfelchen auf dem Rücken und ist von wirbelden Geldscheinen umgeben ... Wort für Wort  radikal ausreisen müs­sen, zurück ge­nommen, wie eine Scham.  Doch im Schreckenstraum der Nacht:  da setzte ein Sog  ein, ein innerer Wirbel, Michael wurde fortgerissen: Durchblitzen vieler heller Szenen, als würden meh­rere Filmsequenzen  übereinander kopiert: Und so­fort kam schon der nächste Sog:  "Eine Brücke  vor mir und sie forderten  mich auf, über sie hin­weg zu gehen zum andern Ufer, zum andern Ufer,  die Brücke wieder wie ein Rasier­messer scharf, kaum über den Bach, der tönte, sofort verstummen mußte, so fein das Vibrieren, die Brücke aber ein Haar.  Und ich faßte mir ein Herz, ging auf die Brücke zu,  daß der Sog mich faßte, und ein Schwindel drehte mich, ungewohnt die Nerven, das Auge und Blumengebüsche,  dazwischen  starker Duft,  ein anderes Blenden, wie ein plötz­licher Reflex der Sonne auf ei­nem Fenster oder Spiegel, weißgekleidete Leute,  einige nackt und haarlos, und diese schienen zu schlafen, und sich um die eigene Achse zu drehen, es waren unendlich viele, alle sphärisch in Kreisen angeordnet,  im Riesentunnel die nackten Leute, und ich sah auch  an mir herab, sah, daß ich ebenso aussah, die Haut glatt, der Körper seltsam jung, und kaum der Körper des kranken Terplan, und gegenüber diesen Myriaden  von Toten (in Tausenden von Jahren ge­storben)  gab es einige Weißgekleidete, die weder gehn,  noch stehn konnten, sondern schwebend vor Leichtigkeit, kör­perlos wie ein  sichtbarer Gedanke  geworden waren, ein Hauch jeder,  und jeder seine licht­durchglänzte Wohnung, eher goldene Ziegel, am Ufer aber einige vom Gift berührt ... 

Und alle Toten nehmen immer zahlreicher  Kontakt mit uns auf. Auch die Kriegstoten. Ich höre doch immer noch Georgs schöne Tenorstimme, und er sagte wieder: Hierst tea mech, Mächel. Und dann auf Deutsch: Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. Und Kurt, unser siebzehnjähriger Nachbarssohn, sagte fast heiter: Hallo, hier Totenfunk. Be­denke, ich bin. Und Dein Vater hat damals recht gehabt. Wir hätten uns nicht melden dürfen! Meine Mutter ist vor Kummer gestorben. Du weißt es.
     Ja, ich weiß es.
     Und ich sehe plötzlich seine Mutter, die Frau Kuales, vor mir: Eine Frau mit aufgelösten Haa­ren und bitterem Mund, sie singt ein Lied aus einer Dachluke des gelben Nachbarhauses,  ihr Wolfshund schlägt noch an, Vögel in den Kerzen der Kastanien, weiß, und ich wäre ein Kind, sagt sie, aus den Tränen heraus. Sonne von oben, also Mittag:

Heute nur heute               Nur diese Stunde
bin ich so schön;              bist du noch mein:
Morgen, ach Morgen        sterben, ach sterben
muß alles vergehen!         soll ich allein. 

      Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem   Holz­kuckuck, der schlug Viertelstundenweise den Tod an: Verneigte sich da­vor, bunt. Und im Sommerhaus der Echte aus dem Wald. Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung. Wie lange noch? Jetzt hat uns die Zeit der Väter, der Großväter wieder erreicht.  Jetzt gehe ich über einen Friedhof; Tausende von Namen, Daten."
      Und dann gleich die Stimme: Wie kann man mit diesen Erinnerungen weiter­leben?               Dazu ganz unerwartet die Stimme von Andreas: "Man kann im Grunde nicht weiterleben, nur an der Oberfläche kann man es, sonst aber fallen wir täglich in unennbare Tiefen. Und das, was als Bild vor mir stehet, geschieht jetzt immer wieder, immer wieder, immer wieder, muß ich es tun! Und ich kann es hier Nie mit gutem Gewissen, wie früher, das schneidet, das brennt, wenn ich, der Frühere es tut.. Mit gutem Gewissen?  Der Zwiespalt ist ein Messer. Ist dieses die Hölle. Am schlimmsten aber, daß ich zusammengesperrt bin im gemeinsamen Innenraum mit meinem Kommandanten Höss.  Und ich kann es  nicht überwinden, aus meiner Seele rausschaufeln: ORDNUNG, dieses Geheimnis nach dem wir suchen.  Wie Ornung entsteht - das größte Geheimnis. Aus dem weißen Rauschen, dem Möglichen, der Überraschung. Doch wehe, wenn Ordnung ein Fertigteil, das Gewesene ist, ein Tick. Und  kürzen so das Leben um eine Ewigkeit. Wie ES dies schon im Sprachdurchlauf schafft, in furchtbaren Wortalchemien, die ja die Macht sind: KL, HSSZPF, RF, SS. Anerkannt sogar vom Papst. Zur Be­seitigung des WELT­ORDNUNGSWIDRIGEN ZUSTANDES, Chaos, die  Aushöhlung und Infektion der Seelen (und Geschäfte), Kampf für den ordnungsmäßen LAUF DER WELT.  Mit dem Kommandanten gefeiert, auch Weihnach­ten. Stille Nacht gespielt. Heilige Nacht, alles schläft einsam wacht. O du Fröhliche, O du Selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Mit dem Komman­danten. Klavier gespielt, um zu vergessen. Lichterbaum, Wunderkerzen, um zu vergessen. Tannenduft. Alles schläft, eiin...saam wacht. Und einer tröstete sich damit, daß er noch denken konnte: Und das FEST als Versuch dagegen. Wie die Musik. Was ist das Ewige: Gegen das Verkommene, Verlotterte, Schmutzige, Unsaubere, Kampf um alles zu vernichten, was verfällt, wir wollten das Lichte, Blonde, wi­der die feuchte Stelle.



                                              IX



          Am nächsten Morgen ein neuer Erkundungsgang. Ich gehe eben durch das Tor des Stundenturmes mit dem Fallgitter auf die Burg, es riecht dimpig, staubig, und der Rost des grausi­gen eisenvergitterten Fensters, ausgerechnet des Folterstübchen, welch eine Schmerzidylle, und geht mir in die Augen... höre die Uhr nun schla­gen, und  es wird vielleicht das letztemal sein. 

O Hämmerchen, Hämmerchen klopfe,       
die Uhr schlägt schon bald zwölf,
die Augen, sie fallen am Ende,
gäw Kraft o Gott hälf.

Und gleich über mir in der Nische des Stundturmes, der Uhr, natürlich als Bild und Frau, dem Himmel näher, dominie­rend: zwei Frauengestalten, in langen himmelblauen Gewändern mit grünen Leibchen, seitlich an den Schultern sich eng umschlungen haltend, die Göttin der Gerechtigkeit, mit der Waag in der Linken, und die Göttin der Gerichtsbarkeit, verbundenen Augs und hochhaltend in den Himmel hinauf das Schwert: und sie wenden alle Minuten ihre Köpfe einander zu, um, wie es hier unter den Leuten heißt, "ein Urteil zu sprechen", als wäre es jede Sekunde, die uns tötet. Aber diese ingeniöse  opera, dieses Zeitwerck gehet noch weiter in der Rafinesse: Zu beiden Seiten der Frauenfiguren schweben aus kleinen Fensterlein in der Rückenwand abwechselnd alle 12 Stunden, zwei Figürchen heraus, das eine mit einem Lichlein auf dem Kopf und einem flammenden Herzen in den Händen, das andere mit einem Stab, oder ist´s eine Fackel in jeder Hand, als wäre es der Todesgott selbst, nein, es ist nur die Nacht, und die andere Figur mit dem Licht und dem Herzen ist der lichte Tag, wie er aufgeht von Osten her, aus dem Széklerland und den Bergen der Ostkarpaten, wo es verrückterweis von Vampyren am Borgopaß nur so wimmeln soll, die doch der Nacht angehören. Aber diese beiden Schwebenden sind noch schöner als Tag und Nacht unseres Buonarroti in  der San Lorenzos Capelle, so schön  wie Michelangelos Vers: El di e la nocte parlano e dichono... Daß Tag und Nacht dem Toten das Leben genommen, er sich aber rächte, so "daß er uns, die wir ihn getötet haben, als ein Toter das Licht genommen und mit seinen geschlossenen Augen die unseren verschlossen hat." So stand es auf dem Skizzenblatt der drei Entwürfe zu Pilasterbasen der Medici-Kapelle... Hier oben aber auf dem Stund­turm ist dann noch der Tambour, der alle weckt, auch die Toten aufweckt, sagen sie hier. So lieben sie ihre Stadt. Hammerschläge alle Viertelstunden auf die Pauke, und alle Stunden Pauken­schläge auf die Glocke unter der großen Laterne, dort oben für alle sichtbar, soviele Schläge, wie das Ziffern­blatt zeigt.
                                     
                                                
Aber da gibt es noch die uralte und immer neue Demut des Todes, die alles löscht und weich verschwimmend, Altes zu einer Grenze bringt. Und haben es in ihrem  fränkischen Dialekt hier so im Volksmund aufbe­wahrt: Wonni wärd´n ech weder kun?/ Wonn de schwarz Rowen weiß Fädderchen hun. Das heißt: Wann werd´ ich wiederkommen, wenn die schwarzen Raben weiße Federchen haben: So ist dann auch neben dem Tambour ein armer Mann mit nackendem Oberkörper und zerlumptem Lendenschurz zu sehen, doch die Beigaben aus den hochgehaltenen Händen hat er verloren, so weiß keiner, ist er ein Bettler oder ist er ein Henker. Und ist die wichtigste Figur. So  ist viel von Abschied hier in Scheszbrich zu bemerken, wie es auch heißt, als bräche etwas entzwei, und ein Weinen ziehe über den schwarzen Himmel, vom Trennen und Weggehn wird viel geredet, auch schon vor und dann noch lange nach dem Schwarzen Tod. 
Am schönsten und ergreifendsten aber sind ihre Waisenlieder hier bei dem vielen Tod und dem harten Krieg  täglich zu sagen:

Menj Schächeltcher senj zerrässen,  
menj Hemdchen äs zerschlässen,
menj Hor verknuddert gor,
menj Uchen wi vun der Zor.

Flech, hieschet Vijeltchen, flech,
än´t gäldän Hemmelrech,
branj menjer Mother en gaden Dach
en so mer derno, wat macht se noch.

Und als habe die Pesttote, die Mutter geantwortet:

Ir Anjeltcher branjd här den Wänjd vur menj Dir!
Schieden wäll ech aus der Wält
fohren wäll ech ze den Fraoen."

Die Toten also sind die Freien!

  Den Umweg aber den gibt es hier wirklich, er führt zum Fried­hof, zur Bergkirche und zur Gruft; er führt am Hause des alten Zeichenleh­rers Donath vorbei, der den Friedhof malte, wie mein Vater, der sein Schüler war, der Umweg, da saßen sie und zeichneten, ein Weg führt daran vorbei, ein verrostetes  Eisengitter, ein Tor, ich gehe da durch, lauter Namen, viele Gräber, ich lese, so denkt noch jemand an diese Menschen, viele Gräber sind vermauert, Erde mit Beton zugedeckt, kaum Blumen, die Verwandten wandern aus, der Friedhofsbesorger hat viel zu tun, wo Deutsch zur Sprache der Grabsteine wird, hat jemand die Namen gefun­den, einmal Transsylvanien,  und stelle mir dort auf einem Stein mein gut lesbares Epitaph vor.
   Steht dieses "Jetzt" aus, steht vor dem Turm der Bergkirche, sie steht, sie wird lange hier stehen, noch lesbar, sie überragt alles, sie ist klobig, zeitfern, und ist doch, als wäre ihr Gedächtnis ein Stück Zeitlosigkeit,
sie, das Gesicht meiner Erinnerung, und sah ja auch, daß die Fenster in der Bergkirche Katzenaugen sind.

