Dieses Blog durchsuchen

ALL TAG

Sonntag, 10. April 2011

Mein Leben in Italien

INHALT

I Agliano /Lucca. Mein Ort in der Toskana …………. 2

II ALPI APUANE …………………………………… 49
Antro di Corchia. Tropfsteinhöhle
Stazzema. Marmorberge. Michelangelo
Sant´Anna Di Stazzema …………………………….. 109

III Carrara ……………………………………………140

IV Lucca ……………………………………………..153
Bagni die Lucca und Montaigne
Puccini

V Pisa ……………………………………………… 203

VI Florenz ………………………………………… 221

VII Viareggio ……………………………………… 225
Gabriele d'Annunzio.
Shelley
Rilke
Thomas Mann
Frasquita, das Segelboot

VIII Das Meer ………………………………….. 305
Portovenere
Cinque Terre
Elba


IX Reisetagebuch. Stimmungsbilder ………………333


Bücher


I AGLIANO/Lucca. Mein Ort in der Toskana



Mein Großvater pflegte zu sagen: »Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, dass ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, dass - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.« Franz Kafka, Das nächste Dorf





Ich sah unten im Tal wie ein großes doppeltes S den milchi-gen Fluss. Der Wagen fuhr sehr schnell auf der Autostrada della Cisa in Richtung Versilia. Es war noch ziemlich warm. Etwa neun Stunden von Stuttgart bis ins Magratal; es war neunzehn Uhr, doch die Sonne schien noch sehr hell und blendete. Helle vom Meer auf die alte Kai-serstraße.
Castelvecchio war längst nicht mehr zu sehen, wir hatten es hinter uns gelassen; eine an den Bergen hängende Fata Morgana, Phantom Vergangenheit, sagte ich laut. Doch Hannah musste einen Laster überho¬len, und bei 150 ist alles wie ausgelöscht, eine einzige falsche Bewe¬gung, und du bist tot. Die Landschaft ist immer noch schön, wie stehengeblieben, wenn man aussteigt. Und wir fahren hi-nauf in die Berge. Weinstöcke, Wiesen. Hannah hat genau wie ich eine Sehnsucht nach der Sanftheit des alten Gartens. Doch jene Sehnsucht ist kaum noch zu erfüllen. Im Fahren ist die Wirklichkeit schneller und immer schon vorbei. Jetzt die FORTEZZA DI FIRMAFEDE, vorbei. Wie ein Mensch, alt und gewesen. Weiß der Käse m Mund, und Oliven schwarz, so stellt sich der Fremde Italien vor: ein Gauner-Paradies. Eine Schnitte weißer Käse, die fetta. Und die Schlösser der Lunigiana, nachzulesen die Sehnsucht in unserem neuen Führer, dem folgt ein zu Hause Unbefriedigter, wenn er kann, jederzeit. Alles bricht unter der Last der Vergangenheit zusammen, jetzt mehr, denn je, denkst du, wie oft ist es früher schon und immer wieder gedacht worden; am Turm dort die Straße der Gerüche, sonst nur Namen: Niccolo V. und Castruccio Castracane, der Condottiere aus Lucca (Machiavelli schrieb eine Biographie); und merk dir, du heißt DS. Du sollst die Zeitung kaufen, du sollst die Tagesschau sehen, sagt Hannah; ich winke ab; ich möchte wissen, ob der Tod endgültig ist; ich habe große Lust, mich viel weiter zu entfernen, als es mit unseren schnellen Verkehrsmitteln möglich ist. Bei Lichtgeschwindigkeit steht die Zeit still, Chiliast, sie geht zurück in die Vergangenheit, jeder von uns lebt in jedem Augenblick schon in jenem Bereich, und muß es in jedem Augenblick auch sofort schon wieder vergessen, um hier leben zu können.

Nacht. Ich sah zum offenen Fenster hinaus in den Garten. Draußen schwarz der Schatten des Daches, vom Mondlicht wie ab-geschnitten und auf das Gras geworfen, schwarze Flecken, und ich, pro¬¬jiziert mit Fensterschatten unter dem Pinienbaum. Alles wie früher, mit diesen schwarzen Schatten der Melancholie, so langsam, summend auch die Zeit, in Deutschland habe ich nirgends die Stimmung eines Rau¬mes, eines Zimmers, Hauses, die Nähe der Menschen so stark gefühlt, kaum die Nähe meiner Mutter oder meines Sohnes. Woran mag das nur liegen?

Die Halluzination zu zweit ist schwer durchzu¬stehen. Der Kollege Muschg hat Recht, der Krieg geht durch die Paare.




2
Nach zehn Stunden Autofahrt von Stuttgart, über die Schweiz, Tessin, Mailand, den Apennin waren wir "zu Hause" in unserer Fremde an-gekommen; das Grün und Weiß auf den Feldern, die blaue Luftkugel des Südens über mir, Kirschen blühn, Knospen platzen, überall dicker Samengeruch in der Luft; Weiße, weißer Fleck, das Unbetretene, das nicht besetzt werden darf; alles nur ein Zeichen. Auf den Feldern Feuer und Rauchgeruch. Draußen vor dem Fenster ein Ave Maria und Vogelgezwitscher; wie einst im Mai. Gefühle zeigen noch einen Weg. Im Auge viel Grün: italienische Kastanien; und die Zeilen hier wie die Reihen der Reben.
Schon viele Jahre leben wir hier in unserem Haus in Aglia-no/Camaiore, unweit von Torre del Lago und Viareggio

Das Puccini Festival von Torre del Lago läßt Besucher in die Atmos-phären eintreten, die den weltbekannten Meister inspirierten. Das gro-ße Freilichttheater erlaubt dem Publikum, die Opernaufführung zu-sammen mit der natürlichen Umgebung zu genießen: die Bühne öffnet sich direkt auf der eindrucksvollen Aussicht des Massaciuccoli Sees und der Apuanischen Alpen im Hintergrund. Als Puccini Torre del Lago entdeckte, wurde er von seinem Charme verzaubert, und er be-schrieb es mit diesen Wörtern: ".. höchste Freude… Paradies… Eden… 120 Bewohner, 12 Häuser. Ein ruhiges Dorf mit außerordent-lichen Sonnenuntergängen.." Nach ein Jahrhundert ist Torre del Lago immer noch ein irdisches Paradies: sonnige Strände, frischer Pinien-wälder, stille Seeufer. Um dieses zerbrechliche Gleichgewicht zu be-wahren, gründete Regione Toscana 1979 den Regionalen Park von Massaciuccoli - San Rossore, ein Naturschutzgebiet zwischen Pisa und Viareggio, dem See und dem Tyrrhenischen Meer. Der Park erstreckt sich über 23 tausend Hektare, in den die typisch südländische Fauna wohnt. Besonderheit des Naturschutzgebietes ist die gleichzeitig Anwesenheit von atlantischen und kontinentalen Pflanzenarten, die normalerweise im südländischen Gebiet nicht wachsen. und Pisa. Es ist ein altes Haus, und es sieht aus, als hebe es sich wie ein Buch¬stabe aus dem um¬gebenden Land, ein einfacher geometrischer Kör¬per, und wirkt fast antik; „cultura uterina“, sagt Hannah, „umgebendes Sicher-heitsgefühl“.

Ich schreibe, die Zeilen wie herein¬geholt aus dem Land, den Fur-chen, die der Bauer auf dem Kartoffelacker gezogen hat: Das wäre gut, doch maßlos untoskanisch: es ist lei¬der nicht zu ändern, die Schrift ist mein Beruf; ich gehe damit weit zu¬rück, und kann diesem Land entsprechen:
„Es ist ein uraltes Land. Je höher du die Hü¬gel hochsteigst“, sagte Hannah, die mir den Tee brachte und auf dem Bildschirm die Zeilen gesehen hatte: „Je höher du hin¬aufsteigst, umso verwischter sind die alten Furchen und Steinmauern, unbebaut fallen sie wieder ins Nichts zurück, - hast du es nicht bei unserem letzten Berg¬aus¬flug gese-hen?“„Danke“, sagte D., „ich schreibe trotzdem weiter. Und warte, und du wirst dich noch wundern. Nun gut: Wir haben es nicht gese-hen, doch früher war das Land hier bebaut“. Und Sie sah zum Fenster hinaus: Die Zeilen dort draußen sagten ihr mehr. Bis hoch hinauf, der Bauer hat es be¬schrieben: bis auf achthundert Meter Höhe war das Land außerordentlich feinschichtig gewo¬ben, wie ein Ge¬dankennetz, bei Fiesole sieht man es noch heute: Linien, Flächen, Tra¬peze, dann die Reihen der Wein¬stöcke, die längst, als wären sie unerlaubt, gewe¬sen und ver¬gangen sind; dazwischen Diagonalen, Horizontalen, Grammatik des al¬ten Landes, verdichtet als Rast, als Punkt der Milde, wo alles noch einmal geträumt wird, die Casa, um¬geben von Oliven-bäumen, Zypressen, Feigenbäumen, Obstbäumen, und wirkt aus der Vogelschau merkwür¬dig, abstrakt und doch orga¬nisch, als wäre es das ge¬formte Unbewußte, Muster des Schrei¬bens; Zeilen, Formen, dem Land abge¬rungen, und doch etwas zur Sprache gebracht. Es ist uns noch geblieben, in engster Um¬gebung.
„Tempi passati“, sagte Sie, „du meinst es doch auch: Alles ist noch da und doch wie längst vergangen; ich mag deine Nostalgie, missversteh mich nicht, sie ist ja auch meine: bei all den neuen hässlichen Villette der Neureichen Alles wird jetzt >neu< gemacht, pompös und reich, glitzernd und protzig. Schau dir nur an, was für Häuser die jungen Leute unserer Umgebung in die Landschaft ge¬stellt haben, die Kin¬der unserer früheren Bauern. Alles so ge¬lackt, dass sich die Kastanien schämen, einer hat sogar eine elektronische Anla¬ge an der Gara¬ge - mit Fernbedienung. Oder die schöne alte Apo¬theke an der Ecke, die ist nun ein kleiner kitschiger Mar¬morsalon, und nicht wiederzuer¬kennen. Das geht rapi¬de. Die Tante-Emma-Läden sind nun kleine Minimärkte, und alles ähnelt im¬mer mehr Bigmac und den Ketten der scheußlichen bunten Pop-und-Plastik-Kultur des McDonald (in Griechenland, in Spanien, in Portugal ist es nicht anders!). Aus ist es mit der SCHRIFT des Lan¬des; und schau dir die neuen Moden an, dieses Gestylte, diese Hahnen¬kämme und das Computerfreakhafte mit Juppyeinschlag.“ „Aber die Landkirchen hier haben einen offenen Dachstuhl, er passt zum alten Land, das wie eine Ruine daliegt, die Landkir¬chen mit of-fenem Dachstuhl schauen fast schon wie Vergessene ins Land. Ich empfinde es so: sie schmerzt, diese strenge geometrische Klarheit, die kein Abbild des Or¬gani¬schen, kein Spiegel des himmlischen Jeru-salem ist wie bei den Deutschen und Franzosen in ihrer Gotik, nein, einmal war es hier der Gleichgewichts¬zu¬stand zwischen Himmel und Erde, es ist ein besonderes Lebensgefühl, hast du es nicht bemerkt?“ „Es sagt mir besonders zu, ich habe es gern: bei den alten Bau¬ern ist es noch spürbar, von denen jetzt die letzten aus¬sterben: diese herzliche Distanz; diese maledetti toscani hatten früher, als es sie wirklich noch gab, er¬kannt, wie kr¬aftzehrend und unöko¬nomisch die Extreme sind, Schönheit aber drückt in aller Einfachheit letztlich das Praktische aus...“ SOMMER Dies Habtacht der Sekunde, stramm (und ohne Analyse). Der Wendehals. Und sonnenheiß die Feige. Blaue Himmelskugel - es sollte durch zerfetztes Flimmern, durch Rauchhöllen und Detonationen, den Engeln und Vögeln hier, den noch sichtbaren kaputten Seelen, endlich ein Eingang gezeigt werden; sie fliegen so ruhelos herum, vor allem die Schwalben. Manchmal kommt mir die Himmelskugel vor wie meine weiche Hirnschale, die aufplatzen könnte in dieser Sekunde. Und sogar Machiavellis praktische Staatskunst, diese Taktik zwischen Zufall, der fortuna, und dem freilich schillernden und vieldeutigen in-neren Ordnungs¬begriff virtù gehört dazu. Es war einmal, ja, einmal wie ein Märchen, und vielleicht gehört ihre Sehnsucht immer noch in jene alte Landschaft, de¬ren Ruinen jedoch Löcher haben, als könnten sie durch¬sehen, jetzt nach vorn; jenes unangemaßte, ja, unbewußte Wissen vom Rätsel des Wachseins, die Klugheit jener Gei¬stesgegen-wart, die Skepsis nicht aus¬schließt. Farbtöne und Fernsicht, Fernblick nach innen möglich, und möglich für uns, die Spä¬ten, wahnsinnsfrei; hörst du die Kultur dort am Ab-hang wimmern? Der Kastanienwald am Hang ist nicht mehr blatt-los, die Olivenbäume tragen schon in der Odyssee jahraus, jahrein ihr Grün. Öl. Im Tal liegt die kleine Stadt Camaiore. Nebel. Hier verlief früher die Frankenstraße. Fried¬rich II. läßt grüßen, die Kirche der Ab-tei war ein Hospital für Pilger. Auf der Hö¬he Höfe. Kaiser und Päpste, mal nah, Dante. Genuesische Wach¬türme. Sarazenen. In Luni landete der schwarze Christus von Lucca. Und jetzt: der Augenblick irre. Und stellt mich doch immer noch her. Alles ist ruhig. Und wie längst ver-gangen. Genau. Und als ich vor meinem Haus im Garten stand, emp-fand ich den Riß: Ein feines Glasklingen im Ohr. Die Krankheit liegt tief, diese Krankheit, wie die meisten heutigen Krankheiten, ihre Erre-ger könnten wir nicht sehen, hören oder fühlen. Kein gewöhnliches Unglück, nein: Eine Art Dimensionsgrenze sei er¬reicht, daher auch der Übergang und Hinübergang. Ein Freund meint, es gehe bis in die Atome, Atom, das Unteilbare teilbar, zerfällt, un¬ser Schicksal: Atom. Und die Zellen, ja, die Liebe sei auch angegriffen, aus mit dem Hohelied Sex. Die Widerstandskraft unseres Blutes sei gebrochen. Immunschwäche gehe um, wir kön¬nen den Körper nicht mehr schützen, er ist längst im Aus. Der Arme... du sagtest, und eine junge Geliebte sagte, ihre Atome fielen auseinander, ihr fehle der Kitt. Rückblende 1973 Nostalgie. Vinces Tod Von Vince, dem alten Bauern, hatten wir das Haus im Februar 1973 gekauft, es war eine abenteuerliche Übersiedlung von Bensbreg bei Köln nach Agliano /Camaiore. Im Mai 1973. Und seither sitzt du also nun täglich da, versitzt dein Leben, blickst hinaus auf Kastanienwälder und siehst, wie die Zeit sich ordnet zwi-schen Rebstöcken, Reihen der Weinreben des inzwischen toten Dorf-sarztes; Bergwind raschelt zuweilen in den Blättern, Säuseln im Baum, dazwischen Blinken der Lichter unten am Meer. Hier – die Schreibstube. Irgendwo drin sein. Wie viele Seiten heute, Freund? Für uns ist nicht so weit das Auge reicht Ferienland. Und das blaue Meer, Gottes freie Natur? Erinnerst du dich, L., an den Ausflug nach Casa Bianca? Im romanischen Kirchlein von Lucese das: „Deo bene-dici,/ E sovra il tuo bel colle,/ Eterna sia la dolce Primavera…”: Gott segne uns/ Über deinem schönen Hügel,/ Ewig sei der Frühling und ewige Blumen… toskanische Zungenbrecher die Mauer entlang, die sich für mich sicher nie öffnet. Froh gehen wir durch menschenleeres Land. Wie vor der Erschaffung der Welt, Wind streicht über unendliche Kastanienwälder, und die Quellen rauschen. In der Ferne die Bergzüge. Ruinen von Bergdörfern wie aus TausendundeineNacht, und der Berg Prana nebelumwölkt. Wir legen uns in einem Gehöft unter eine regennassen Heuschober. Wilde Krokusse ringsum, das Haus sorgfältig verschlossen, als wollten die Bewohner bald wiederkehren. In Borgo a Mozzano sagte der Lehrer Bianchi, die rote Region habe neue Gesetze erlassen, die Comunità Montana müsse die verlassenen Gehöfte wieder bewohnbar machen, der Exodus, die Armut, die verwilderten Äcker zeigten die Dramen, die innern Verletzungen seien geblieben, geblieben auch die schreckliche Entvölkerung. Ein Teil der Leute ist ins Ausland gegangen, nach Deutschland und Frankreich, nach Argentinien, ein Teil lebt im Flusstal, bevölkert sei ja das Land nur im Sommer, wenn die Leute aus Viareggio, aus Pisa, aus Florenz, aus London und Frankfurt in die Sommerfrische ziehen. Krokusse ringsum, zarte Jenseitsblumen, Verlassenheitsatmosphäre. Durchscheinend das Violett, ein Wunder, weißt du noch, L., durch die zerbrochenen blinden Glasscheiben der verrauchte altertümliche Bauernkamin, genau wie der erste Blick in unser Haus hier, weißt du noch: ein umgekippter Stuhl, und in der leeren Flasche war der Wein verdunstet. Der alte Bauer Vince stand auf der Leiter und schnitt den Feigenbaum; unten am Meer sah man das Blinken der Lichtreihe von der Via Aurelia her. Wir wagten kaum, ihn zu fragen: Bis nach Siena hinunter haben wir mit Häuserblick die Gegend abgesucht. Hier sind wir geblieben. Doch ein Stich war’s dann, als wir Naiven hier reiften und es erfuhren. Weißt du noch, Bianchi, ein Schock fast, dass, so brutal gesagt, Poesie hier einfach und billig geworden sei, Reichere (ha: wir) dürften sich’s leisten, die verlassene Schönheit geht an den Mittelstand, quer durch di europäische Sozioökologie. Die Entwicklung neuer Verkehrsmittel, Kommunikation, das wirkt wie ein selbstgemachtes Schicksal. Von wem gemacht? Der Weg zur Stadt war zu weit mit dem Maultier oder zu Fuß. Der Städter, der Ausländer kam per Boeing und per Auto, kaufte die ver-lassenen Gehöfte auf, das Land wurde enteignet vom Wahnsinn der Plastikkultur und der diversen ‚Wirtschaftswunder’. Weiß Gott, wie weit die es bringen würden, alles Alte erschien eine Zeitlang wie faul und weit und mühsam und verkommen, die Natur nichts mehr wert. Bis dann der Hunger umschlug, die kunststoffgestopften Mäuler be-gannen zu kotzen. Vor Jahren ist Vince, dem unser Haus ein Leben lang gehört hatte, ge-storben. Wir sind die letzten in Vinces Trauerzug gewesen. Der kleine Friedhof in Pieve. So schön klar ist das Gras der Berge seit langem nicht zu se-hen gewesen. Ich machte eine weite Handbewegung, ein besseres Panorama – hinter den Augenlidern – hätte er sich nicht wünschen können. Das typische Motorengeheul der Sägemaschinen, nichts hat sich verändert. Und den Minzegeruch wird er nicht mehr riechen und nicht mehr hören kön-nen? Immer an diesem Graben entlang. Immer hat er an solch einem Graben gelebt: Grasmähen für die Tiere, Wiese, der Graben daneben, hinter dem Haus. Sense. Gratwanderung. Scharf schneidet das ein. Wie viel Uhr ist es. L. versteht nicht. Sie steht da ganz vorn am Grab, wird eben von der schwarz verschleierten Tochter des Toten umarmt; L. streichelt sie schwesterlich. Langsam den Sarg hinab lassen. ‚Welches Haus ist das dauerhafteste? Das des Grabmachers, es dauert bis zum Jüngsten Tag!’ Sie schieben den Sarg seitlich unter die Betondecke und lassen ihn dann an Seilen hinab, Gepolter, drei lehmige Erdklumpen nachwerfen, ein paar Blumen. Fades Blumenwasser, auch Blumen verwesen, doch ohne eklige Maden, kein sich auflösender Kadaver. So war’s gut, so, als sträube sich der Körper, er will seine Form nicht hergeben. Es bleibt mir in der Nase ein süßlicher Geruch, sage ich. Leichenhalle zu Hause in Schäßburg, Kränze, Schwarz… schwarz. L. Schweigt, sieht zurück. Komm, gehen wir, ich habe Angst vor dem Weinen seiner Tochter. Wir gehen durch das Gewirr der Grabsteine. Ruhe in Frieden. Ich lese die Goldbuchstaben im Marmor, ein Foto, ein junger Mann. Auch der Ziegenstall oben neben der torre ist zu einer niedlichen De-pendance der Touristensiedlung ausgebaut worden, das neue Geschäft eines Londoner Friseurs mit verschleiertem Blick. Mit dem Alten stirbt eine Zeit, sagte ich zu L. bei einem Regenspa-ziergang. Aber das, was ich jetzt sehe, ist wirklicher, dort, fahl im Sonnenlicht die Glühlampen an den Grabsteinen. Unbeschreibbare Gefühle aushal-ten, den Schmerz der gebückt gehenden Tochter, der Fischersfrau, mit ihrem Mädchen an der Hand. Der gute Alte, der so verschmitzt lächeln konnte, kaum einmetersech-zig groß, hat sein Leben gelebt, wenn auch auf kleinstem Fuß, hat Kinder in die Welt gesetzt, die Tochter, der Sohn ist in Argentinien, Enkel. Sein Weib, die Assuntina mit ihrer herzlichen, aber kaum ver-ständlichen Nuschelrede, zeigte bei jedem unserer Besuche in ihrer steinkalten und verrauchten Wohnung verblichene Fotos aus den fünf-ziger Jahren, der Sohn wirkte darauf groß und füllig, braungebrannt. Der ‚neue’ Brief vom Sohn schon ein paar Jahre alt. Seit zwanzig Jah-ren haben sie ihn nicht mehr gesehen, irgendwie ist er schon in die Ferne entrückt, Erinnerung. Die Reise nach Europa ist zu teuer. Und sie nach Argentinien?! Ja, ich war als junger Mann auch dort, sagte Vince dann und sog nachdenklich an seiner Pfeife, aber jetzt… Das klang so, als spräche er von einem Ausflug auf den Mond. Unser An-gebot, den ausgewanderten Sohn einmal in Buenos Aires von unserem Haus aus anzurufen – ich dachte dabei blödsinnigerweise an so etwas wie eine winzige Wiedergutmachtung, der Argentinier sollte aus sei-nem ehemaligen Elternhaus angerufen werden , lehnten sie freundlich dankend aber bestimmt ab. Assuntina ein wenig jammernd, ‚il mio cuore’ sagte sie, ich kann mich nicht bewegen, mein Atem geht schwer. Sie hat Kreislaufbeschwerden, dick geschwollene Beine, Wassersucht. So war sie nun auch bei dem Begräbnis nicht dabei. Mit langen Reisen hatte sie sich abgefunden: Dass du dich nicht unterstehst, im Grab zu rauchen, hieß es oft im Scherz, und ich dachte an etruskische Grabinnenräume Er wird die lange Reise eben ohne mich antreten müssen. Sie schob die Ablehnung unseres Angebotes , in Argentinien anzurufen, auf den Körper, gemeint war aber die Angst vor der Aufregung, dem Schock, diese Stimme aus der Ferne zu hören, so ein-fach: drei Minuten lang und dann aus für immer. Das Telefon zur Vor-spiegelung falscher Tatsachen lehnten sie ab. Getrennt ist getrennt, basta. Damit hat man sich abgefunden. Unvorstellbar so ein Abschied und doch ganz und gar normal. Jeder hat sein Schicksal, sagte Vince, bestimmt, das muss man annehmen. Einiges davon war ihm ins Ge-sicht geschrieben, Falten, Fältchen, gegerbt, Rinnen, fast schon ano-nym un d wie eine Haut, die eben so geworden ist, wie sie ist, wie ein fremder rätselhaft pergamentner Gegenstand, der uns gar nicht gehört. Und genau so erzählte er auch, immer ein wenig lustig und aufgek-ratzt, seine Geschichtchen aus dem ersten, dem zweiten Weltkrieg, seine Auswanderungen nach Spanien, Argentinien, sein Aufenthalt als Kriegsgefangener in der Nähe von Wien, wo er ‚cartofele’ hat anbauen und essen müssen. K.und k.Zeit war das und gekämpft hat er am Ison-zo, nein, als Koch war er mitgestapft („Ich war klein, da musste ich mich nicht bücken, wenn die Kugeln um mich herum pfiffen.“) Er hat dann nach dem Krieg als Maurer gearbeitet, später, als er ins Renten-alter kam, auf seinem Acker, bis ins zweiundachtzigste Lebensjahr („Ich sterbe, wenn ich aufhöre, ihr werdet es sehen“). Verkauft hatte er Haus und Acker, um das Geld nach Buenos Aires zu schicken. Licht¬fen¬ster mit schwarzen Buchstaben-Leitern Vom verwitterten Turm aus Pieve schlägt eine Uhr, mein Herz schlägt schneller, das Uhrwerk rasselt, wieder eine volle Stunde, es klingt durch die graue, Gottseidank noch saubere Mauer an mein Ohr. Ich sitze in meinem Zimmer, täglich, der Blick geht ganz nach innen, hi-nein in ein Licht¬fen¬ster mit schwarzen Buchstaben-Leitern oder Flug-schmetter¬lin¬gen, dem Bild¬schirmfen¬ster, es sind Buchstabenreihen, mit denen ich abhebe, und hebe nach innen ab, oder der Blick geht von Zeit zu Zeit nach außen, dann ist vor mir das Meer, der Horizont, da schlägt sich das Auge an: Him¬mel- und Wasser-Berührung, die Kontur scharf, vor allem am Abend bei untergehender Sonne, süd-westlich Korsika, nord¬westlich Ven¬timiglia, der Golf von Genua, nah aber Pedona mit einem Fern¬sehrelais, ein Berg¬rücken, wie ein liegen-des Tier, kein Fenster gegenüber, keine Häuser¬zeile, die den Blick hemmt, nur ferne Dorfkon¬turen wie eine Fata Morgana, die am Berg hängt, als wäre alles aus der Zeit ge¬schnitten, als schreibe man nicht 2008, sondern 1581. AGLIANO, alieno ... alieno, der Fremde DAS MEER liegt vor mir die Ferne wird zu nichts täglich/ wie schön der Blick Briefmarke/ blau zum Verschicken Sichtbar ist alles im Exil/ oft schmerzlos und unterwegs Da unten das Meer/ nichts als mein Blick rund wie die Zeit eine große Träne Und jede Klage zeitlicher Verschickung ist kläglich/ hast du sie nicht als winziges Abbild erkannt. Wol¬kentiere kommen von Westen wie Himmels¬inseln durch die Oli-venzweige. Al¬les ist unendlich klar und offen. Kein Straßenlärm, wie früher in der Frankfur¬ter Leerbachstraße: ein rotes Auto, ein ein¬zelner Junge, eine Frau mit Hund, ein Lieferwagen, doch Lei¬chenwa¬gen gab es keine, schwarz ausgeschlagene, wie in meiner Kindheit in Trans-sylvanien mit Popen, die Weih¬rauchfässer schwenkten, in Frankfurt distin¬guierte Her¬ren, die, plötzlich an die Vergäng¬lichkeit ihres Kör-pers erin¬nert, stumm den Hut lüfteten und stehen blieben. Hier geht meist Hannah durch das Haus, die Treppe hinab, die ich wie in Ge-danken hinab¬gehe, Pause; als strömte da alles wie¬der ein, füllt sie alle Vasen verschwen¬derisch mit Rosen, Tulpen, Kamelien, im Winter auch Rosma¬rin, sogar Orangen oder Zi¬tronen; und sie raucht, so spürt sie am besten die Pause, ein Genuß: sie steht sinnend an der Tür, stellt Gläser bereit für den Abendtrunk. 16h. Dann der Ort ein Topos / Schnitte in der Mauer / blutrotes Ereignis in den Wolken über Pedona / Widerschein in den Fenstern / darin spiegelt sich der Garten / die Bäume / wir, unsere Jahre. / Als wäre alles Unsere Geschichte / der Küchenschrank / hier gekauft, Von dir “restauriert” / 82 im Februar, als der Selbst-Mörder Fotograf kommen sollte / mich aufnehmen für Serkes Buch. Oder Widerschein im Zinngeschirr / auf einem antiken Eckschrank / ja wann war das / Amsterdam 1972 Grachten / Trödlermarkt / und dem Lupenschleifer Baruch / der de Monaden kannte / in uns allen. Ein glühend roter Lichtstrahl / fällt fast horizontal ein / ein Abschied neigt sich der Erde zu / wie ein sehr langer großer Schatten / wie der Tod / vorstellbar / fäll auf die Hopi Kashinas hier / 1979 im Juli / im Jahr Als mein Vater starb / alles hier in ein jung gebliebenes Jetzt Topos, Schnitte “combinazioni dei fondi”, so sagte er / ich suche im Herzen Schichtontologien / Schnitte, alte Tage Bücher und Nacht Bücher und eben brachtest du von den Fischers aus Pieve eine Buch Kassette Wölfli / wann war das: 76? Bei Elka Spoerri in ihrem “Stöckli” bei Bern. Von der Wiege bis zum Graabe. Oder Durchsichtig arbeiten und schwitzen, leiden, und Drangsal betend zum Fluch? Schnitt. Und musst einsehen / großes Gespinst Eurydike / und hol sie... Oder die / Unterwelt / Ulyss lässt die Mutter Blut trinken um kein Schatten mehr zu sein. Und wenn wir uns vornehmen / am 6. Dezember nach Neapel zu fahren / müsste natürlich Cumae und auch die Sibylle besucht werden, denkst du an Waste Land von Eliot? / Und die Ebenen müssen zusammen- kommen / parallel laufen, das ist die Rettung. ORIENTIERENDE TOURISTISCHE IN-FORMATIONEN CAMAIORE, PIEVE, AGLIANO Agliano Peralla Agliano gehört zu einem mittelalterlichen Dorf im nördlichen Teil der Toskana (Versilia) am Fuße der Alpi Apuane, 10 Min. von der Marktstadt Camaiore, welche wiederum 20 Min. von der Küste entfernt ist (Viareggio/Forte dei Marmi etc.). Die Stadt Lucca mit ihrer Stadtmauer ist ca. 35 Min. Fahrt Richtung Süden entfernt. Tagesausflüge nach Siena (2 Std.), Cinque Terre (50 Min.), Marmorminen von Carrara (45 Min.) sind leicht zu unternehmen. Sie können in die Carrara-Berge fahren, oder zum Strand gehen – der nächstgelegene ist in Viareggio, der beliebteste in Forte dei Marmi (ca. 35 Min.). Die Einkaufsmöglichkeiten der Umgebung (Lucca/Florenz/Forte dei Marmi) sind legendär! Der Mittwochsmarkt (Kleidung) in Forte dei Marmi ist bekannt für Schnäppchen. Agliano liegt ideal, um das Puccini Festival zu besuchen (40 Min.). Dieses wunderbare Open-Air-Festival findet im Juli & August in Torre del Lago statt. Flughäfen: Pisa, 45 Min. von Agliano. Nächster Flughafen Pisa 35km Sehr viele alte Ortschaften rings an und in den Bergen wurden eingemeindet. So dass Camaiore mit seinen 73 Quadratkilometern Oberfläche zur zweitgrößten Gemeinde Italiens zählt. Oberflä-chenmäßig etwa so groß wie die mittlere Großstadt Stuttgart: The village of Agliano Peralla belongs to the municipality of Camaiore, in the province of Lucca, region Toscana. The village of Agliano Peralla is 11,42 kilometers far from the same town of Camaiore to whom it belongs. To the municipality of Camaiore also belong the localities of Acquaviva (7,93 km), Anticiana (17,85 km), Bartoli (16,82 km),Bastianella (5,64 km), Buchignano (11,36 km), Bucine (1,44 km), Capanne (3,85 km), Capanne di Licetro (10,53 km), Capezzano(2,97 km), Capezzano Pianore (3,00 km), Casoli (11,21 km), Castello (17,53 km), Cateratte (1,67 km), Culla (6,58 km), Fibbialla(15,37 km), Fibbiano (16,73 km), Gombitelli (14,37 km), Greppolungo (8,25 km), La Culla (6,59 km), Licetro (11,09 km), Lido di Camaiore (1,68 km), Lombrici (9,62 km), Marignana (8,64 km), Metato (10,86 km), Migliano (15,43 km), Montebello (6,63 km),Monteggiori (5,02 km), Montemagno (10,93 km), Nocchi (11,42 km), Orbicciano (16,67 km), Panicale (11,34 km), Pedona (5,90 km), Pieve (8,71 km), Pieve di Camaiore (6,37 km), Pontemazzori (9,35 km), Prato di Sopra (10,94 km), Salapreti (10,24 km), Santa Lucia (4,82 km), Santa Maria Albiano (18,08 km), Secco (2,07 km), Stignano (18,30 km), Torcigliano (13,57 km), Trina (10,43 km),Vado (8,20 km), Vallone (12,07 km), Valpromaro (15,18 km). The number in parentheses following each village name indicate the distance between the same village and the municipality of Camaiore. The locality of Agliano Peralla rises 275 meters abobe sea level. The population of Agliano Peralla counts 28 inhabitants. Please find in what follows: A set of photos about Agliano Peralla (when available) Weather and weather forecast for the municipality of Camaiore, to whom Agliano Peralla belongs. Map and road map of Agliano Peralla A selection of videos about Agli-ano Peralla The latest news about Agliano Peralla, the municipality of Camaiore, the province of Lucca and the Toscana region. http://italia.indettaglio.it/eng/toscana/lucca_camaiore_aglianoperalla.html Peralta, das Künstlerdorf der Bildhauerin Fiore (Foto: Tripadvisor) CAMAIORE UND DIE KASTELLE Camaiore besitzt Ruinen seiner dreizehn Kastelle, die zur Verteidi-gung der Frankenstrasse dienten. Dieadligen Familien von Corvaia, Vallecchia, Bozzano und Montemagno bauten ihre Landgüter rings um diese Befestigungen. Die Kastelle wurden vor allem vom Stadststadt Lucca zerstört, da sie seine Macht schmälerten. Camaiore befindet sich in einer großen Mulde am Fuße der Apua-nischen Alpen und ist gegen das Meer von einer Kette von Hügeln eingeschlossen, die Camaiore von der Küstenebene trennen. Ca-maiore ist nur 8 km von Viareggio und Pietrasanta entfernt, 16 km von Forte dei Marmi, 24 km von Lucca, und ist durch bequeme Straßen erreichbar. Zahlreiche Ortschaften sind auf den Anhöhen um Camaiore herum angelegt. Peralla und Agliano gehören dazu. Der historische Stadtkern Camaiores und die angrenzende Bene-dektinerabtei sind besondere Anziehungspunkte für Besucher, ebenso die antike romanische Pfarre in Pieve (9.Jhdt.) Posta lungo la Via Francigena tra le ricche diocesi di Lucca e Luni, la badia di San Pietro venne fondata nell'VIII secolo da monaci Benedettini. La sua prima menzione risale al 761 e la chiesa è l’unico resto dell’antico monastero, oltre ad alcune strutture, refettorio e resti del chiostro, inglobate in edifici privati. Presenta ancora i suoi tratti romanici originali, dopo gli interventi del XII secolo, con la pianta basilicale a tre navate, divise da colonne squadrate ad archi a tutto sesto, semplici capitelli e tetto a capriate; l’abside e la parte bassa della facciata. L’antica porta del convento è l’unica testimonianza del monastero arrivata ai giorni nostri. Nel XIX secolo, vennero intrapresi importanti lavori di ristrutturazione che in-teressarono il paramento murario laterale esterno, le monofore nelle navate minori e la chiusura delle finestre seicentesche. All’inizio del XX secolo invece venne riscostruito il campanile e il timpano della chiesa. All'interno della badia si trova un’effige trecentesca della Vergine, la Madonna della Pietà, che si salvò dagli incendi e dai saccheggi delle truppe di Marco Visconti nel 1329; un affresco rappresentante Santa Maria Egiziaca e accanto l’altare settecentesco in marmo del Lazzoni. Da segnalare anche un’acquasantiera di Stagio Stagi del 1520. Fotografia: APT Versilia Die Pfarrkirchei, Pieve, von Camaiore ist dem heiligen Johannes und Stephan ge-widmet. XII Jahrhundert. Romanisch. Mit zweibogigem und dreistöckigem Glo-ckenturm. Das Taufbecken, das sich innerhalb dieser Kirche befindet, wurde aus ei-nem wertvollen romanischen Steinsarg aus dem III Jahrhundert geschaffen Ital. Non lontano da Camaiore, la pieve di Santo Stefano e San Gio-vanni Battista conserva il suo apetto romanico-lucchese. Forse ori-ginaria del IX secolo, l'edificio attuale è databile al Duecento. Della costruzioni originale rimangono tracce della muratura sul fianco si-nistro e di un antico portale a due arcate con colonna centrale. La facciata venne restaurata nel XVII secolo. Accanto all’unica abside si alza il campanile quadrato, aperto da quattro ordini di bifore nella parte posteriore. L'interno è a tre navate, suddivise da pilastri rettangolari con archi a tutto sesto e monofore. Il tetto è a cavalletti, mentre il pavimento in marmo è decorato con disegni a mosaico. Sulla destra dopo l’ingresso si trova il fonte battesimale, antico sarcofago romano in marmo del VI secolo. Il presbiterio rialzato ha tre monofore, men-tre le piccole absidi nelle cappelle laterali sono da far risalire al pe-riodo barocco. Nella cappella di destra da segnalare un crocifisso del XVII secolo; sulla sinistra dell'altare maggiore un trittico di Bat-tista da Pisa del 1443, raffigurante la Madonna in trono con Bam-bino. Joachim Wittstock Im Oberland von Camaiore Motto: In der Baron von Brukenthal’schen Bibliothek Hermannstadt nahm ich ein Buch aus der Zeit des Bibliotheksgründers zur Hand, das mich auf unsere Italienreise einzustimmen versprach: Herrn Doktors Johann Targioni Tozzetti's Reisen durch verschiedene Gegenden des Großherzogthums Toskana, in einem Auszuge von J. C. Jagemann. "Zweyter Theil" (Leipzig 1787) enthält auf S. 211 die verheißungsvol-len Sätze: „... linker Hand öffneten sich zwischen den Bergen die fruchtbarsten und schönsten Thäler, worunter Valle di Camajore die blühendste Provinz der Republik Lucca ist. Es ist in der Gestalt eines Theaters mit den schönsten Olivenwäldern umzingelt, und mit Saatfeldern, Wein-gärten und Obstbäumen bedeckt, und mit solchem Fleiß angebauet, als es nur immer möglich ist. In der Mitte des Thals liegt der volkreiche und sehr nahrhafte Flecken Camajore...“ Freitag, 2. April Nachdem Linde und Dieter abgefahren waren – wunschgemäß etwas vor neun Uhr – saßen wir eine Weile in dem Parterreraum, wo der große (durch eine Platte verlängerte) Tisch vom Frühstücksgeschirr noch nicht befreit war. Die Pendeluhr habe ich im Rücken, ihr Sekundenticken ersetzt für eine Weile das zuvor noch lebhafte, schon von dem bevorstehenden Aufbruch gekennzeichnete Gespräch. Wie man wohl die Uhr aufzieht? Das will Inge wissen, die auf diese Frage am Vorabend von Linde bereits erfahren hat: mit Hilfe der Ge-wichte. Wir treten vor den vermutlich rund hundert Jahre alten Me-chanismus, und es will uns nicht recht gelingen, die unsäglich langsam, in stetem Pochen, emporgewanderten Gewichte hinabzuziehen, damit sie dann ihren streng geregelten Aufstieg erneut beginnen. So mag es uns auch mit anderen Werken und Apparaten ergehen, die uns von den soeben verreisten Gastgebern zur Nutzung und Wartung übergeben worden sind. Wieder auf unseren Plätzen, machen wir einander auf das Vogelge-zwitscher aufmerksam, das vom gelegentlichen Hundegebell kaum beeinträchtigt wird. „Es ist für sie offenbar beruhigend zu wissen, dass jemand im Haus ist“, sage ich. Wir hatten uns in den vergangenen Tagen und Wochen manchmal gefragt, was uns diese Einladung einbrachte, was denn den Ausschlag gegeben haben mochte, zumal Linde und Dieter mehrmals betont hatten, es seien nicht Dienste auf dem Grundstück, die sie von uns erwarteten, also nicht etwa das zu leisten, was die im Frühling wohl herangezogenen Saisonarbeiter im Hügelland üblicherweise ver-richten.(?) Nur Handgriffe – ja, solche werden, ohne dass wir darüber viel ge-sprochen hätten, uns abverlangt, Selbstverständlichkeiten wie: den Ka-ter Roméo mit Milch und Kraftnahrung in Form brauner Kügelchen zu füttern, den Rasenmäher zu betätigen und Ähnliches mehr. Inge stimmt meiner Bemerkung zu, worauf ich fortfahre, den plausib-len Beweggrund weiter zu untermauern. „Wir sollen das Haus beleben, sollen Teil an seiner Beseelung haben und es dadurch auch erhalten und schützen. Ein Haus, in dem Menschen sind, ist etwas ganz an-deres als ein verlassenes Anwesen, besonders hier im Bergland-Weiler, wo manches Gebäude auch Zeiten des Verfalls gekannt hat, der Seelenlosigkeit schlechthin.“ Uns war gesagt worden, dass auch der Bau, in dem wir uns befinden, vor dreißig Jahren ganz anders ausgesehen habe – der eine Teil war kaum mehr benutzbar, weil er im Lauf von zweihundert Jahren ziem-lich verwittert und verelendet war. „Sie hängen nämlich sehr an diesem Haus“, füge ich hinzu. Am ersten Abend hatten sie uns durch die Räume geführt, und es wurde immer wieder auch davon gesprochen, wie aus dem einstigen Zustand der Verwahrlosung mühevoll das jetzige Stadium solider Erneuerung er-reicht worden war, durch vielfaches Anpacken bei den erforderlichen Arbeiten, wobei Tünche und Farbe den Wänden und Balkendecken zum heutigen Aussehen verhalfen.un sehen wir noch deutlicher, wie sehr Linde Recht hatte zu sagen: „Dies Haus ist unser Leben.“ Während die beiden sich als Stipendiaten der Stadt München in der Villa Waldberta am Starnberger See aufhalten, ist also unsere Aufga-be: Kräfte der Wahrnehmung und des Handlungsvermögens so einzu-setzen, dass diese Lebensstätte nicht nur in den ganz praktischen Ge-gebenheiten, sondern auch als wohnlicher Ort erhalten bleibt – und Wohnlichkeit ist ein vorwiegend seelisches Moment. Die Pendeluhr gibt im Erdgeschoss den Rhythmus an, sie pulst ord-nungsgemäß, gar mit beharrlicher Insistenz ihr Prinzip in den Raum, und zwar so gewissenhaft, dass wir schon nach Stunden erkennen, wie sie in Gang zu halten ist. Die Gewichte haben sich nach und nach tie-fer hinabgelassen, und so wissen wir: Sie müssen nicht hinuntergezo-gen, sondern im Gegenteil an der Kette wieder gehoben werden, um ihren Zeitmesser-Dienst verrichten zu können. (!) Sonnabend, 3. April Auch heute verweilen wir nach dem Frühstück etwas im Parterre des Hauses. Es ist dreigeteilt. Zunächst gibt es das Mittelstück mit der Pendeluhr, die in meinem Rücken ihren Takt und, extra vernehmlich, die Stunden schlägt. Vor mir habe ich den Treppenaufgang, der die aus grob behauenen Stäm-men gebildete Zimmerdecke durchbricht und unwillkürlich den Blick hochgleiten lässt. Wieder und wieder betrachte ich die von weiß ge-tünchten Wänden durch schlichte Beize, durch braunen Anstrich zu deutlichem Kontrast abgehobene klobige Deckenstruktur (Kastanien-holz, ließen wir uns sagen, sei da verwendet worden). Das Mobiliar wiederum ist feineren Zuschnitts, der zierliche Eck-schrank, der in die Mauer eingelassene Wandschrank und eine Kom-mode aus Großelterntagen – allesamt sind sie für Glasgeschirr und Porzellangut bestimmt. Von mir aus rechts liegt, durch die an zwei Stellen eröffnete Wand er-reichbar, jenes Zimmer, dessen niedere Sitzgelegenheiten, dessen Sofa zum gemütlichen Aufenthalt einladen, es ist eine Stätte des Gesprächs und der Geselligkeit. Die eine Wand dort wurde, bis zur Zimmerde-cke, mit einem Regal versehen, in dem sich Buch an Buch reiht – deutsche Literatur, Weltliteratur –, das Wandgestell ist außerdem mit Schallplatten und Kleinplatten (ungern bezeichne ich sie als CDs) be-stückt und vom Fernseher belegt. Ein Kamin zieht drüben die Aufmerksamkeit auf sich. Er wird am Abend mitunter in Betrieb genommen, weniger um zu heizen, als dem Geknister der verbrennenden Scheite, dem Geprassel des Astgesprie-gels zu lauschen. Korb, Blasebalg, Schürhaken, Kohlen, Zange, Aschenhaufen erinnern mich an Kindheitstage, an Notwendigkeiten zwingender Art, auch an die Herbheiten der Holzfeuerung. An der Bücherstellage hängt eine Marionette, ein prachtvoll ausgerüs-teter Ritter, gepanzert, geschient, behelmt und mit Schild bewehrt. Die Figur gehört wohl zum Puppenspiel, das, just vor meinen Augen, zwei weibliche Personen verweilen lässt, Damen im langen Gewand, mit beweglichen Köpfen. Ich nehme sie auf und stelle fest, wie sehr sie schon durch die Veränderung von Hals und Haupt den Eindruck von Leben erwecken. Und dann der dritte Raum zur ebenen Erde, die Küche. Auch sie ist mit stattlichem Kamin versehen, der aber nicht verwendet wird; der zum Kochen und Anwärmen der Speisen bestimmte Herd neuzeitli-chen Stils steht daneben. Eine Kredenz ist da, weiterhin eine Vorrich-tung zum Aufbewahren von Tellern (aus Zinn, Fayence, aus gebrann-tem Ton), zudem gibt es Abstellgelegenheiten für Krüge und andere Behälter. Die geräumigen Tische ländlicher Provenienz dienen dem täglichen Bedarf oder täuschen, bei seltenem Gebrauch des Ererbten, eine tagtägliche Nutzung bloß vor. Sonntag, 4. April Obwohl ich nicht beabsichtige, die einzelnen Stationen unserer Reise möglichst ausführlich zu verzeichnen, also ein regelrechtes Tagebuch zu führen, seien doch einige Momente notiert, als Anhaltspunkte im Zeitverlauf. Am 1. April wurden wir von Linde und Dieter zum Meer gefahren (meist sitzt Linde am Lenkrad), an die von Camaiore nächstgelegene Küste – jene des Ligurischen Meeres (und nicht des Tyrrhenischen Meeres, wie ich dachte, das erstreckt sich weiter südlich, zwischen Korsika, Sardinien, Sizilien und dem italienischen Festland. Ligurien ist allerdings nördlicher, es umfasst den Golf von Genua mit einem breiten Küstenstreifen). Vom Lido di Camaiore ging es dann, in Strandnähe, nach Viareggio. Hier machten wir im Bootshafen Halt, wo Linde und Dieter uns ihr kleines Schiff zeigten („Frasquita“ genannt, in Hamburg registriert). An dem „Strand der Barbaren“ (Costa dei Barbari), naturbelassen, unbewirtschaftet, gingen wir eine längere Strecke über den Ufersand, für uns Besucher aus der Ferne in diesem Jahr der erste sinnenhaft-unmittelbare Eindruck vom Meer. Auf der Rückfahrt, noch im Badeort Viareggio, lenkte Dieter unsere Aufmerksamkeit auf den Turm, in dem Nicolao Granucci Jahre hin-durch als Strafgefangener sein Leben fristete, ein Wesend-Verwesender aus Renaissance-Zeiten, in Dieters Roman Der Verweser zur Gegenwärtigkeit einer literarischen Gestalt erweckt. Während die-ses Ausflugs an die Küste notierte ich nichts, da ich vom Vorsatz er-füllt war, die soeben berührten Stätten noch aufzusuchen. Der Nachmittag brachte uns – Linde samt Hunderl Felix, Inge und mich – nach Buchignano, einem Nachbarweiler Aglianos, durch Waldpartie und Olivenhang bequem erreichbar. Tags darauf, nachdem unsere Gastgeber abgereist waren, machten In-ge und ich uns auf, Camaiore zu Fuß zu erreichen. Das Vorhaben war als ein Auskundschaften des Wegs (der kurvenreichen Zufahrtsstraße) gedacht, geplant war zudem eine kurze Besichtigung der auf weiter Fläche ausgebreiteten Ortschaft, auch wollten wir Lebensmittel ein-kaufen. Flugs vergingen die Stunden, indes wir auf abschüssiger Bahn durch den Wald gingen, dann die erste kompaktere Siedlung (Pieve genannt, bedeutet Pfarrkirche) querten und schließlich die mittelalterlichen Burgcharakter aufweisende Innenstadt Camaiores auf uns wirken lie-ßen. Während des Rückmarschs kreuzte Christel zufällig unsere Bahn. Sie, die gerade nach Hause fuhr, nahm uns in ihrem Wagen auf und brach-te uns von der Kirche in Pieve (einem respektabel alten Bau, ab dem 8. Jahrhundert datierbar, auch spätere Phasen lassen sich an der roma-nischen Kirche identifizieren) hinauf zu jener Stelle, wo – vor dem Bergnest Agliano – Fahrzeuge im steilen Gelände wenden können. [...] Montag, 5. April Zur Bushaltestelle in Camaiore und von dort gegen Abend wieder ins „Daheim“ schaffte uns Christel, entgegenkommend wie immer. Heute war Lucca im Programm, einst Stadtrepublik, zeitweilig Hauptort eines Herzog-tums. Lucca überraschte uns durch die Vielfalt alter Bauten. Der erste Ein-druck war der des Staunens und ein wenig auch der Benommenheit. Ein neuerliches Hinfahren wird wohl zur Klärung der Eindrücke die-nen. Am 20. April–- der Zeitensprung dahin sei mir erlaubt – erfüllte sich tatsächlich die Wochen vorher gehegte Hoffnung. Der zweite Besuch dieser anziehenden Stadt trug sehr dazu bei, eine bessere Übersicht zu gewinnen. Das konnte schon deshalb geschehen, weil wir den Stadt-wall von seinem westlichsten Punkt (in Nähe der Piazzale Giuseppe Verdi) bis zu einem im Süden gelegenen Abschnitt abgingen, vor allem aber, da wir den Turm (Torre) Guinigi bestiegen, der den Palazzo einer einst einflussreichen Kaufmannsfamilie überragt und beste Aus-sicht auf die gesamte Siedlung und das hügelige Umland sowie auf die in größerer Ferne liegenden Gebirge – auf die Apuanischen Alpen – gestattet. (Zumal wenn man von einem so prachtvollen Wetter be-günstigt ist, wie wir es hatten, nach den vergangenen Regentagen ein kaum glaublicher Wandel zum Vorbildlichen.) Nun fahre ich in der Beschreibung des Hauses, in dem wir wohnen, fort. Im ersten Stock sind die beiden Arbeitszimmer eingerichtet, gleich neben der Stiege jenes von Dieter, einige Schritte weiter, zu Nummer eins gegenüber liegend, das von Linde. Das Übersetzungs-„Labor“ betrete ich, der gemächliche Interieur-Abbilder, zuerst. Eine Vielzahl Bücher hat Linde übersetzt, sie, die ihre Übertragungen anfangs mit Linde Birk unterzeichnete (den Band Die Kreuzzüge. Traum und Wirklichkeit eines Jahrhunderts, 1967) und später mit dem auf Linde Birk verkürzten Namen signierte. Band auf Band sind in einem Regal aneinandergefügt, lapidar mit dem Übersetzungssignum versehen, ansonsten verlautet kaum je ein Wort über diese fleißige Mitarbeiterin bedeutender Verlage (Hoffmann und Campe, Rowohlt, S. Fischer, Diogenes und andern). Lediglich in einem Nachschlagewerk ist sie präsent, in Übersetzerinnen und Übersetzer. Verzeichnis 1999/2000 (herausgegeben von der Bundessparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller in der IG Medien). Prosa repräsentativer Autorinnen und Autoren, Literarisches der lesba-ren, zum Lesen einladenden Sorte, Kriminalromane eingeschlossen (von Georges Simenon vor allem), holte sie aus dem Französischen und Italienischen ins Deutsche. Sie übersetzte zudem den Textteil von Kunstalben sowie Sachbücher verschiedener Fachrichtungen (Psycho-logie, Soziologie, Philosophie). Sehe ich mich in dem Zimmer um, das, wie auch die übrigen Räume des Hauses, stilvoll und einfach eingerichtet ist, wird erkennbar, wie sehr Linde vom Wunsch nach Übersicht erfüllt wird, Tand und Ballast ist der Kampf angesagt. Eine facettenreiche Geistigkeit – dieser Ein-druck wird von der reichhaltigen Bibliothek hervorgerufen. Lexika und Richtungweisendes in mannigfachen Bereichen sind da vereint. Das für den Vermittlungsdienst des Übersetzers unerlässliche Doku-mentationsmaterial und anderes mehr steht ihr, steht Dieter zur Verfü-gung.[...] Mittwoch, 7. April Das Zweirad glitt am Vormittag hinab, mit mir als Fahrgast, versteht sich. Die Bremsen vorne und hinten hatten vielfach zu tun, durfte ich doch der Fahrt nur kleine Partien Freilauf gönnen. Etliche Male musste ich hell auflachen im menschenleeren Gelände, da ich mir vorhielt, wie seltsam es doch sei, dass ich in den abschüssigen Toskaner Bergen mich so flott mit dem Bizikel fortbewege (ähnlich lautet auch die italienische Bezeichnung, Bicicletta). Der Kauf eines Verschlusses fürs Fahrrad, bei der Post die Übernahme eingeschriebener Briefe für Linde und Dieter versetzten mich jeweils an die Grenzen meiner minimalen Sprachkenntnisse, nicht aber ans Ende der Kommunikation. Ob Verkäuferin, Mechaniker in der Velo-Werkstatt, ob Postangestellte des Auskunftsdienstes oder leitender Postbeamte, der mir die Briefe aushändigte – alle hatten Verständnis für die Notlage meiner Redeweise und waren geneigt, auf mein von einzelnen Wörtern und vor allem durch Gesten umrissenes Begehren aufmerksam einzugehen. Und dann wieder die freundliche Fürsorge der d’Inzéos – heute war es Herr Piero, der sich plötzlich auf der Trasse befand und mich, samt Minirad und Einkaufslast, mit seinem Auto den verbliebenen Teil des Anstiegs hinaufbeförderte. [...] Von Dieters Schreibatelier möchte ich jetzt (und wohl auch an den kommenden Tagen) ein Bild skizzieren. Dabei werde ich, wie mir scheinen will, weniger über die Ausstattung des Raums als über ihn als Autor berichten. Das Arbeitszimmer wird, ebenso wie nebenan jenes von Linde, in sei-nen Abläufen und Zielen durch die in Regalen angeordneten Drucker-zeugnisse gekennzeichnet. Die Übersicht zu gewinnen, fällt mir hier nicht leicht. Zwar ist das zeitliche Prinzip im Großen befolgt, und doch wird, durch die Fülle publizistischer Beiträge, durch Präsenzen in Anthologien und anderen Sammelwerken, eher das Mäandrische seiner schriftstellerischen Tä-tigkeit betont. Das Hervorkehren einer Dimension oder auch das Auf-zeigen von zwei, drei Richtungen bedeutete deshalb eine unzulässige Reduktion. Man kann freilich eine Gliederung erzielen (unwillkürlich verfalle ich in den Aufsatzstil und fahre jetzt in diesem fort), wenn man sein Schaffen Themen und Schreibgattungen zuweist. Als Muster lässt sich die Systematik verwenden, die in Lexika genutzt wurde, zum Beispiel in dem bio-bibliografischen Abriss, den das Autorenlexikon 2003/2004 des PEN-Zentrums Deutschland bietet. Vermutlich aufgrund von Angaben des Autors werden hier folgende Schaffensbereiche angeführt: Dieter Schlesak ist „Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer, Diplomgermanist, Lehrer und Literaturredakteur“. Außer Versen und Prosa verfasste er „Essays über Literatur, Grenzphänomene und Religion. Hörspiele und andere Ar-beiten für das Radio“. Zudem entfaltete er eine „Übersetzer- und He-rausgebertätigkeit“. Zunächst erwecken Dieters schriftstellerische Anfänge in den sechzi-ger und seine Arbeit in den siebziger Jahren mein Interesse, jene Pe-rioden also, da er noch in Bukarest lebte (bis Spätherbst 1969) bezie-hungsweise da er – nach seiner Übersiedlung – im Westen Fuß zu fas-sen suchte (in Köln und Stuttgart, ab 1973 in Camaiore, Provinz Luc-ca). Eigene Erinnerungen an jene frühen Zeitabschnitte erwachen zu neuem Leben. 1959 war Dieter als Redakteur der in Bukarest erschei-nenden Publikation Neue Literatur angestellt worden. In dieser Eigen-schaft kam er etwa 1960 nach Klausenburg, um eventuelle Mitarbeit zu besprechen und um für Absatz der Zeitschrift zu werben. Er traf mit Leuten der „Germanistik“ zusammen, die von seiner einsti-gen Studienkollegin Eve-Marie Sill (Assistentin am Klausenburger Deutsch-Katheder) mobilisiert worden waren. Am Abend saßen jene, die sich auch sonst am literarischen Gespräch beteiligten, im Gasthaus „Continental“ zusammen, bei einem Glas Bier oder sonstigem Ge-tränk. Mit Dieter wurde damals auch ich bekannt gemacht, ein noch grüner Student, dessen mangelnde Reife sich unter anderem darin äu-ßerte, nicht zu erkennen, wie unreif er war. Einige Jahre vergingen, bis ich Dieter wieder sah, in der Redaktion der Neuen Literatur – es wird wohl 1967 gewesen sein. Die Schriftleitung der auf Repräsentanz rumänischer Kulturpolitik ausgerichteten Zeitschrift (Vermittlung rumänischer Literatur in einer für den Welt-verkehr wichtigen Sprache) war in einem ansehnlichen Gebäude auf dem Ana-Ipătescu-Boulevard eingerichtet. Hier betreute Dieter Mitar-beiten in den Sparten Lyrik, Übersetzung, Kritik und verfasste selbst in den drei Bereichen Beiträge, die zur literarischen Erneuerung bei-trugen. Lebhaft ist mir auch sein Vortrag über österreichische Prosadichtung im Gedächtnis, den er, vom Hermannstädter deutschen Literaturkreis und vom staatlichen „Komitee für Kultur und Kunst“ dazu eingeladen, Juni 1967 im Festsaal des einstigen Ursulinerinnen-Klosters von Hermannstadt hielt, im Pädagogischen Lyzeum unserer Zeit. Dieter führte in die Problematik neuerer Erzählkunst aus Österreich ein, die Schauspielerin Hilde Fischer-Untermanns las Textproben (beispielsweise aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften). Ein erst später in aller Deutlichkeit erkennbarer Impuls, die Veranstal-tung abzuhalten, lag in dem Umstand, dass der Referent Kenntnis ü-ber Kenntnis zum Thema absorbiert hatte, um eine massive Anthologie, Proza austriacă modernă, für den Druck vorzubereiten, das heißt, die Texte auszuwählen sowie die Zusammenstellung mit Vorwort und Einführungen zu den einzelnen Autoren zu versehen. Die beiden Bände sind dann 1968 in der auflagestarken „Biblioteca pentru toţi“ (Bibliothek für alle) erschienen. Sein lyrischer Debütband Grenzstreifen war ebenfalls 1968 veröffent-licht worden, im Bukarester Literaturverlag. Der Autor empfand den Eisernen Vorhang in seiner ganzen existenziellen und geistigen Be-drohlichkeit und trachtete deshalb danach, die Eiserne Grenze zu überwinden. Sein Weggang führte zum Abbruch persönlicher Beziehungen. Nur gelegentlich langten Nachrichten über seinen Verbleib bei uns an, über sein Schreiben und die Veröffentlichungen. [...] Karfreitag, 9. April Den am Abend des Karfreitags erleuchteten Ort Camaiore wollte Christel uns ebenfalls vorführen. Die an den Hausfassaden befestigten Lichter versehen eine alle drei Jahre stattfindende Prozession mit cha-rakteristischem Glanz. Wie recht tat sie, uns dafür zu animieren. Der Umzug ist tief im Ge-meinschaftsleben der Stadt verwurzelt. Die meisten Bewohner tun mit, und sei es auch nur, indem sie an Fenstersimsen und -läden oder an eigens für diesen Zweck zugeschnittenen Holzleisten kleine Becher anbringen, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt sind, auf das eine Schicht Öl gegossen wird. Entzündete Dochte sorgen dafür, dass die brennbare Flüssigkeit nur allmählich aufgebraucht wird. Die Unzahl der Lichter – sie gehen in viele Tausende – nimmt dem Raum, in dem der Leidensweg Christi, die Processione di Gesù Morto, sich abspielt, jegliche festere Kontur. Dunkelheit und Geflacker lassen das Geschehen als irreal erscheinen, aus der historischen Zeit und auch aus der Gegenwart gehoben. Das mag auch der geheime Sinn der Veranstaltung sein – durch die traditionelle und suggestive Ölbeleuchtung (la tradizionale e suggesti-va luminara ad olio) den am Umgang teilnehmenden Personen und den zahllosen Zuschauern die Passion Christi in ihrer Zeitlosigkeit und Allgegenwart zu offenbaren. [...] Ostersonnabend, 10. April Mithilfe der beiden Fahrräder erreichten Inge und ich Camaiore. Der Rückweg, von einem Lebensmittel-Großladen aus, dauerte rund an-derthalb Stunden, weil beim Aufstieg nur kurze Strecken im Sattel, der Rest bloß schiebend bewältigt werden können und weil wir uns zu keinerlei Eile angespornt fühlten. Ostersonntag, 11. April Planungen, die nicht mit Italien, sondern mit dem Danach in Her-mannstadt zu tun haben, lassen mich immer wieder zu den Georg-Trakl-Bänden greifen, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Darun-ter befindet sich der Erstdruck der Gedichte (1913). Hier lese ich die österlichen Verse: „Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen / Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. / Nachts schrein im Schlaf sie unter Öl-baumzweigen. / Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.“ (Menschheit.) Auf den Ostersonntag nicht weniger passend sind auch die Worte: „Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich / Gottes goldene Au-gen.“ (Psalm. Karl Kraus zugeeignet.) [...] Ostermontag, 12. April Am heutigen Regentag setze ich die Anmerkungen über den rumä-niendeutschen Autor Dieter Schlesak fort – um 1970 war er es noch, bald aber nicht mehr. Zugehörigkeit zum Spektrum des Rumänisch-Deutschen bezeugen die von ihm und Wolf Peter Schnetz herausgegebenen Anthologien Fische und Vögel. Junge rumänische Lyrik und Grenzgänge. Deutsche Dichtung aus Rumänien, als ähnlich ausgestattete Regensburger Hefte 1 und 2 in eine Reihe gebracht und „anlässlich der Regensburger Kul-turtage 1970“ veröffentlicht. Gehört hatte ich von den beiden Bänden, darüber auch einiges gele-sen, nun nahm ich sie zum ersten Mal in die Hand. Beide Betreuer lie-ferten Vorworte zu den jeweiligen Ausgaben, die damalige Autoren-Konstellation und deren Anliegen erfassend. Ein Sympathie-Verhältnis zum südöstlichen Schreibgrund wird er-kennbar. Die Zusammenstellungen bewahren auch heute ihre Gültig-keit, als Bezugspunkt für ähnliche Initiativen, als dokumentarische Quelle, gar als Sammelort des lebendigen, gleichsam nie alternden Worts. Noch ganz auf den Kontrast zwischen der östlichen und der westli-chen Seinsweise, Alltagsmentalität und gesellschaftlich-politischen Doktrin ist das Buch Visa. Ost-West-Lektionen aufgebaut. Lektionen auch der provokatorischen Art werden erteilt, getränkt von Kritik an den herrschenden Ideologien. Tadelnde Einwendungen wurden so wenig konformistisch vorgetra-gen, dass der Autor, der sich so unverblümt äußerte, riskierte, aus dem Gesprächsraum hinauskomplimentiert zu werden (und einmal, in der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“, Wien, „wegen allzu kri-tischer Worte dem Westen gegenüber, quasi vor die Tür gesetzt wur-de“. Visa, Frankfurt am Main 1970, S. 33). Mehr als nur gelegentliche Reminiszenzen an das Gelände seiner Her-kunft bietet auch der Band Geschäfte mit Odysseus. Zwischen Touris-mus und engagiertem Reisen (1972). Eine südöstlich-karpatenländische Klammer umschließt Anfang und Ende des Buches. Es beginnt mit Schilderungen des Schlesak wohlbekannten Bereichs, des ihm fremd gewordenen, zunehmend weniger heimischen Herkunf-tgebiets Siebenbürgen sowie mit Anmerkungen über die frappante Gegenwärtigkeit Bukarests. Nach Aufenthalten in der Schweiz, in Griechenland, Israel, Portugal und Spanien werden im Ausklang „7 Stufen des Reisebewusstseins“ umrissen. Die erste von ihnen wird in Rumänien angesetzt (im Kapitel Mamaia, die Illusion der weiten Welt. Zoo der Freiheit). Dienstag, 13. April Ein Höhepunkt unseres bisherigen Besuchsprogramms war zweifellos der Ausflug nach Florenz.[...] Mit Schwägerin Erika und Schwager Uwe wiederholten wir die Reise nach Florenz am 23. April unter ähnlichen Gegebenheiten (Anfahrt mit Auto nach Viareggio, von dort dann per Bus nach Florenz, Rückkehr in einem Abendzug). Wir waren darauf bedacht, dieselbe Route wie vor Tagen abzugehen, um auf diese Weise uns der Eindrücke zu vergewissern, die Firenze uns bereits beschert hatte, bestrebt, sie nach Kräften auch zu vertiefen. Originell wollten wir dabei nicht sein, wir waren vielmehr auf die al-lertraditionellste touristische Konvention bedacht, im Gleichschritt mit zahllosen anderen Erdenbürgern, um elementare Kenntnisse bemüht. Dabei schafften wir es wohl, bei der Reiseführer-Unterscheidung: * „sehr interessantes Objekt“ und ** „einzigartige Sehenswürdigkeit“ uns jeweils in den Zwei-Sterne-Bereich zu schlagen. [...] Christel erachtete es als unzureichend, in Florenz gewesen zu sein und dabei nicht auch die prachtvolle Aussicht von der Piazzale Michelan-gelo genossen zu haben. Sie nahm uns (am 29. April) nach Prato mit, wo sie zu tun hatte, führte uns aber vorher ins relativ nahe gelegene Florenz, in jenen südlich des Arno liegenden Stadtteil, den sie beson-ders ins Herz geschlossen hat. Wir fuhren auf der – wie sie sagte – „schönsten Straße“ der Ortschaft (auf der Viale Michelangelo) zu der hoch gelegenen Terrasse und hat-ten in der Tat einen unvergleichlichen Ausblick auf die Stadt. Dann bot uns Christel noch etwas, das ihr seit je Bedürfnis ist: Mit ih-ren Besuchern im Kloster San Miniato al Monte einzukehren. Die Basilika (vor allem aus dem 11.– 13. Jahrhundert, über eine Mo-numentaltreppe zu erreichen) fanden wir leider verschlossen, was Christel und wir (im Nachhinein) als Einbuße an wertvollen Eindrü-cken empfanden. Sie wusste uns großzügig zu entschädigen, indem sie uns nach Wochen einen Bildband über die Klosteranlage zusandte. In der Basilika befindet sich im Übrigen auch ein in neueren Zeiten aufgerichtetes Kruzifix, von Carlo Mattioli 1989 gestaltet und 1990 aufgestellt. Altes Holz mit andeutungsweise aufgemaltem Christus, das Dieter Schlesak zu einem Poem anregte (Auf ein Kreuz geschrie-ben). [...] Freitag, 16. April Der Rhythmus von Talbesuchen und Bergaufenthalten wird auch vom Wetter bestimmt. Zur Zeit regnet, ja stürmt es, und so gestatten wir es uns, im Haus zu verweilen, ohne auch nur einen geringen Ansporn zu verspüren, toskanische Unvergleichlichkeiten zu erkunden. Die Vielzahl der Bücher macht solchen Zimmeraufenthalt anziehend. Zudem kann ich es mir erlauben, die einzelnen Publikationen Dieters zur Hand zu nehmen und mich in Ruhe in sie zu vertiefen. Waren die ersten Veröffentlichungen nach seiner Aussiedlung gedank-lich-thematisch noch recht deutlich auf Rumänien eingestellt, meist unter dem Vorsatz, sich von dem Ursprungsland wegen allerlei Un-zumutbarem zu lösen, wurden in den folgenden Jahren die Akzente anders gesetzt. Die Bindungen an die „alte Heimat“ verloren zusehends von der Un-mittelbarkeit gegenwärtigen Austauschs, sie gründeten auf Vergange-nem. Der Autor sah sich abgedrängt und ausgeschlossen, war Opfer der unterbundenen Kommunikation. Seelische Verluste, die aus sol-cher Lage erwuchsen, fielen nun mehr ins Gewicht, sodass die Ge-winne eines Lebens im Westen – von Anfang an nicht allzu hoch ein-geschätzt – in ihrer Bedeutung noch mehr schrumpften. Auch der Fortgang der Zeit, die Zunahme der Jahre rückten das Erbe der Jugend und erster Berufstätigkeit in weitere Ferne. Zahlreich sind Schlesaks Äußerungen über das Einschneidende, das Endgültige von Abschied und Trennung, in Vers und Prosa fand er Ausdruck für die Unabänderlichkeiten des Emigranten-Daseins, des-sen Bitternis drängte sich ihm oft auf und ließ ihn eindringlich nach den Ursachen und auch nach den Motivationen der schmerzhaft emp-fundenen Heimsuchungen, der erlittenen Umbrüche fragen. Seine beiden Bücher der achtziger Jahre bezeugen dies, zunächst der Gedichtband Weiße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum (1981) und dann der Roman Vaterlandstage und die Kunst des Ver-schwindens (1986), ein Panorama wechselvoller Erfahrungen gesell-schaftlicher und individueller Art, ein Breitbild des Verhaltens unter den Bedingungen von Gefolgschaft und Zwang, von Gewalt, Ver-blendung, Desillusionierung. (Victor Scoradeţ erarbeitete eine rumäni-sche Fassung des Romans, die 1995 in Bukarest erschien.) Sonnabend, 17. April Meine Trakl-Lektüre bietet mir eine Textstelle an, die etwas vom Emigranten-Schicksal Schlesaks erkennen lässt. Ohne an Selbstäuße-rungen des „Deutsch-Italieners“ zu appellieren, ohne Kommentare an-derer heranzuziehen und damit aus dem Hiersein des einst rumänien-deutschen Autors eine Sache vernunftbestimmter Auseinandersetzung zu machen, führe ich einen Passus aus Trakls Gedicht Abendland an, den dritten Teil, der dem Blick von der Höhe toskanischer Einsiedelei einen ganz bestimmten Sinn gibt: „Ihr großen Städte / steinern aufgebaut / in der Ebene! / So sprachlos folgt / der Heimatlose / mit dunkler Stirne dem Wind, / kahlen Bäu-men am Hügel.“ Zu weiterer Aussage holt der österreichische Dichter erneut Atem. Auch die dem Zitat folgenden Verse seien hergesetzt, weil der Nie-dergang jener wahrhaft abend-ländischen Gemeinschaft davon in ge-wissem Maß mitbezeichnet wird, welcher der Siebenbürger Schlesak entstammt: „Ihr weithin dämmernden Ströme! / Gewaltig ängstet / schaurige Abendröte / im Sturmgewölk. / Ihr sterbenden Völker! / Bleiche Woge / zerschellend am Strande der Nacht, / fallende Sterne.“ Wir hielten bei dem Roman Vaterlandstage. Entgegen eventueller Erwartungen, ihn nun nach jenen zahlreichen Belegstellen zu befragen, die das Emigranten-Dasein des Autors und der Hauptgestalt T. beleuchten, in dem beziehungsreich entworfenen Konnex von Veran-lassungen und Implikationen einstigen und jetzigen Handelns, lesen wir ihn als Zeugnis einer Existenz, die in ländlicher Einsamkeit abläuft und einen deutlichen Abstand sowohl zu rumänischen wie auch zu (bundes-)deutschen Gegebenheiten einhält. Zur Deutung der Stätte, in der wir uns befinden, dienen manche Par-tien, zum Verständnis des Zusammenlebens zwischen Linde und Die-ter, wenngleich wir dem Roman nicht das Recht nehmen wollen, die Ausgangsbasis fantasievoll aus- und umzugestalten. Wir wissen ja und versichern uns dessen: Romangestalten können aus Identitätsgründen Personen aus dem realen Leben nie im Verhältnis eins zu eins entspre-chen. Und doch scheuen wir uns nicht, so manches aus Dieters Roman als reportagenhaft abgebildete Wirklichkeit einzuschätzen. Auf den Blättern des Romans finden sich tatsächlich sprechende Par-tien über Zustände und Vorgänge in einem Weiler von C. (Camaiore). T. und Hannah haben schon ein Dutzend von Jahren da verbracht und dabei „den partnerschaftlichen Einsamkeitsstress in unserer Doppel-halluzination wie durch ein Wunder überlebt“ (S. 227). Immer wieder haben sie, nach Aufenthalten in Deutschland oder nach sonstigen Un-terbrechungen, den „Einsamkeitsmarathon“ (S. 229) ihres hiesigen Seins aufgenommen. Meist merken Hannah und T. nicht, „dass uns immer weniger Zeit bleibt“ (S. 230). Manchmal aber wird T. bewusst, er sitze „in einer raffinierten Lebensvernichtungsmaschine, ein Tag ist wie der andere, so vergeht alles wie kaum berührt: rasch“; sein Tun bedeutet offenbar nichts anderes, als „einem Phantom“ nachzurennen, „das gealtert ist; ein Greis der Hoffnung“ (S. 283). 30 Im Buch stehen jedoch auch die tröstlichen Worte (S. 383): „Hannah, wie eine Befreiung; beruhigend der sichere Boden der Gegenwart...“ Sonntag, 18. April Gestern radelte ich nach Camaiore hinab, an einem trüben Tag, der sich nachmittags aufhellte, was Inge veranlasste, sich gärtnerisch zu betätigen. In der Nacht begann es wieder zu regnen, und wir erwach-ten heute bei feuchtem und nebligem Wetter. Solches hält an, sodass wir im Haus bleiben, bei „stiller Beschäfti-gung“. In höherem Maß als zahlreiche andere Autoren berührten Dieter die Vorgänge der 1989/90 eingetretenen Wende in Deutschland, in Ru-mänien und allgemein im europäischen Osten. Sein durch den Um-bruch hervorgerufener Erregungszustand, seine an die revolutionären Wandlungen gebundenen Erwartungen, die hier und dort auch erlebten Enttäuschungen fanden in mehreren Büchern ihren Niederschlag. Den Anfang machte der auf die Ereignisse in Rumänien eingestellte Essay Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991; erschien 1997 auch in Italien, übersetzt von Mario Pezella, und 1998 in Rumänien, in der Übertragung von Victor Scoradeţ). Dieter Schlesak wollte darin das Geschehen deuten, für das es zu-nächst keine Kategorien der Bewertung gab. Er hatte zahlreiche Ge-spräche geführt, mit Bekannten aus früherer Zeit, mit anderen Ge-währspersonen, er hatte die ihm erreichbaren Zeugnisse über das kaum erfassbare Geschehen des Dezember 89 und der folgenden Monate gelesen. Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, ja wurden in greifbare Wirk-lichkeit umgesetzt, mitunter aber nicht befriedigt, da sich zeigte, dass die angestrebten Wandlungen keineswegs in jener Geradlinigkeit durchgeführt wurden, die den Transformationsprozessen in manchen Bereichen von Mittel- und Westeuropa eigen waren. Kehrtwendungen, Rückschläge, stillschweigender oder offen bekundeter Boykott, mangelnde Bereitschaft, einstige Positionen aufzugeben, Übergriffe – all das fehlte nicht und zwang westliche Beurteiler, eine reservierte Haltung einzunehmen, oder stieß sie regelrecht ab. Von solcher Zu- und Abwendung, von der Billigung des Geschehens und einer ratlosen Begegnung mit fragwürdigen Vorgangsweisen, mit abzulehnenden Bekundungen von Macht und Einfluss ist die eindring-liche Schilderung des Umschwungs und des Folgegeschehens geprägt. Der Autor des Essays über die rumänischen Ereignisse fügte den zeit-historischen Befunden vom enthusiastisch aufgenommenen Wechsel, von den mitunter höchst widersprüchlichen Vorgangsweisen in der Übergangszeit weitere Analysen hinzu. Zeugnisse deutlicher Zuwen-dung angesichts erfreulicher Fortschritte und der entschiedenen Ab-kehr von fragwürdiger Gesellschaftspraxis finden sich überreich in den Tagebuch-Notaten des Bandes Stehendes Ich in laufender Zeit (1994), in den “Heimatlegenden“ des Buches So nah, so fremd (1995) und in den „Ost-West-Passagen“ des vielfach facettierten Fahrtberichts Eine transsylvanische Reise (2004). An den Büchern der Nach-Wende-Zeit, nach Abbau des Eisernen Vorhangs, ist deutlich abzulesen, was sich bereits in Veröffentlichun-gen der achtziger Jahre abzuzeichnen begann: Die Einstellung des Au-tors zu dem einst fluchtartig Verlassenen, zu Rumänien und seinen Bewohnern, wurde positiver, die innere Distanz nahm ab. Doch wäre es eine unstatthafte Vereinfachung, wollte man den mit-teilsamen, produktiven Schriftsteller D. S. auf die Kontraste von Zu-gehörigkeit und Fremdsein, auf Heimat und Heimatverlust festlegen. Seine Lyrik und die Reflexionen zum Gedicht zeigen eine Vielseitig-keit der Thematik, des Ausdrucks an, die hinausgeht über eine bei an-deren Autoren mitunter anzutreffende Konzentration und Beschrän-kung auf wenige Leitgedanken. Deutlich wird die Multiplizität der Motive beim Durchgehen der Gedichtbände: Aufbäumen (1990), Landsehn (1997), Tunneleffekt (2000), Lippe Lust. Poesia Erotica (2000), Los. Reisegedichte (2002). Ein Querschnitt durch das lyrische Werk (Poeme, 2000, übertragen von Andrei Zanca) veranschaulicht auch dem rumänischen Lesepublikum diese Komplexität. [...] Mittwoch, 21. April Rasen schneiden, als Geruchsassoziation ein Parkgelände, jedoch nicht Trakl’scher Melancholie, sondern heiterer, frischer, freilich auch stimmungsärmer. (Hier im Bergland ist nicht zu erfahren und nachzuerleben, was Trakl seinem Gedicht Im Park einschrieb: „Ihr auch trauert, ihr sanften Göt-ter...“ „... neige auch du die Stirne / Vor der Ahnen verfallenem Mar-mor“.) [...] Dienstag, 27. April [...] Das im höchsten Maß Toskanische seiner Bücher ist Dieter Schle-saks Roman Der Verweser, eine für Sittengeschichte, für die Entwick-lung von Denkweisen, für Seelenkunde, für gedankliche Zusammen-fassung mit den Mitteln der Literatur aufschlussreiche Komposition. Zum Autor und Kulturbürger Italiens (mit transsylvanischen und ru-mänischen Antezedenzien und bundesdeutschem Pass) war er schon in den achtziger und ersten neunziger Jahren geworden, durch seine Me-ditationen über Wandgemälde in Rom, durch Betrachtungen, die in der aufwändigen Buchausgabe Der neue Michelangelo. Wiedergeburt der wahren Farben in der Sixtinischen Kapelle (drei Bände, 1989 – 1991) veröffentlicht wurden. Über die Meditationen verzeichnet Dieters Tagebuch, er habe sich eingehend in der Vatikanischen Bibliothek dokumentiert und sei mit dem Chefrestaurator und weiteren Fachleuten in Verbindung gewesen. Vier Jahre hindurch habe er an dem Projekt gearbeitet – „und war natürlich nicht fertig geworden“. Während solcher Beschäftigung, die von einer umfassenden Restau-rierung veranlasst worden war, ist ihm und anderen deutlich gewor-den, in den Fresken sei „ein geheimer Weltplan aus patristischen, orphischen und kabbalistischen Lehren entworfen worden, davon war ich überzeugt“. Die alt-neue, komplizierte Deutung lief darauf hinaus, die „Mitte der Sixtina“, also die „tiefe Metapher der ,Erbsünde’“, zu nutzen, um zu ergründen, „wie der Tod in die Welt kam“. (So nah, so fremd, S. 116–117.) Mittwoch, 28. April Ebenfalls „zu Hause“. Der Reihe nach sehe ich im Neuen Michelangelo die Bilder an, die größere Ausschnitte der Wandmalerei wiedergeben oder sprechende Details. Auch dieses Schauen ist ein Privileg: Nur wenige Erdenbürger haben Gelegenheit, die teuren Bände zu studieren. Und haben die Chance, das, was sich den Touristen in einem Abstand von rund zwanzig Metern bietet, aus der Nähe zu betrachten sowie Er-läuterungen zu lesen und den Gehalt auch anhand der bald lyrisch, bald essayistisch gefassten Meditationen zu erschließen. Schlesaks Texte zur Sixtina überraschen mich, durch die Assimilation eines reichen Wissens biblisch-mythologischer, kulturgeschichtlicher, kunsthistorischer Natur, durch die Umsetzung des Erschauten und Ge-lesenen in eine dem Wesen des Bildwerks nahe Deutung. Ohne die Beschwerlichkeiten der Dokumentation erkennen zu lassen, wird eine Vielzahl interpretatorischer Wege ersichtlich, eröffnet durch Andeu-tung, unaufdringliche Assoziation, durch schlüssige Aussage. Mit besonderer Aufmerksamkeit lese ich jene seiner Betrachtungen, die er der „Mitte der Sixtina“ widmete, also wie er den vierten „Spannbogen des Deckengewölbes“ kommentierte, was er über „Sün-denfall und Vertreibung aus dem Paradies“ schrieb (Bd. 1, S. 201–232). Einige Stellen seien angeführt, zunächst aus der Deutung des „Sün-denfalls“. „Die Welt war bisher Aura, reines Anschaun, Gottes-Ding; nun wird sie dicht gemacht; schwingendes Licht erfriert, die kosmi-sche Musik ist eingesperrt im blinden Schmerz der Haut. Hochmut, der Fall; der freie Wille gibt die Höhe an.“ (S. 203.) Und eine Partie über die „Vertreibung aus dem Paradies“: „Das Men-schenpaar ist flüchtig, schicksalslos, und der gelebte Augenblick... nichts als ein Todesstoß; was ist, ist nie, ist nur gewesen, fügt sich zu keinem Lebensgrund. Der Mann, die Frau sind draußen schwer geworden, sie wiegen ihre Körperlast der Erde zu. Letzter Gedankengang, ein Schritt zurück, die Menschenkindheit im entsetzten Blick, und sie vergeht, der letzte Flug im Rücken, vor sich das Nirgendwo, der Tod, das Nichts. Als kämen sie erst wieder heim in den roten Flammen des Gerichts.“ (S. 228.) Ich löse den Blick von den Farbreproduktionen und von den Worten: „Leben ist begrenzt im Tod. Doch Wissen ist unendlich, macht wie Gott. Und lässt das Ende sterben.“ (S. 217.) [...] Sonntag, 2. Mai Inge ist mit dem Packen unserer Sachen beschäftigt. Sie hat vor Tagen das Blumenbeet vor dem Haus gejätet und den Steg gesäubert, nun bin ich beim Eingang und auch sonstwo damit befasst, gegen die wu-chernde Vegetation einzuschreiten. Etwa um 18 Uhr treffen Linde und Dieter ein. Nach dem Abendessen sitzen wir noch bis Mitternacht zusammen, bei dem üblichen Haus-wein. Wir sprechen über München, über die wahren und vermeintli-chen Schnittstellen des literarischen Lebens und der künstlerischen Er-fahrung. Montag, 3. Mai Linde (als Fahrerin) und Dieter bringen uns im Auto nach Lucca. Dichter Verkehr erschwert die Ankunft auf dem Bahnhof, doch treffen wir rechtzeitig ein und besteigen den Zug. In Prato heißt es, den Zug wechseln. Irrtümlich verlassen wir ihn eine Station vor dem Hauptbahnhof. Ein Taxi im richtigen Augenblick, ei-ne eilige Fahrt – mit Mühe gelingt es uns, den Anschlusszug zu errei-chen. Glück haben wir mit einem nachsichtigen Schaffner, der uns heran-keuchen sieht mit unsere m Gepäck und – durch ein Zeichen – die Bahn nicht abfahren lässt, bis wir nicht oben sind. Er hilft uns, die Koffer hochheben und weist uns Plätze in seinem Abteil an. Das war menschenfreundlich, auf italienische Art. Reiner Wochele Literarischer Mönch Ein Besuch bei Dieter Schlesak in der Toskana Leute, das Lesezeichen kriegt diesmal Flügel, es flattert diesmal über Grenzen hinweg, äußere, innere, nimmt Kurs gen Süden, will sich ganz leicht machen in mediterranem Licht, hat aber auch Ballast an Bord, der erdwärts zieht. Italienisch eingefärbt kommt’s heute daher und zugleich rumänisch grundiert und schicksalhaft beladen. Was zusammenhängt mit einem existenziellen Grenzgänger, einem, der Reisen und Länderwechsel zur Lebensmetapher gemacht hat, mit allem Gewinn, mit aller Beschwernis. Ein verwurzelter Wurzelloser, der morgens beim Öffnen der Fenster seines alten italienischen Bauernhauses, in dem er mit Frau und Hund und Kater oben am Hang lebt, in der Ferne das Meer gleißen sieht und der gleichzeitig tief emp-fundene Heimatgefühle für Stuttgart hegt; Lebenszeit verbringt er hier und dort. Dieter Schlesak heißt er, in seinem Weiler nahe dem nordita-lienischen Städtchen Camaiore ist er „Signore Dieter, il tedesco“, unter Stuttgarter Schriftstellern eher ein Rumäne. „Ich bin ein ,Zwischenschaftler’“, sagt er. „Zwischenschaftler“, was ist denn das für ein Erdenbürger? Vielleicht einer, der sich eingerichtet hat, am Platz zwischen allen Stühlen, zwi-schen allen Grenzen? Schöner Platz, das. Dort oben, halbhoch ir-gendwo, da muss er wohnen, der rumänisch-deutsche, stuttgarterisch-toskanische Dichter Schlesak. Auf Schmalstspursträßchen, ein Stück weit hinter Camaiore bergwärts, vom Kirchplätzchen in Pieve aus lot-sen die Schlesaks zum Weiler Agliano hinauf. Wo man dann in satter toskanischer Idylle sitzt, die beiden alten, zum Dichteranwesen ver-schmolzenen umgebauten Bauernhäuser im Rücken, Tal und zwi-schengelagerten Hügel davor, in der Ferne rechts ein Zipfel Meer, links ein Zipfel Meer, ein Landschaftsbild voller Grenzbereiche. Und um Grenzen geht’s denn auch im Lebensbericht des Hausherrn Dieter Schlesak, während die Ehefrau Linde Birk-Schlesak, eine namhafte li-terarische Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen, Tee und Kuchen serviert. Doch wie Dieter Schlesaks Lebensodyssee zusammenraffen aufs We-sentliche? Vielleicht so. Er wird 1934 in Schässburg als Angehöriger der siebenbürgischen deutschen Minderheit in Rumänien geboren, studiert nach Schulbesuch und zwei Jahren Dorfschullehrer Germanis-tik in Bukarest, arbeitet als Redakteur der Zeitschrift „Neue Litera-tur“, ist Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer. Nach vorherigen Kontakten zur deutschen Organisation Inter-Nationes, dem damaligen Besucherdienst des Auswärtigen Amtes in Bonn, erhält er 1968 eine Einladung zu einem Schriftstellertreffen in Luxemburg, lernt Grass, Bernhard, Handke kennen. Er wird nach Bonn geholt, bei Verlagen herumgereicht, lernt in Frankfurt beim S. Fischer Verlag seine heutige Frau kennen, nimmt aber Deutschland wahr als Kulturschock. „Diese Mattscheibenwelt, die allgemeine Hetze und Kälte stieß mich ab, alles wie hinter Glas.“ Das in Rumänien heiß ersehnte Deutschland wird ihm zum „Hassobjekt“. Nach sechs Monaten im Westen kehrt er nach Rumänien zurück, sieht dort alles mit „Westblick“, ist „geschockt vom Gestank, Fusel, der Armut, der Langsamkeit“, hat nun zwei Heimaten verloren. Dennoch, 1969 endgültige Ausreise nach Deutschland. Nach Frankfurt und Köln wird Stuttgart Station, wo die Schlesaks mittler-weile eine Zweitwohnung haben. 1973 entdecken sie bei einem Ita-lienaufenthalt die beiden halb verfallenen Bauernhäuser, kaufen sie mit einem Kredit, „wir waren arm, wir hatten nix“, lassen sie umbauen, ziehen weg aus Deutschland, denn, wie Schlesak sagt, „in Italien war mein Heimweh nach Rumänien, waren meine Schuldgefühle dem verlassenen Land gegenüber, geringer“. Es folgen Reisen durch Europa und Amerika. (Ägypten) „Fernweh über den Globus gezogen / die Riesenfrucht möchte ich es-sen“, heißt es in einem Gedicht des Lyrikers, Essayisten, Übersetzers, Herausgebers und Romanciers, der bis heute dreißig Bücher veröffent-licht hat, darunter neun Lyrikbände und drei Romane. In dem Roman „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ hat er in mitrei-ßender assoziativer Prosa Biografisches verarbeitet, hat sich im 2002 erschienenen Roman "Der Verweser" mit einer alten Kriminalge-schichte aus dem nahen Lucca befasst, hat im Lyrikband „Tunnelef-fekt“ sein Grundthema des Grenzgangs lyrisch variiert. „In Rumänien bin ich der Fremde, hier in Italien der Deutsche, und in Deutschland bin ich der Rumäne“, sagt er, eben ein „Zwischenschaft-ler“. Seine innere Emigration und Einsamkeit, diese Abweichung vom Normalen, begreift Schlesak für Schreiben und Leben mittlerweile als „ontologisch“, leitet daraus „eine Art literarisches Mönchtum“ ab. Und hat doch, im Äußeren, so gar nichts Mönchisches an sich, wie er da vor seinem Haus sitzt und mit leidenschaftlicher Stimme, in der gleichwohl ständig ein Ton der Melancholie mitschwingt, von Leben und Schreiben erzählt. Während dann Kater Romeo herbeischleicht, auf den Tisch springt, aus der Nähe hören will, was der toskanische Dichter aus dem fernen Rumänien zu sagen hat. Zum Beispiel dies, dass man ihm jüngst sein altes Geburtshaus in Rumänien zurückgege-ben habe, das er mithilfe einer Stiftung zu einem deutsch-rumänischen Literatur- und Kulturzentrum machen wolle. „Ich kehre auf diesem Wege geistig nach Rumänien zurück.“ Und oben dann, in seinem Ar-beitszimmer, von dem aus er an klaren Tagen bis Korsika blicken kann, da sagt er, er habe jetzt Hand an seine Kindheit gelegt. Und meint den Umstand, dass er herausgefunden hat, wie die deutsche Minderheit in Rumänien tief mit Nazideutschland verstrickt war und dass fast alle seine männlichen Verwandten in der SS gewesen sind und zu den Wachmannschaften deutscher Konzentrationslager gehört haben. Aus dem Freundeskreis seiner Eltern stammte der Auschwitz-Apotheker Victor Capesius, der das Zyklon B verwahrt hat. Schlesak hat diesen für ihn albtraumhaften historischen Hintergrund nach vielen Interviews mit Zeitzeugen jetzt zu einem bestürzenden, halb doku-mentarischen Roman verarbeitet. Dieser grenzgängerische Schriftsteller scheint bewundernswerte Kräf-te zu haben, um geistige Schmerzen auszuhalten. Und ist doch dann, als man unten vorm Haus in landschaftlicher Abendidylle die Gläser zum Abschiedstrunk hebt, wieder ganz toskanisch heiter. SCHREIBEN IN AGLIANO. DIE WAND DURCHBRECHEN Laura oben im haus der fiore (als blühe jetzt andauernd etwas) mit der ich über ihre töchter spreche sie ist stolz eine ist friseuse und resolut in Viareggio beim friseur habe ich sie kennengelernt da be-herrschte sie die szene scharf und weich zugleich stand sie im raum hatte dort im friseursalon gearbeitet. ich saß auf dem friseurssessel haare geschnitten dieses wohlige gefühl und aus¬geliefert streichelein-heiten des friseurs am kopf mit schere und kamm laura ließ meine hand nicht los beeindruckt davon dass sie die köchin genau so begrüßt worden war von uns wie die gäste und fiore neben mir machte mir un-gewohnte komplimente wie schön ich sei und sie wolle mich in ton ab-bilden büste und so völlig ungewohnt für mich aber ich weiß komp-lexe sind lebensfeindlich schneiden leben ab nur die haare müßten länger sein sagt sie ja der idiot von friseur hat sie mir so spießig ge-schnitten kurz und junkiehaft wie heute üblich haarfaschismus strom-linienförmig sagte ich aalglatt windschlüpfig sagte ich durchrasen auch in der erscheinung durch den blick sagte ich das ist modern die distanz zu 68 wird daran modemä¬ßig am besten deutbar. und gegen diese neue regsamkeit habe ich überlegt ist nichts besser als schöpferische faulheit. als wäre ich einer der die men¬talität der dauernd besiegten der armen des südens annehme als wäre ich in afrika oder auch des ostens wohin ich gehöre zu jenen "die ja nicht arbeiten können und wollen" verachtungsvoll hört man es in westdeutschland und solch ein parasit der nicht spuren will oben im apennin da hatte ich auf ei¬nen punkt blatt erde stein oder war es ein holz der weg auch zur stoppia einmal hier mit dir bruder blatt stein erde und mich nicht wegreißen lassen in euren scheiß ins gift in dieses nagen im herzen diese sonde ins eigene innere von außen dem phantom lange leine mit der ihr mich gefangen hal¬tet und dachte wieder an den armen brinkmann der sich damals schon siebziger jahre gegen den verlust der utopie 68 der auf seine art vor gegan¬gen war sich zu entziehen und hab ihm zu verdan-ken nicht selbstvernich¬tend mitzumachen. und warum kein sozialfall sein wollen in diesem beruf anzunehmen es annehmen dass dieser be-ruf einer sein muß oder ein verbre¬chen scheitern zum gegenstand des schreibens machen aber heiter gelöst und (nicht verzweifeltes) er-schreiben der existenz aber wissen dass ausset¬zen des schreibflusses wie in 1001 nacht des erzählens den tod bedeutet. Und um mich lauter romanpersonen wie ich selbst eine bin zeit immer jetztzeit unendlicher raum der phantasie ist der erlöst auf-löst festgelegtes be¬freit das erdrückt so dies erlogene fiktive und fakti-sche der realität zer¬schlagen das eigene leben und das jener Personen mit denen ich zusammentreffe schreibend. nicht nur momentaufnah-men häppchen das eben und gerade selbsterlebte schreiben sondern es verbinden mit dem was es als form ist und es beden¬ken. die grenze verwischt, naiv, ist aber nichts und mal d'afrique ein anderes kaum weite schönheit die geschlagenen sterben in antenne 2 die aidskran¬ken die grenze verschwindet das bild dort sind auch wir der wirkliche raum löst sich auf. neuronenverbände feuern konzentrierter als dieser fern seher vor mir oder der computer auf dem ichs schreibe vierzig mal in der sekunde sehimpulse wahrnehmung um das ding überhaupt herzustellen. il¬lusion synchrone schwingungspakete verknüp¬fung also schon textur wie naiv also natur zu wollen natives status nascendi und doch auch strauß mit seiner beginnlosigkeit da sträubt sich in mir et-was gegen dieses "wissen" dröge und fahl abstrakt viel hirnsyntax gut aber unerlebt sich selbst nichter¬lebt auch wenns vernetzt ist nur wissen ist fad auch über sich selbst besser schon zu akzeptieren dass denken, wie die sekunden, gedankenflucht ist chaotisch verflechtend ALLES Metastase netzwerk. es ist bekannt dass große chaotiker, einstein etwa, alles leichter finden beim suchen in ihrem unaufge¬räumten schreibtisch und zimmer als ordentliche manager wie beitz etwa in aktenordnern alfabetsich die seelenbürokratie funktioniert nie einstein eben der violonist zunge zeigend fand auch das weltgesetz. grenze ver¬wischt. sie sind da auf dem bildschrm die kinder unter den betten ihrer aidskranken mütter in burundi fünfzehn millionen schöne braune gesichter große augen sehn mich da an aidswaisenkinder eine frau hat fünfzig aufgenommen ihr ge¬sicht ganz nah einen säugling auf dem arm schimpft auf das durcheinander¬ficken und das die strafe links und rechts herumvögeln sagt sie die strafe aids das ist der teufel der sie packt und jugendliche im kreis verlegen grin¬send. ein sozialarbeiter zeigt auf einem riesigen holzphallus wie man das präservativ aufzieht und sagt dann bleibt der virus da drin und steckst dich nicht an. die meisten mütter, vierzig prozent der schwangeren sind aids¬krank, müs-sen sich prostituieren um ihre kinder durchzubringen die männer aber ficken mit wahnsinnig vielen frauen sagt ein pfarrer und wenn die es verlangen ohne schutz die votze zuz verkaufen tue ichs eben sagt eine mutter und eine andere wenn ich krank wäre würde ichs nicht sagen also jeder freier eine leiche und die kinder der kranken schlafen unter den krankenhausbetten der eltern bis diese tot sind. bis zum jahr zwei-tausend stirbt die hälfte der bevölkerung afrikas das gehirn aber ist ein muster auf sich selbstbezogen und hat keinen zugang zur welt was also sehen wir da auf dem schirm vor uns was wir da empfinden ist nichts als die fokuseinstellung des hirns stimuliert interne prozesse? und begreiflich nur das Selbstge¬machte was aber ist dieses selbstgemachte in gemeinsamer anstrengung autopoiesis welch zellverband nach außen jann sagt: und wir treiben ego und nabelschau genau dasselbe also anders unmöglich gehören dazu in den zellverband ja und französi¬sche kinder schicken jedes kind ein reispaket die bahn befördert es gratis da lebt ein kind davon eine woche und viele kinder viele wochen tagelang müssen sie hungern auf den straßen ausgestreckt auf dem asphalt liegen sie die aidswaisenkinder. gabriela S. in der ZEIT schägt vor mehr faulheit mehr schlendrian kein verzicht wider den geist des kapitalismus wie ihn max weber schon beschrieb. ethos ist geld und immer mehr geld sinnlos selbstzweck faulheit aber sein ärgster widersacher kein neuer mensch nein nur den ganz ganz alten her-vorholen - die eigene schwäche bester schutz warenkonsum überflüs-sig machen: zeit zum leben hin zum reichtum gelebter Beziehungen nicht nur im kopf oder in der arbeit zu leben. und der schwächste ist ein blinder und der ist ganz entzogen sieht mehr... in Capraia beobachtete ich am strand eine blinde sie wur-de geführt von ihrer schwester die schöne junge frau die sich im spie-gel nie mehr sehen kann diese täuschung nie mehr hochgestecktes haar zarte schmiegsame glieder fast schüchtern bewegt sie sich tastend immer mit der vorstellung und ein¬fühlung vorgreifend der nächsten sekunde um nicht zu fallen auf dem stei¬nigen strand dunkle brille. stelle mir vor dass sie keinen mann findet. sozial ist sie nicht einsetzbar nur sexuell. kannst häßlich und alt sein sie sieht dich nicht und sieht etwas ganz andres. scheint erst ganz kurz eine blinde zu sein nimmt die sonnenmilch aus der tasche hält sie vor die augen um zu le¬sen ob es die richtige Milch ist siehts aber nicht reicht sie ihrer schwester mit de¬ren augen zu lesen es scheint die falsche sonnenmilch zu sein und sie sucht eine andere flasche das gleiche manöver wie vorher. die schwester sagt etwas und die blinde reibt sich nun mit dieser zweiten sonnenmilch ein dabei betrachtet sie jedesmal ihre handfläche auf der die weiße substanz liegt bevor sie die aufträgt als könnte sie etwas sehen. und ist selbstgemacht. ist allein mit ihrer vorstellung. ich schließe die augen um mir vorzustellen wie es ist ein blinder zu sein höre ganz aut kinderschreien und das plätschern des meeres viel stärker als vorhin einrn außenborder und ein gummiboot. jetzt liegt sie ruhig in der sonne ihr zärtlicher junger körper wie hingegossen. wird sie einen mann finden denke ich die rundliche schwester ist jetzt ihr einziger halt denke an Oskar Baums romane die welt der blinden ist der tastsinn der geräusche der gerüche die nächste welt ist nebenan. LA CASA DEL POETA. MEIN NACHBARHAUS. Es ist angenehm ein Gästehaus zu haben für Freunde und Besu-cher. Es schafft Freiheit, und fast im Spaß kann ich sagen, wir haben es uns günstig angeschafft, um „unsere eigenen Nachbarn“ zu sein. In meiner Erinnerung berrscht ein Nachmittag und Abend vor zehn Jahren die Räumlichkeiten, vor allem die Wohnküche, es war kurz nach dem furchtbaren Unglück in Cardoso, Stazzema, als ein furchtbarer Wolkenbruch das ganze Tal überschwemmte, Häuser und Menschen, auch Kinder mitriss. : Dieser Schock damals, dem ein anderer in unserem Tal folgte, der weniger schlimm war, kaum Häuser, nur Wege und Erdreich mit-riss, ging auch in mein Buch „Romans Netz“ ein, das so schliesst: „Gab es dann dieses Unwetter, diesen kleinen Weltuntergang – wann kommt der persönliche, der größte für einen Roman, wie mich: wann kommt er, der undenkbare Untergang? Dieses furchtbare Un-wetter heute aber war kein Traum. Kein Traum. Ich hatte an diesem kühlen, gewittrigen Tag das große Bedürfnis, wirklich da zu sein, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen, und war aus meinem Zimmer, mei-nem Schreibgefängnis hinaus ins Freie gerannt, als hätte ich keinen Atem mehr, als müsste ich ersticken; ich mußte, wie früher als Kind, die frische Luft draußen „essen“, den unverstellten Himmel über mir sehen, mit nackten Sohlen den Boden spüren, und streckte mich auf der Erde aus, fühlte das kalte Gras, das Gesicht im Geruch geborgen, Gras, Gras, noch vom Regen feucht. Und hatte die Nase nur ins Gras, in die Erde gedrückt, nicht aufgesehen, ein heftiger Blitzstrahl zuckte über die Landschaft, so daß die Luft knisterte... der Donner weckte mich... als ich den „offenen Himmel“ über dem Pedoneberg, dem bisher so gemütlichen Hausberg, sehen wollte, verfinsterte sich dort der Himmel, zog sich zu. Und dann gings ganz heftig los: Die Ladung und Spannung zwischen Berg und Meer löste wie jedesmal dieses Unwetter aus, wirkte, als wären Berg und Meer Pole einer Elektri-siermaschine, da zuckten zischend Millionen Volt über den schwarzen Himmel, bläuliche Funken rasten in langer geäderter Zickzackspur in die Erde... lebendiges Plasma die Wolken, sie jagten wie Urtiere da-von, und wo sonst sehr blaß die Venus und die Mondsichel zu sehen waren... nur die geballte schwarze Wut der Natur, tief über das Land hängende fallende Schwere... die der einsetzende Sturm zu peitschen begann... fast wie eine Bombennacht mit den Terzen der Sirenen... metallene Asche ... Licht wie neue Frequenzen zurück in die Stein-zeit... Todesfahl riß es mit dem heransausenden Sturm den Kasta305 nienwald in drohendes Brausen ... ins Ohr noch nicht... nur ins Auge... Nähergekommen eine rächende Gewalt...ich sah zuerst erstaunt diese rasende Untergangsstimmung, bis der Sturm da war... die Mimose, die Pinie sich ächzend und krachend zur Erde bogen... und ich mit-schwankte, der Sturm mich peitschend, eine vom Segeln bekannte Windstärke erreichte... und immer heftiger wurde... Und ich rannte voller Panik ins Haus, Schauer setzten ein... nußgroße Hagelkörner trommelten aufs Dach... das Haus schwankte besoffen wie eine Barke auf hoher See, auf dem Dach ein Höllenkon-zert... gemütliches Zuhause, nee, eine Klapsmühle, die zu tanzen beginnt... vom Himmel rauschte es immer heftiger, berühmte senkrechte Schleusen fast fluvial geöffnet... Blitz um Blitz erhellte für Sekunden gespenstisch die Landschaft draußen, Trommeln einer Sturzflut an den Fenstern, meine tägliche Sicht nach draußen, als wäre da ein großes Auge, nun heftig verweint... Sturmnacht... Schlag auf Schlag der Donner... bescheuert, wer da den PC offen hat; ich hatte diesen Wahnsinn begangen, um nach den Mails zu sehen! Und da ... da... krachte es auch schon rein, wie oft hatte es mir das Geschriebene im Absturz einfach gelöscht, vernichtet... und ich fluchte sonst, jetzt zitterte ich nur nervös und voller Angst... das Buch... mein Gott... das Buch... direkt in die Hausleitung hatte der Blitz eingeschlagen... Glühbirnen platzten, Steckdosen flogen aus der Wand... wie eine Schlange zischte die Spannung durch den Raum, und es roch nach Ozon und Verbranntem... im PC ein Summen, Kra-chen, Schmelzen... Leuchten... als zerreiße und zerplatze ein Lebewesen... und der PC verendete mit einem verzerrten Jammerton... Dann war mit einem Schlag alles stockfinster... Stille, nur das Prasseln und Heulen, die Finsternis von draußen, die alles bedeckte, drang ins Haus, als wäre das der natürlichste Zustand, und unsere künstliche Zivilisationswelt ich, der Roman, das Schreibgespenst, der Kumpane PC, nur eine eingebildete, eine halluzinierte Ausnahme, die wir für normal halten... Jetzt die Nacht, normal ist der Zustand, der Weltraum natürliche Finsternis? Das Tageslicht, das künstliche Licht 306 gelöscht, gelöscht auch das künstliche Gedächtnis, Ernte: Text, der auf der Festplatte „saß“, war geschmolzen worden, verschwunden, für immer unauffindbar, als hätte es ihn nie gegeben ... den Weg alles Irdischen ... verglüht... gelöscht, aus!? Eigentlich war ja damit auch das Gespenst, dieses Ich: Roman tot. Die Zeile, wo es mich, wen? gab ... gelöscht! Doch keine Angst, jaja, dieses Ding und dieser Wahn, dieses Ich, diese Vorstellung, dieses Bewusstsein ist zäh, und fast so zäh auch sein Produkt, der geträumte Apparat vor dir: Was red ich da, ich schreibe ja, ohne dass ich schreibe, JETZT, wäre ja hier auch nichts zu lesen! Alles getrickst, alles erfunden, auch das Unwetter? Nein, nein, das gab es gestern wirklich, das gab es … ER WAR JA NACH DEM UNWETTER wie aus einem Traum erwacht, mitten in der Nacht, als das Fernsehen von selbst lautstark anging, die Pumpen Wasser pumpten, als das Licht wie durch ein Wunder da war, sein Bewusstsein war wieder da. Er war aus dem Bett gesprungen, schnell in sein Arbeitszimmer gegangen, um sich zu vergewissern, daß alles noch Ok war. Der PC stand an seinem Platz, der Bildschirm starrte ihn wie ein großes leeres Auge an. Voller Angst, es könnte alles gelöscht sein, machte er den Schreibkumpanen an, und … oh, Wunder, alles war noch da, auch das Tagebuch von gestern, und die aufgeschriebenen Ideen. Er öffnete ROMANS NETZ, alles war unversehrt noch da Zeile für Zeile… als wäre sein Leben, seine Wirklichkeit gerettet! Und alles konnte nun weitergehen, Sekunde für Sekunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr… Wie seine Liebe, seine Ehe endete, wie sie endete, ob sie endete, ob die beiden sich endgültig trennten, ob Roman Italien verliess… niemand weiss es, denn es geschieht alles eben jetzt, und noch nie-mand war in der nächsten Sekunde… Und so kann der „touristische“ Aspekt dieses Hauses aus-sehen, Die wunderschöne „Casa del Poeta“ ist ein stilvoll renoviertes Natur-stein-Bauernhaus aus dem 18. Jhdt. mit Bio-Architektur, wo alle tradi-tionellen Materialien, Naturstein, Balken aus Kastanienholz, Ziegel-boden etc. im toskanischen Stil erhalten wurden. Es gehört zum An-wesen eines deutschen Dichters und seiner Frau und wurde zunächst vom Hutmacher der Königinmutter von England gestaltet und neuer-dings von einer deutschen Malerin und Innenarchitektin ausgestattet. Es liegt in einer sehr stillen Gegend, in der Nähe des „circolo cultura-le“ einer Bildhauerin (Peralta) in den toskanischen Hügeln, einer Gar-tenlandschaft mit Olivenhainen und Weinbergen unter dem Monte Pe-done (1050m) 275m ü.d.M. hoch und bietet einen herrlichen Rund-blick auf Berge und Meer: an klaren Tagen bis nach Korsika und im Westen zur Côte d’Azur. Die „Casa del Poeta“ ist freistehend und ge-hört zu dem kleinen Weiler Agliano, es liegt an einer duftig-grünen Gartenterrasse unter einer großen Pinie, mit vielen Blumen und hat ei-nen eigenen Parkplatz. Diese Einmaligkeit schließt den Komfort eines modernen Hauses nicht aus. Alle Zimmer haben Zentralheizung. Ein schöner alter Kamin kann mit einem flackernden Feuer an einem gemütlichen Abend die Stimmung erhöhen. Für den Winter gibt es in der Wohnküche noch einen zusätzlichen Holzofen, der viel Wärme bringt. In der großen, mit Gasherd und Spülmaschine und reichlichem Hausrat versehenen Wohnküche wird der Gast nichts vermissen, was er auch zu Hause hat. Im Wirtschaftsraum stehen Waschmaschine und Kühlschrank bereit. Das Haus wäre auch für einen langen Aufenthalt gleich bezugsfertig. Neben der Wohnküche liegt ein kleiner, sehr gemütlicher Schlafraum mit angrenzendem Bad. Dahinter der schöne Kaminraum, wo auch ein Bett und ein Sofa stehen. Eine Holztreppe führt in den ersten, sehr hellen Stock mit großen Fenstern, einem schönen, stimmungsvollen Wohnraum, ebenfalls mit Schlafcouch und einer Tür zur Sonnenter-rasse, von der aus ein Rundblick auf Berge und Meer den Gast ein un-vergessliches Freiheitsgefühl empfinden lässt. Eine Tür führt in das sehr geschmackvoll und persönlich eingerichtete Bad und eine weitere in den wie zum Träumen eingerichteten und das Gefühl der Gebor-genheit vermittelnden „schnuckeligen“ Schlafraum mit Doppelbett. Das Haus bietet viel Bewegungsraum, damit sich alle Gäste ungestört voneinander vom Stress der Großstadt erholen und frei atmen können. Aus der Wohnküche mit dem gemütlichen Essplatz führt eine Tür auf die Gartenterrasse mit Natursteintisch, Sonnenschirm und Liegestüh-len, wo sich in der schönen Natur mit Blumen, Bäumen und Meeres-blick und am Abend unter dem Sternenhimmel das Leben genießen lässt. Geschäfte jeder Art, Banken, Apotheken und Supermarkt liegen im ca. 3 km entfernten Camaiore (8 – 10 Min. Autofahrt, die nächste Ein-kaufsmöglichkeit 1,5 km in Pieve an der architektonisch kostbaren und berühmten romanischen Kirche (9. Jhdt. Langobardenzeit). Die Autobahn ist ca. 20 Autominuten entfernt. Ausflüge nach Carrara (25 km), Marmorberge! Lucca (21 km), Pisa (21 km), Florenz (80 km), Siena, 2,5 Std. Autofahrt oder Genua (140km) sind an einem Tag mit Rückkehr zur „Casa del Poeta“ ohne Anstrengung möglich. Eine dvd mit Beschreibungen des Dichters, eines Insiders seit Jahrzehnten, mit Adresse, vielen Bildern, Filmen, touristischen Informationen kann bei Ciao Italia bestellt werden. Auch das Meer im gemütlichen Lido di Camaiore und anderen be-rühmten Orten der Versilia ist in 20 Minuten erreichbar. Hier liegt ei-ner der größten Sandstrände Italiens. Auch ein Ausflug nach Elba (Fähre 150 km in Piombino) ist zu empfehlen. Von den wunderschö-nen Tages-Bergausflügen in die „Alpi apuane“ (1850 m) und den Apennin (2500m) ganz zu schweigen. Auch Berg-Radtouren bieten sich hier an, vom Haus aus geht es direkt in die Berge. Totenstimmen in der Casa del Poeta 28./29. Juni 96 Im Casa del poeta Nebenhaus ein TK-Treffen: Gab-riela und Mann, Michaela, Fiorenzo, Susanna, Nachbarin Ilaria und ich, sieben Personen. Kassenrekordert plus Bremer Mikro, Oszillator. Frage F: Sollen wir die Toten in der Versilia im Schlamm suchen. Antwort: Nella montagna. (Gestern hatte ich Alessio und Giulia, die beiden toten Kinder angesp-rochen, hatte aber nur ein unendiches Gemurmel einspielen können. Und das gleiche erzählt Gabriela! Mein Anruf bei den Figli di Luce ergab eine falsche Nummer. Hatte aber bei der Protezione Civile ange-rufen, müßte es wieder tun! ) Rilke Gedichte? Und jetzt fällt mir auch der Borchard Text wieder ein. -Als ich meine Ängste nachts in meinem Zimmer schilderte, kam eine depresive tieftraurige Stimme: Sono morta. Es könnte natürlich auch eine Frau sein, die eben stirbt. Und unseren Kanal hier benützt. - Ilaria fragte nach dem Kind, das sich gemeldet hatte: Claude. (Ich hatte von meinem „Nanani“ geredet) Und da kam die Antwort sehr deutlich: Figli di luce (So heisst die genueser Vereinigung). Man müßte da weiter forschen! Sie anrufen. Susanna hat die Nummer. - Gabriela fragte: Sagt mir, was muß ich tun, ich bin blockiert, wie soll ich wieder schreiben können. Sie ist Schreibmedium. Da kam die Antwot: Vai. Und: Cerca! - Susanna,die dunkle, schöne zierliche Sardin, die ihren dreißigjäh-rigen Bruder in Ancona verloren hat, er war Carabiniere und ist von Drogenhändlern oder anderen Verbrechern erschossen worden, fragte fast verzweifelt, dass sie von ihm träume, täglich fast, und spreche mit ihm im Traum, er solle sich doch bitte melden, da kamen viele starke Schaltgeräusch, und dann: Sono chi. Und: Senti! Die Sardin begann laut zu heulen. Auch andere erstaunliche Mitteilungen, bester Qualität wurden hörbar! Michaela, ist unkultiviert und wild medial, ja hellseherisch begabt, und hat Angst davor. Sie hat den Tod ihres Vaters vorausgesehen, einen Monat vorher. Ebenso Unglücksfälle… Dann aber, ähnlich wie Stimmen, kämen flashs von Bildern, sagt sie stockend: Ziehen über den Film der Außenwelt, vor allem Gesichter, viele Gesichter. Nur sekundenweise. Aber sie habe auch OBE-Erahrungn, sehe sich von oben, aber ihr Körper, wie er so daliege, ge-falle ihr nicht! Sie glaube, sie werde verrückt, sagt sie. Und dann entsteht auf dem Papier vor ihr eine schwarz Zeichnung, unwillkürlich von ihr hergestellt. Ich interpretiere sie. Ein schwarzes Herz, das von einer Kette, bei dem die Glieder größer und wie Ballons werden, nach unten eifömige, hodenförmige Gewichte ziehen sie hi-nunter. Alles zerrissen, desintegriert. Wogegen Gabriela drei Blider zeichnet, schwarzer Sog, aber in der Mitte ein Geistergesicht oder ein Schutzengel. Dann ebenso schwarze Wirbel, doch sie ergeben ein Tor oder eine Tür, und schließlich ein Falter. Bei Michaela kam zweimal: Entita, entita! (Oder war es Suanna?) Es ist nicht erstaunlich, dass immer die tiefsten, aufwühlenden Er-fahrungen Antworten ergaben. Auch auf meine theoretischen Exkurse, nämlich, dass es Gemeinschaften im Jenseits gibt, die je nach Vibrati-onsgrad und Attraktion funktionieren, kamen Antworten. Vor allem Michaela ist interessant. Sie sah mich auch einigemale von der Seite sehr interessiert an. Und eine Vibration zwischen uns ist da. Sie sagte mir auch noch: Wenn ich mit meinn beiden Kindern schlafe, dann ist da ein Fluß zwischen uns, das fließt, das ist schön. Fügte aber gleich wie eine Aufforderung hinzu: Ich lebe aber ge-trennt! Schön auch diese Auffassung, dass es hier keine Jungen oder Alten gibt. Denn wer weiß wieviele Reinkarnationen du erlebt hast, viele-leicht bist du älter als ich! Jedenfalls hab ich wieder wunderbar aufgetankt. Und das Gespräch über Reinakrnation. dass die Kirche das Wiedergeburtskonzept verboten hatte, 530 in Konstatinopel, dass aber die meisten Priester und Päpste an dieses Nichts glauben, dass aber in der Bibel solche Erinnerungen da sind: etwa Elias als Wiederkehr, war fast lustig: Denn wer weiss, was für ein Mörder der Papst früher in ei-nem andern Leben gewesen sein könnte… das darf freilich nicht sein! II ALPI APUANE Die Alpi Apuane unterscheiden sich vom Apennin durch ihre Morphologie, durch ihre tiefen Täler und ihre steilen Berghänge. Die Alpi Apuane sind für dank der Schönheit ihres Marmors und dank den unterirdischen Hohlräumen ihres Karstuntergrundes weltweit berühmt. Die geographische Lage des Massivs und die unterschiedlichen Ge-steinsmerkmale dieses Gebietes bilden vielfältige Habitate mit unter-schiedlichen Flora und Fauna: einen einzigartigen Reichtum für das Territorium des Parks Antro di Corchia In der Apuanischen Alpen gibt es über 1300 Höhlen, die zum größten Teil nur mit speziel-len Ausrüstung und Begleitung eines Höhlen-führers aufgesucht werden können. Eine die-ser Höhlen die neulich dem Publikum zugäng-lich ist, heißt Antro del Corchia, mit 70 Km unterirdischen Tunneln. Die Landschaft unter der Erde lässt den Besu-cher glanzende Stalaktiten und Stalagmiten, unterirdische Seen, wenige Kilometer vom Meer entfernt bewundern. Am Eingang der Höhle trennen drei Türen die Außenwelt von der geheimnisvollen und berauschenden Atmosphäre der unterirdischen Landschaft. Nach einer abfallenden Neigung erreicht man eine Galerie, "Galleria Franosa" genannt und dann eine zweite, die "Galleria degli Inglesi" heißt. In der nächsten Galerie, "Galleria della neve" ist eine kleiner Wasserfall, der wunderbare rostfarbe Bilder schafft. 1 Mein Herbstbesuch im Antro die Corchia 2 Meine Berge Unser schönster Ausflug ist immer noch: Rifugio del Freo, 1170 m hoch, unter der Pania della Croce, 1850 m hoch. Es ist Sonntag, die winzige Hütte ein wenig verkommen, voll mit singendem lärmendem Jungvolk. Bärtige lesen eifrig die Zeitung. Unter dem gewaltigen Berg , es gibt hier für die Jahreszeit ungewöhn-lich viel Schnee, fühlt man wieder Distanz. Die Ausnahme, die Öff-nung. Plötzlich blühen auch die Sinne auf, braune Blätter am Weg, Schneereste, Erika am Hang, Wacholder, die Steine des mulattiere treppenartig werden nah und wirklich in diesem geisterhaften Licht, und in der Ferne das Grollen eines Gewitters. Hagel peitscht ins Ge-sicht. Das noch winterverbrannte weiche Gras dämpft den Schritt, Moos an den Bäumen und Steinen. Wenn ich diese Öffnung auskoste, ist es das gleiche Gras, Moos, der gleiche Duft der Erde. Und ich versuche mich von außen zu sehen, diesen D. Heute wieder auf einem Bergausflug. NOCH lebt er,dieser D., misst es am Stich, wenn er daran denkt, also zehn Jahre ist es schon her, seit er hier oben war. Auch sie, Jahre, diese Vögel, wie im Flug: ein Vergehen, auch sie sind weg, noch ablesbar an den Falten und Fältchen, in den Augen-winkeln, dunkler die Ecken, zusammengezogen, da ziehts, bis das Au-ge so flach geworden, nur noch ein Spalt von Welt ist, und sich lang-sam Jahr für Jahr mehr und mehr schließt. Wo waren wir vorher, mein Herr? Es ist ein Nachher, ein Neneffekt des schnellen Falls, Antro di Corchia, oben, oder ists verkehrt? Schickst zuerst einen Blick hinab, spürst jetzt beim Gehen zerbrechende Knöchlein, trocknes Geäst unter dem braunen Laut, und bei jedem Schritt Knacken. Die Sonne schräg ins Auge, vis á vis diese Falten des Berges, grau, braun, Lichtwelt heißt es, wer sie sieht. Und auf dem Maultierpfad prallt mein Blick ab am Stein, ja, wir kennen es schon: Wo? Oder? durchzufallen, kein Mensch hält dicht, keine Erde, fällst durch also bis zu den Tropen? Kommst auf sie. Oder gar Moskau, um im hellen Schein des Vormit-tags tot zu sein? Fall, ein Fall. Wer kennt die Sache nicht mit diesem Kopfstand und Aufdemkopfgehn, als Kind da konnte Templin das noch, auch auf den Händen gings sich ganz gut, bis ein heftiger Was-serwirbel nach Windstärke zehn in der Nordsee ihm das Schlüsselbein brach. Da gab er auf, schrieb nur noch an einer Kinder-Landkarte, alle Wege zu durchkreuzen. Wohin also, immer nach Hause? Und auf dem Maultierpfad prallte sein Blick ab vom Ästegewirr, dahinter die Schlucht, diese große Evidenz der Zwischenräume, die weich waren, darüber braune Blätter, keine weißen, unbeschriebenen. Am Rande wurden seine Hände violett von Heidelbeeren, die auch ein streunender Hund gierig fraß. Und hie und da eiskaltes Wasser im Mund, der Geschmack prägt sich ein, wie das Rauschen des Baches, und er dachte an das Anwachsen des Kopfes manchmal im Wasserge-schmack, Wasserblase unten im Stadtmileu des überfüllten Kopfes. Hier noch ein Jauchzen, schenkt so diese letzte Stunde, frei, frei, in-kognito, keine Rücksicht mehr, als hätte er eben den Entschluß ge-fasst, endgültig sein Leben zu verlassen, wie ein Land mit dem ewigen Alltag, schrecklichen Zuständen, Schuld und Verfolgung. Nein. Frei. Die Kindersinne wieder so frisch in ihm, und wiedergeboren ein Ge-fühl. - Hie und da im Apennin ein Flugzeug im Blau. Und blau und rot gekleidete Pulks der Amici della Montagna aus Perugia, beschwingt und ausgelassen. Einige sangen; wie angetrunken übermütig. Viel Sauerstoff im Blut, hellrot. Vor sieben Jahren war er mit Hannah hier gewesen. Aber die Zeit zählt ohne uns Nichts, nicht einmal ihre Stun-den, geschweige denn uns; Nichts hat sich verändert; rotgestrichen nur die Schutzhütte, wegen der wachsenden Einnahmen. Der große Nuß-baum zeigt es genau an, erhebt aber keinen Einspruch. Kleine Kinder schreien in den Tragtaschen der Väter, oben am Kamm eine Schlange; Schrei junger Ehepaare. Die Frauen gebären den Tod; als wüßten sie es nicht. Es muß etwas sehr ungewöhnliches sein, hatte Hannah damals gesagt, doch vielleicht ist auch der Tod nur der Beginn, etwas, das wir schon immer wollten, nur vergessen haben. Und er weiß noch, dass die Rede darauf kam, ob der Name, falls sich einer da den Schacht hinabstürzt, eins ist mit dem Schacht. dass der Name der Schacht war oder das Loch nur aus dem Namen kam, und wie ist die Trennung entstanden, ist es nur die Angst vor dem Fall, Ursache, so tief zu fallen, Mangel an Vertrauen, Grund der Abtrennung des Namens von der Drohung nicht mehr zu sein, weil der Name so viel leichter wiegt als der Tod? Oder weil er von weither kommt, nicht so ernst ist, wandert, und uns das sehr bewegt? Gar Wiederschein eines Andern, sozusagen Rettung? Die Lücken dazwischen, dieses Nichts, das der Tod ist, der ist doch immer da. Wo war er Millionen Jahre lang und länger. Zu-rückfallen in meine Mutter, ins tiefe Gedächnis, dunkles Loch. Bevor du geboren wirst, spielt Zeit überhaupt keine Rolle, und könntest Vor- und Zurückreisen auf der Zeitachse, und sähest, wie jetzt Nicco in der Höhle bis ins Jahr 93, sieht es genau, wie Templin irgendwo in Italien auf seinem Buchstabenklavier dies zusammenklimpert. Angst vor dem leeren Schädel, der nicht mehr vorhandenen, als würde man nachher nicht genau dorthin kommen, wo man schon vorher gewesen war. 2 Stazzema Die Wolkenwand sahen wir von Westen kommend schon bei F, ja, es wird kein schöner Tag werden, es ist einer jener Tage hier, der schön mit blauem Himmel begonnen hat, und mit Blitz und Donner endet, beginnlos ein Fest, und werden in Pietrasanta am Markt vorbei fahren, werden lauter Schwarze sehen, einer auf einem Fahrrad kommt uns entgegen, am Ausgang von Pietrasanta ein Gladiator als Standbild, Muskelpaket von Botero. Und ich sagte zu Hannah: Jetzt reicht´s mir, ich fühle mich schlecht, ich fühl´s wie ein Gift in mir, tue andauernd, was ich nicht will. Rut sagt immer: Laß die Kopfarbeit, überlaß dich deinen Intuitionen, jetzt aber reicht´s mir, sagte ich zu Hannah, wir nabeln uns ab. Und in Stazzema stiegen wir aus und wanderten. Am besten mit den Sinnen leben, so nah alles, wie jetzt, wenn ich Cir-cel, den kleinen Hund, warm im Arm halte, der alt ist und getragen werden muß; nasses Fell, Geruch aus dem Maul, an der Schnauze, er war in eine Quelle gestiegen, um zu trinken, mit allen vier Pfoten in die Quelle gestiegen, wir sammelten Kiefernzapfen oben am Rifugio Forte dei Marmi, allein, kein Mensch da, und während ich an den har-zigen, duftenden Fingern roch, sie an einer Buchrinde abrieb, die Bu-che umarmte wie einen Bruder, dachte ich an die Quelle mit dem Ge-denkstein für Pepe, wohl ein Köhler, jetzt wenn der Tag wieder durch mich durchgeht, ist der Hl. Franz von Assisi und frate acqua auf dem Stein für Pepe in mir wiederauferstanden ins Zukünftige: die Amici della Montagna hatten ihn dem Toten hier aufgestellt zum Gedenken und dazu geschrieben: flora protetta auf Holztäfelchen und irgendein Gesetz aus dem Jahr 1982 dazu, überall Vignetten an den Pflanzen, beschriftet, sogar Edelweiß, schaurig als wären die Armen aufges-pießt, die Namen löschen sie aus, Hannah sagte zu diesem Haus: >pütscherig<, schöner das Haus vorher, großzügig herrschaftlich, eine Villa und nur ein Spruch an der Wand hora quiete, überall werden Ge-ranien sein. Zeit löst sich dann im Bewußtsein auf, alle Formen wer-den gleich: oben die Wolkenwand - zieht immer noch auf, nebelt den Forato und den Procinto ein, zwei Gesichter aus unserer Vorstellung: der Procinto ein Grieche und ein Halbprofil mit langer Nase am Rifu-gio, aber hochragend steil die Wand zum Matanna, so sieht das Unü-bersteigbare gefährlich aus, und Schweiß an den Händen, trocken auf einer Bank, trinken wir dann den letzten Schluck Weißwein und essen Schokolade, der Hund springt dazu auf die Holzbank. Ich aber habe vom gestrigen Weißwein Entzugserscheinungen, bin auch atemlos, Schwere beim Aufstieg, ich denke, mein Lieber, bald ist es aus, die Kräfte lassen nach, spürst es an den Knien, und werde an meine Mut-ter denken, die bei dem Passo della Croce auch nicht weiter konnte, mein Herz, sagte sie, und es flimmerte ihr vor den Augen. Luca, der Musiker, der wird nun auch bald fünfzig, sagt Hannah. Ist sie in ihn verliebt? In Sardinien, als wir losgingen zum alten heiligen Areal, kam er nicht mit, da wollte ich die Führung übernehmen, er aber ging schneller und schneller, nahm Abkürzungen, er hatte sich um zehn Jahre jünger gemacht. Hannah sagte, das ist ihm aber auch gelungen, in dem Alter sieht man mal gut, mal schlecht aus, je nach Stimmung, der gute Tag und eine Art Selbsthypnose machen Verjüngungen mög-lich. Ich aber hatte jetzt Angst, dass bei mir Aids ausbricht, nachge-rechnet, und überlegte mehrmals, ob die Blutuntersuchung positiv wä-re, aber du wartest lieber auf das Verhängnis: und Violetta spukt im Hirn, ein Handtuch um den Bauch ...