     Ich gehe weiter. Der Burghüter Georgi, ein hagerer agiler Mann überholt mich, er fragt, ob ich noch auf den Turm steigen wolle, die Große Glocke und das Panorama sehn, ob ich die Kirche sehen wolle, ja, ich wollte die Kirche sehen, Georgi läßt mich in die Kirche ein, es hallt, und da höre ich die Orgel, ich wundere mich, Daniel ist doch längst tot, und nur er spielte diese Fuge von Bach. Vorn wie immer die vier Evangelisten, das Kreuz; es wird gebaut, renoviert, Georgi zeigt auf die Fresken, ich aber stehe vor dem Grabstein des Senators Mann, und  höre  Stimmen, Freunde, Bekannte kommen hinzu, es ist Sonntag, wir begrüßen uns, als wäre nichts ge­schehen und gewesen; wie aber soll ich dem Senator, erklären, daß ich nicht mehr hier lebe, sondern im fernen Italien, ich höre ihn danach fra­gen... Deiner Sprache, deiner Sitte, deinen Toten bleibe treu... Italien? Ich starre ihn an, als Kind habe ich ihn oft gesehen, und erkenne ihn wieder. Großvaters Geschichten über ihn, sie kommen jetzt wieder, als hörte ich seine Stimme, sie hallt im Gewölbe wider, obwohl er ganz leise, kaum vernehmbar spricht,  es ist schon ein Spaß, denke ich, nehme mein Notiz­buch und schreibe weiter und alles auf:
             
    Dann kommt Georgi, er fragt wieder, ob wir noch auf den Turm wollen, die Große Glocke und das Panorama sehn? Nein. Aber wir wollen die Gräber sehen. Grabstein meines Großvaters, diesen Namen... Georgi war gesprächig. Er sagt, jemand sei da gewesen, mit einem Buch von mir, sagt es, als er meinen  Namen hört, liest auf dem Grabstein meines Großvaters diesen Namen, die Schrift ist sehr verblasst, ich gebe ihm zehn Mark und bitte ihn, sie auffrischen zu lassen, er sagt, ja, ein Leser, so habe er sich vorgestellt, sei dagewesen, und habe die Kirche und  auch das Grab meines Großvaters nach der Beschreibung im Buch "abgegangen", ja, so sagt er, abgegangen. Er habe auch die Familientafel verglichen, die Namen. Und ich sehe jetzt den Namen der Mitzmother, geb. Wagner. Den andern Namen verschweige ich mir.
              Der Name ist das Gewesene. Auch meiner. An ihm hängt das gelebte Leben wie ein Grab. Das Kommende, das offen ist, wird vernachlässigt, aufgehalten. Ist dieses Unbehagen an meinem bisherigen Leben, nein, daran, es fortzuführen, und auch weiter "Heimat" hier zu suchen, ein Bewußtsein des Zeitungerechten? Der Name, die Namen auch Zitate, Selbstzitate wie die Figuren in einem Text? Langsame Zeit, die schal ist, abgelegt, quält, wie das Warten mit der Familie auf einem Bahnhof. Auch hier in S. Hier ist der Schock zu langsam. Und dieses Entkommen nötig. Die alten Toten, die neuen Toten. Als wären sie ihnen überlegen. Scham. Schon bei Vaters Tod hatte ich dies erkannt. Die Revolution als lichtschneller Aufbruch und Schockmoment allein gibt hier neue Dignität, die Begegnung mit dem Toten vom Fernsehen am 21. Dezember 89. Die Alte im Gemäuer.
                     Aber dies Posthume meines Namens, auch dort auf dem alten Grabstein, dem ich entkommen bin, heißt nicht, daß ich ihn ab- legen kann, wohin, in welche Kammer: die Schrift verfolgt mich in den Büchern, die vom Gewesenen und Vergangenen handeln, auch von den beiden, als sie noch lebten, so ein wenig weiter leben, nicht nur für mich. VERWESER also? Was verwest aber, was bleibt? Unbehagen vorerst.
  Die Schrift ist aber sehr verblasst, ich gebe Georgi nochmals  zehn Mark und bitte ihn dringend, sie auffrischen zu lassen. Der Name ist das Gewesene, denke ich und wundere mich, daß ich ihn auffrischen lassen will!  Alles so ruhig, Knospen. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da.
  Als gäbe es eine Beziehung zwischen dem Alterszustand der Welt und der Person. Doch ich habe ihn erst jetzt nach 1989 akzeptiert, das Lang­same, das zu erreichen sei, also das Gewesene, endlich abgelegt. Der Traditionsbruch ist endgültig. Und das Gefühlige, das Zeit braucht, gehört zum Gewesenen. Trauer, Melancholie. Ohnmacht. Unlust. Denn es schien bisher alles bequem geschlossen, lernbar, machbar, planbar, erfahrbar. Das ist aus .
         Wie lange ist der Grabplatz eigentlich gemietet, frage ich Georgi, den Friedhofswächter.
      Noch sehr lang, sagt der: Jetzt ist ja viel Platz hier! Und lacht. Das Grab ist schief, der Betonrahmen eingesunken. Ich sage, wie kann man das reparieren. Er: eigentlich nur, wenn ein neuer Sarg hineinkommen soll, wenn ein neues Grab geschaufelt wird.
     Diesem Grab bin ich entkommen, murmelte ich.
  Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den Händen, ich habe das Grab angefaßt, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Keine Blume auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da. Ich warte, bis alles vergangen ist, dann kommen die Geheimnisse. Hoffentlich wieder. Die Frauen können es besser, auch Jann. Sie spricht zu Hause mit ihren Bougainvilleas. Die Mitzmother mit ihren blaßvioletten Klematis an der Laube. Und Tante Friederike redete mit ihren Zimmerpflanzen beim Gießen gegen die Einsamkeit an: Na, ihr Lieben, wie geht es euch heute, schön, schön, blüht nur, blüht. Und ich seh auf den Turmhahn, denk an ihren Mörike-Vers: "Zuoberst auf dem kleinen Kranz/ Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt. - Rührend.  Wer so schwingen könnt. Und sehnte mich jahrelang danach, in solcher Geruhsamkeit aufzugehen, dachte sie sei hier. Hier ist der Tod im Staub hinaus bis auf die Gasse und den Hof. Ein sehr alter, verrotteter Tod, der auch schon gestorben ist.             
  Ein Loch mit zwei Seiten, der Wind, ein merkwürdiges Geräusch, keine Blätter, die Bäume noch entlaubt, wie Skelette, doch irgendwo zu hören, eine lebendige Stille, Vögel, alles entzogen, abgeschieden, nur Friederike hatte die verlorene, weil zu gewiß artikulierte Sprache verloren, sich im weichen Singen der Luft gefunden, und sie spreche gerne mit ihren Blu­men, sagte sie, als sie noch lebte, die Vasen, hier, das Blumenwasser ist faulig, erneuere es. Wieviele Mütter gäbe es hier, auch ihre Mutter lag wie eine ewige Täuschung hier unter der Erde, wie dicht doch so ein irdisches Auge mache, das Schwin­gen der Atome nicht mal erkannt, ist es ja selbst, als Licht, wie soll es da etwas erkennen, das Erkenntnis sei, rätselhaft, und früher hatte sie Angst vor Geistern, jetzt ein ganz normales Leben, und Mütter, wie die Musik, lassen den Tod nicht zu, der ein Männergeschwätz sei. Jaja, genau so, und Kriege bis Todesstrafen, Vernichtung im Herzen. Du hast es selbst einmal erlebt, wurdest ins Furchtbare gerettet...  Wer aber bittet noch für dich, ein Mutterland? Hörst du den Schlag, ein Sirren der großen Uhr, jetzt sogar die mittlere Glocke, und ein Läuten der Kathedrale, es muß fünf Uhr sein. Ja, die Glocke, die hörst du. Und erinnerst dich: blumengeschmückte Waggons, Freiwillige, hier an die Front gefahren. Männer aus halbgeöffne­ten Fenstern winken, Mütter auf dem Perron, und wie die Bewegung des Zuges den Verlobten, SS-Freiwilligen, da von der Hand des Mädchens los­reißt, und sie schrie, siehst der Zeit nach, die Fahrenden sahen nur noch hinter Glas die Stadtsilhouette, denn das Bild war und ist bewegt, noch immer. Keiner wird je zurückkehren, die Lebenden schon gar nicht, die Toten aber sind  im Augenblick, der nie vergeht... Morgensonne blendet noch immer durch die Blätter des Nußbaumes, Morgengeruch, alles nah, wie der Geruch eines Apfels, Sein Geschmack, Wind, Regen... die Türme der Stadt, wie Schemen, mit dem Rücken nur noch gesehen, dazu eine Glocke wie eine Armesünderglocke  schwer über  dem Land,  55 Jahre.

Winzig und wie ein schlimmer Spaß daneben meine Versuche, die Heimatlandschaft in mir zum Verschwinden zu bringen, liebe Züge: Kurven der Wench, Flußwindungen, Brücken, wie die aus Holz, die Maria-Theresia-Brücke hieß und der alte Nußbaum im Kinderland des Sommergartens, jetzt im Blitz des Vergehens unter der Sonne nur noch ein Skelett, schöne Silhouette der Stadt Schesz-Brich, Schäßburg im Abendlicht: Ein matteres Gelb, verwelkendes Blatt, wie das Rascheln am Boden, Dezemberwinde wirbeln sie noch einmal hoch. O wie ist es kalt geworden/ und so traurig öd und leer, am Schulberg gehst du hinab den Weg vom Tor der Bergkirche und zum Familiengrab des Karl K., der schwarze Stein mit Goldschrift, geschwungen, verschnörkelt, gotische Buchstaben, die Ami unter der Erde, der K.-Großvater ist schon in Deutschland begraben. Der S.-Großvater aber liegt hier, zu Hause, + 1946. Und die Mitzmother neben ihm. Stille, Ruhe sanft. Engel und Jugendstil, Modergeruch und Zypressen, verbrauchtes Blumenwasser, die Bergglocke. Kies knirscht. Die Erde gelb und fett; auf den Bänken alte Mütterchen, zuweilen Liebespaare. Wie längstvergangen ein Windrauschen in großen Linden, gelb, Blätter; die vergilbte Zeit unter den Füßen, Menschenleben, wir alle. Der Ernst kann schnell oder langsam sein. Du kamst und gingst mit leiser Spur! Aus Gottes Hand in Gottes Hand. Ein Stimmchen dazu, ich schnitt in seine Riinde! so manches süße Wort... Einberufung oder freiwillig, Umarmung, Tränen, Blumen auf dem kleinen Bahnhof. Geleise, Dampf, Lokomotive fährt an. Pfeifen, Rattatta. Fort. Kohlengeschmack. Rollen. Ein letzter Blick auf die Silhouette, Brücken. Ziehende Gefühle. Niemehr. Muß i denn, muß i denn zuum Städtele hinaus, Städtele hinaus. Und nie mehr wieder.



   Die neuen selbstgemachten Mauern wachsen um uns zu, die alten aber sind so arg verlassen, wie wir so selber von uns längst verlassen sind, den guten und den bösen Geistern unserer Väter. Und brennend da ein Punkt, kindlich gehütet, doch keiner rührt daran, die Schuld, die Scham, die uns nur andere angetan?

   Vater ist nicht hier, er liegt in A. in Baden-Württemberg auf dem Waldfriedhof, der ist nicht so leer, der ist ordentlich bewohnt mit Schwaben, auch Lebenden. Da kommen sie und gehn, ganz normales FriedhofsLeben und Begräbnisse.
  In der Langertstraße in A. im Appartement der Eltern da sehe ich uns sitzen. Wir sehen Fotos an, Lichtbilder am runden Tisch. Schön, wie die aufbewahren können. Röntgenbilder der gelebten Toten, da. Wer ist da? hör ich Mutter. Ein verwackeltes Jugendbild des Toten, der es damals noch sehen konnte. Zum Schießen, sagt sie, und alle lachen. Und Vater nahms in die Hand, fuhr mit dem Finger über die Ränder: Phantastisch, und es ist unfaßbar, daß man Erinnerung jetzt so zurückspulen kann. Struwwelhaare hattest du. Aber jetzt hab ich keine Struwwelhaare mehr, sagt er. Du warst eben jünger...  - Einzig die Rührung ist am Platz, hier, denkst du jetzt: aber die ist ja nur ein Hauch, ein Nichts, das vergeht. Und das sind die Großeltern, sagt er. Wie alt waren sie als sie starben?  74. Das war Vaters Stimme: Sie sind in Schäßburg begraben, dort wo die Heidelischen wohnen....Pause, großes Gelächter. Vater vor allem, lacht, lacht, Tränen rinnen über sein kleines Gesicht. Korrigiert sich: wo die Heidelischen begraben sind! Diffus, verwischt, wie der Familienalltag: Jetzt. Inmitten dieser Fotos, Haufen von Bildern  toter Leute. Komisch ists schon, wie wenig ernst wir das nehmen, und tun so, als lebten sie noch. Leben sie? Zwischen den Fotos eine alte Ansichtskarte meiner Schwester: Lieber Tutsche, liebe Mutsche, viele Pussi von Maus. Familienjargon. Oh, diese schöne Nähe. Das war dann vorbei, als alle frei und oben waren.
      Traurig und unsicher war Mutter am Anfang in Deutschland, und eine Schmollfalte unter dem zusammengepressten Mund war oft zu sehn. Angst, nicht mitzukommen mit der Kälte, der Distanz der Leute, dieser Fremdheit, die sogar im Geruch der Luft spürbar wurde. Woher nur, wieso und warum? fragte sie verzweifelt immer wieder! Die Leute sind doch so nett. Woran leiden sie alle?
      Aber das Heimweh, das wurde langsam schwächer, sie sei nun fast geheilt, sagte sie, nach Vaters Tod erst geheilt. Ihre Heirat, ach, so lang her, 1932. Und Vater liege ja nun hier, alles liege nun hier, auch die Erinnerungen unten in S., wie begraben. Wir sind ja nicht allein, und selber schuld, hier zu sein, sagte sie.
           Doch Du bist daran schuld, daß ich hier bin, versuchte ich damals zu scherzen. Das ist vergangen, alles vergangen.
      
     Vaters Stimme, diese Nähe, so, als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, da ruft die Stimme wieder: er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein, oben von der Terrasse schießt du ihn in den Schlei­fengraben, oder hoch in den blauen Himmel. Als wärs ein Erwachen: Und jetzt bist du hier in Schäßburg, morgen wirst du diese Terrasse, das Haus sehn, den Maulbeerbaum, ich schmecke die blauschwarzen Beeren.
    Ich erinnere mich: Vater in A., da zählte er, wann war das, die Klassenkameraden auf einem alten Schul­foto. Oben vor der Eingangstür des "Bischof Teutsch Gymnasiums". Mor­gen wirst du es sehen, sag' ich, du bist hier, du stehst vor einem anderen Grab, hier in Schäßburg stehst du jetzt mit mir. Er aber, er steht in meiner Erinnerung, liegt dort fest: Hat die Fotos in der Wohnung in A. vor sich, von den Fotos ausgehend, redet Mama von diesen unmöglichen Hüten, die die Frauen da­mals trugen, Wagenräder mit Blumengesichtern, auch die Mitzmother hatte so ein Wagenrad. Da kannst du schon sehen, was die Frauen früher dem Mann zu Liebe alles tragen mußten, um ihrem Herrn und Gebieter zu dienen, sagte Mutter. Und die waren so verschiedene Naturen, sagt sie, mein Vater und meine Mut­ter, die Mutter noch ein halbes Kind, sie hat mit 18 geheiratet. Und der Großvater war sehr autoritär. Und der wollte sie auch irgendwie noch er­ziehen.