Bevor ich dann mit Hannah aufsteigen werde, wird es diese Natur und beflügelnden Momente in Stazzema geben, da sehe ich eine Dorf-schöne die Dorfstraße hinabgehen, geht an uns vorbei, das Auto ist auf dem Platz geparkt, doch nicht nahe genug, das Mädchen flüchtig, vorbei, ein Blick nur durchs Autofenster, der mich trifft, sie geht dann zur Mauer, ich sehe ihr vom Regen zerzaustes strähniges Haar, schmales Gesicht, und von hinten ihren Gang, ein Mantel über einer Trainingshose, sie geht an der Bar vorbei, küßt sich dort mit einem hochgewachsenen Jungen, auch der hat langes Haar, oder ist es ein Mädchen? Er sieht wie ein Mädchen aus, und sie schäkern dann beide, sitzen auf der Mauer, und ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass sie sich nachher sicher lieben werden, denn wozu sonst dieser Kuß, diese Zunge im Mund des andern, der den Akt selig nachahmt, noch näher am Kopf. Und der Dorftrottel, der ein schönes Haus hat, das seine Frau in Ordnung hält, fragt, "woher kommt ihr?" "Stuttgart", sage ich.
"Und welchen Beruf hat er", fragt er weiter. Hannah antwortet: "Er schreibt."
"Was schreibt er denn? "
"Nun eben auch dies, was wir gerade erleben, aber sonst lebt er an-dauernd in seinen Büchern."
"Aha, Carducci", sagt der Dorftrottel.





Und wir sehen hinab ins Tal des Poeten Carducci, drüben am Berg Häuser, und ich sage: "Schau Hannah, lauter ausgedehnte, nun bald blühende Kastanienwälder, jetzt noch kahl; ein Datum? wozu ein Da-tum? Es ist falsch, jedes Datum ist falsch." Denn als wir dann vorbei-gehen am uralten Torre con orologio von 1564, denke ich: das Todes-jahr Michelangelos, und sogar der 18. Februar stimmt, vor einigen Wochen, sein Todestag, da schlägt immer noch die alte Uhr von da-mals. "Ja, wenn man sie gut ölt und säubert, hält wohl das Uhrwerk noch viel länger als bis ins Jahr zweitausendundeins", sagt Hannah. "Und ist doch ein Mirakel solch ein Uhrwerk am Stundenturm meiner Heimatstadt S.", sag ich, "das ist fast so alt und geht auch immer noch", und stelle mir vor, wie dieser Stundenlauf jahrhundertelang al-les hätte sehen können, was gewesen ist, und die Form spielt über-haupt keine Rolle, und wie diese Uhr alles überstanden hat, aber auch einmal gewesen sein wird, geht und geht jetzt noch, und die Leute sterben wie hier auch, sehe hinauf, als könnte ich diese Seelen dort auf der Tanne sehen, nein, zwei Tannen, riesige Bäume, wie alt wohl diese Tannen am Haus des Dorftrottels sind, von der Frau instand gehalten, die Frau ging eben über den Hof, Unmengen von Blumen, und im Tal rauscht ein Bach, Tannen, denke ich da an die Tannen in S., Bäume meines Großvaters, an unsere Tannen in Aliano, Tannen am Waldrand, denke ich, an unsere Weihnachtsbäume, der erste ist auch schon 10 Meter hoch, dies Gefühl, wie beschreibst du das heute, und beim Eingang zum Haus des Dorftrottels steht der Dorftrottel da mit Schlapphut, grinst und zeigt auf das Winterholz: Hier das Holz, sagt er, das schlepp ich jetzt rein, es wird kalt, woher kommt ihr denn? Stuttgart, sagt Hannah. Aha, die große Kirche in Deutschland, der Dom, Gotik, sagt er: steht er noch ... oder waren es die Bomben?
Der hat für alles eine Antwort, sage ich zu Hannah, und sie: daher ist er ja auch irr.
Wir stehn dann am Platz des alten Mediceerbrunnens, sechzehntes Jahrhundert, Hannah will trinken, es sind drei Hahnen, und ein Hahn ohne Schrift, ich trinke lieber von keinem, sagt Hannah, und wir gehen in die Dorfbar, trinken dort einen Kaffee und Mineralwasser, der Mann an der Bar ist mürrisch, kann die Flasche nicht öffnen. Als käme da etwas Ungewöhnliches aus der Flasche, wer weiß. Wohltuend der Alltag, reicht mir die Flasche, ich öffne sie, nur ja keine zusam-menfassenden Bilder mehr, weder Flasche noch Geist zusammenbrin-gen, und der Mann wurde gleich freundlich, hier, er zeigt auf seinen Daumen, da tut es mir weh, so geht's nicht, jaja, sag ich, oder die Hand ist fettig, passiert mir auch oft, wunderbar angenehm das Nor-male und Kleine, kaufe ein paar Ansichtskarten vom Haus des Dorf-trottels, das schönste am Platz, Fotos von der Kirche, dem Uhrturm und dem Forato, und wir werden dann endlich steil hochgehen, sehe dabei in meiner Phantasie Trauben an rötlichen Stöcken hängen, Han-nah ist hungrig, sie nimmt ein Stück Focaccia und bricht`s Brot iro-nisch, ich nehme das Brot für euch, und wäre es September, ginge ich doch sicher und holte die Trauben, weiße und rote, als bräuchte man die für ein eingebildetes Abendmahl; wir essen aber jetzt nur Brot; al-so Körper, kein Geist? ..."