Es war doch so, diese Generation, wo die Frau vom Mann geformt wurde. Und der Mann es sich anmaßt... sie war auch materiell ganz von ihm abhängig. Sie konnte auch nicht sehr wirtschaften. Sie war eine vollkommen andere Natur, so mehr für schöngeistige Sachen; für Natur; und mein Vater hat dann manchmal gesagt, er habe ihr aus ihrer Kasse Geld genommen und sie habe nichts gemerkt. Und es war ihr zuwider, immer dieses Geld, so genau abzurechnen und einzuteilen. Und der Großvater, ja bei dem war das so: Das Bäurisch-Sächsische, etwas schaffen von bleibendem Wert.
Plötzlich rieche ich diesen starken Geruch nach Erde des Steilaugartens, schwarze Walderde, Wurzeln, Humus, faulende Blätter, die frisch gegrabenen Wege, umgeworfene Erde, Engerlinge, Steine.

Er hat gut verdient, und dann hat er doch gesagt, es gehe immer so viel Geld weg für "Plunder"; und dabei war doch die Mutter an und für sich sehr anspruchslos, sie hat nicht wie andere Frauen Toiletten oder Kleider verlangt, sie war enorm anspruchslos. Er hatte eigentlich keinen Grund, dauernd böse mit ihr zu sein. Was weiß ich, was eswar, was er eigentlich wollte.
Eifersüchtig war er vielleicht, sage ich
Ja, sagt Vater: Er war eifersüchtig, er war immer eifersüchtig.
aber er hatte doch keinen Grund: Mutters Stimme hoch, schnell, nachdrücklich: Sie hat ihm doch keinen Anlaß gegeben.
Doch, doch, sage ich: Er hatte immer Angst, das Erworbene zu verlieren, hat immer Angst gehabt; daher das verfluchte Bleibende. Hat der Großvater nicht wie ein Hahn auf alle seine Frauen mit Argusaugen aufgepaßt. Nach den Tod der Großmutter und nach dem Georgs auch Friederike eifersüchtig überwacht und beleidigt?
Ja, das ist wahr, sagt Mutter.
Friederike aber wendet sich ab.

Was geschieht, wenn die Eltern, wenn alle Verwandten tot sind, schwindet dann nicht jede Bindung an den Ort unserer Herkunft. Jene Stadt wie jene Zeit, die wir nie so bewohnt haben wie die Älteren, war unser Boden nur für sehr kurze Zeit. Und doch haben sie uns mit hineingezogen in jenen Wahnsinn, wir können ihm nicht mehr entkommen!
Zum Beispiel, daß viele, auch Großvater, nicht akzeptieren konnten, was Daniel und einige "unverantwortliche" Prediger behaupteten: Es gäbe da einen einsamen Raum des Gewissens, der jeder irdischen Macht entzogen sei, auch allen Geboten irdischer Gemeinschaften.
Gott war für sie ein Vater mit Zuchtrute zur Anständigkeit und zum "Zusammenreißen", beim "Sichgehenlassen" hatte das Gewissen zu schlagen.
Er hatte etwas Korpsstudentisches behalten, der K.-Großvater, man hätte sich die bunte Studentenmütze samt Schläger über seinem Schreibtisch vorstellen können, das Bierglas, ja, das gabs auch noch, und der Schmiß über der Backe blieb. Und dies Forsche, das manchmal bei ihm hochkam, die betonte, burschikose Männlichkeit. Und die Humorigkeit beim Stammtisch im "Stern", dem Altherrenclub "Die morschen Knochen": "Habe die Ehre", sagten sie alle noch, wie in der Monarchie. Es gefiel ihm, drollige Spitznamen zu erfinden. So sagte er zum kleinen Werner nur noch "der Kirchenmann" oder zu Hannes "Dick" und zu Carmen "Maus". Dann freilich auch Bildungsbürgerliches; Zitate kamen, zuweilen Lateinisches oder Ironisaches: Sieh da, sieh da, Timotheus. Auch mit Pro patria gabs einiges. Und sehr ernst: Mer wälle bleiwen wat mer seng.

Unsere schlimmste Krankheit: Das Verheimlichen. Das Schöne aufrecht erhalten und Die Harmonie. Hohe Kunst der Lebenslüge.

Jetzt sind sie alle tot. Lasse ich sie nun hier in meinem Gedächtnis wieder auferstehen?


Das Erwachen an diesem Tag; auch das schon vergangen. Ich gebe es zu, ich sitze hier, aber ich bewege mich nicht, im Kopf geht alles vor sich wie im Traum, ich setze mich zusammen - wider die reale Zeit, die eben erst vergangene hier: diese,  setze ich mich zusam­men. Ein Abglanz von Freiheit. Mit zusammengebissenen Zähnen, die so auch wachsen können! Ja zu sagen.


  Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet das Modell des kleinen Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt den Ge­danken dazu mit ihrer Langsamkeit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die Wirklichkeit gibt es nicht mehr.
  Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, freilich dahinter dehnt sich ein im Vergessen wachsender  Abgrund, und  die­sen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu kön­nen. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit  Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte, nicht-lebend. 
 
      Als ich heute in der Baiergasse an den Kränen des Tyrannen vorbeikam, die hier immer noch standen, die Häuser: ein Teil liegt schon in Trümmern, dachte ich: wie nach einem Erdbeben oder nach einem Luftangriff, so sieht ein Teil des Neuen Marktes, der Mühlgasse aus. Die Kräne strecken ihre gewaltigen Märklin-Spinnenarme in den heimatlichen Himmel, den ich gesucht hatte.
     Und ich biege in die Mühlgasse ein, sehe die alten Torbögen nicht mehr, kein fauler Geruch, da kannst du dich nie mehr hineinlehnen. Hier, dieser Trümmerhaufen: das ist  Hubatsch, der Bäcker, da holten wir die Semmeln, und dieser Schutthaufen vis á vis das Haus von Reinhard Pretz, mit Großvater holten wir bei dem seltene Briefmarken, der hatte auch die Blaue Mauritius, und in diesem nicht mehr vorhandenen Haus hatte meine Mutter als Kind gewohnt.
     Erschütternde Szenen von weinenden Müttern am Grab der im De­zember 89 Gefallenen. Dann von einer Alten, die in eine Betonwohnung verbannt worden war, sitzt da, die alte Bäurin wie in der Zelle. Ich habe nichts, kein Stück Garten, weder Hühner, noch eine Kuh, wovon soll ich leben. Alles haben sie mir genommen. Schlimmer als in der Zeit der Tür­ken. Sie weint. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, und mit einigen tausend Lei pro Monat soll ich auskommen? Der "Neubau" ist schon halb verfallen. Unbe­schreibliche Szenen, Küche, Klo. Kein Bad. Haufenweise Dreck, Risse in der Mauer.
     Ich  suchte nach einem Telephonbuch, ging zuerst in einen Optiker­laden, dort ließ ich meine Brille, deren Rahmen sich verbogen hatte, gera­debiegen, werde ich nun besser sehen können? ich ging dann in einen Bäckerladen, früher "Kwischinsky", wo ich als Kind Stollwerck gekauft hatte, und schließlich in ein obskures Amt im Toreingang zum Baruchhaus, wo ich  vor einigen Jahrzehnten geboren worden war, also "auf die Welt gekom­men," eine ganz andere Welt freilich.
     Die Eingangstür, die Glocke sind noch da. Jetzt ein armer Staatsladen, auch nach der "Revolution".
     Ich, ein neutraler Ort  in der schon vorgestrigen Nachfolge? Da gibt's keine Lücken, keine Tunnels mehr, wo ich durchschlüpfen kann, als fiele ein Licht von der Ursprungsschrift hier ein. Müssen da nicht noch an jener Ecke, nahe der Kokel die Pferde und faden Gerüche stehen, Zeitungen von 1944, wegen der Nachrichten von "heute", am Eiskeller dort in der Trafik sind sie zu kaufen. Sie fallen vielleicht noch auf dieses Zeichen. PRAETERITA MUTARE NEMO POTEST. Am Stundturm, heißt es, unter der Sonnenuhr da soll jener Spruch einmal gestanden haben. Von der Zeit gelöscht. Am Wietenberg aber die Platten vom "Ewigen Buch" Szaruga. Eine Vielzahl von Platten gabs, die, in der ganzen Welt verstreut, nur bruchstückhaft aufzufinden sind; wären sie noch alle vorhanden, könnte man die Reihenfolge, die richtige, festlegen, mit der sie unter die Sonnenuhr gelegt, von ihrem Zeiger gelesen werden könnten.
  Was suchst du da, Erleuchtungen, um wirklich heimzukehren? Lesbarkeit des Verborgenen, "Berührung": Daß das Wirkliche identisch sei mit dem Geschriebenen? Da mußt du doch nur zum Grundbuchamt gehn, hör ich meinen Großvater. Besuch beim Grundbuchamt im Hämchen, ja, das steht mir novh bevor, alles, alle unsere Häuser sind dort noch eingetragen.

  Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu träumen. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters ist jetzt eine Konditorei. Auch da sah ich und erkannte Einzelheiten. Es gab nur einen trüben Saft zu trinken, sonst nichts. Konditorei. Und alles so klein und unbewohnbar. Es ist anders, als ich mich erinnern kann. Sonntag, ein früher Morgen    oder Ostern schienen hier nicht  mehr möglich. Auch die Käuzchen, die ich in der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl. Etwas Alptraumähnliches geschieht hier in der Sonne, unter dem blauen Märzhimmel zwischen den Fassaden der doch schön renovierten alten Stadt. Menschen und Stadt passen nicht  zusammen. Restaurants, Konditoreien, Geschäfte überfüllt,  das Angebot mager. Auf der Hauptstraße eine graue Menschenmenge, kaum Autos, im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben.      
  Häuserzeilen, Gassen sind leer. Ich besuche Verwandte. Die Familie Norberts. Eine ältere Verwandte sagt, sie habe leichteren Herzens  1945 die Verschleppung nach Rußland ertragen: diese Verschleppung aber nach Deutschland sei für immer und ewig, wir sind am ausgehen, ein Wald von dünnen Kerzen.
              Was aber passiert, wenn wir gebrechlich werden. Ich habe mir das "Altersheim" angesehen, sagte die Verwandte: es ist im ehemaligen Arrest der Stadt. "Nein, danke." Es wird jetzt besser, sag ich. Es gibt inzwischen sächsische Altenheime. Wann? Das Haus gehört uns. Hier, in diesem Bett bin ich geboren. Wir sind fast froh, daß es mit dem Paß nicht so schnell klappt. Salz der Erde? Haha. Glaub doch daran. Ohne diese einzige Gewißheit wird auch das erhoffte Echo, und du mit ihm sterben. Kannst nicht dauernd nur im Nichtzuhause leben. Ohne erinnerte Zeit, die euch im Westen erwartet, ist die Gegenwart ein Trümmerhaufen, wir mit ihr. Gräßliche Zeitlosigkeit scheint aber auch hier ausgebrochen. Jetzt hat sich der Text umgekehrt, übergangslos ist er die Realität selbst.
  Aber welch ein Umweg des Todes, der Zerstörung, um zurückzukehren zum "Alten". Der Alte, ja, wo sich der aber aufhält, versteckt. Hinter welchem unsichtbaren Paradiesbaum?

      Und dann gehe ich zum Baruchhaus, zum Gassenhaus, mein Geburtshaus. Schön, wie Kindergedanken kommen, erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch. Jetzt sitzen dort drei traurige Menschen, der Vater, er ist Eisendreher, nun krank, die Lunge, er fragt nach Medikamenten. Ich sage: das Rote Kreuz. Die Mutter mit dem Sohn in der Küche. Der Sohn hat eine Siebenbürger Sächsin ge­heiratet, sie werden auswandern, sagt die Mutter müde von der großen Traurigkeit, niedergeschlagen; sie hebt den Kopf die ganze Zeit nicht hoch, sie hebt ihn nicht wirklich, er bleibt auf der Tischplatte liegen. Das Haus, sagt der Vater, soll abgerissen werden. Er weiß gar nicht, daß die Vernichtung gestoppt worden ist. Für sie ist die Revolution wie nicht ge­wesen; der Alltag ja, der geht so weiter, wie die Sekunden. Sie scheinen zu frieren. Ein Frösteln in allen Räumen. Ich gebe ihnen eine von Gisela abgelegte Pelzjacke.
     Spiegel der alten Täuschungen, ich versuchte in den Garten zu ge­hen zur alten Trauerweide zu gehen, das Großvaterhaus, den wackligen Gang, den Hof mit dem "Galgen" wiederzufin­den, wo Großvater Pferde anband, seine Patienten, das Fell zuckte, dicke Bremsen lagen auf dem haarigen Glanz,  der Ort ist nicht mehr vorhanden, das Haus gibt es nicht mehr, es ist abge­rissen worden; und die Katzen neben dem Haustor hatten eingerissene Ohren. Ein Wasserschaff mit Regen­wasser stand früher am Kellerfen­ster. Nichts mehr davon, alles ab­gerissen, eine As­phaltstraße führt dar­über hinweg, Bitum. Zuge­deckt. Wer so die Wunden verheilt? Im Garten streckten sich Schneehügel über die ver­gessenen  Krautköpfe. Dürre Küm­mel­stengel rasselten, letzte, unhörbare Geräusche...
     Und dort, ja im Garten der Bombentrichter, zehn Meter Durchmesser. Friederike bügelte in der Küche, da gab es einen gewaltigen Knall, ein Stein rollte aus heiterem Himmel auf den Gang, Fenster klirrten, verrückt gewordenes Espenlaub, zittert innen, und alles schepperte, Augen, Pupillen geweitet vor Angst. Nicht mal mehr Schlamm drüber, Kokel, Fluß. Und Friederikes Augen längst geschlossen, für immer, sagst du. Jedermann. Und jenes Buch geschlossen, unauffindbar, Bleistift­zeichnung auf einem grünen Buch von der Schönen Lau im blauen Mädchenzimmer, das Friederike gehörte. "Die Wasserfrau ist kommen/ Gekrochen und geschwommen." Der Blautopf. Der ist geblieben. Und sind wir nicht alle "oben", sagt einer und lacht.  Wenns nur nicht der Töff oder Tallo wär, SS- Ingenieur. Stalingrad. Und so. Oder die Nibelungen. Und in der Heeiiimat, da gibt's ein Hastdumichgesehn... Zeit, bleib bitte stehen: Die Augen fest geschlossen. Gewehre. Wie doch die Alten und die Toten so nah kommen, hier reden. Wie sie lachen und sich erinnern:

Und noch mehr hing es irgendwie auch mit den Baruchs  und den Mendels zusammen, denn einmal da ging ich mit Georg und Tata die steilen Treppen zum Gang des Baruchhauses hinauf, wir hatten ja die Schlüssel, gingen den wackligen Gang meines Geburtshauses, denn das wars ja, entlang, über die Himmelstreppe zum Dachboden hinauf: da, wo ich schon als Zweijähriger das angewärmte Holz des Treppchens angefaßt, gefühlt hatte, als wärs das erstemal, es ist in meinen Fingerspitzen bis auf den heutigen Tag da, sonnenwarmes Holz, und dann das rötliche verrostete Eisen des Geländers, ich spielte, und ein Schiewer kam mir ins Fingerchen rein, ins Fleisch es tat weh  ich lief heulend zu Mama in die Küche, ja, dort ist ein Stimmengewirr, dort, wo früher unsere rote Stehlampe gestanden hatte, der rote Tisch, und ich in die Fassung reingefasst hatte, ein Stromschlag mich wie ein furchtbarer Blitz durchzuckt hatte, ja, da hörten die Mendels und die Baruchs „Feindsender“... Und hör Vater wieder unheimlich ruhig: Nichts da. Nichts wird angezeigt ...
Stimmen... auchs eine Stimme...Alles so nahe wie im Körper, in Haut und Haar; als Vater starb, im Zug auf dem Weg zu seiner Beerdigung, faßte ich meinen Arm an, als wäre es seiner, die Flimmerhärchen  da an der Handoberfläche, nur gegen das Licht erkennbar, Flimmerhärchen  auch auf der Wange; und der Geschmack  im Mund, der Geruch, die Weichheit und die Fäulnis; und plötzlich - während Hannah die belegten Brote,  die Äpfel auspackte, und ich  in einen Apfel biß, meine Zähne im Fruchtfleisch  Spuren hinterließen, Saft herabtropfte, dazu das bekannte Krachen, überkam  mich Ekel vor diesem Fleischbalg, in dem ich steckte, widerlich diese Kreatürlichkeit, ein faulender  Balg, der uns von uns, von ihnen trennt. Und jetzt ist er fort, weil es Haut und Haar gibt, nur dieses Unappetitliche, Weiche uns ermöglicht, hier im Licht zu sein. Vater blies die Backen auf, tremolierte Märsche, ich seh ihn jetzt vor mir. Ob er den gleichen Mund- und Zungengeschmack  gehabt hatte wie ich? Alle hatten anfangs eine merkwürdige  Euphorie der Trauer, wie eine Droge, dann kam der schlimme Alltag wieder, schon nach der Rückkehr vom Friedhof, wo wir ohne ihn waren, ein für allemal ohne ihn. Ich fürchtete für Mutter. Doch  Friederike  sagte: Du wirst sehen, er war auch ein Großer Schatten vor ihr, nun ist sie freier. Aber in den ersten Jahren konnte davon keine Rede sein, er war einfach fort, hatte seine Kleider im Schrank hängen lassen, die Schuhe standen noch lange dort. Mutter wollte, wir sollten seine Sachen an uns nehmen, sie anziehen, seinen abgetragenen grauen Mantel, mit dem er einkaufen ging, der hängt noch im Vorzimmer. Sie oder ich, wir alle konnten es freilich nicht fassen, wie es Tanja  jetzt nicht fassen konnte. Mutter aber zerquälte sich, machte sich Vorwürfe, als hätte sie irgendetwas ändern können, hab ich Vielleicht etwas versäumt, fragte sie andauernd. Als könnte man alles einrichten, alles selbst bestimmen, wenn man nur den richtigen Dreh hat. Mama, du bist ja eine Heidin, sagte ich dann.  Es war ja nur die Unfähigkeit diesen Abgrund, das, was uns von der eigentlichen Wirklichkeit trennt, als Schmerz  und gelebte Erkenntnis wahrzunehmen. Sind wir unfähig dazu? Es darf nie vorbei sein, nie vorbei sein, nie. Denn wie kann etwas vorbei sein und endgültig vergangen sein? Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Sang sie früher. Oder auch: ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den Siebenten Himmel der Liebe. Wo der auf der Erde wohl ist?!  Es war alles wie eine letzte Stunde,  und der Wachzustand nur ein träumender Zustand, aus  dem  ich hochschreckte, vielleicht erwachen konnte. Und jetzt, jetzt, erwache ich, reibe ich mir die Augen, weiß, daß ich bald zu Hause sein werde? Ein weißes Säcken mit Erde von zu Hause hatten wir Vater  beim Begräbnis unter den Kopf gelegt.  Erstaunt sah ich, daß sie alle nicht an das glauben, was hinter dem Bild "Gott" steht; sie gehn in die Kirche, sie haben es mit dem Pfarrer, sie lassen taufen, heiraten, begraben mit Glocken, Predigten und Orgeln, aber das Letzte daran, nein: das ist nicht da, jener Punkt, wo es ernst wird, wo es um den Tod geht, den letzten Abschied ohne Orgeln und Predigt,  den kennen sie nicht.  Was ist die "Krone des Lebens", fragte mich meine Schwester. Und was heißt, " getreu bis in den Tod"? In allem, was sie sehe und fühle, fühle sie nun auch ihn, flüsterte sie, die ihn, genau wie ich auch, nicht mehr sehen wollte, und dann doch in die Totenkammer  ging, weinend wieder herausrannte, denn dort lag nur ein lebloser Abdruck von ihm, der ihm kaum mehr glich, doch eindeutig war es seine Hand, an der die Finger nach abwärts, der Erde zu zeigten, diese ernsten Hände, blaugeädert, hauchdünn nun, blaß, sie lagen auf der Brust, über ihnen aber ein entstelltes, gleichzeitig hochgestelltes Gesicht, das sich uns entzog, aber uns seltsam auch mitzog. Das mit der Krone, sagte ich ihr, das ist eigentlich ein alter jüdischer Psalm. Aber Michael, wie kannst du nur so etwas sagen? Ja, ehrlich. Aber Vater hat das sicher nicht so aufgefaßt, das wäre ihm fremd gewesen. Ja, es wäre ihm vielleicht unheimlich gewesen, aber nicht so unheimlich wie zum Beispiel Mutter oder Tante Friederike, die in der Nacht nach seinem Tode, Angst hatten, allen in der Wohnung zu schlafen, Hannes mußte dabei sein. Hatten sie unbewußt Angst, daß er vielleicht wiederkäme, aus einem Reich, das ihnen unvorstellbar ist und ihnen deshalb graut! Und Friederike ging sofort hinaus, als ich anfing über diese Dinge zu reden, sie kann es nicht ertragen, sie bekommt sofort "ihre Zustände". Und über die Baruchs, die im Gassenhaus wohnten, sagte sie, die sind mir unheimlich. ... oben saß die Stefi,  sie hatte schwarzes Haar, sie saß oben  vor der weißen Eingangstür, ein dunkler Spalt öffnete sich, ich kann ins Vorzimmer hineinsehen, die Stefi  steht hoch oben auf der Treppe als könnte sie fliegen, ein schwarzweißer Vogel, ich kann ihr unter den Rock sehen,  es blitzt. Vater geht unten vorbei und zieht den Hut, sagt: "Küß die Hand"! Er sagt nicht wie sonst "Grüß  Gott!"  Stefi  ist schön, ihre schwarzen Augen sind feucht, als leuchteten Kohlen aus der weißen Tür. Milch, Blut und Rosen. ich bin klein und sie ist ein großes Mädchen, sie ist eine junge Frau. Eine Jüdin, sagt Friederike flüsternd: die sprechen ein verhunztes Deutsch. Und es heißt, sie sollen an etwas Unanständiges glauben. In der Kleingasse  steht die Judenschule, wo ihr Tschawalles zu hören ist. Später aber haben wir im Baruchhaus  gewohnt, und dort wurde ich auch geboren. Als Kind war ich oft krank. Ich  rinze im Bett und bin ein Wastel,  drehe die rote Stehlampe wie ein Kreisel, fasse in die Fassung, wo keine Glühbirne  drin ist und eine Riesenfaust  schüttelt mich, es tut innen weh, vom Schlag, vom Stromstoß. Ich  schreie wie am Spieß. Die Narbe an der Kuppe des Zeigefingers ist noch zu sehen. Ich habe viel von diesem Haus geträumt, ein Leben lang hab ich von diesem  alten Haus  mit dem wackligen Gang und dem Klogeruch geträumt. Meine zukünftige Frau, ich weiß, ich habe sie dann später versäumt,  doch dort in jenem Haus hatte sie mich einmal an der Hand genommen, wir gingen den weißen Korridor entlang und zitterten vor Erregung als wir aus dem Tunnel, in den wir ganz plötzlich am Ende des Ganges geraten waren, ins Freie kamen. Wir stiegen die Teppe  hoch zur Küche. Dann das Eßzimmer: an undichten Stellen der Dinge traten die Gefühle da  wie lange Schatten aus den Seiten heraus und wuchsen in den Raum; an der Eßzimmertür  blätterten sie auf, waren da wie altes Holz : Und an der roten Stehlampe wie Hartgummi. Und dort hörte ich meinen Schmerzens­schrei. Im Schlafzimmer aber war ein großer Schlafsaal mit übereinanderliegenden  Betten, und überall saßen Männer, vielleicht Rotarmisten oder SS-Leute, in langen Unterhosen auf den Betträndern. Wir beide aber waren splitternackt und begannen zu laufen, kamen aber nicht vom Fleck. Kein Bett war frei; endlich, da - ein Platz  unter dem letzten Feldbett, der Fußboden reinlich gescheuert, und es roch nach Seife und Lauge. Wir begannen uns ganz langsam und zärtlich zu streicheln. Als wären wir Landkarten, dehnten wir uns ungeheuer aus, wenn wir uns küßten und uns guttaten  an empfindlichen Stellen. Wie der Schnitt eines riesigen Moments  war es, es roch nach Äpfeln, und einer groß wie ein Stern  rollte auf dem Boden auf uns zu. Als wären auch wir zwei Apfelschnitten, zwei im Gehäuse und wir sollten zusammenwachsen zu einem, hieß es; wie schön schimmernd die Haut und weich  wie es schien zu glühen, war  durchsichtig fast. Und da lagst du Michael im Gehäuse der Eva, ein Schnitt der Liebe; klar, daß es hier keine grausen causalen  und statistischen Felder mehr gab, und keine Trennung, gar Isolierhaft; das Zimmer war ja nach allen Seiten offen, man sah die Gestirne und ganze Konstellationen des Augenblicks: ein Apfel, zwei zusammengewachsene Kerne: ich hatte ja den schmerzenden kleinen Baum mit dem man Menschen pflanzt, fest in ihrer rosigen seidigen Scechina, Haar an Haar wie im Wald Hensel und Gretel verirrt, nur im Kopf wars hell, Boten aus dem Engeleinen,  das wehtut  und Not.- Und plötzlich schraken  wir auf wie aus einem tiefen Schlaf, hörten ein wieherndes Gelächter über uns, und als ich mich umsah, erkannte ich Kopf an Kopf die gierigen  Gesichter der Männer in langen Unterhosen auf den Kasernenbetten. Alle hatten sie Maschinenpistolen  umhängen. Es stand aber immer noch dieser Duft nach Schmieröl, Regen, Schnee, Sonne, Wind und angewärmter  Erde im Raum. Und dann fiel ich hinab, fiel tief, wie man nur im Traum fällt ... und sah dann alles von oben.





Nach Rußland deportiert worden war mit allen, die sich gestellt hatten, wegen der Aufforderung des russischen Stadtkommandanten gestellt. Nur Deutsche. Wie früher die Deutschen „ihre“ Juden  bestellt hatten, auf den Marktplatz – Befehl des Stadtkommandanten.
Er war nie an der Front gewesen, Georg. Er starb aber an der gleichen Krankheit wie Töff. Er, Georg, hatte sich beim Trompetenblasen die Zähne ruiniert, er blies ja so schön in die Nacht hinein. Und kam nun nicht mehr wieder, Georg. Lönslieder und den Trompeter von Säckingen... ich höre es noch heute.
Friederike erzählt, wie es gewesen war:
Als die Bekanntmachung des russischen Stadtkommandanten und  der Polizei publik wurde, handelten alle genau  so wie vorher, ohne Widerrede und ohne Rücksicht auf ihr kleines Leben, eben so wie wir es gewohnt waren, genau so (ohne Räcksicht af as klien Liewen)., blind auch der neuen Obrigkeit gehorchend. Und die Baruchischen lachten über uns und sagten noch, wenn man euch auffordert, morgen in der Früh auf dem Marktplatz zum Erschießen anzutreten, seid ihr vollzählig und pünktlich da. Aber sie, die Juden, hätten es ja genau so gemacht. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich, so daß dieses Unglück zwischen uns passieren mußte. Dieser Wahnsinn, stell dir das vor! Und da war doch der junge Roth, der Sohn vom Friseur, der hatte sich ja wie alle übrigen auch gestellt, jaja, wä menj Georg uch. Wie mein Georg ja auch. Um eins mittags mußten sie sich in der Mädchenschule melden, dort war der Sammelplatz, sie wurden bewacht von rumänischen Polizisten und von Russen, aber man hätte sie gar nicht bewachen müssen, sie wären sicher nicht weggelaufen, sicher nicht! Und als man den jungen Roth nicht aufrief, alle hatten sie aufgerufen beim Appell, nur ihn nicht, da meldete er sich wie in der Schule und sagt: Bitte, mich hat man nicht aufgerufen. Oder hat er es vielleicht auf Rumänisch gesagt?! Ich weiß es nicht. Ja, wir, wir waren schon ganz schön dumm, ich packte noch Georg den Rucksack, zuerst hatten wir noch Mittaggegessen, und es war vorgeschrieben, was man mitnehmen durfte, es gab eine Liste dafür, und ich sagte zu ihm, als die alte Spieluhr auf der Kredenz anfing zu spielen, du weißt ja, dieses Üb immer Treu und Redlichkeit, dies Mozartlied war auf der Walze, die Ami hatte das so gern, man muß ja jetzt nach so vielen Jahren lachen, obwohl mir  de Zehren, die Tränen kommen, da sagte ich, daß es ja schon dreiviertel eins sei, und sagte noch, Georg, tea messt dech beellen, du mußt dich beeilen, sonst kist tea noch ze speet. Und er: Jaja, ich gehe jetzt, behät dech Gott, menj Läwet uch de Känjder. Behüt dich Gott meine Liebe, dich und die Kinder! Und ich komm bald wieder, ich bin ja gesund. Ja, und er nahm den Rucksack vom Tisch, schnürte ihn sorgfältig zu, ging zur Tür hinaus, über den Gang ging er, Georg, mein Mann, ich sah ihm nach, er ging die Treppe hinab, tauchte im Hof nochmals auf, ging durch den Hof, am Tor wandte er sich nochmals um, winkte mit einer Hand, ich sah die Hand ganz oben, ganz oben sah ich seine Hnad, seine liebe Hand, und er verschwand dann auf der Gasse und kam nicht wieder.
Einge hatten sich ja auch versteckt, unter anderen auch dein Vater, änderten wie Ferdi ihren Familiennamen, heirateten Rumänen, du kennst ja die Geschichte vom Leutnant Popescu, der die Gret geheiratet hat, die schon in der Schule war, er holte sie raus, fragt, ob sie schon einen Verlobten hätte, naja, sagte sie,  der ist noch bei der SS. Der blutjunge rumänische Offizier geng mät em straks zem Standesamt, ging mit ihr stracks zum Standesamt, und sie kam als Doamna Locotenent Popescu wieder heraus, er wünschte ihr noch viel Glück, und nach dem Krieg können wir uns wieder scheiden lassen. Es kam aber nicht mehr dazu, er kam aus dem Krieg nicht mehr wieder, und die Gret war nun rumänische Kriegswitwe, sie wartete noch anstandshalber das Trauerjahr ab, und heiratete dann ihren Franzi, der gesund von der SS wieder nach Hause gekommen war, und sie bezieht noch heute ihre rumänische Offizierspension, obwohl sie längst in Westdeutschland lebt, in der neuen Heimat.
Und Mama sagte, als Friederike eine Pause machte:

296 a


      Mit Salmen heute in der Stadt. Salmen ist ein Neffe von Mendel Baruch, also ein älterer Cousin von Stefi und Mirjam, aber er ist in der Bukowina aufgewachsen, und wurde dort schon 1940 nach Transnistrien deportiert; wir sind Freunde geworden.
    Ich hatte ihm von dieser Angst in meiner Kindheit erzählt, da wagte ich nicht durch die Kleingasse zu gehen; was glaubst du, was für unsinniges Zeug die Mägde erzählten. Und es wurde sogar gemunkelt, daß die Juden Christenkinder verspeisen.
     Erich lachte amüsiert. Dann mußt du unbedingt mal meine Synagoge ansehen, damit du die Angst verlierst.
     Wir gingen also durch die Hüllgasse,  Salmen wohnte mit Marianne in dieser Gasse nah vom Neuen Weg, auch da wieder bekannte Häuser, am Haus des ehemaligen Kreisleiters Pomarius vorbei, und da hatte der Turnleher Kraus gewohnt,  dann kamen wir schon zur Knabenschule, vis á vis das Atelier des Fotografen Lurtz, der alle unsere Kinderfotos fabriziert hatte, doch vorher schon bogen wir links ab, gingen die Katznköpfe runter in die Kleingasse und standen vor dem nach Osten ausgerichteten Bau mit dem Davidstern am Giebel und den drei Rundfenstren der Fassade; Erich  schloß auf, und ich stand nun zum erstenmal in „unserer“ Synagoge, Erich verwaltet sie, er, der letzte Jude Schäßburgs, zeigte mir den Altar, die Bundeslade und stolz die Thora; der Raum relativ klein.
    Ja weißt du, sie ist 1904 erbaut worden, erst damals entstand hier eine jüdische Gemeinde, die Leute kamen zumeist aus Galizien, sie wohnten auch hier in der Nähe des Gotteshauses, aber es gibt das rituelle Bad und das Schlachthaus für das koschere Fleisch nicht mehr; fpür wen auch, für mich? Und er lacht. Damals gab es schon 300 Juden hier, und so wie ich kamen nach dem Krieg dann wieder viele „refugiati“ aus der Bukowina, wir waren vor den Russen geflohen. Jetzt bin ich allein, der letzte Rabbiner hieß Adler und ist 84 nach Israel ausgewandert.
     Betreust du auch den Friedhof, Erich?
     Ja, freilich. Er war ja von der DJ  und andern Radaubrüdern in der Nazizeit beschmutzt worden, Grabsteine sin umgeworfen worden.
     Stimmts, daß dann nach dem Krieg die RJS-Seife feierlich dort begrabn worden war?
    Ja, das stimmt. Es waren ja schlimme Zeiten, und wir haben viele Menschen verloren, auch ich hab eine ganze Reihe von  Verwandten verloren.
      Erich wandte sich ab. Er wollte anscheind nicht darüber reden:
     Ich zeig dir jetzt etwas Erfreulcheres. Ich bekomm ja aus Israel, um Mittel für die Friedhofsbesorgung und die Instandhaltung der Synagpge zu haben, Weine auch Kognac, die verkaufe ich dann. Er zeige auf einen Stapel Kisten. Hier, diesen Kognac schenk ich dir, direkt aus der Synagoge. Ja, aus dem „Tschawalles“ , wir Sachsen haben ja viele Ausdrücke von euch übernommen.
Ja, überhaupt gab es ja eigentlich keine Spannungen zwischen Juden und Sachsen bis ins unsinnige Jahr 33. Es gab eine Art mindertheitliche Solidarität.
Ausßerdem  redenten die meisten Juden deutsch, gingen in die deutschen Schulen und wurden Ärzte und Rechtsanwälte, gehörten also auch zur gehobenen Schicht der Stadt.
Es gab wenige Paiklesjuden. Ja.
Aber weil es viele Schulfreundschaften gab, mehr als mit den Rumänen, und nachher dann wie im Fall von Dr. Capesius, der ja  vor dem Krieg auch Bayer-Vertreter gewesen war, ergab sich die absurde Situation, daß Capesius auf der Rampe bei der Selektion, als die „Ungarntransporte“ auch aus Siebenbürgen nach Auschwitz rollten, Bekannte, ja Freunde zu selekttieren hatte!
     Ich habe ihn in Göppingen besucht, er hat mir das erzählt.
     Du hast ihn besucht?
     Ja. Und auch aufgenommen. Und er sagte, als die Baruchs, Mendels, Schlingers und Böms „dort“ ankamen, da habe er sie ja gleich erkannt, durfte es aber nicht zeigen....


     C: (Sucht in einer Kladde und in einem Auschwitz-Buch )... Ella Böhm, das war die letzte Eintragung von Frauentransporten. Dr. Ella Böhm: A 25382 und A 25 383 für die Tochter...
DS: Und der Mann war nicht dabei?
C: Der Mann ist zuhause gestorben und nicht während des Prozesses, wie sie gesagt hat...
Ja, da kam sie in die Apotheke (in Auschwitz) und hat geschrien: Mikor a Doktorur látam, tudok hodj elni fogog.[1] Und hat einen Schrei getan. Und zu ihre Tochter hat sie gesagt: Hat näm üschmers äs a Doktorur, a Segesvári Doktorur.[2]
Und ich hab ihrem Bruder, dem Rechtsanwalt Dr. Mendel geschrieben: Schwester und Tochter sind bei mir. Ich werde für sie sorgen, sorgen Sie für meine Familie.[3]
FC: Und Frau Zilinski hat mir ein Telegramm gezeigt. Und in dem Telegramm war der Vorschlag zum Austausch der Familien.
C: Aber Schatzele, da ward ihr ja schon unter den Russen.
... Nun, unten in Segesvár ist sie ( die Tochter von Frau Dr. Böhm) auf meinem Knie gesessen und der Mendel ist neben mir gesessen, wir haben bei der Ruth Fabritius verkehrt zusammen... und diese Tochter ist bei mir auf dem Knie gesessen, und das Foto haben sie dann (zum Prozeß) mitgebracht. Eben dadurch wollten sie nun untermauern, daß ich sie gekannt hab. Natürlich hab ich sie gekannt. Aber sie haben ja drei Wochen gebraucht, bis sie zu mir in die Apotheke gekommen sind: wenn sie mich auf der Rampe gesehen hätten, denn sie hat dann gesagt: es waren drei: Mengele , Klein und Capesius, er hat nichts gemacht, er ist nur dort gestanden, hat sie dann gesagt, (wäre sie doch sofort gekommen).  Der rumänische Staat hat sie herausgelassen unter der Bedingung, daß sie belasten.
(...)
Genauso wie die Böhm gesagt hat, ich wär auf einem Rad im Lager ringsrum gefahren und hätte sie zur Strafe im Kreis laufen lassen... ich wär mit dem Rad hinter ihnen gefahren und hätte mit der Peitsche auf sie eingeschlagen. Es hat das gegeben. Aber das war dann dort der einfache SS-Mann, der sie gestraft hat, weil sie irgend etwas gemacht haben, vielleicht auch weil sie das Essen von 80 Leuten gestohlen haben oder sonst diese Sachen. Das ist schon vorgekommen, daß man so bestraft wurde. Aber da fährt doch nicht ein Sturmbannführer (Lachen) mit dem Bizzikel herum. Das hats dort doch nicht gegeben. Es war ja kein Zirkus...
DS: Ein Prozeß, das ist ja ganz gut, aber die Dinge, die da geschehen sind, die gehen doch über einen Prozeß und über die Kompetenz eines Gerichts weit, sehr, sehr weit hinaus. Das alles ist für mich so unvorstellbar, das kann man doch nicht einfach mit     irgendwelchen Gesetzen...[4]
C: Wie ich am 12. Februar 1944 hinkam, da war für sie der Krieg schon verloren, für mich auch. Der Sikorski[5]  hat gesagt, Chef habe gesagt, schau: heute seit ihr hier, morgen vielleicht wir. Krieg ist nicht mehr zu gewinnen. Chef hat gesagt... Ja, das bin ich.
DS: Mußte man keine Angst haben, dort so etwas zu äußern?
C: Ich ihm gegenüber nicht.
DS: Er war Apotheker, Häftlingsapoheker?
C: Ja. Und sein Vater war noch Apotheker beim Zaren gewesen.
  Am 12. Februar kam ich also dorthin. Und es stand schon in den Listen, wo ich  nachgezogen werden sollte von Berlin: Soll für den erkrankten Apotheker Krämer als Ersatz  eingesetzt , als Vertretung eingesetzt werden. Der in Berlin hat gesagt, sie kommen in ein SS-Lazarett, sie müssen aber auch die Häftlinge, die dort in Lager haben, mitbetreuen. Mit...
FC: Mit Medikamenten versorgen...
C: Und bin dann hingefahren. Und am 12. bin ich dort angekommen. Am 12. hat der Sturmbannführer mir die Apotheke gezeigt, übergeben, mit mir herumgegangen und hat nichts über die Krankheit gesagt, ich hab auch nicht viel gefragt, ich dachte nur, es geht ihm besser scheinbar. Dann ist er wieder zurück zur Abteilung. Im selben Haus im ersten Stock. Dort war so eine Sanitätsabteilung für die erkrankte SS. Es gab nicht viele Erkrankungen bei der SS, denn die waren ja alle gut genährt und hatten ja ihre Familien dabei, die meisten.... Der Mann jedenfalls (Krämer) ist damals wegen Defaitismus erschossen worden, weil er allen Ankommenden erzählt hat, sie werden noch Auge machen, da ist Sodom und Gomorrha. Es gibt noch etwas mit der Unterwelt, irgend so ein Zitat, das auch vorkommt, das man so sagt, wenn es einem mies geht, am miesesten geht...
DS: Die Apokalypse?
C: Nein, nicht das...
DS: Das Inferno?
C: Ja, das Inferno in der Unterwelt sei nichts dagegen, so in der Art. Er hat aber eine kleine SS-Nummer gehabt, aus dem ersten Jahr...