Ein paar persönliche Gedanken angesichts dieser „ewigen Ber-ge“, die auch nahc deinem Tode da sei n werden: Ich weiß nicht, ist es eine Krankheit oder meine Krankheit, so zu denken. Ich bin unsi-cher, weil wenig schwingt, was geschieht, mich wenig angeht, und in der Außenwelt handelnd, bewege ich mich wie in einem fremden Land; die Dinge lassen mich im Stich.
Bin ich schon zu oft in dieser Gegend gewesen, die Absenz meiner irdischen Umgebung nimmt zu. Manchmal noch dieses innere Licht. Blitze, Bilder auf Momentaufnahmen festzuhalten: durch den Fels gesehen, es ist ja alles schon geschehen, was sein wird, denke es einen Augenblick einfach so: vor einigen Tagen bist du gestorben, und weißt, wie alles zusammenhängt, laß es einfach fließen, trenn nicht. Und es wird gelingen, denn ich mache mich und den Satz ganz klein, auch die Gefahren einschmelzend: die Flasche, ich öffne, nur ja keine zusammenfassenden Bilder mehr, weder Flasche noch Geist zu-sammenbringen, und der Mann wurde gleich freundlich, hier, er zeigt auf seinen Daumen, da tut es mir weh, so gehts nicht, jaja, sag ich, oder die Hand ist fettig, passiert mir auch oft, wunderbar angenehm das Normale und Kleine, kaufe ein paar Ansichtskarten vom Haus des Dorftrottels, das schönste am Platz, Fotos von der Kirche und dem Forato, und werden dann endlich steil hochgehen, ihnen nach, sehe dabei Trauben an rötlichen Stöcken hängen, Hannah ist hungrig, sie nimmt ein Stück Foccaccia und brichts Brot ironisch, ich nehme das Brot für euch, und ich gehe und hole die Trauben, weiße und rote, wir essen, als wir am Ende dann wieder herabkommen…





Hat sich hier noch nichts verändert, nur ja keine Gleichnisse, den Forato hatten wir nicht erreicht, es hatte zu regnen angefangen, die Wolken Wand vom Meer war immer nähergekommen, der Himmel ganz zugezogen, verhinderte unsere Anwesenheit dort im Loch; hätten wir den Wetterbericht gehört, wären wir nicht hierher gekommen, wird Hannah dann sagen, wenn wir wieder im Dorf gewesen sein werden, gottseidank, so haben wir das Wetter überlistet, würde ich dann sagen, wenn wir wieder im Dorf sein werden, du hast Recht, klar, und am schönsten war dieser hellgrüne Jungwald oben, Buchen, auch das Gras ganz hellgrün, der Weg wie geschottert, als hätte je-mand den Weg geschottert, vielleicht der Mann mit dem pütscherigen Haus und der Pflanzenbeschriftung, doch die Natur ist großzügig, überall Basalt, und ganz von selbst oder von der Natur der Weg ge-schottert, und als wir also wieder herabgekommen waren, da wird sich alles wiederholen, da werden wir auch den Dorfirren wiedersehen, der fragt von neuem, was ich für einen Beruf habe, und sieht mich ko-misch an. Er schreibt, wird Hannah natürlich wieder sagen, nun la-chend, aha, Carducci, man könnte verrückt werden, denke ich dann, und wir gehen wieder in die Bar zum mürrischen Mann, der verkauft nun Hannah Zigaretten, Camel light, wir setzen uns an die neuen Ti-sche und neuen Stühle, ich sage, warum vergiftest du dir die Lungen mit Rauch, Hannah, diese schöne Luft. Aber ich habe ja genug da-von eingesogen, dass ich mir nun den Rauch leisten kann, sagt sie.
Und ich lasse diesmal den Krebs aus und versuche zu schreiben, so könnte es einmal, und später dann einmal auch schon gewesen sein, und im Rückblick, wäre ich schon im Himmel und könnte alles erin-nern, wüßte ich dann, dass es mir nicht gelang, der Stift sehr stumnm blieb, ich hatte schon im Auto, auf dem Weg und noch in Pietrasanta, als wir die Wolkenwand sahen, versucht, und es gelang nicht, und ich überlegte, wie ich mich von den Worten befreien könnte, um mein feeling von diesem Raum mit den Stühlen und auch nur einer einzigen Kastanie: sie müssen ganz dunkelbraun sein und ein Schwänzchen ha-ben, das sind die besten, hat mir Vivetta gesagt, sagt Hannah, paß auf dass sie nicht wurmig sind, ich sehe kaum etwas auf diese kurze Dis-tanz, die Nähe, sage ich, sehe ich mit der Brille nicht, werde ich gesagt haben, ich müßte die Brille dauernd abnehmen, die Augengläser, oder ich müßte darüber hinwegsehen, werde ich wohl gesagt haben, und gebe Hannah die Kastanien zur Kontrolle, wir sammeln sie in einem Plastikbeutel, tun sie in den blauen Rucksack zu den Nüssen, ein ganz schöner Sack voll, wird wohl fünfzehn Euro wert sein, mindestens; meine Nüsse sowieso, werde ich gesagt haben, während du geschlafen hattest oben am Rifugio, habe ich sie gesammelt, komisch so eine Art Jagdtrieb überkommt einen die Steinzeit, in uns und mit den Blicken suchte ich den Boden ab, sprang so von einer Nuß zur andern, die Hand kam dann nach, der Blick aber war schon bei den nächsten, so gings schnell zwischen Kraut und Brenesseln sogar oder Abfall von der Hütte, Dosen, ein roter Deckel, und dachte an nichts, nur an die Nüsse, nur keine Symbole bitte, und dass Hannah zufrieden sein wird, sie aber ist es nicht, weil wir den Forato nicht erreicht haben, das Himmelsloch oben, schon ganz schön schwäbisch sage ich, immer nur ein erreichtes Ziel gibt Genugtuung.



Oder Aufsteigen zum Matanna, sagte sie, auch dahin sind wir nicht gelangt, Doch die Nüsse machen alles wieder wett, fast hätt ich noch Pardem gesagt, zeig deine Nuß her! Ei oder Nuß, sage ich und fasse nach ihr. Und ich war böse, sagt sie, als wir vor zwei Monaten hier waren, könnte Hannah zu mir gesagt haben: du hast keine Be-geisterung über diese Wahnsinnsaussicht gezeigt, den Procinto etwa, sieh, ist der nicht wunderschön! Doch, doch,



nur wie soll ich mein feeling dafür beschreiben, auch nur diese Nuß in der grünen Schale, schwarz die Finger davon und der bittere Duft, Worte zerschlagen, wie sie zum Kern, also schmeckt wahninnig gut, so frisch rät Hannah mir.
Machs so, ja, Schätzchen, sagt sie, und ich sage sanft, weil ich sanfter bin seit einigen Wochen, versuche sogar die Stimme leiser zu halten, alles weniger gewalttätig: und nehme mir vor vom Papier end-lich aufzusehen oder dieses Gefühl des Regens, und fürchte mich, weil ich weiß, dass Hannah dann verschwindet, nicht da ist; das ertrage ich nicht, wehe ich höre auf, gehe zum Fenster, durchmesse dieses leere Zimmer, aber der Duft, und zieh die Regenjacke an, wird Hannah, wenn sie da sein wird, vielleicht sagen: der Pullover wird naß, dann frierst du. Nein, nicht mehr anhalten, nicht mehr aufhören, sonst erfriere ich hier, ich erinnere mich, so ohne Punkt und Komma an diese schreckliche Nacht erstarrt denkt einer mich ich ihn wieder dieses Summen und bin ich jetzt auch der Idiot im Wald - Au rief Hannah und dieser mulattiere ist abwärts ein calvarium beherrsch dich jetzt knie sagt sie bis wir unten sind tut mir weh gottseidank dass wenigsten Circel munterle ist abwärts er hat ja vier Beine da gehts besser und hat keine Probleme mit seinen Gelenken Morgen werden wir ganz schönen Muskelkater haben sage ich lang dauerts nicht wir sind bald unten aber wo ist diese Kreuzung zum Weg nr. 6 endlich sanfter der Weg hier schau wieviel trockenes Holz Kreuz und quer schönes Anzündholz wenn wirs Zuhause hätten der Mann mit dem Holz machts nicht mehr lohnt sich nicht ich weiß nicht notfalls gehn wir bis Lucca aber ich werd von jetzt an auch das Holz beachten sagte ich und hereinnehmen hier scheußlich diese Kälte dachte ich hier an der Wand hilft alles Gekratze nichts, niemand wirds je lesen können als wärs die Wolkenwand von vorhin, jetzt nur noch ein düsteres gleichmäßiges Grau mit Regenstreifen, schon halbdurchnässt, manche sind im Gebirge gestorben bei Tagelangem Schneefall, verirrt, und ich, der D. oder auch Templin, wer`s sein soll, ich oder hat Er mich ausgedacht? Griffel im Hirn um die Nacht zu überstehen flüchten, denn es war wieder eine furchtbare Nacht gewesen eingeschlossen im Körper Februar war`s gewesen ich fror erbärmlch im Turmloch du weißt ja ich weiß zwischen den eiskalten Steinen zitterte klapperte mit den Zähnen furchtbar ich spürs ja eng in die Pferdedecke gewickelt und über mich fauliges Stroh gezogen vor allem über den Kopf hattest das gelernt zuerst die Halme mit den beiden Händen über den Kopf gezogen und mit dem ganzen verfügbaren Stroh eine Art Gang und Stollen zusammengekratzt kroch da hinein robbend schon in die Decke gehüllt vorsichtig und wie lebendig begraben unter der Erde mich selbst eingrabend, so wie es mein Nicolao Granucci im „Verweser“ getan hatte. Montaigne hatte davon erzählt, seine Bauern hätten das beim Sterbgen gekonnt, und lag im Gestank, und fieberte wieder, die eitrigen Schwären am Rücken zogen den Leib krumm vor Schmerz – diesen armen Körper bewahren Warum? Ich hätte entkommen können mich schwingend herausdrehend aus dem Leib der Versuch nicht mehr zurückzukommen verirrt in den andern Räumen, wäre vielleicht gelungen: so hätte ich "meine Seele ausgehaucht" - die dann geflohen wäre weg fort aus diesem Dreck der Erde und sie hätten dann meinen armen Leib der ausgedient hatte irgendwo verscharrt Nur dieser arme Körper ist allem ausgesetzt mit dem können sie machen was sie wollen ihn quälen ihn den Diener warum befreie ich mich nicht und laß ihn liegen dass er zu "Erde" wird und keiner weiß was Erde ist!? Aber sie hatten es mir verboten die Zeit sei noch nicht um hörte ich Hannah sagen. Du mußt dich dem was geschieht überlassen Ich: übergeben als wärs eine Kapitulation? Ja genau doch welch mieses Ich kapituliert da und vor wem? Dort sein bei euch den Toten wo du in Gedanken schon bist. Überhaupt nur noch schreibend leben und leben und schreiben? Reisen doch den Moment beschreiben Röntgenaufnahmen festhalten, wie jetzt auch hier in Stazzema, was war querdurch samt den Gedanken nur wie pack ichs dass nicht nur ein Gerippe dass Blatt hier ein einzelnes Blatt da herabgeweht ein wenig eingerollt verwelkt das kommt nie wieder fällt mir aber jetzt auf. Und schon wie wir an der Serra milchiges Wasser an den
wuchtigen Marmorblöcken vorbei kamen an der zerstörten Kirche ver-fallen dieses Gefühl für die Hänge den Wald dieses Freiheitsgefühl dachte ich wie fass ichs hier ist es nicht und deine Mutter hats auch empfunden Hannah furchtbar dein Vater hat keine Freude mehr, jaja sagt Hannah wir waren mit ihnen auch hier oben und er konnte kaum gehen und im vorigen Jahr da waren wir im Lokal vor Pruno man sah den Forato von der Glasveranda da kam er nach dem Essen als wir nach Pruno fuhren, wir wollten noch da zwischen den alten Natur-steinhäusern spazieren gehen, kam er nicht aus dem Auto und auch deine Mutter nicht schon vom Tode gezeichnet die Eltern und Hannah seufzte sie kennt diesen grausamen Abschied inzwischen auch. Weißt du das erinnert mich an den letzten Besuch meines Vaters hier es war auch ein September und da wollte er nicht mehr aus dem Auto aus-steigen mild auf seine Art sagte er geht nur geht seht euch alles an ich bleibe aber hier, und ich erinnere mich wie er irgendwo in der Pi-saner Gegend wir waren in die Pisaner Berge gefahren bei einer alten Kirche es war vom Auto nur ein kleiner Aufstieg sich an der Wand festhielt fast umgefallen wäre und als ich ihn fragte Tata, was hast du versuchte er es zu verbergen um niemanden zu stören niemandem den Tag zu verderben. Dein Vater allerdings Hannah der machte genau das Gegenteil jammerte und ließ sich bedienen und hinderte alle am Le-ben. Mein Vater lebte nicht mehr lang Stalingrad hatte er überstanden und erzählte davon, im Januar wie damals aber damals war er erst 38 gewesen, jetzt: kurz nach seinem vierundsiebzigsten Geburtstag starb er der Krieg die Kriegsfolge in ihm hatte ihn umgebracht. Am Schluß fror er entsetzlich der Körper machte nicht mehr mit denk ichs mir aus nein jetzt ist er auch hier bei uns beim wichtigsten Augenblick seines Lebens im Begriff den Körper zu verlassen um der Qual in seinem fauligen Loch zu entgehen, entschlossen endlich ein Ende zu machen nicht mit dem Kopf durch die Wand sondern für immer wegzugehn. Es wird dir nicht gelingen, wird eine sanfte Stimme gesagt haben. Es erinnert mich an einen Freund, der mit glänzenden Augen als vom größten Abenteuer, das uns noch erwarte, vom Tod
gesprochen hatte, und jede Sekunde kann einen offenen Weg und ein Tor sein, erfahren:
wie der Versuch, wegzukommen vom bisherigen Ich. Habs satt, die Vergiftung mach ich
nicht mehr mit, den Streß sogar nachts, auch diese Deutschland-fahrten, all diese
Tagungen haben nichts gebracht, da kommen keine Freund-schaften zustande, sie
werden zerstört. Man ist ja ein armer Mensch und die Bücher schaffen ein zu gutes Bild
vom Schreiber, niemand kann das durchhalten. Wie aber nehm ich das Triviale genau
was ich bin und jetzt hier diese Eindrücke im Auto mit auf der Straße nach Seravezza
gerade fahren wir an Carlas Wohnung vorbei, die mit ihren Kunsttöpferwerken gebrannte
Siena alles und die indianische Sternenuhr mich erregt so dichtes Leben in den
Bildwerken in Livorno die Ausstellung in der Fortezza nuova auch der alte G.B.Fischer war
dabei und seine Tochter mit dem eigenen guten Wein und ihrer Resurection die Skulptur
wo ein Grab zum Menschen wird sich erhebt aufwacht schon ge-filterte Realität ist
einfacher und an der Viale Lago di Bolsena erinnerte ich mich heimlich zu einer Frau,
der Name ist mir entfallen, gefahren zu sein, in Viareggio hatte ich sie kennengelernt, es
war eine Veranstaltung zur Revolution gewesen, damals 90, und sie war auf mich
zugekommen, mein Vortrag über die Revolution, an die ich damals noch glaubte, leider
nicht nachgelesen: Re-Volution wie sie im Lexikon steht: "... ei-nen geschlossenen Kreis
bildend... nacheinander die selben Punkte berührend..." Meine so gesagten Aus
Führungen hatten ihr gefallen, berühre also Kommas und Punkte wieder, auf dem
Korridor gab sie mir ja eine Karte, ihre Karte, wir telefonierten dann, am Telefon ein Herz
und eine Seele, in Abwesenheit bricht immer noch die Hoffnung auf Ausbruch durh, gut
ist aber kein Besuch, ihr kleiner Sohn wäre dabei, sagte sie, doch ich fuhr leider, wie so
oft, muß ich dabei sein, wirklich dabei, sag mir, was solls, wer ist schon wirklich und auch
noch dabei, fuhr also in die Viale Lago di Bolsena, sie in ein Restaurant eingeladen,
aber wir hatten dann doch bei ihr gegessen, eine große Enttäu-schung, lieber ist mir
immer mehr die Distanz und anonym bleiben. Hannah aber sagt, man kann doch nicht
immer nur anonym bleiben, einige Menschen muß man doch kennenlernen, mit ihnen umgehn, nicht? Ich werde also dann, wenn Hannah kommen wird, einmal, davon bin ich, wie Vater auch in mei-nem Alter, überzeugt, es wird noch einmal ein Wunder geschehen, mit uns geschehen, bin also dann sicher sehr glücklich und heiter, als Templin also gelöst, als wäre ich nicht mehr krank. Phantasievoll wie-der: Sitzen dann im Eßzimmer, und wie jeden Abend sehen wir, ich doch dabei, nach dem Abendessen einen Film im Fernsehen. Es wird ein Film über Gedächtnisverlust sein, nehme ich jetzt an, eine Art Krimi, Tatzeit 1926. In Gedanken, ich der Templin, aber Gottseidank bei mir, und denke an Granucci, meine Romanfigur, die aber einmal wirklich gelebt hatte, Hannah wage ich nichts vom augenblicklich wirklichen Zustand zu sagen.





Ich gehe mit mir selbst um, D, den ich auch Templin, manchmal auch Roman nenne, Hannah bei ihrer Wiederkehr ungehalten sagen wird, Templin, du träumst wieder, du siehts mich nicht, bist völlig abwesend. Ich aber bin doch da, zurückgekehrt zu dir. Der Film lenkt sie ab, saugt sie auf und mich, im Bewußtsein eine leichte Leere: wir sind tatsächlich nicht da, nie da gewesen, nur mein, Granuccis Be-wußtsein, Figuren dürfen ja auch Ich sein, im Finstern, könnte jetzt vielleicht hier erwachen, wer weiß: ein Schock: als könnte Templin mein eigenes Geschöpf sein, und mich hier wie sich selbst im Spiegel sehen: Lag der da und phantasierte vor sehr langer Zeit, wie im Fieber,
Science fiction wird man es genannt haben werden. Und längst vergangen wird es sein, wie wir auch. Er hätte sich so fern sehen kön-nen, wäre dieses in ihm einmal in ferner Zukunft abspulbar gewesen, hätte er uns auch so einbilden und wir so geworden sein.
halb in Koma schon, nahe dem Tod, in seinen Gedanken also, ließ er mich jetzt auch
verstohlen für Momente präsent sein, und schon im nächsten Moment hinüber zu Hannah
gesehen haben werden, mich davon zu überzeugen, dass sie wieder da ist, ich nicht mehr
allein dasitze wie all die Monate, die vergangen waren für im-mer? Und setze mich
heimlich mit Granucci in Verbindung, wie ich es mir einbilde, und war doch längst nur
sein Gedanke gewesen, wehe der Faden reißt ab, und erzählt mich nicht mehr
vorvergangen also: Verschmolz so, wenn auch imperfekt lang-sam mit Gedanken, die
ich heute besonders stark fühlte und auch wenn es irre klingt, konnte ihm am besten
helfen zu vergessen und hierher zu kommen, wußte übrigens genau, was ich ihm zu
verdanken habe, und wer er, wer ich bin, steht nie fest. Leider etwas Zahnweh vom
Nachtisch: Nußeis heute Abend und dachte an Freundin Ruths, sie macht „Installationen“ - komisches OP-Tuch, nicht
zufällig, langsam ein Verfließen der Gedanken, hielt den Schmerz, der da bohrte noch
aus, um Hannah nicht allein zu lassen, nahm ein Aspirin, das half aber wenig, und der Kopf
hämmerte, nur der Film lenkte ein wenig ab: und stellte mir vor, er mich: dass Granucci
mit dabei ist, und ob er wissen könnte, jetzt mit meinem Denken freilich, das er sich
borgt, okay, um am Leben zu sein, ob er sich vorstellen kann, was ein alter Ford ist:
eben dort auf der Mattscheibe zu sehen und da kamen mir die Tränen in die Augen als
da wie zu Hause in meiner Kindheit ein alter Ford über Staub-straßen fuhr, Staubwolken
aufwirbelte; ein Pferd mit glänzendem Fell war zu sehen, zuckte mit der Haut Bremsen,
flogen auf, und ein Feld mit Margueriten im Wind. Und ich sah Mamas Gesicht, schön,
als sie noch jung war. Und der Hauptheld im Film, der da über die Staubstraßen
gefahren wurde, hatte im Krieg sein Gedächtnis verloren, lebte in der Heilanstalt,
erkannte niemanden mehr wieder, weder seine Mutter, noch sei-ne Frau oder seine
Kinder, und jeder versuchte jetzt eben wieder, so ein Bruder des Patienten jetzt, bei
dieser Staubstraßenfahrt verzweifelt das Gedächtnis des Kran-ken zu wecken, und höre
es jetzt deutlich: Freilich bin ich dabei Templin und ich gehe mit dir in den Garten,
unsichtbar freilich, wie du hier unsichtbar bist, und eure Monster Fernsehen, dies Lichtgerät mit Bildübertragungen über große Distanzen, für uns ein Wunder und es gibt dies freilich an sich gar nicht, meine Mutter würde mich auslachen und Lucrezia spotten:
klar dies Selbstbewegte, das Auto, kenn ich inzwischen auch, ist ja von mir erfunden, wie du, mein lieber Templin, und du hilfst mir sehr in meiner schlimmen Lage, wächst mir zuweilen über den Kopf, machst dich zu selbständig, man hört eben dies Gefährt, solch ein Auto den Berg hinabfahren, dann einen sogenannten "Roller", wie ge-fällt dir der Name? Am Himmel blinkt der Metallvogel, ein Jet, schön, nicht der Name, rot und grün, wie bei den Schiffen, und weiß die Positionslichter, als konkurrierten sie mit dem Orion, der Himmel übersäat mit Sternen, es ist jetzt eine schöne Nacht, nicht wahr Temp-lin, und ich hab dir nun auch Hannah wieder geschickt, du siehst, ich denk an dich, bist jetzt draußen, Hannah sitzt immer noch vor dem Fern Seher, sieht, hört einer Revue zu, und alles so wie hinter Glas, der Große Wagen steht lahm da, und fahl, aber immer noch da, und ich möchte in eurer Zeit die es nicht gibt, nicht leben, und die Grillen wie aus einer vergangenen Welt Leuchtkäferchen grünes Licht …






Einer der schönsten Ausflüge über die Marmorbergte in Serchio-Tal:



Und wieder auf der Strasse/ Pietrasanta /dann Seravezza und die Mediceervilla mit ihrem Museum….

Und dann hinauf über Levigliani, wo wir die Corchia-Höhle sehen wrden, in ein paar Tagen, Terinca, die Abzweigung nach dem Passo dela Croce, der Altissomo und Michelangelos Steinbruch im Blick, Hannah hielt nicht, so konnte ich ihn nicht fotografieren, den weissen Berg der Schönheit und der Angst. Dann der Cippolaio-Tunnel, die Abzweigung nach Arni, die Isola Santa mit dem Stauwerk, und deie Erinnerung an unser Mittagessen mit dem alten Freund V. Der Auftsige mit JPF zum verlassenen Dof, wo die Kirche von Kühen bewohnt wird.


Dann Garfagnana, Castelnuovo, wo ich Ariost besuchen wollte, doch gabs keinen Parkplatz, und weiter, weiter ins bekannte Bar-ga, wo Erinnerungen an unsere Hochzeit vor 21 Jahren auftauch-te, ich das Hotel Libico, wo wir die „Hochzeitsnacht“ verbracht hatten, fotografierte.





Es war geschlossen. Rundgang zum Dom. Die verwinkelten schö-nen Gassen.

Der Dom mit de Christophorus und dem Kind. Dunkel, kaum zu erkennen.


27. November 1985. Mittwoch.

Mit dem Blick des Abschieds fällt mir plötzlich Lucca ein.
Und ich habe Sehnsucht nach Lucca ...
Damals, wann? 1974? 1973?
Und der Spaziergang zur Wiese, wann? 1977?
als mir einfiel der Beginn
eines Essays über / “Diesseits der Gegenwart”.
Was ich vorausgedacht, das ich abwesend bin
du noch da warst, hier lebtest, mich mitzogst,
dass wir Abwesende sind nun beide, hier
ohne Liebes Gefühl , das uns irgendwo im Tessin
an einen bärtigen Kopf hängt, der mir ähnlich
sieht, aber der ich nicht bin.

Und ein Vierteljahrhundert später, jetzt
dieses Heute das wir sind
ist der Bärtige wieder da / drohender
unfühlbarer auch nicht mit Schmerzen
ertragbar / als Preis / unwiederbringlicher bist du
der täglich das Leben schwächende
mit allen Schatten /wahrnehmungslos fast ohne Gefühl
der Alte / der Älteste! DU bist es
geheimster Liebhaber aller Gedanken
Freund Tod.

Wie ein Kinderspiel wars, damals:
“Wir fahren sie ab / unsere Gegenden / wund
wir gehen und leben / sind wieder
in Bagni di Lucca gewesen / in Granaoila / wo Montaigne
die Höhe hinauf geritten ist zum Friedhof / welche Tote
von damals sind noch kenntlich? / und er?
Wir sind die Lima entlang gegangen / milchiges
Wasser / gelbe Kastanienblätter, das Sonnennetz
unter der Brücke / Montale hat es gemalt /
auch er tot / doch spürt er es nicht mehr / wie das
langsame Sterben ist. / Wir sind
an jenem Ort gewesen / Barga / die romanische Kirche steht
noch / der Christophorus mit dem Kind /
die engen Gassen / die Mauern mit den Gittern
und Einschüssen / die Bar vor dem Stadttor /
doch immer war jener Dritte dabei / und die Hand die
ich nehmen wollte / fiel ab / Worte fielen
herab / erreichten dich nicht mehr / deine Lippen
zusammengekniffen ...




Zeitschichten hier / wie oft waren wir schon hier, mit Freunden, Eltern, allein. Dann Abfahrt Richtng Lucca, Ciocco, wo ich mei-nen alten rumönischen Freund Tsepenag. mal bei einem Symposi-on get5roffen hatte, aufzufrischen die Erinnerung…. V

Vorher Castelveccho Pascoli, vorbei am Restaurant des Dichters, wo wir auch mal gegessen hatten… ich muss die alten Fotos he-raussuchen. Und meinen Text.


Die Episode, die das Glück der Jugend Pascolis zerstört, ist die Ermordung sei-nes Vaters. Dieser wird am 10. August 1867 auf der Straße zwischen San Mau-ro und Savignano (Romagna) auf einem Pferdewagen, unweit seines Hauses, erschossen. Wenig später, am 31. Dezember des nächsten Jahres, verstirbt die Mutter; dem Schicksal der Eltern folgt alsbald das dreier Ge¬schwister. In den Canti di Castelvecchio erscheint das berühmte Gedicht La cavallina stor-na über die dramatische Episode, die sich in die Erinnerung des Kindes für immer einprägte.

Die Küche

Das Schlafszimmer

Das Arbeitszimmer

Die Kapelle
Dann Gallicano und Eremeo di Calomini. Fotos.

Zeitschnitten. Mein Blick / Euer Blick welcher trifft? / wenn er zurückläuft / Eremo / Eremita /komm ich so auch zum Heiligen Franziskus / überall sehe ich in Bilnissen und Fotos die alte Kutte / Komm ich gar zu mir Zärtlichkeit für Tiere unjd Bäume hier / für die Menschen ists schwerer / auch zu dir /mein Leser / der gar nicht hier ist / es sein möchte /und ich wäre froh / und nie war?
Ich hätte dior dieses gute Fischessen gegönnt. Süsswasser. Quell-wasser, mit einem beonderen kristallenen Gecshmack am Gaumen und verkostet wie Wein. Leider gab es Essen nur in einem „Agrotourismo“, nicht in dem wie in den Felsen gehauenen Klos-ter. Doch das Essen war gut, Forellen. Die grüne Sicht in unend-liche Wälder. Immerin kühl: 900 m hoch.
Ich durfte Terrasse Essraum, Zellen nachher im Eremo, Eremita-ge, oh, welche Assoziationen, besuchen.
Dann über Bagni di Lucca und Borgo a Mozzano nach Hause. Berührten auch den Ort der Männermordenden Lucida aus dem „Verweser“ und aus „Romans Geister, und ich suchte die Seiten zu Hause dann heraus:

„Roman glaubte wirklich, daß diese Lucida in Catureglio am Monte Bariglio bei Borgo a Mozzano und unweit von Bagni di Lucca, wo die Familie Villen besaß, ihre geheimen Liebesbegegnungen gehabt hatte. Und er war sogar dorthin gefahren; Granucci beschrieb alles so plastisch, stilistisch ein glänzender Autor, irgendetwas muß da ge-schehen sein, daß der wohlverdiente Erfolg und Ruhm bei ihm aus-geblieben war! Will er mich vielleicht jetzt benutzen, schoß es Roman durch den Kopf! Er mußte lachen bei dem Gedanken. Daher meine Schreibwut?! So? Und es war durchaus glaubwürdig - Boccaccio hätte kein besseres Buch schreiben können: daß sich die schöne Lucida nicht mit den "fallace letizia dei sensi" begnügte, sondern sich auße-rordentlichen Auschweifungen hingab, im URBANO ist sie jedenfalls eine Meisterin des Perversen, TodesLüste, die Granucci detailliert be-schreibt, als sei er selbst dabei gewesen; und er behauptet, daß er (ver-kleidet) einer ihrer vielen Liebhaber gewesen sei, und nur er allein ihr entkommen konnte. In Catureglio, so sagen die alten Bauern, "gäbe es Ängste" in einigen der kahlen Zimmer, und Klopftöne seien dort zu hören, manchmal auch einzelne Schreie.
Lucrezia machte sich auf ihre Weise frei; wie die Ehemänner um-kamen, ist ungewiß. Zehn Jahre waren vergangen: Und Lucida hatte drei Liebesnester in drei Mansivillen. Die Liebe zu Granucci war langsam abgekühlt; sie war lebensgierig und erfahren, die Lucida Buonvisi-Mansi. Und kannte zu viele, die sie, ja, zuerst aus Protest genoß. Dann wurde die Lust größer, und ein Prinzip. Und die Lust al-lein reichte ihr nicht aus. Der Diener Giovanni berichtete genaue Ein-zelheiten. Granucci gab ihm Geld, gab ihm für jede Nachricht 2 Scudi auf die Hand. Und Giovanni erzählte; auch er war in Lucida verliebt, hoffnungslos, der Diener, und eifersüchtig erhitzt war seine Phantasie. Granucci, der vom Leben Verratene, tat die seine dazu, und er schrieb diese Geschichten in den URBANO, es war seine Rache. Es war das unsterbliche Gefühl von früher, es war die gekränkte Liebe, die so ins Wort fiel! Sich und ihm. Schrieb anfangs mit schlechtem Gewissen, dann aber berauscht, schrieb er immer weiter... Und auch im Leben le diable au corps also, und das alles nur, weil es damals noch keine Schönheitssalben und Schönheitsmassagen und die Masken gab? Möglich, ja, fast sicher, daß alles in Catureglio auf der alten Feste ge-schehen, nahe von Bagni unter dem Monte Bariglio, wohin die Galane kamen zum Wochenende, geladen, aber, was sie nicht wußten: zum Sterben, denn für ihre Schönheit, so dachte die Mörderin, hieß es: brauche sie ihr Blut; keiner habe ihr widerstehen können, keiner, sie habe den Blick, und halte jeden fest.















DER DOPPELTE AUGENBLICK. ZEITTEIL DER EWIG-KEIT

Gestern sagte Argia in Florenz, sie habe Totenwache bei ei-ner Bekannten gehalten; im Zimmer sei ein Frost spürbar gewesen, der sie habe zittern lassen; sie wollte hinausgehen, habe sich dann "über-wunden" und sei geblieben. Der Chock weckt auf, sagt sie: Wir ver-tun unser Leben mit unwichtigen Dingen, anstatt uns jenen zu wid-men, die auf unsere längste Zeit eingehen, nicht auf unsere 70-80 Jahre hier, sondern auf die längste Zeit, die uns bevorsteht und sei es im Nirgendwo; mich dem zu widmen, habe ich vor, sagte ich, doch komme ich trotz selbstgewählten Einsamkeit kaum dazu, ich bin zeitkrank.





Argia, die alle sechs Monate mal anruft, sagt, wie, um sich zu entschuldigen: Sono molto lenta. Ich bin sehr langsam in allem, was ich tue. Ich auch, sagte ich. Ist es nicht so, daß die innere Zeit, und vor allem diese speist unsere Tätigkeiten, unseren Beruf, eine Zeit ist, die ungeheuer langsam fließt, ja eine Intensität, ein Wirbel ist, der sich in sich selbst bewegt wie ein Trichter, rasend still steht, geht es doch um jene Zeit, die schon jetzt jene ist, die nach dem Tode gilt, in uns als Echo erkennbar, um uns nicht vergessen zu lassen, wo wir uns suchen müssen. Und da wir dafür eine Menge äußerer Zeit brauchen, kommen wir in jenen innern Streit, ins Schwitzen, bekommen diese Angst "Zeit zu verlieren", weil wir sie "verlieren" müssen, um "hineinzukommen" in jenes Tun, das Schreiben ist, dieses Surrogat der andern Zeit. Dabei Angst und Schuldgefühle.
Diese tägliche Unzufriedenheit, die mich bis zu Wutausbrü-chen martert, jeden Genuß verhindert, hängt damit zusammen, daß ich wie ein Verräter lebe, die knappe Zeit, die noch bleibt, selbstbezogen einer Öffentlichkeitsmaschine, die mich ganz durchdrungen hat, opfe-re, und einem Moloch zu Diensten bin, der das genau Gegenteil von dem verlangt, was notwendig wäre; ich mich schuldig und unnütz füh-le, auch wenn ich zwölf Stunden am Tage arbeite.