DS: Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wäre ich in diese Maschine hineingekommen...
FC: Ich glaube, daß unter diesen Bedingungen eben doch andere Regeln gelten, andere Maßstäbe angelegt werden müssen...[6]
DS: Die Maßstäbe schon, aber man kam ja mit seinem normalen Gewissen da rein...
FC: Ja.
DS: Es ist unvorstellbar...
C: Es ist ja von den ersten Tagen immer wieder so: "sprechen", das sagt dir der nächste Bekannte, wenn er Sturmbannführer oder Obersturmbannführer ist, nicht über diese Sache sprechen...! ([7]) Dem entfliehen? Da hätte man Sie doch erwischt! Sie wären doch am nächsten Pfahl aufgehängt worden.
DS: Mir wären auch Selbstmordgedanken gekommen, ich weiß nicht.
(...)
C: Es konnte sich doch der einzelne nicht auflehnen ... und   wir konnten unser Vaterland nur retten, wenn die Russen nicht herüberkommen ... aber wir hätten das verhindern können, wenn man nicht alles verraten hätte...
DS: Also daß die Russen kommen?
C: Ja, sicher ... wir wußten, wie es uns geschieht, wenn Stalin kommt. Und das mußten wir bekämpfen. Dagegen mußte man dann eben so manches einstecken.[8]

Fehlt 298-305


Ich erinnere mich noch gut: Ich hatte die Maschine auf den runden furnierten Tisch in Mutters Wohnzimmer gelegt, auf das von 0ma gehäkelte Tischtuch, das wie ein feines Mantra aussieht... Und ich hatte angekündigt, den „Vic“, den Auschwitzapotheker Capesius in Göppingen besuchen zu wollen!
Mutter aber fragte mit zornigem Ton in der Stimme:
Ich möchte wissen, warum du dort wühlst?l Was dich so aufregt und so aufregt und was praktisch dabei herausschaut..
Und Friederike  fiel ihr ins Wort:
Das sind doch Sachen, die man jetzt einfach begraben muß...
Und wieder Mutter: man muß doch dort jetzt einmal Schluß machen.  Irgendwie.
Friederike:  Das ist auch meine Ansicht!
Schluß machen? Ich werde dir erklären, warum man nicht Schluß machen kann...
Und Friederkes Stimme: Es war nicht so. Wir konnten uns nicht befreien, wie ihr das heute könnt.  Wir sind aus der anderen Zeit, sagt sie, und ihr zartes, fast durchsichtiges Gesicht wird bitter.
Wir haben uns nicht ausreden können, aussprechen können, wie es heute an der Tagesordnung ist.  Aber wir mußten ja auch mit unseren Leben fertig werden und wie, wie hätten wir das schaffen können? Weißt du das?  Fertig werden mußten wir mit unserem Leben, so wie es eben war.
Mutter ist ernst und redet in jenem vorwurfsvollen Ton, der mich sonst immer aufgebracht hat,  jetzt aber bringt er mich nicht auf, denn ich weiß ja, wie schlecht es Friederike geht, man sieht es ihr an, sie ist schwer krank:
Ja Friederike hat den Mann im Krieg verloren, sagt sei, ein Kind verloren, sie mußte doch so manches verdrängen, wie hätte sie sonst leben sollen.
Sicher und ich mußte sehen, daß ich aus dem, was noch ist, was Schönes mache, und nicht im Garstigen wühle. Das will ich gar nicht, das mach ich bewust; ich will es nicht, weil ich es einfach nicht verkraften kann.  Weder seelisch noch sonst.  Und ich möchte es nicht! sagt sie sehr heftig: Schluß, na, Adje.
Ich schweige bedrückt.  Ich weiß, sie wird nach Vater die nächste Tote unserer Familie sein. Ich weiß Friederike ist schwer krank.
Und sie sagt, sie habe nun gar keine Lust mehr, irgendetwas zu tun: Früher habe sie morgens schon das Radio angedreht, Musik gehört jetzt tue sie das nicht mehr. Ja auch lesen könne sie nicht.  Und auch das Fernsehen langweile sie.
Früher, wenn wir irgendwo ein­geladen waren, da konnte ich von Gesprächen nicht genug bekommen, jetzt ermüdet mich alles. Irgendetwas ist mit mir geschehen, hat mich völlig verändert... sagt sie. Und faßt sieh verzweifelt an den Kopf:  Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht die vielen Medikamente, die Bestrahlungen, das macht die Hirnzellen, das macht die Nerven kaputt, es frißt dich auf.
Davor aber floh sie, weil sie genau wußte, daß sie damit allein war und weil sie keine Reserven mehr hatte, so daß sich ihr Glaube, daß ihre Angst sich gegenseitig aufhoben, Sie zog den Mantel an und ging. Und wir fuhlten uns elend und hilflos. Auch als ich versuchte über ihre Erinnerungen zu sprechen, hörte sie nicht zu, als sei das nicht mehr ihr Leben.
Aber die Einsamkeit, die Angst, allein zu bleiben, die hattest du doch schon als Kind? sagte ich.
Ja, ich wollte nie weg von zu Hause, hatte immer schreckliches Heimweh.
Da hat dir doch die Großmutter einen Brief geschrieben, als du in einer Kochschule auswärts warst?
Ja, ja, das hat sie. Aber jetzt habe ich Angst, daß mich meine Kräfte verlassen, daß ich keine Freude mehr am Leben habe, daß alles vorbei ist…

Friederike hatte Angst vor sich selbst, und hatte kurz vor ihrer letzten schweren Zeit schlimme Depressionen gehabt; Großvater hatte sie kurz vor seinem Tode  auch, diese Depressionen. Die geistige Kraft nimmt ab, der Körper mit seinen Schmerzen überschwemmt alles, da ist jeder völlig sich selbst ausgeliefert. Die Initiative fehlt.
Wir wollten damals mit ihr nach Staufen fahren, sie aber kam nicht mit. Auch mit Vater war jene Fahrt auf der Kaiserstraße unsere letzte Fahrt gewesen.
Es ist reizend von dir, mich einzuladen, hatte sie gesagt, und sie lobte gern, als wollte sie immer nur noch Gutes tun, bis zum Schluß.
Sie  hatte Angst vor den Leuten. Als wir sie fragten, wohin sie denn fahren wolle, da sagte sie: Heilbronn. Dort wohnten viele Freunde aus der alten Heimatstadt; sie wäre gerne hingefahren; dann aber hatte sie abgesagt, abtelefoniert mit müder Stimme. Sie saß im Sessel vor dem Fernseher und ihr liebes zartes Gesicht schien durchscheinend und aus Wachs zu sein. Sie sah schon wie tot aus und hatte tiefliegende schwarzumränderte Augen. Mein  ganzes Stützgerüst, der Knochenbau schmerzt, sagte sie, die Füße sind wie Blei, die Füße `glangeln´, ich habe keine Kraft mehr. Als wir dann doch Richtung Staufen losfahren wollten, hob sie fast ins Auto, trug sie mehr, als daß ich sie stützte. Sie atmete schwer. Ist dir nicht vielleicht der teure Pelzmantel zu schwer? Ach, es war ein Sonderangebot, sagte sie, ich leiste mir noch etwas, so lang ich noch kann. Wer weiß wie lange. Das war vor fast drei Jahren; seit sieben Jahren stirbt sie. Die Operation in Tübingen war vor sieben Jahren gewesen. Die Eltern waren damals erst ein Jahr in Deutschland. Sie nahm Abschied von zu Hause, das war vor weiteren zehn Jahren gewesen. Seither eine merkwürdige Spätreife Der Lehrmeister Tod begleitete sie. Und sie klagte über dieses dumpfe Gefühl des ´Ausgeronnenseins`.

Ich denke an Ilse B.. Sie hatte Unterleibskrebs mit furchtbaren Schmerzen.  Das war noch zu Hause in Schäßburg gewesen. Am schrecklichsten für sie war, daß sie sich dauernd bedienen lassen mußte, von ihrem Mann von ihren Kindern. Und jemand mußte sie bewachen, Tag –nd Nacht, denn in jedem unbewachten Augenblick versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Schlißelich ab es solch einen unbewachten Augenblick, sie lief zum Bahnhof und stürzte sich unter einen Zug.

Und das steht nun alles da wie ein Blick, der nicht vergehen will,  wenn ich Mutters oder Friederikes wirkliche Stimmen höre: Wir sind ja aus der Zeit, Michael, wir haben uns nicht ausreden können… wie das heute an der Tagesordnung ist, sagte die Kranke. Ist Krebs eine Seelenkrankheit? In mich ist der Ton dieser Stimme unvergesslich tief eingedrungen: Ich fühle, wie es in mir nagt, sagte sie, wie meine Gefühle so ganz durcheinander kommen. Ich kann nicht mehr denken, ich hab so keine Klarheit mehr. Und ich habe Angst. – Sie hustete fast ununterbrochen, `verdämmelte sich`, und ihr feines Gesicht war aufgeschwemmt und hatte große dunkle Flecken. Mutter ließ sie nicht einmal mehr abwaschen, kaum einen Handgriff tun! Es war kurz vor Weihnachten und andauernd klingelte das Telefon. Es war eine gereizte vorweihnachtliche Stimmung im Haus, Vorweihnachts-Vorbereitungsstimmung...  Nervosität. Alle diese Einladungen kosteten Zeit, Kraft, dies in der Küche stehen, dann der Steß des Zusammenseins. So ging das Leben, so gingen die Feste dahin.
Weihnachten… und am neunten Januar starb sie. In ihrer letzten Nacht hatte sie noch friedlich geschlafen, denn alle ihre Kinder und Enkelkinder hatten diese letzte Nacht in ihrer Wohnung verbracht.

Wir waren inzwischen wieder zurück nach Aliano gefahren, und Mutter rief an, sagte tonlos: Ja, sie ist tot, und man kann fast von Glück sagen, daß sie so gnädig sterben durfte, fast ohne Schmerzen. Sie liegt da, ganz zart, und so `wenig´. Vorgestern, da hatte sie ganz plötzlich nach meiner Hand gegriffen, nach ihr verlangt. Und ich hatte zu ihr gesagt: Ich geb sie dir, ich hab sie dir doch immer gegeben; sie aber sagte ganz leise: Ich fühle nichts mehr, ich fühle auch deine Hände nicht mehr. Und da war ich sehr erschrocken, obwohl wir ja auf alles gefaßt sein mußten. Ihr ganzer Körper war gelähmt, die Beine, die Arme fühllos. Dann ging es ihr wieder besser, sie wollte sogar aufstehn, gestern gegen abend aber wurde ihr Zustand immer schlechter und schlechter, sie konnte kaum noch sprechen, die Schmerzen nahmen zu, Hermann kam und gab ihr eine Spritze, es war die letzte, und er sagte draußen im Nebenzimmer zu mir: Es wird zu Ende gehen, die Metastasen haben sich im ganzen Körper ausgebreitet, und auch das Rückenmark erfaßt, daher die Lähmung, das Gehirn ist zertsört, das Sprachzentrum auch. Aber sie ist dann immer stiller geworden und ist so hinübergeschlafen, ist nicht mehr aufgewacht. Und Ulrike, die merkwürdigerweise seit drei Tagen auch hier war, die Tochter unseres alten Hausarztes, saß  an Friederikes Bett und erlebte dieses Sterben wie eine Offenbarung. Die Söhne mit den Enkelkindern waren da, Detlef und Gerhard mit den Frauen. Es schien Friederike besser zu gehen, Detlef fuhr mit seiner Familie dann wieder nach Stuttgart. Und Gerhard war nur einmal kurz hinausgegangen, und ausgrechnet in diesen paar Minuten starb sie.

Wir können uns nicht vorstellen, was der Kranke empfindet, wenn der Schmerz, der Tod durch den ganzen Körper zieht, bis hinab zu den Beinen, in den Knochen sitzt, der Haut, vor allem auch im Rückenmark. Nein, mit deinem gesunden, schmerzlosen Körper, den einigermaßen von Todesangst freien Gedanken, die sich nur wie aus der Ferne über die Angst vor dem Altern, dem Blick auf den Kalender, in den Spiegel, ins Vergleichen mit dem, was du bis zu diesem Jahr eigentlich alles hättest tun müssen, damit der Tod einmal sinnvoll erscheinen kann – einmal, mit diesem schmerzlosen Körper, hast du kein Recht zu sagen, du hättest eine Art Nähe zu Friederike gehabt, könntest sie verstehen, auch wenn das letzte, was du von ihr in der Hand hältst ein Geschenk von der geliebten Großmutter, der Fernengelgrieß, ist, eine uralte sächsische Decke mit Stockflecken, die Friederike zu ihrer Hochzeit, erhalten hatte, und die sie mir zu Weihnachten, ihr letztes Weihnachten auf deser Erde, mit einem Weihnachtsgruß „aus Dank für dein liebes Verstehen,“ geschenkt hatte.
Und in meinen Erinnerungen ist sie überall mit dabei, als wäre sie meine zweite Mutter; sie taucht vor mir auf, sie steht dort oben auf dem ´Gang´des Baiergaßhauses, und die klappernden Blechkannen und Reindl in der Küche gehören zu ihrer Zärtlichkeit für die Morgenfrühe. Sie geht einkaufen auf den Markt, geht in den Park am Ufer des Flusses, alles heimlich, alles mit schlechtem Gewissen, als sei es nicht ihr Recht, nach Liebe zu suchen. Ja, mein liebes Kind, das schon, doch nicht auf der Straße, so etwas tut man doch nicht, man muß anständig sein, uständich senj. Eifersüchtig beobachtet er sie, der K.-Großvater, wie ein Hahn im Korb, sagte Mama! Kasse und Gefühl! Dabei war sie ja nach dem Krieg, als ihr Mann auf dem Heimweg von Rußland in Frankfurt an der Oder an Wassersucht starb, erst 39 Jahre alt. Allein, eine Witwe mit zwei kleinen Kindern. Die Ami hörte man oft sagen: Wä wer ech frih, wonn et fir det Friderike noch e Gläck gew. Wie wär ich froh, wenns für Friederike noch ein Glück gäbe. Aber nein, sie blieb, sie mußte allein bleiben. Ein „Andersnationaler“ kam ja nicht in Frage, und die sächsischen Männer ihrer Generation … die gab es nicht mehr.
Als Mutter diese schwere Geburt hatte, Hannes auf die Welt kam, das war ein Jahr nach der Hochzeit Friederikes mit Georg, 1938, da  nahm  Friederike mich bei sich auf, da wohnte ich als Vierjähriger bei ihr, sie hatte ja noch keine Kinder, und sie widmete sich liebevoll dem kleinen Michael, kaufte mir einen pepita Anzug mit einem riesigen  roten Schlips und spazierte mit mir durch die Baiergasse, nach links und rechts grüßnd, Grüße empfangend. Apropos: Na, wann Frau Z., gibts denn ein eigenes?  Dann hatte sie es das Eigene, jahrzehntelang  allein mit den  zwei Söhnen, sich an sie klammernd, sich nicht zu helfen gewuß, vor allem nach der Übersiedlung in die menschlichen Kälte Deutschlands.

Und Vater? Er ist nicht mehr da, er ist überhaupt nicht mehr fassbar, wie soll ich dann mit diesen Sätzen an jene Zone reichen, die wir uns ausdenken, wo er sein könnte? Schluß, keine Literatur mehr, ist sie denn nicht ein Verrat, sage ich mir – und schreibe trotzdem weiter!
Salmen sagte, du nimmst ihr Leben auseinander, du nimmst ihren Tod auseinander! Tust du das, um Sohn zu werden, der du nie warst? Oder um einen Vater zu haben, ja… den es gar nicht mehr gibt?!
Ich weiß es nicht. Aber sicher hat er recht, wenn er sagt, daß wir an die Abgründe, die Unvorstellbarkeiten der Taten unserer Väter, nur im Todeserlebnis heranreichen könnten, und im tiefsten Schmerzgefühl. Bin ich jetzt so weit?

In Detlefs neuer Wohnung sprach ich es dann aus: Es sei mir eigentlich nie so klar bewußt geworden, als eben jetzt bem Tod der Eltern, was uns fehlt …
Ja, sagte Brigitte, Detlefs Frau, sie haben ja auch ihren unerträglichen Schmerz gehabt, und den mußten sie für sich behalten; wir aber haben so getan, als seien sie keine Menschen, als wären wir jetzt nicht genau in der gleichen Lage, wie sie es einmal gewesen waren!
Stimmt nicht, protestierte der dicke Detlef, es läßt sich nicht vergleichen!
Friederike hatte einmal gesagt: Lies in den Buddenbrooks nach, dann weißt du die Gründe unserer Angst und unseres so unnatürlichen Verhaltens, Angst vor dem Verfall!  wir sind alle „angeknackst“, haben jene „feuchte Stelle“, von der dort gesprochen, nein aus der gehandelt wird. Oder den Fontane, sieh mal in den Schach von Wutenow rein, da geht auch die Pflicht über alles, es ist der einzige starke innere Halt, wenn alles andere nicht mehr packt!! Der Schach, als er die häßliche L. verführt hat, und er den Befehl vom König erhält, sie zu heiraten, aus Anstand und Pflicht, da tut ers, gehorcht; und dann erschießt er sich, was hätte er auch anderes tun können? Du weißt doch, wie sich auch Wilhelm, er war Offizier, der Bruder der armen Mitzmother, im Hausenblaszhaus erschossen hat, weil er die Kaution für eine Heirat nicht bezahlen konnte! Und er liebte unsere Sopranistin, die Blaschek  doch über alles! Der arme Junge. Aber damals mußte er es tun; das einzige, was ein Mann hat, ist  doch sein unantastbares Ehrgefühl. Da darf er nicht schwach werden! Das war auch bei uns so, nicht so streng, aber es war so! Der arme weiche Tallo hat darunter sehr gelitten, auch bei der SS; und hat sich aus verdammter Pflicht seinem Volk gegenüber freiwillig gemeldet. Das wußte er genau. Lies nur mal seine Briefe an die Lehrerin Hermie, die er gern gehabt hat. Lies mal nach, was für schlimme Konflikte er in sich auszutragen hatte.

Was hatte man da alles in uns hineingesetzt, auch in mich! Körperertüchtigung! Pficht, gehorchen. Keine Widerrede! Ich werd aus dir noch einen anständigen Menschen machen. Bück dich, bücken, hab ich gesagt, Hosen runter, sofort, na wirds bald! Nein, nein, bitte, bitte nicht! So, jetzt bück dich, so, höher … und jetzt gehst du und holst den Stock, wirds bald. So, jetzt… bück dich, höher… höher--- Witsch. Au, au au…
Und wahrscheinlich stand dem Schläger dabei der Schwanz, erregt war er, haute, und atmete schwer, wie beim Ficken.
So wars auch, wenn sie im KZ eine Frau durchpeitschten, festgeschnall auf dem Bock mit nacktem Gesäß, dem schönen großen Mondsgewächs… und  so mancher holte sich dabei heimlich einen runter, während sie schrie, weinte, wimmerte…
Und sogar Misch erzählte von der Prügelstrafe auf manchen Schiffen, rauhe Matrosensitten?


Ist es nicht so,  höre ich plötzlich  Marthas Stimme: daß auch dich ein auf dem Prügelbock hochragender üppiger Hintern, weiß wie ein Gesicht ohne Augen, reizt, der Mund zwischen den Beinen schwarzgekräuselt und der Spalt wie ein Wunde rötlich klaffend... Wimmern, und Schreien, wenn der Stock  niedersaust, Weinen  der Gestraften erregt mich, das geb ich zu Und am liebsten würde ich auch deinen nackten Hintern so sehen und verhauen, ja.…
  Sie lachte verlegen, sah mich aus ihren Augenwinkeln so an, daß ich rot wurde, und  wie ertappt zu Boden sah; dann aber  ließ sie überraschend den Rock fallen, stand splitternackt  und gebückt vor  mir, dem Schamlosen da, daß der nicht wußte, wie ihm geschah und er aus allen Himmeln fiel. Ein Blitz. Martha, ein schöner Fleischbogen,  laut lachend; ver­stummte dann, selbst überrascht, sie hatte ja "zurückgesehen", und erkannt, wie ihre zwei ´Gesichter´ geisterhaft nebeneinander standen,  zwei Münder, rot und schwarz, halb geöffnet, die Beine  wie beim Bock-Springen in der Turnhalle wartend gespreizt, und sie atmete nun plötzlich  selbst schneller; also auch sie... ? dachte ich, da ich ja nicht wußte, wie ich diese plötzlich so körperlich nahe Erinnerung   deuten sollte, denn so wie ich sie kannte, hätte sie sich wehren, hätte sie arg böse werden müssen bei meinen Gewaltphantasien.
  Als dieser Kerl, der ich selbst bin, den zweiten Mund ihrer V, die wie eine reife Frucht unter dem weißen Mond hing,  küssen wollte, stand sie schon wieder aufrecht da, und hatte den Rock hochgezogen, als wollte sie den japsenden Mann narren und strafen: "Nun erzähl schon, Henkersknecht", spottete sie:  Ich bin gar nicht fassbar. Die Wut hat bei uns ganz andere Gründe:  Schönheit  ist die einzige Waffe, und der Arsch gehört dazu! Nun komm schon, mach den Spruch deiner Stadt wahr: Kannst mich mal! Und Leck tief vor deinem Untergang! Rache ist süß! Ganz anders als bei der Báthory? 
  Ach, ich höre sie noch immer schreien, die armen Schweine in der Nachbarschaft, wenn  abgestochen wurden, ihr Blut langsam rausfloß in eine Schüssel, bos si tot waren… Vögel und Lämmer,  wie Hühner und Tauben, brachen ihnen das Genick wie Hasen ... Als Kind hatte ich Angstträume, ich wunderte mich, machte große Kinderaugen, wenn ich den Leuten zusah, saß oben auf einem wackligen Gang, von unten aus dem alten mit Katzenköpfen gepflasterten Hof stank das Klo herauf, das Eisen des Ganges war von der Sonne warm, das Holz auch, und roch so gut wie  das eingelassene Holz der Brücke über den Bach, oder die Holzscheite, und die Balken auf dem Dachboden, wo die Wäsche aufgespannt wurde, Taubendreck  weiß­grau auf dem dimpigen Balken, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte, zwei ... unten aber am Schopfen und bei den Hühnerställen stachen sie mit einem langen Messer in den Hals des Huhnes, durchschnitten ihn gedankenlos, dieses Wunderwerk, es war ja nur ein Huhn! Und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte, das Huhn lief ohne Kopf im Hof herum, bis es ohne Kopf eingefangen wurde,  Blut rann in eine Schüssel, und ich  war  erstaunt, wie dumm die Worte sein konnten, "Huhn", "Blut", "Laufen", "Holz",  und ich weinte und lief in die Küche zu meiner Mutter, verkroch mich mit dem Kopf in ihrem Schoß. Angst vor Schmerz und Tod.



  Und wenn ich hier an der Lingnerischen Mühle vorbeigehe, vis á vis das Wohnhaus, überlagern sich die Erinnerungen, im Garten mit Walle, dem Handballspieler, der auch Janger zu mir sagte, und dann die Erinnerung an 90, als ich mit Jann gleich nach der Revolution hier gewesen war, in diesem  Haus das „Kinderheim“, die armen Waisenkinder, Dr. Pátru, ein Schulfreund von Henne, Hansem, Ulrikes Bruder, Hansonkels Sohn, auch er schon tot, die Leber ja, soff sich zu Tode, auch er; und Dr. Patru führte uns durch Räume, ein Gitterbettchen neben dem anderen, Kinder aus furchtbar armen, zerstörten, kinderreichen Familien, die Mutter arbeitslos, der Vater oft unauffindbar. Ach, unsere „behütete“ Kindheit hier. Ich kann die Blicke dieser armen Kinder nicht vergessen. Sie liegen wie tot da, und nur wnen man sie streichelt wachen sie aus ihrem Dämmerzustand auf. Und eine Ärztin sagte;: Ja, das ist so, weil diese Kinder seit ihrer Geburt unterernährt sind, niemand  hat sich mit ihnen beschäftigt. Biafra Europas? Armes Scheszbrich. Jann streckte die Hand nach einem  dunkelhaarigen Jungen aus; der faßte ihre Hand, wollte sie nicht mehr loslassen. Warum adoptieren sie den Jungen nicht? Er ist gesund, ich zeige ihnen nachher di „fisá“, seine persönliche Kartei. Nehmen Sie ihn doch mit; ich melde es erst, wenn sie längst über alle Berge sind! Wir sahen uns mit Jannan; die Veruschung war groß, doch dann verzichteten wir; Kindesentführung?
Und wie gehen wir dann in Italien, in Deutschland damit um? Ich konnte aber den gedanken damals nicht loswerden, es war für mich wie eine Traumwirklichkeit, ein Kind aus meiner Heimatstadt, ein Kind von hier unser Kind, eine seltsame  bindende Rückkehr?  Eher ein Albtraum dieser Zeitdistanzen- jtzt und damals als ich hier ein Kind war, genau in diesem Hof mit Walle Ball gespielt hatte. Der geheimnisvolle dunkle Garten, der Schopfen, gabs auch Ställe, offne Fenster im Sommer, Obstbäume, die blühten, gepflegte Kieswege. Und hier durch die Kokelgasse zur Lederfabrik, wo Miker wohnte, die großen Höfe, die Lohe, wo wir  hinabrutschten wie auf Eis, am Ufer rauchten mit Kukurutzhaarzigaretten und Prügel von Mikrs Vater bezogen. Komisch, viele Träume von einer großen Veranda, Tagen und Wochen, die sich zusammendrängten, ganze Geschichten, die ich aber nicht mehr erinnern konnte. Oder hatte ich das irgendwann mal aufgeschrieben?

Damals 90 mit Jann waren wir  über Schaas und Trappold auch nach Denndorf gefahren, wo ich vor vielen Jahren Lehrer gewesen war; ich wollte mich nicht zu erkjennen geben; wir gingen zuerst zur Kirche und zum Kirchhof, viele Namen , di ich kannte. Der schöne große Pfarrhof, Gras wucherte im Hof, er war verlassen. Der Pfarrer der Nachbargeminde versorgte die wenigen Sachsen. Seh ich mich da kommen, oder wer ists, auf der Hauptstraße sah mich eine ältere Frau mit einem Kind an der Hand durchdringend an, dann fiel sie mir mit einem Schrei um den Hals, Herr Liehrer! Eine ehemalige Schülerin, die damals 10 gewesen war, hier, dies ist meine Enkelin. Und ich mußte natürlich mitkommen, bekam zu essen und Tzuika zu trinken. Wie einLauffeuer verbreitet sich die Nachricht, der Herr Liherer äs kun! Sie begrüßten mich mit Trännen in den Augen. Sie sind noch zur rechten Zeit gekommen, Herr Lehrer, in einem Jahr hätten Sie hier niemanden mehr vorgefunden. Nur sechs Familien wollen noch bleiben, alle, alle auswandern. Wir haben hier keine Zukunft mehr, die Kinder wollen nicht bleiben! Viele sind schon in Deutschland. Ja, vor zehn oder fünfzehn Jahren! Aber jetzt ist es zu spät! Wir sind kaputt, das viele Arbeiten nach der colectivizare, und der Nervenkrieg jahrzehntelang! Aber es wird dort in Deutschland eine große Umstellung brauchen, sagen sie,wir werden dort alle seelischg zu Grunde gehen… von hier aus der alden Gemien, der alten Gemeinde in die großen Städte des Westens…
 Als wir abfahren, stehn sie da und winken, weinen; so werden sie auch beim endgültigen Abschied und „für immer“ gehgen, das Haus absperren, wozu noch? Noch ein letzter Blick ins Zimmer, auf die Scheune, den Hof, wo sie ihr Leben zurücklassen. Fort, nahc Deutschland, wo sie fremd sind! War es meinem Großvater nicht ähnloich ergangen, als er „für immer“ sein Baiergaßhaus verließ! Bei mir war es anders gewesen, ich fühlte mich frei, es war wie ein Rausch, kein Blick zurück, der Blick zurück kam dann jahrzehntelang nach, und hat auch jetzt kein Ende gefunden!