Ich weiß es, Ruth, und leider habe ich es verdrängt, vergessen. Vor Jahren war das anders: Auf unserer Reise zu den nordamerikani-schen Indianern, den Hopis und den Sioux, staunten wir, als bei einer Heilprozedur mit Sandpaintings, diese wunderschönen kosmischen Mandalas, die unsereiner ja für "Kunst" hält, nach dem Heilvorgang diese schönen Werke einfach ausgelöscht wurden, sie hatten ihren hö-heren Zweck erfüllt, nämlich den Patienten, der aus dem kosmischen Ganzen "herausgefallen" war, so daß er erkrankte, wieder in dieses "Ganze" hineinzuführen.
Je nützlicher und lukrativer die Arbeit ist, umso unnützer von jenem andern Standpunkt ist sie - in diesem Zwiespalt, den ich vor allem unbewußt spüre -, je unnützer sie in jenem andern Sinn ist, umso mehr muß ich an Zeit und Energie aufwenden, und Rennen, Rennen, atemlos, um einigermaßen zufrieden zu sein, und "die Arbeit" wird so ein Selbstzweck zur Selbstberuhigung vor allem, als könnte ich durch "ein Werk", das rein biographisch dienlich wäre, dem Tod, dem Verschwinden, der - von der Ratio her gesehen - Sinnlosigkeit des Täglichen, Paroli bieten. Dabei weiß das tiefere Selbst, daß sowohl der Tod, als auch das "Werk" Illusionen sind, ja, wie menschlich selbstgemachte Phantome oder gar Windmühlenflügel, mit denen ge-kämpft wird, um dabei die wirkliche Herkunft der Seelen oder des Windes zu vergessen, die so abgründig ist, daß wir so nicht leben könnten, wie wir leben.

Ich glaube, das Unterbewußtsein lässt sich nicht täuschen. Je mehr wir laufen, umso weniger kommen wir voran, und wachen dann in Schweiß gebadet endlich einmal auf? Viel Papier über das Verschwinden; es nährt sich also auf Umwegen genau von dem, was es bekämpft! Und würdest du dieses Gedicht auch akzeptieren?

Hier meine schachtel der träume
destilliert aus erlösten dingen

angst meine versunkenen blätter
vermodern zu lassen
als käme der winter

relativ ewig ist nur natur
doch geschriebenes schicksal
gehäuft im verfall

Hannah`s wichtigster Traum, der sich oft wiederholte, ge-hört dazu: sie musste irgendwohin hin kommen, es ist spät, sie sah schwitzend auf die Uhr, lief und lief, kam aber nicht von der Stelle. Daß wir immer nur im Nachbild dabei sein sollen, ist unerträglich, denn dieses macht schon von Anfang an jeden zum Greis, der Erinne-rung nachhängend, falls dieses Wahrheit sein soll, was uns der Au-genschein bringt. Uns sind heute die alten Sinne besonders geschärft, zivilisationsspät, daß alles noch da ist und doch schon längst vergan-gen; ich sehe die Reben hier in meinem Garten, das Meer, und bin er-schrocken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist "übriggeblieben". Ich aber bin es nicht.

Am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf.
Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub.
Sprünge und Risse im Blickfeld Und alles
eilt/ Du hältst es notdürftig zusammen,

treibst wie eine Mauerblume
Synthese zum Vor-
Schein.

Langsam veränderte sich meine Schrift, die Hand zitterte, und lief hastig über den Keyboard, manchmal aber, ganz anders als beim normalen automatischen Schreiben, erschien auf dem Bild-schirm schon vorher Ruths Satz bernsteinfarben auf schwarzem Hin-tergrund, auch dies sei erklärlich, schrieb sie eben, weil die Frequenz des Computers freilich nahe der Lichtfrequenz ihrer Ebene sei, das seien andere Zeiten als die der Uhr, und ich meinte auch ihre schöne Stimme zu hören: ihr bewegt euch im Verhältnis zu dem, was ihr schon längst seid eben zu langsam, der Körper stellt euch andauernd ein Bein, so kommt ihr nicht an, da, wo ihr längst seid, hier nämlich, euer aufblitzendes Bwußtsein ist zeitweilig hier. Es ist wie ein Glüh-würmchen, aufleuchtend, also bei euch, dann dort absent und dann eben hier, ihr sterbt in jeder Sekunde und werdet dann wieder "leben-dig", diesseitsgerichtet. Man nannte dieses Blackout sogar Nichts, je-denfalls ist es ein schmaler Spalt, ein momentaner "Tod", seine Pulsa-tion ähnelt jener des Atems, ja, dem der Atome und Moleküle.
Eurer Wahrnehmung ists meist entzogen, als wärs ein "Zeitfluß", mitnichten. Du scheinst es zu bemerken, manchmal, ich weiß, du hast mir schon damals im jener Nacht davon erzählt. Das ist eine Gabe, kann zum Wahnsinn führen oder zur Erleuchtung, nimms an T., nimms an, konzentriere dich auf jene Rückseite des Bewußtseins, so kommst du hierher, trainierst den Todesprozess, der dir dann einmal den Übergang erleichtert.
Aber die Sache ist ja alt, Ruth, du weißt es, beim Griechen Parmenides waren es Frau und Mann, die hintereinander herlaufen, sich nie finden können, Entzweiung zwischen Tod und Leben, solange wir nicht wissen, daß es die Trennung gar nicht gibt, die uns so quält, daß es nur das Nach-Bild, das Gewordene und Schongewesene gibt, wir also nachhängen, der alte Parmenides fand, daß diese Zwei von Aphrodite so verkuppelt seien, edas andauernde haltlose und danaide Vergehen, ein Vergehen des dahinterliegenden Unsichtbaren sei, das wir nicht wissen können.
Nun, das ist eine Art Philosophenmärchen, lachte Ruth, der Tod geht euch schon was an, denn er ist wirklich zu durchleben, und nichts anderes als eine Verlängerung jener augenblicklichen Absenz in jeder Sekunde, die sich eurer Wahrnehmung entzieht, und sie darüber hinweggeht, dabei ist sowohl die alte Philosophie als auch die neue Physik auf diesem Phänomen aufgebaut, also durchaus auf dem Ein-bruch der höheren Ebene bei euch, das aber ist plausibel. Dauert die Absenz länger, könnt ihr sie nicht mehr überbrücken, und das erlebt ihr dann als Tod, wenn euer Bewußtsein völlig abgekehrt ist von der physischen Welt und nicht mehr der Träger eines Erscheinungsbildes sein kann.

Ich erinnerte mich an Spanien, sagte ich: als wäre jetzt mir und andern alles spanisch. Das Leben ein Traum - Calderon. In Sevilla - ein katholisches Fest, überall Kitsch, Tribünen heilige Bilder, Fahnen. Wirklich blieb nur die gotische Kathedrale mit dem neunzig Meter hohen Turm, die Giralda. Eine hohe Palme, ein Augenbild vor mir, doch irgendetwas hatte mein Bewußtsein aufgebrochen und dieses fächerte schmerzhaft weißes Licht auf die Plaza de la Falanga Es-panola. Es war "stehengeblieben", absent hier, und wenn ich "auf-wachte", war das Außenbild schon "weitergerückt" , ich kam nicht nach. Ich dachte durchzudrehen und rannte davon, in einer Osteria stürzte ich mehrere Glas Rotwein hinunter, um mich zu betäuben. Es ist mir aber schon oft passiert: Ich "stehe" in solchen Augenblicken an jener Grenze, und habe große Angst, ich bin stehengeblieben, ir-gendwo haperts mit der innern Zeit, man hat Schwierigkeiten, den äu-ßern Bildern nachzukommen. Ich wundere mich dann immer wieder, wenn sie doch noch da sind, diese Bilder der festen Welt, kommt wie in Intervallen, daß ich immer noch da bin, wo ich mich gar nicht ver-mutet habe. Das Bild ist fixiert in seiner statischen Vorstellung, doch die "Zeit", nein, der Außenfilm ist ein Stück weitergerückt, jene Gi-ralda: Man blinzelt, strengt sich an nachzukommen, denkt an mögli-chen Irrsinn, falls das Bewußtsein zu langsam sein sollte oder viel-leicht ganz aussetzt...

Ja, diktierte mir Ruth, ließ meine Finger auf den Tasten springen: das gibt es hier dann nicht mehr, da ist alles Gedachte, also eure Absenz dort, sofort auch "außen", es gibt diese Trennung gar nicht mehr. Das Ich ist kein "Zeitfenster" mehr, das geöffnet und ge-schlossen wird im Augen-Blick. Vergehen, jenen Boten des Todes gibt es nicht, wenn man schon hier bei uns, ihr würdet ganz ungenau "hinüber" sagen, benützt es sogar für Ohnmachtsanfälle, ja, für Ab-senzen überhaupt, als wäre Zeit gestoppt, doch dieses Heranrücken des Unbekannten, des Zukünftigen ist bei uns von Anfang an unmög-lich, weil es keine Zeit gibt. Da und zugleich Nicht-da zu sein. Bei euch aber ist Bewußtsein noch gespalten, so wurde es genannt: scheint ein Gespenst, sitzt einem Vor-Schein auf, einer Täuschung. Denn Ge-genwart IST NIE. Heimat ein Niemals, wie der Zeitfluß Illusion.

Aber jener aufblitzende Moment im plötzlichen Einfall, der ja auch aus dem Posthumen des Wirklichen und aus der Zukunft des Voranstürzenden kommt, können wir in der Schrift verzaubern: in ei-nem der ordinären Zeit umgekehrten Prozess; nicht der Zeitverlauf, sondern die Sequenzen aus kleinen Erhellungen sind ja zuerst da. Zumindest in Gedichten und Denkbildern, die es leichter haben als etwa ein Roman, der zu Kopien der äußern Zeit, also auch zur Lüge und zum Vertuschen des Zwiespaltes gezwungen wird. In der kurzen Form aber in einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und Sinnnähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis. Und schafft einen andern Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende Unvereinbarkeit. Er ist fiktiv, wie Ein-fälle und Intuitionen und kommt aus einem Bereich, der an die Grenze unserer Vorstellung rührt.Es ist wie eine Übung, um etwas zu errei-chen, was es nicht gegeben hätte, eine Menschenmöglichkeit, die ver-loren gegangen wäre, hätte sich hier nicht Einfall als Weg in unsere Verständniswelt gebahnt; es ist also wie eine Stimme aus einer andern Welt, womöglich aus einer zukünftigen, wo es diese Trennungen nicht mehr gibt.









Pietrasanta. Memento mori und der Marmor wider den Tod. Der Krebskranke Vater

Abendessen im Garten, noch mit Sternhimmel, und wieder zeigt sich, dass man nur vom Krebs sprechen muss, sofort ist jemand da, der zum Leidens-Club gehört. Editt D., die Bildhauerin aus Kanada, die ein Atelier in Pietrasanta hat, sie stammt aus Iaşi, fing sofort an von ihrem Vater zu erzählen, der – erst 80-jährig im März gestorben war. Man hatte seinen Krebs zu spät entdeckt, und er war voller Metastasen, leb-te die letzten 2 Monate in einem wunderschönen privaten Sterbehaus. Editt kam auch zu seinem Tod nur im letzten Moment, zwei Stunden bevor er starb, er konnte auch nicht mehr reden, nur "sehen" und ver-folgte sie, saugte sie ein mit seinen Blicken. Und sie saß ganz nah, spürte, dass sie plötzlich in gleichem Rhythmus atmeten, und der Herzschlag synchron ging.
Dann musst sie Tag und Nacht an ihn denken, den sonnigen Men-schen, der jetzt eine schwarze Sonne geworden war. Sein Auge, das sie wie von drüben angesehen hatte, verfolgte sie. Vor allem, das im letzten Augenblick seines Leben im rechten Augenwinkel eine Träne hervorkam und dort hängen blieb, nicht übers Gesicht lief.
Ich widmete ihr dieses Gedicht:

LACRIMA rerum nicht nur gespiegelt in der Träne
Die Welt:/ wir sind wie ein Auge der Toten / und nur ihre Träne rinnt in unsre Lichtwelt.
Im Augenwinkel langsam / wie die Zeit, die einmal
Geblüht hat, fällt sie als Ende
Auf das was zurückbleibt,
auf den ihm gleichen, den Herzschlag der Tochter,
ein letztes Geschenk seiner Sonne,
die in Gedanken nie mehr vergeht.

Schwarze Sonne der Augen
Mit einem Lichtblick der Iris
Täuscht sie Welt vor/ ist sie
Der Eingang, wenn sie
Das Auge schließt/ um es drüben
Zu öffnen?

+++

Sie erzählte, dass sie am Meeresstrand plötzlich ihren eigenen Schatten über den Sand habe fallen gesehen, ein Bild der Vergänglichkeit. Und daraus ist "Schatten" entstanden. Dieser auferstandene Grabstein mit dem Skelett:

WIEDERKEHR DER TOTEN mit einem blitzenden Licht / der schwarze Kopf, um uns zu zeigen, dass es eine verborgene schwarze Sonne gibt, die wir nicht sehen! Liebe ist von der an-deren Seite hier / Ein-Leuchten berührt, was unser Herz wach macht - und wieder singt.

Das Auge blitzend in der Pupille
Licht in der Träne:

Schwarzer belgischer Marmor/ gerippt
Wie ein Pilz / wie ein Fächer
Schwarze Sonne, unsichtbarer Schmerz.

Die Träne aber fällt nicht,
fällt nicht, rinnt nach innen,
wie die Tränen der Heiligen, aus denen diese
innere Gotteswelt wird.



Pietrasanta
Mauerreste weisen auf eine Besiedlung bereits in römischer Zeit hin. Als Gründungsjahr der Stadt gilt das Jahr 1255, als der Mailänder Guiscardo Pietrasanta, Namensgeber des Ortes, zu Füßen einer bereits bestehenden lombardischen Festung eine Siedlung errichten ließ. Während des Mittelalters wechselten die Herrschaftsverhältnisse mehrmals zwischen den Stadtstaaten von Genua, Lucca und Florenz. Im 17. und 18. Jahrhundert folgte eine Periode des Niedergangs, der unter anderem durch die Malaria verursacht war.
Leopold II., Großherzog der Toskana und Erzherzog von Österreich, förderte im 19. Jahrhundert den Wiederaufbau und schuf durch die Errichtung von Schulen für Steinmetzeeine wirtschaftliche Grundlage für den Wiederaufstieg zur früheren Bedeutung als Stadt desMarmors.



Pietrasanta, Domplatz


Ein Künstler bei der Arbeit


Pietrasanta, Dom Innenansicht


Pietrasanta, Dom, Kuppelblick
Marmorverarbeitung [Bearbeiten]
Der Name Pietrasanta (ital. pietra: Stein, santa: heilig) ist Programm. Tatsächlich kommt der Steinbearbeitung in Pietrasanta eine ganz be-sondere Bedeutung zu. In den in unmittelbarer Nähe gelege-nen Marmorbrüchen von Carrara wird der weltweit beste Marmor na-mens Statuario gebrochen, der in vielen Unternehmen in und um Piet-rasanta weiterverarbeitet wird. Marmor ist in Pietrasanta auch ein bil-liges und praktisches Baumaterial. Viele alltägliche Gegenstände wie Fensterbretter, Briefkästen, Bürgersteige, Elektrokästen oder Müllkäs-ten, die alle aus feinstem weißen Marmor bestehen, lassen sich in der Stadt finden.
Bildhauerei und Kunsthandwerk
Eine ganze Reihe von Steinmetzen, Bildhauern und anderen Küns-tlern, die mit Stein arbeiten, haben sich hier angesiedelt. Ein bekannter Künstler neben anderen ist Fernando Botero. Marmor ist jedoch nicht das einzige Material, das im Kunsthandwerk Verwendung findet. Vie-le Künstler, übrigens fast alle sehr betagte Italiener, arbeiten mit ande-ren Materialien, insbesondere mit Kupfer und mit Glas, mit dem kunstvolleMosaike gelegt werden.
Die ansässigen Werkstätten haben zumeist einen ausgezeichneten, teilweise internationalen Ruf. Bekannte Persönlichkeiten wie Silvio Berlusconi und Papst Johannes Paul II. haben bereits Statuen in Auf-trag gegeben. Pikanterweise hatten seinerzeit George W. Bush und Saddam Hussein zur gleichen Zeit Aufträge an dieselbe Werkstatt vergeben.
Sehenswürdigkeiten
 Der Dom San Marino wurde im 14. Jahrhundert an Stelle einer frühe-ren Kirche errichtet und im 17.und 19. Jahrhundert restauriert und verändert. Der Camapanile stammt aus dem 16. Jahrhundert.
 Der Uhrturm wurde in den Jahren 1530–1533 errichtet. Sein derzeiti-ger Zustand stammt aus dem Jahre 1860.
 Die Kirche San Agostino, eine Klosterkirche der Augustinerchorher-ren, wurde im 14. Jahrhundert im romanischen Stil errichtet. Der Turm ist aus dem Jahr 1780. Heute ist das Gebäude ein Kulturzentrum mit Bibliothek und Museum.
 Auf dem Domplatz sind viele sehenswerte Palazzi zu finden, unter an-deren der Palazzo Moroni aus dem 17. Jahrhundert, der heute das Archäologische Museum beherbergt, oder der Palazzo Panicchi aus dem 15. Jahrhundert.
Aus:Wikipedia

Unser uralter Frend G.B. Fischer in Pieve kannte hier die Bildhauer aus Pietrasanta; er selbst dilletiert auch malend und bildhauernd. Eines seiner Werke hängt in unserem Haus.
Er kannte sogar Henry Moor, der hier arbeiten liess, genau so wie Lipscchitz oder … die in sinem Haus verkehrten. Und er erzählte uns von ihnen. Das kleine Haus der Moor-Tochter in Pieve haben wir oft besucht.


(Literaturtagung.ch)

MACHS EINER NACH .. UND BRECHE NICHT DEN HALS
Gespräche mit Gottfried Bermann Fischer (1897-1995)

Zu Besuch in der Casa Fischer, Pieve di Camaiore. Das Haus steht auf einem kleinen Hochplateau zwischen Zypressen, Magnolien und Skulpturen im Freien, Bauhaus und Bauernhaus, Seßhaftigkeit und luftiges Schweben, das wie ein festgehaltenes Flüchten ist; Blick auf das tyrr¬henische Meer, das Un¬endliche, die Gestirne, und der Apennin im Hinter¬grund:




(tourist online)

Wir sind bei einem fast Hundertjährigen zu Gast. Seit 1973 sind wir Nachbarn; er, der aus Gleiwitz stammende jüdi¬sche Altemigrant hat mich, den Neu¬emigranten aus dem Osten, motiviert, hierher zu ziehen. Im Juli ist er 97 Jahre alt geworden. "Ich hab mich doch selbst über-lebt," sagt er, und zu seinem eben erschinenen Buch: "Mein kleines persönliches Schicksal möchte die kaum faßbaren Umbrüche scheinbar festgefügter Ordnungen wie in einem Verkleine¬rungsglas sicht¬bar werden lassen. Die Darstellung meines von Glück begün¬stigten aben-teuer¬reichen Lebens soll zugleich das Unheil, das dieses Jahrhun¬dert über Millionen Menschen brachte, in Erinnerung rufen."
Im Mai 1994 ist im S. Fischer Verlag sein neues Buch erschienen: "Wanderer durch ein Jahrhundert", mit einem Goethe-Vers als Motto: " Wohl kamst Du durch,/ So ging es allenfalls,/ Machs einer nach/ Und breche nicht den Hals."



(Fischer-Verlage)
Im Ersten Weltkrieg war er Artillerieleutnant und deutscher nationaler Patriot. - 1933 war er dann plötzlich kein Deutscher mehr, sondern Jude und von den Nazis mit dem Tode bedroht.
Er zeigt uns Zei¬tungsartikel, die eben über sein Buch erschienen sind. Da schreibt der wohl älteste noch lebende Fischer-Autor, der würt-tem¬bergische Pfarrer Albrecht Goes: zu GBF falle ihm, Goes, "Lyn-keus im höch¬sten Alter wandernd" ein. Und GBF, wie Gottfried Ber-mann Fischer auch ge¬nannt wird, sei "zum Sehen geboren", er habe eine Art "Glücks¬begabung". Der alte Verleger, heute ohne Verlag: träumt, malt seine Träume und Visionen. Oder schreibt sie auf. Im großen hellen Kaminraum hängen seine Ölbilder und Aquarelle. Oft metaphysische Landschaften wie aus dem Jenseits im irrealen Licht. Zu einem dieser Bilder hat er geschrie¬ben:
"Unter grünem Rasen/ Liegen manche/ manche nur ver¬scharrt/ Unterm Todesbaum,/ Da keine Wurzeln mehr/ Ihm grünen/ Wo kalter roter Fels/ Das Herz erstarrt,/ Nur dunkle Schatten ..."

Im hellen Licht des Tages aber kommen die Erinnerungen ... fast schon Anekdoten: Verkaufserfolge beschäftigen ihn noch heute: wie die Mil¬lion "Buddenbrooks" von Tho¬mas Mann im Jahre 1929 in einer Billigausgabe für 2,85 RM. Oder entgangene Erfolge wie Remar¬ques "Im Westen nichts Neues" damals, als er Juniorpartner des alten Samuel Fischer war: "Ja, das ist auch so ein Kapitel, das ich nie ver-gessen kann," sagt er: "dass einer der größten Erfolge, Bucherfolge, mir ohne meine Schuld entgangen ist.... Und ich las das Manuskript und hab die ganze Nacht nicht geschlafen, habe es von Anfang bis zu Ende gelesen... Ich war als Kriegsteilnehmer derar¬tig gefesselt davon , dass ich am frühen Morgen, an diesem Tage wollte ich mit Tutti (Bri-gitte Bermann Fischer) auf Urlaub fahren, am frühen Morgen zu S. Fischer ging, von dem ich wußte, dass er keine Kriegsbücher bringen wollte, und sagte, Papa, du mußt dieses Buch bringen, bitte, laß dir den Remarque kommen und mach den Ver¬trag mit ihm. Und er sagte, gut, das will ich machen. Als ich dann nach vier¬zehn Tagen aus dem Urlaub zurückkam und zu ihm ging, sofort zu ihm ging und fragte, Papa, hast du den Vertrag gemacht, sagte er, ach, weißt du, ich hab den Remarque zu mir kommen lassen und ihm ge¬sagt, wenn Sie kei-nen andern Verleger finden, dann will ich es machen. Und ich rannte ans Telefon, rief ihn an und sagte, Remarque, ich mache heute noch Vertrag mit ihnen, da sagte er, ich hab gestern mit Ullstein abge-schlossen."
S: Aber, vielleicht hat er doch recht gehabt, denn es paßte nicht in den Verlag.
GBF: Er hat insofern recht gehabt, als die Veröffentlichung dieses Buches, das das rote Tuch für Goebbels war, wahrscheinlich dem Ver-lag...
S: ... den Hals gebrochen...
GBF:...am Anfang schon das Verbot gebracht hätte, wie es Ullstein passiert ist.

Bei aller Nüchternheit und Geschäftstüchtigkeit war es im Kern In-tuition, von der sich Bermann Fischer bei seinen Entschlüssen leiten ließ, jene merkwürdige "Glücksbe¬gabung". Sinnvolle Zufallsketten; früh schon hatten sie mit Musik zu tun. Und GBF erzählt, dass es die Musik war, die mich mit Tutti Fischer, so wurde sie ge¬nannt, zu-sammenbrachte...es entwickelte sich eben eine ernsthafte Liebe, die schließlich zu unserer Verlo¬bung führte. Dann passierte das ent-scheidende Ereignis für die Zukunft. Der Vater von Tutti schlug mir vor oder bat mich, meine Chirurgie aufzugeben und in den Verlag einzutreten und spä¬ter seine Nachfolge anzutreten.Nach wenigen Jah-ren schon wurde ich Ge¬schäftsführer des Verlages und stand dem großen Problem der Machtüber¬nahme Hitlers gegenüber... So stellt sich also die Frage Zufall oder Schicksal, eine Frage, die wahr-scheinlich niemals eine ausreichende Antwort erhalten wird."

GBF hat viele Schicksalsschläge in seinem Leben erhal¬ten; doch am schwersten trägt er am Verlust seiner Lebensgefährtin und Mitar-beiterin, sei¬ner Frau Brigitte. Sie ist 1991 auf dem jüdischen Friedhof Weißensee im ehe¬maligen Ost-Berlin im Grab ihrer Eltern beerdigt worden. ..





GBF sitzt am niedrigen Kacheltisch fast den ganzen Tag vor ihrem Bild, ihrem Buch "Sie schrieben mir". Viele Autoren ihres Vaters schrieben ihr. So 1914 Hermann Hesse: "Du kannst reiten und fah-ren/ Zu zwei`n und zu drei´n / Den letzten Weg mußt du / Gehen al-lein.// Drum ist kein Wissen/ Noch Kön¬nen so gut/ Als dass man alles Schwere/ Alleine tut. Von Deinem Hermann Hesse."
Viele Künstler und Autoren ver¬kehrten im Hause Fischer. Der junge Arzt fühlte sich damals in ei¬ne neue Welt versetzt. In einem langen Interview mit der Wochenschrift "Die Zeit" (Herbst 94) spricht er davon: "Es war märchenhaft. Ich bewunderte jene für mich neue At-mosphäre. Mein Elternhaus war bescheiden gewesen, mein Vater ar-beitet als praktischer Arzt und Geburtshelfer, meist auf dem Land. Plötzlich wurde ich in diese Um¬gebung versetzt, wo wahrhaft die Aristokratie des Geistes herrschte. Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Jakob Wassermann und Hugo von Hofmannsthal verkehrten bei Fischers ebenso wie der Maler Max Liebermann ... Dank mei¬ner Frau entwickelte sich unser Haus, das in der Nähe von dem S. Fischers lag, bald zu einem zweiten kulturellen Zentrum, wo die jungen Schriftsteller Man¬fred Hausmann und Carl Zuckmayer, Klaus Mann und Walter Mehring trafen, aber auch Künstler wie Georg Grosz, Er-win Piscator und Bruno Walter."

S: Die Nazizeit und der Krieg haben diese Welt vernichtet ... Und es gibt tiefe Gründe für ihr Verschwinden ...
GBF: Ich denke da zum Beispiel an meinen Va¬ter, den alten Landarzt, der noch den Patienten als Person, als Ganzes sah. Heute sieht man nur Beine, Nieren, Augen, nur Teile. Die Entwicklung der Technik hat das gebracht.
Die Spaltung des Uranatoms löste die Zertrümmerung der festgefüg-ten geistigen Grundlagen des vergangnen Jahrhunderts aus. Der Mensch konnte die von ihm selbst herbeigerufenen Geister nicht mehr beherrschen. Aus einer Welt der Dichter und Denker wurde eine Welt der Macher, die führungslos am Ab¬grund der Selbstzerstörung dahin-taumelt.

Der Erste Weltkrieg, dann die Nazis, der Zweite Weltkrieg, Au-schwitz ... GBF blättert in seinen Notizbüchern und liest:
"Schau ich mir die Juden an, hab ich wenig Freude dran, fallen mir die an¬dern ein, bin ich froh, ein Jud zu sein."
S: Wer sagt das?
GBF: Einstein. Ist doch wundervoll. ..
S: Ja, ich meine, du bist ja eigentlich auf dein sogenanntes Judentum erst durch die Nazis aufmerksam geworden. Das heißt, die haben dich dazu gezwungen, denn du hast ja eigentlich keine jüdische Identität gehabt, überhaupt nicht.
GBF: Nein...
S: Du bist doch einfach als Deutscher aufgewachsen.
GBF: Absolut, ja... Wir waren uns bewußt, Juden zu sein. Aber das bedeutete gar nichts.
S: So wie man sich bewußt ist, Baden-Württemberger zu sein?
GBF: Ich glaube, ja, deutsche Juden. Da hast du schon recht; ich mei-ne, durch das Auftauchen der Nazis wurde natürlich der Drang, das ganz bewußt her¬auszukehren erst wirklich stark genug. Das war vor-her nicht so. Vorher war ... Ja, es war eine vollkommen gemischte Gesellschaft, alles durcheinander. Be¬sonders also durch diesen kultu-rellen Kreis im Fischer-Haus , wo die gan¬zen Schriftsteller und Musi-ker usw. verkehrten, die waren doch alle areligiös.... Weder Bruno Walter, die ganzen Musiker, oder Klemperer, für die spielte das über-haupt keine Rolle, das war ganz uninteressant...