Gräßlicher Traum: begleitet von meiner Mutter sollte ich "eingeäschert" werden, da meine Stunde gekommen war. alles schon vorbe­reitet. Wir mußten aber warten, zuerst sollte ein anderer eingeäschert wer­den. Der lag langausgestreckt auf einer Art Operationstisch; eine lange spitze Stange drang zuerst in die Nieren ein, dann eine andere von der an­dern Seite in den Körper, wohin sie eindrang, war nicht ersichtlich. Der Arme quälte sich lang. Ich sagte darauf, daß ich das nicht mitmachen, und lieber normal sterben wolle, das wäre abzuwarten. Meine Mutter war ent­rüstet. "Und die siebentausend Mark, die Du bezahlt hast?" sagte sie und begann mir all die schönen Sachen zu zeigen, den Eichensarg, Leintücher, vor allem aber den rötlichen Grabstein mit meinem Namen, ich las ihn genau, es war ein gräßlicher, geschmackloser Stein mit einem dicken Wulst als Querleiste. Darunter ein langes Zitat von irgendeinem Dr. X. Aber ein Doktor mußte es sein, anstatt vor meiner.




Ich stand nachher mit Jann unten auf dem Burgplatz. Sie wollte ins Museum, sie wollte auf den Turm; ich aber telefonierte mit der Wohnung des ehemaligen Securitatechefs, dem Geheimdienstobersten. Und fand seine Tochter zu Hause, die sagte: Ich war dreimal verheiratet, ich kann noch ein viertes Mal heiraten. Bist du mit dem Auto da?  In zehn Minuten öffne ich dir die Tür. Ich ging hinaus, suchte Jann, sie war auf dem Turm , kam die Treppe herab, und ich erinnerte mich an einen Traum, wie wir gemeinsam durch das Museum gefallen waren, tiefer immer tiefer.              
  Rundgang durch die verwinkelten Gassen;  herausgebeugt aus ihrem Fenster, erzählt  eine  Frau vom  Tod ihres Neffen bei der Vertei­di­gung des Fernsehgebäudes in Bukarest. Der Vater stand jeden Tag dort am Eingang, sagt sie, und wartete auf seinen Sohn. Der Junge war zu plötzlich gestorben, sagt die Frau im Fenster. Und was nützt uns da Heldentum. Von Märtyrern sprechen sie. Das hilft doch keinem. Aber dieser Tod, der bleibt, der bleibt hier, sagt sie, und hat uns dazu gebracht, daß auch wir hier bleiben. Dies ist ja jetzt mehr als vorher unser Haus. Die andern, das hat mir eine Freundin erzählt, sind schon im Westen, anderswo und doch hiergeblieben. Sie denken jeden Tag an das verlassene Zuhause, das sie nirgends mehr finden, in keiner deutschen Stadt. Sie leben wie Gespenster.
              Der Vater wartete, und konnte es nicht fassen, nicht glauben, wartete jeden Tag auf den toten Jungen.  Nur die Revolution hat für einen Augenblick alles umgekehrt, so daß die Toten für diese Augenblicke, wo  mit einem Schlag alles neu wurde, ihre Stimme erhoben, die Leute immer weiter trieben, selbst bis in den Tod. Die Toten sind der Umraum der Welt, alle Opfer, die je unschuldig fielen, sind es. Sie wissen,   was wir noch zu er­fahren haben. Und wir zollen ihnen Respekt. Aber es ist schon lang her: -  Die Revolution als das Äußerste im plötzlich offenen Augenblick, sein letzter Außenrand als unerwartetes neues Geschehen, das den bisherigen gewohnten Ablauf des Alltags  durchbrach und alle von etwas erlöste, was ewig zu sein schien, Stoff für viele Jahre, ja, Jahrzehnte, um zu lernen - seinen Augen nicht zu trauen.

  Jann aber wollte ich noch die "Schwimmschule" zeigen, sie steht neben dem "Eisplatz".  Auf Eis gegangen. Herr Fänk, Herr Fänk, nor noch iist ämeränk, riefen wir auf dem Eisplatz, der Augenform hatte, Ellipse, Oval, und flohen vor dem Wärter, entkamen aber nicht. Gleich daneben aber der Sommer. Die "Schwimmschule," wo ja, so behauptete er, Hermann Oberth, beim Unterwasserschwimmen das Raketenprinzip entdeckt hatte. Aber ich tastete danach. Da war kein Wasser im Becken. Dort hatte ich mit dem Winter Rick gestanden, an der Treppe, die ins trockene Wasser führt. Und er hatte mir erklärt, wie er "aufsteigt" im Parteiapparat. Er war dann Primsecretar von Hermannstadt, der Printsisor Nicu sein Nachfolger. Ceausescu. soll Rick bei einer Blitzvisite angebrüllt haben, und Rick, der Schulfreund, der Stärkste von allen, verprügelte mühelos jeden, hatte Machtinstinkt wie keiner, saß jahrelang gelähmt im Rollstuhl. Der Unglückselige. Jetzt ist er tot. Seine Mutter eine arme Tagelöhnersfrau, Ungarin, geschwängert vom Winter Schorr, dem Fleischer der Stadt, ein Brutalinski. Rick, das uneheliche Kind hatte von Kindheit an wohl eine Wut im Bauch gegen alle Reichen und sächsischen Ausbeuter. Wurde Kommunist, schikanierte die Leute. Als ich Lehrer war, zitierte er auch mich vom Dorf zum Kreisparteikomitee, mehrfach, um mich zu verhören, um mein "revolutionäres Bewußtsein" anzuschärfen, das ich verloren habe. Ich zitterte vor solchen Vorladungen ins gleiche Haus, in dem sich auch die Secu befand. Eine Außenstelle mit Keller, wo geschrien wurde, war unser Nachbarhaus. Da spielte der lange knochige Rick mit dem freundlich-sadistischen Lachen die Hauptrolle. Er ließ mich, den Verräter nicht durch. Er hielt als böser Geist in mir die Stadt besetzt. Und verhinderte, daß mein Bruder, der "Ausbeutersohn" studieren konnte. Das hat meinen Bruder gezeichnet. Aber das Infantile an ihm, diesem unglückseligen Rick oder auch beim Tyrannensohn blieb die Hauptsache. Alles ein blutiges Kinderspiel. Als kleiner Junge war er immer der Stärkste, schlug sich mit einem gewissen Konrad. Es gab blutige Kämpfe. Ich stand neugierig dabei, schüchtern, völlig ohne Interesse an solchen Dingen, es grauste mir nur, ich hatte Angst, vor dieser unheimlichen Sphäre der Ungerechtigkeit; und nur die blauen Mitleidsäderchen jener, die geschlagen wurden, schwächer waren, wie der kleine Otto, trieben mir die Tränen in die Augen.

    






76 Als ich den Herrn Doktor sah, wußte ich, daß ich leben werde. Die ganze Zeugenaussage der damals 68-jährigen Dr. Gisela Böhm und ihrer Tochter: in Langbein a.a.O. S. 665-669. Capesius habe sich gewundert, daß sie nicht zu ihrem Bruder nach Schäßburg gegangen sei, sagt Dr. Böhm: " denn von dort wurden keine Judentransporte nach Auschwitz geschickt" . Siebenbürgen war 1940 durch den "Wiener Schiedsspruch" geteilt worden. Odorhei, wo Frau Dr. Böhm lebte, gehörte zum nördlichen Teil, zu Ungarn, Schäßburg an der Grenze, noch zu Rumänien. Und Rumänien hat keine Transporte in deutsche Lager geschickt. Wohl aber nach Transnistrien.
77 Ja, erkennst du ihn denn nicht, dies ist der Herr Doktor, der Schäßburger Herr Doktor.
78 Das war nach dem 23. August 1944, nach der Befreiung Rumäniens durch die Sowjets, als die Juden, als Verfolgte  wieder eine gewisse Macht auch in Schäßburg hatten. Frau Dr. Capesius und ihre drei Kinder lebten in Schäßburg, nach dem Einmarsch der Roten Armee, wie alle Deutschen gefährdet. Und da kam an den Dr. Mendel, ein Brief aus Auschwitz. Frau Dr. Böhm sagte im Prozeß dazu: "Nach der Befreiung habe ich erfahren, daß eine Frau Schuster im Jänner 1945 von ihrer Mutter aus Wien einen Brief über das Rote Kreuz bekommen hat, in dem sie aufgefordert wurde, meinen Bruder zu fragen, ob er nicht seine Schwester und deren Anhang - also mich und meine Tochter - gegen Familienmitglieder von Capesius und andern austauschen wolle. Schuster fragte damals meinen Bruder. "Langbein a.a.O. S. 666.
79 Hier ein Zitat aus einem Brief des in Kronstadt/ Siebenbürgen geborenen  Theologen Gerhard Möckel in die Zelle des siebenbürgischen Auschwitzapothekers Dr. Capesius nach Frankfurt: "... "Die radikale Schuld ist durch menschliches Rechnen und Selbstprüfen wohl nicht zu begreifen. Die Übernahme einer Verantwortung dieses Umfangs und dieser apokalyptischen Tiefe spottet allen menschlichen Kräften." Gerhard Möckel, Brief an Capesius (1965).  Daß durch diese Erfahrungen und Erkenntnisse die kleine Gruppe der Rumäniendeutschen, die in dieses Verbrechen und die nachfolgende Apokalypse mit hineingerissen wurde, nicht nur überfordert war, sondern daß dadurch ihr gesamtes Schutzsystem der Verdrängungen erschüttert worden wäre, ist klar.  Dazu aus den Radiosendungen andere Stimmen jener unglücklichen und schuldigen siebenbürgischen  Generation:" EZ: Wir haben überhaupt viel verdrängen müssen. Das ist so. Wir sind aus der Zeit... wir haben uns nicht ausreden können, wie es heute an der Tagesordnung ist ... Aber wir müssen ja auch mit unserem Leben fertig werden, irgendwie. ES: Ja, die Elfi hat ihren Mann verloren, Kind verloren, sie mußte doch manches verdrängen, wie hätte sie sonst leben sollen. EZ: Sicher, und ich mußte sehen, daß ich aus dem, was noch ist, das schönste mache. Und nicht immer im Garstigen herumwühle. Das will ich gar nicht. Autor: ... Und man muß weiter kitten, um seelisch zu überleben, vor allem, wenn man so Furchtbares gesehen und wohl auch getan hat, wie Roland A.  in Auschwitz. Er baut sich Alibis auf: RA: Es war gräßlich genug, nicht wahr! Aber für mich war Hitler so groß, daß ich ihm auch so ... so äh, fast verziehen habe angesichts der Millionen Bombentoten... usw. Autor: Und er habe nur gedacht `inter arma silent musae'; vor den Waffen schweigen die Musen. Klassisch gebildet ist er, und auf gut deutsch diente ihm nun auch dies zur Verdrängung, zur Flucht. Er las auf dem Wachturm Hölderlingedichte...RA: Nietzsches "Replik": "Das Unvergängliche ist nur dein    Gleichnis,/ Gott der Verfängliche: Dichter Erschleichnis,/    Weltrad das rollende,/ streift Ziel auf Ziel,/ Not nennts der Grollende,/ der Narr nennts Spiel... Doch ja. Ich hab auch Posten geschoben und ständig den Rucksack voller Gedichte gehabt. Nicht wahr. Ich hab ständig Wachvergehen begangen."Vgl. die Sendungen "Vaterlandstage" (90 Minuten) beim Süddeutschen Rundfunk am 1. März 1980.
80 Jan Sikorski, Häftlingsapotheker, der Dr. Capesius unterstellt war. Zeugenaussage in: Langbein a.a.O. S.681ff. Wobei er Capesius schwer belastete, der Apotheker habe sich Gold aus den Goldzähnen und Prothesen, die den Vergasten herausgebrochen worden waren, angeeignet. (S.682). Der ehemalige Häftling Wilhelm Prokop gab noch Schlimmeres zu Protokoll:" Capesius hat auf mich den Eindruck eines Menschen gemacht, für den ein Häftling nur eine Nummer und ausschließlich dazu bestimmt war, ausgelöscht zu werden." "Capesius ging auf die Koffer zu, hockte sich bei ihnen hin und wühlte mit seinen Händen in dem stickigen Zeug. Er zog eine Prothese heraus und hielt sie vor sich, als ob er deren Wert abschätzen würde. Ich bin davongelaufen." (S. 681).

90 In der Psychiatrie spricht man von "Zustandsgrenzen"
91  Wegen "Defaitismus" wurde der Vorgänger des Dr. Capesius Kremer erschossen. Und viele wurden wegen "Defaitismus" aufgeknüpft, in Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet.

92 Der Angeklagte Dr. Victor Capesius wurde vom Schwurgericht Frankfurt am 19. August 1965 "der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je zweitausend Menschen" für schuldig befunden und zu einer Gesamtzuchthausstrafe von neun Jahren und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für 5 Jahre verurteilt. Die Strafe hat er auch verbüßt. Dabei wurde bei der Urteilsbegründung gesagt, er habe "heimtückisch und grausam" auch seine rumänischen Landsleute in den Tod geschickt. Die Zahl seiner Opfer wurde mit mindestens 8000 beziffert. "Unter diesen Getöteten befanden sich auch diejenigen, deren Tötung der Angeklagte Capesius überwachte, indem er das Einwerfen des Zyklon B als auch den eingetretenen Tod der Häftlinge feststellte." Dagegen wurde er nicht verurteilt wegen der Phenolspritzen, da diese schon 1943 eingestellt worden seien. Ein Militärgericht in Klausenburg hatte Capesius schon nach Kriegsende zum Tode verurteilt.