In seiner Autobiographie "Bedroht bewahrt" schreibt GBF:
"Durch Erziehung, Sprache, Freundschaften, durch Tausende von un-zer¬reißbar scheinenden Fäden war ich mit Deutschland verbunden und war ein Deutscher. Das auch nur zu diskutieren, wäre mir absurd vor-gekommen... dass es Leute gab, die uns dies absprechen wollten, konnte nichts an unserem tief¬verwurzelten Grundgefühl ändern...."
Doch er bekennt in der gleichen Autobiographie auch:
" ... niemals kann der Glaube an Deutschland, der einst die Grundlage un¬seres Daseins bildete, wiederhergestellt werden... Traurig, fassuns-glos stand ich vor dem Ausbruch wilden Terrors, der das Land mit Brutalität überzog. Eine Verhaftungswelle breitete sich aus, und die Gerüchte über fürchterliche Mi߬hand¬lungen der Opfer mehrten sich von Tag zu Tag. Überall in meiner näch¬sten Umgebung verschwanden Menschen in den Kellern der SA-Schergen auf Nimmerwiedersehen."
"Und doch wollten es die meisten Juden gar nicht glauben", sagt er: "Vor allem die Schwiegereltern Fischer nicht. GBF aber hatte seinen Entschluß früh gefaßt... in der ersten Zeit nach der Machtergrei¬fung war mir sofort klar, dass ich Deutschland verlassen mußte, wie man das macht, wie ich einen Verlag herausretten konnte, und die Familie retten konnte, das war mir zu dieser Zeit völlig unklar... Man kann sich das gar nicht vorstellen, dass ich von einem Tag auf den andern mich entschließen mußte, aus Deutschland wegzugehen. Dazu kam aber die weitere, die unüberwindliche Schwierigkeit, dass mein Schwiegervater, dem ich erklärte, dass wir in un¬mit¬telbarer Gefahr sind und dass wir Deutschland verlas¬sen müssen, mein Schwie¬gervater ant¬wortete: So etwas kann doch in Deutsch¬land nicht geschehen... Das war seine Antwort auf meine Schilderung der Bru¬talität der Nazis. "

So waren GBF vorerst die Hände gebunden, denn alle Ent¬schei-dungsbefugnis lag in den Händen des schon kranken alten Samuel Fi-scher.
Bitter war der Verrat einiger Autoren. Am schlimm¬sten im Falle Ger-hart Hauptmanns.

GBF: Begonnen hatte es mit einem Gespräch mit ihm ganz am Anfang 33, als er eingeladen wurde, die große Rede beim PEN-Club in Argentinien zu halten. Da erzählte er mir bei einem Spaziergang, er hätte den Vortrag schon ausgearbeitet, aber er könne nicht fahren. Ich fragte, warum? Ich muß die Genehmigung von Herrn Goebbels haben. Da sagte ich: Herr Hauptmann, kein Mensch wird sich an Sie heran-wagen, wenn sie jetzt nach Ar¬gentinien fahren, im Gegenteil; es war damals die Tendenz der Nazis, sich so liberal aufzuführen.

Ganz anderer Art war die Auseinandersetzung mit Thomas Mann, dem zweiten brühmten Autors des S. Fischer Verlages. An dieser Auseinander¬se¬tzung zeigt sich wie schwierig und kompliziert die Lage für GBF in jenen Jahren war. Er schrieb in seinem Bekenntnisbuch "Bedroht, bewahrt" dazu:
"Thomas Mann hatte sich im März 1933 auf einer Vortragsreise im Aus¬land befunden. Im Februar 1933 hatte er im Auditorium Maxi-mum der Münch¬ner Universität seinen Vortrag "Leiden und Größe Richard Wagners" unter großem Beifall gehalten. Nichtsahnend hatte er sich auf diese Reise begeben, die ihn nach Amsterdam, Brüssel und Paris führte... Die für Anfang April ge¬plante Rückreise nach München wurde nach der Machtergreifung zunächst ver¬schoben und später ganz aufgegeben. Warnungen von Freunden und nicht zu¬letzt ein am 16. April 1933 in den "Münchner Neuesten Nachrichten" ... (erschienener) "Protest der Wagnerstadt München" ... bestärkten Thomas Mann in seinem Entschluß, das Deutschland Hitlers nicht mehr zu betreten."
Die Münchner politische Polizei beobachtete ihn. In seinem "Dos¬sier" stand:
"Thomas Mann, geboren 6. Juni 1875 in Lübeck... ist Gegner der na-tionalen Bewegung und Anhänger der marxistischen Idee... Diese un-deutsche ... und judenfreundliche Einstellung gab Veranlassung, gegen Thomas Mann Schutzhaft¬befehl zu erlassen ..."
Thomas Mann war offiziell noch kein Emigrant. Er war auch nicht verboten. Seine Bücher erschienen weiter in Deutschland. Doch er lebte vor¬erst in Sanary bei Toulon, dann in Küsnacht bei Zü¬rich. Seine Bücher und seine Leser hatte er in Deuschland. Sein Lebens-Werk war gefährdet. Seine Sorge um das große Werk "Joseph und seine Brüder", an dessen drittem BAND er gerade schrieb, war berech¬tigt; die Ma-nuskripte der beiden ersten Bände dieses gro¬ßen Romans der bi-blischen Ge¬schichte, waren schon beim Verlag.
Hedwig Fischer, S. Fi¬schers Ehefrau, schrieb im Frühsommer 33 warnend an Thomas Mann: "Als Judenbuch ...ist das Buch eine He-rausforderung."
Thomas Mann antwortete im August mit einem Brief, der dem Verle-ger schlaflose Nächte bereitete: "... überlassen Sie das Werk Querido -"
GBF: Inzwischen hatten sich zwei holländische Verlage, Allert de Lange und Emanuel Querido, hochangesehene alte Verlagshäuser in Amsterdam, deutsch¬sprachige Emigrationsverlage angegliedert. Zwei Direktoren des Verlages Gu¬stav Kiepenheuer, Berlin, Dr. Fritz Land-shoff und Walter Landauer, hatten Deutschland sofort nach der Machtergreifung verlassen. Viele ihrer Autoren waren schwer gefähr-det (Ernst Toller, Joseph Roth, Hermann Kesten, Heinrich Mann, An-na Seghers u.a.), konnten es nicht riskieren, auch nur einen Tag ihre Arbeit im Lande fortzusetzen... Meine Situation war anders. Die da-maligen Hauptautoren des Verlages - wie Gerhart Hauptmann, Tho-mas Mann, Hermann Hesse, Jakob Wassermann und viele andere, vor allem die großen Autoren des Auslandes wie Bernhard Show, Eugene O`Neill, Joseph Conrad, Jean Giono etc. - waren zwar unbeliebt, aber keiner von ihnen war verboten ... es klingt heute unglaublich, dass zu dieser Zeit noch Beiträge von Jakob Wassermann, Thomas Mann etc. ungestört gedruckt werden konnten.
Doch Thomas Mann schwankte, war unsicher, ob er seinen Joseph-Roman in Deutschland veröffentlichen sollte. Er schrieb an GBF: " Es ist Wahnsinn. Läßt man Ihnen die Veröffentlichung überhaupt durch-gehen und kauft das Publikum den Band der Kritik zum Trotz, die ihn aber sehr wohl zu Tode hetzen kann - wie wollen Sie mich honorieren? Das Geld wird Ihnen weggenommen werden ... Frau Fischer hat recht, "das große Werk könnte zur unrechten Zeit kommen..."
GBF: Meine Insistenz, den Verlag als eine gewachsene Einheit aus Nazideutschland zu retten, ihn nicht durch frühzeitige Auswanderung mit den alten Eltern, die ohnehin Deutschland nicht verlassen wollten, den Nazi¬hor¬den auszuliefern, war Anlaß zu ständigen Auseinanderset-zungen mit Tho¬mas Mann.
In einem Eilbrief schrieb er aus Berlin an seinen Thomas Mann:
"Querido als Verleger sovieler Ausgebürgerter... Ihr ganzes Werk wäre mit einem Schlag durch solch einen Schritt hier unmöglich gemacht."
Thomas Mann ließ sich von GBF überzeugen. Und so erschienen bei-de Joseph-Bände 1933 und 34 noch bei S.Fischer in Berlin.
Durch den Tod von Samuel Fischer am 15. Oktober 1934 verän-derte sich GBFs Lage völlig. In seinem Erinnerungsbuch "Bedroht, bewahrt" schrieb er:
" Obwohl ich schon lange die alleinige Verantwortung für den Verlag ge¬tragen hatte, so sank doch erst jetzt die ganze schwere Last der Ent-scheidungen, die nun zu treffen waren, auf mich herab."

Erst jetzt konnte er die unter so schwierigen, ja mörderischen Um-ständen notwendigen Vorbereitungen treffen, den Verlag ins Ausland zu verle¬gen. Ich brauchte dazu die Erlaubnis des Propagandami¬ni-steriums, sagt er. Im März 35 aber sei es so weit gewesen, in seinem Arbeitszimmer in Berlin:
... als ich plötzlich erwachte, mit der Faust auf das Sofa schlug und sagte: Ich gehe jetzt ins Propagandaministerium , um mir diese Er-laubnis zu holen. Alle meine Freunde beschworen mich, davon abzu-sehen, kei¬ner konnte sich vorstellen, dass ich als Jude im Propagan-daministerium auch nur empfangen würde. Zu meiner großen Über-raschung zeigte sich, dass ich nicht nur dort freundlichst empfangen wurde, sondern dass auch mein Vor¬schlag, den Namen des Verlages in Deutschland zu lassen, zusammen mit den in Deutschland zulässi-gen Autoren und mit dem anderen Teil des Verlages aus¬zuwandern. Der Beamte dort sagte, "das haben wir genauso gewollt... "
Eingebung? Zufall, Schicksal... oder war es nur der große, überall in der Welt bekannte Name S. Fischer, der GBF immer wie¬der zum "Glückspilz" werden ließ? Schon im März 36 kam ein Anruf aus London: im Auftrag des Verlagshauses Heinemann. Das Ange¬bot des großen Londoner Ver¬lags¬hau¬ses, einen Heinemann-Fischer Verlag mit Sitz in der Schweiz zu gründen.
"Und wir machten einen Vertrag, der einen Para¬graphen enthielt als Voraussetzung für diesen Verlag, nämlich Nieder¬las¬sung in der Schweiz. Damals hatte ich noch nicht die Ausfuhr¬genehmigung des Propagandaministeriums, weil ich dem Propagandami¬nisterium noch keinen Vor¬schlag machen konnte, wo ich den ausgewanderten Verlag hinbringen wollte. Und ich begann also 35 die Verhandlungen mit den entsprechenden Be¬hörden in der Schweiz durch meine Schweizer Anwälte. Das zog sich ewig hin."
Erst Im Januar 36 wird der Vertrag perfekt. Thomas Mann notiert:
"Arosa, Sonntag den 19.I.36. Bermann schreibt ausführlich aus Lon-don: Die Vereinbarung mit W. Heinemann ist perfekt, die Firma Fi-scher-Hei¬ne¬mann, Zürich-London begründet, mit großem Kapital, englisch-amerika¬nisch-schweizerisch, politisch sehr geschützt. Dies freut mich sehr. -"

Diese einigermaßen "zivilisierte" Behandlung, die S.Fischer, im Ge-gensatz etwa zu Kiepenheuer oder Ullstein, oder gar zu linken und kommuni¬stischen Unternehmen, Politikern und Intellektuellen erfah-ren hatte, kann GBF plausibel erklären, sie weckte damals jedoch Erstaunen, gar Mi߬trauen in Emigrantenkreisen:
GBF: ... Damals als die Kiepenheuerleute weggingen... ich war ja in einer völlig anderen Situation, wir waren ein liberaler Verlag und wie gesagt, Herr Goebbels war daran interessiert uns als Aushängeschild ... griffen mich meine Freunde, die in der Emigration lebten, griffen mich wahnsinnig an und beschuldigten mich des Nazismus.

Einige Tage vorher, am 11. Januar 36, war Bermann von Leopold Schwarzschild in der Pariser Emigran¬tenzeitschrift "Das neue Tage-buch" hef¬tig angegriffen worden: Bermann sei "Schutzjude" des Dr. Goebbels`. Bermann wolle nun einen "Getarnten Exilverlag" eröffnen mit Thomas Mann als Aus¬hängeschild.
GBF:Und da hat Thomas Mann, Annette Kolb und Hermann Hesse einen offenen Brief an die Presse geschickt und mich verteidigt... Und Schwarzschild hat sich später bei mir entschuldigt.

Am radikalsten war Erika Mann, sie griff auch ihren Vater heftig an:
"19.1.1936: Lieber Zauberer, dass Dein "Protest" in der N.Z.Z. mir traurig und schrecklich vorkommen mußte, hast Du natürlich gewußt... Was für Ver¬sprechungen der Bermann dem Goebbels gemacht hat während all der Zeit bis heute, das wissen wir nicht, und Du bist der letzte, dem er es unter die Nase rei¬ben wird ... "
GBF: Thomas und Katia Mann schrieben versöhnliche Briefe an Eri-ka, sie verteidigten mich gegen weitere Ver¬leumdungen. Es hatte doch bis 1938 in Deutschland noch 27 jüdische Verlage gegeben, nicht nur S. Fischer.
Doch die radikale Eri¬ka verur¬teilte jeden Kompromiß, sie wollte Kampf. Thomas Mann schrieb ihr: " ... Der Artikel gegen Bermann war eine Gemeinheit. Es ist ein¬fach nazi¬haft mit solchen Methoden über einen herzufallen, der sich nicht weh¬ren ... kann... Infamien hat er nicht begangen; keine einzige ist nachweisbar... Dage¬gen hat er, ent-gegen ständig verschärfter Gesetzgebung, bis in die jüngste Zeit Bü-cher von Juden herausgebracht ... in ständigem Kampf mit der nach Unter¬werfung brüllenden Gewalt."
Die Unterstellung, Bermann Fischer werde "nun als Spitzel und Agent des Dritten Reiches ins Aus¬land ge¬schickt" sei "aufgeregter... Unsinn," schrieb Thomas Mann: Diese Verleumdung verhindere nur die oh¬ne¬hin schwie¬rige Nie¬derlassung des Fischer Verlages in der Schweiz. Doch es gab andere Ursachen dafür:

GBF:... es stellte sich heraus, dass meine Schweizer Ver¬lagsfreunde, die ich für meine Freunde gehalten hatte, sich ganz energisch da¬gegen aussprachen, der Niederlassung dieses großen Konkurrenzverlages Ber¬mann Fischer die Genehmigung zu erteilen. Zum Teil war es also Konkur¬renzangst, zum andern Teil aber war es die Hoffnung dieser Verleger, wenn ich die Niederlassungs¬erlaubnis nicht bekäme, würden die Autoren zu ihnen kom¬men... Ein junger Verleger kam zu mir ins Hotel und sagte, Herr Dr. Fi¬scher, können Sie mir nicht Verlagsrechte von Thomas Mann überlassen? Da sagte ich: Wie kommen Sie auf diese komische Idee. Da sagte er: Na, Sie kön¬nen ja doch nicht wei-termachen. - Ich konnte aber weitermachen. Es spiel¬te natürlich auch Antisemitismus eine große Rolle.... Da blieb mir nichts ande¬res übrig als Österreich. Obwohl ich mir dar¬über klar war, wie gefährlich das war...

GBF war voller Sorge, ob er seine Autoren auch würde halten kön¬nen, da er in Deutschland nichts mehr bieten konnte... Nach der Bewilli-gung des Goebbels-Ministeriums war der in Deutschland zugelassene Verlagsteil for¬mell an "Arier" veräußert worden:

GBF: Mit Hilfe von Hermann J. Abs wurde eine Kommandit¬gesell-schaft unter dem Namen S. Fischer Verlag KG gegründet, die gegen eine Zah¬lung von RM 250 000 an Frau Fischer, die Besitzerin des Verlages, die nicht zur Auswande¬rung bestimmten Werte und Rechte erwarb. Als Ge¬schäftsführer wurde Peter Suhrkamp eingesetzt...
... ich konnte damals noch Bü¬cher nach Deutschland liefern. Und das hörte dann natürlich auf... ich bin sogar noch zweimal nach Deutsch-land gefahren.... Thomas Mann ist niemals wieder nach Deutschland gegangen. Golo hat versucht noch einige Sachen herauszuho¬len.. Nur sind seine Manu¬skripte leider eben, besonders das Manuskript der "Buddenbrooks" .. ist ver¬schwunden....

Doch auch die Familie Fischer stand kurz vor der Emigration, man wählte Wien. Der Abschied war schwer. Doch in Wien von Freunden um¬ge¬ben, inmitten einer alten deutschen Kutltur, fühlten sie sich wie-der frei und ge¬nossen den ungewohnten Frieden.... Brigitte Fischer hatte den Umzug sorgfältig vorbereitet...

GBF: Das Heim, das sie uns einrichtete, mit unseren Berliner Möbeln, die man uns "großzügig" zur Ausfuhr freigegeben hatte, inklusive meiner Bi¬bliothek, unseren zwei Flügeln, unseren Gemälden aus S. Fischers Sammlung, wurde eine schöne Bleibe für unsere Kinder. Die 800000 Bände unserer Auto¬ren, die man uns mitführen ließ, bildeten den Grundstock des neuen Verlages im Exil ...Ein großer Teil unserer Autoren lebte ja in Wien, war mit uns eng befreundet ... So dass wir uns in dieser neuen Heimat sofort zu Hause fühl¬ten. Die in Deutsch-land verblieben Autoren wurden mit Hilfe von Josef Abs von ihm in einer Kommanditgesellschaft zusammengefaßt, die den Namen S.Fischer Verlag führte. Die später umgewandelt wurde in Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer Verlag. Von wichtigen Autoren gehörten ihm eigentlich nur Hauptmann und Hesse an... Während der Wiener Verlag eben wie gesagt über eine ganze große Reihe von großen Auto-ren verfügte.

GBF stellt heute erstaunt fest, dass er damals noch zweimal nach Deutschland gefahren war, und sogar Papier von dort beschaffen konnte: Der Bermann-Fischer Verlag G.m.b.H. verlegte im ersten Jahr zehn Titel. Da¬r¬unter Hesse, mit einem "Abschiedsgeschenk" "Stunden im Garten", und Tho¬mas Manns dritter Band des Joseph-Romans. Doch schon im nächsten Jahr wa¬ren es 29 Titel, darunter ein Briefband Hofmannsthals, eine Neuauflage von 2 Bänden Musil: "Mann ohne Eigenschaften", die in Deutschland verboten wa¬ren. - Und das Haus Fischer in der Wattmannstraße in Schönbrunn war für Autoren und Künstler ein offenes Haus:

S: Alma Mahler-Werfel? Ist ja auch deine Autorin gewe¬sen...
GBF: Sie war eine köstliche Frau. Schon als wir nach Wien kamen. Werfel war zu dieser Zeit Autor von Zsolnay, und sie hatte noch gar nicht ge¬schrieben. Aber wir verkehrten da im Haus und wir waren mit der Zeit sehr eng befreundet... Sie war sehr musikalisch, be¬freundet mit allen großen Dirigenten. Mahler hat ihr verboten zu komponieren. Das hat sie sich gefallen lassen. Dann war die große Freundschaft mit Koko¬schka, nachdem sie sich vom Architekten Gropius getrennt hat-te... Sie sammel¬te Berühmtheiten. Nicht nur das, im Hin¬tergrund be-einflußte sie die österreichi¬sche Politik. Sie war ganz raffiniert... Sie war nicht Jüdin. Überall hatte sie ihre Finger drin. Sie spielte da wie auf ei¬nem Klavier. Und alle hingen an ihr, sie hatte ein wun¬derbares Haus. Die Wände waren gepflastert mit Manuskripten von Ma¬hler. Es wurden also große Feste gefeiert. Sehr viel Alkohol. Ich erin¬nere mich noch, dass Zuckmayer ei¬nes nachts in der Hundehütte übernach-tete. (Lachen). Und sie war sehr oft bei unseren Festen gewesen. Wir machten Heu¬rigenfeste.

Wer waren die anderen Autoren, mit denen die Fischers in Wien verkehrten? GBF zählt sie in seinem Erinnerungsbuch auf:
"Da waren ... Richard Beer-Hofmann ... Arthur Schnitzlers Sohn Heinrich mit seiner jungen Frau und Alexander Lernet-Holenia gehör-ten dazu, Robert Musil kam zu uns, aus der Einsamkeit seiner Arbeit am dritten Band des "Mann ohne Eigenschaften", den er nie vollende-te; Sigmund Freud empfing uns in sei¬nem Haus ... Gerty von Hof-mannsthal des Dichters Witwe war da und Carl Zuckmayer mit seiner Frau Jobs .... Und es waren Festtage besonderer Art, wenn Thomas Mann uns mit seiner Frau Katia besuchte..."

Thomas Mann notiert in seinem Tagebuch:
"13./14 Mai 1936. Bermann am Bahnhof ... dann zu Bermanns nach Schönbrunn, wo unterdessen die Kinder eingelangt. Die Wohnung präsentiert sich hübsch. Kaffee. Mahlzeit im Gärtchen. Danach bei prächtigem Wetter Spaziergang im Park."

Nach Hitlers Einmarsch März 38 in Wien wurde der Verlag und die Wohnung in der Wattmanngasse von den Nazis beschlagnahmt.
GBF:Es gab ja noch diese komische Auseinandersetzung, nachdem ich nach Schweden ausgewandert war, wollte die Leitung des be-schlagnahmten Verlages Hofmannsthal verbieten, weil er Halbjude war. Seine Frau war Jü¬din... Und das hat dann Goebbels verhindert. Goebbels wollte, dass Hofmanns¬thal weiter erscheint - in Deutsch-land... Er ist aber dann doch verschwunden. Und ist dann zu mir in den schwedischen Verlag übergegangen. Da habe ich die ersten Bän-de herausgebracht.
S:Was war Hofmannsthal für ein Mensch, kannst Du dich noch erin-nern?
GBF: Ich kann mich schon erinnern. Es ist ein Kunststück, das zu be-schreiben. Ein äußerst empfindlicher, empfindsamer, übrigens wun-derbar aus¬sehender Mann. Ein sehr zarter Mensch, der der Literatur, dem geistigen Leben lebte... sehr vergeistigt. Ich hatte kein Verhältnis zu ihm, ich war zu jung da¬mals. Wäh¬rend ich mit Autoren wie Schnitzler sofort eine Verbindung hatte, durch unsere medizinische Vergangenheit. Und mit Thomas Mann merkwürdi¬ger¬weise war ich sofort auf einem freundschaftlichen Fuß, genau wie auch mit Hesse. Ich war ja mit Hesse Jahre hindurch -... er war mein Duzfreund.
S: Und Gerhart Hauptmann, der berühmteste Autor des Verlages?
GBF: Er kam im Herbst 1937 nach Wien zur Burgtheater-Aufführung seines Stückes "Die Rat¬ten" : Er bat uns, die Wiener Prominenz bei einem Empfang in unserem Haus zu versammeln, und so luden wir etwa 80 bekannte Künstler ein. Drei Tage vor dem festgesetzten Da-tum mußten wir auf Wunsch Hauptmanns die Sache ab¬sagen, da er Schwierigkeiten für sich befürchtete, wenn er sich im Hause eines so exponierten Emigranten feiern ließ... Hand in Hand mit dem damali-gen deutschen Botschafter erschien Hauptmann am Abend in der Kai¬serloge des Burgtheaters, um sich feiern zu lassen.
Am nächsten Abend erschien Hauptmann mit seiner Frau - heimlich und sozusagen incognito - zum Abendessen in unserem Haus, mit tausend Ent¬schuldigungen und lahmen Begründungen. Ich war traurig über ihn, der sich so verloren hatte ...
Hauptmanns Ruhm gehörte schon der Vergangenheit an, er zehrte da¬von, war aber ein Anderer geworden, sagt GBF. Und das war ei-gentlich schlimm für den Verlag. Seine Bücher fanden kaum noch Käufer.
Hauptmann spielte im Leben von S. Fi¬scher eine ganz entscheidende Rolle, d. h. Fischer verehrte ihn und liebte ihn. Das führte später zu sehr erregten und traurigen Auseinandersetzungen, die ei¬gentlich bis zu seinem Tode eine entscheidende Rolle in Fischers Leben spiel¬ten. Haupt¬mann hatte allmählich seine demokratische Gesinnung, sozialis-ti¬sche Gesin¬nung, die Rolle die er quasi als Vertreter dieser Gesinnung in Deutschland spielte, mit der Zeit, um es sehr stark auszudrücken, verraten. Er war mehr und mehr nur noch interessiert an seiner eigenen Repräsent¬anz, an seinen eigenen Interessen.

Ganz anders waren die Beziehungen zu Thomas Mann, dem zweiten berühmten Autor des Verlages. Seine Besuche waren jedesmal Feste. Auch in Thomas Manns Tagebuch steht einiges über die schönen und er¬folgreichen Wiener Jahre:
"Wien, Imperial, Sonntag, den 14. VI. 36...Vom Hotel mit Bermann zum Mittagessen in Grinzing mit Brüll, Lernet-Holenia, Zuckmayer ... Danach fuh¬ren Bermanns uns zu Prof. Freuds Som¬merhaus. Wieder-begrüßung mit dem Alten. Thee und Eis auf der Terrasse. Dann im Zimmer die versprochene Vor¬lesung ... Rührung des Alten..."

Die österreichische Idylle sollte bald ein Ende haben... "Donnerstag 11. März 1938. "Ich hatte mich am Nachmittag einen Augenblick nie-dergelegt, da schreckte mich das Telefon auf. Unser Freund Prof. Jo-hannes Hollnsteiner ... teilte uns mit, dass deutsche Truppen soeben in Österreich einmarschierten ... Und bald ist der Sound deutscher Flugzeuge über Wien zu hören, auf den Stra¬ßen der Mob. In den Fenstern Haken¬kreuz¬fahnen. Der erste Imuls: Das Nötigste Ein-packen. Kinder Ankleiden Ein Bekannter vom Rei¬sebüro reservierte rasch zwei Schlafwagenabteile für den Nachtzug nach Rapal¬lo. Wir hatten noch gültige deutsche Pässe. Aufregung an der Grenz¬kon¬trolle, doch man ließ uns durch... Am nächsten Tag wurde in Wien alles be-schlagnahmt.
Als wir dann in Rapallo ankamen, wo Frau Fischer gerade auf Ferien war, im Hotel "Excelsior", wo sie immer abgestiegen war, und als uns der Di¬rektor den langen Gang zu unseren Zimmern führte, stand plötzlich Gerhart Hauptmann vor uns; als er uns sah, sagte er nicht et-wa, ach, Kin¬der, Gott¬seidank, dass ihr entkommen seid! Nein, er hob die Arme und tat den un¬ver¬gesslichen Ausspruch:
Der Traum von Heinrich Heine ist in Erfüllung ge¬gangen, Wien wird die Hauptstadt Europas. Das war seine Begrüßung, als wir mit knap¬per Not dem Tod entgangen sind. Da hatte ich ge¬nug..."

Doch auch die Beziehung mit Thomas Mann erlebte 1938 eine Krise, Mann schrieb GBF zwei harte Briefe aus den USA; so am 15 April 38:
"Lieber Doktor Bermann, Es ist nicht leicht, denen zu widerspre-chen, die erklären, dass sie das moralische Recht verscherzt haben, jetzt, wo es gar nicht mehr anders geht, den deutschen Emigrations-Verlag in Amerika aufzutun. Sie hatten nie die Entschlußkraft zu tun, was Querido unter Opfern getan hat, die¬sen Emigran¬tenverlag ... draußen im Freien zu schaf¬fen, sondern haben sich an Deutschland angeklammert..."

Thomas Manns Haltung unmittelbar nach der Besetzung Österreichs ent¬sprang einer verständlichen Besorgnis um das Schicksal seines Werkes. Von dem Wiener Exilverlag war nichts übriggeblieben. Die gesamten Buchvorräte waren verloren. .. auf der anderen Seite gab es Verlagsmöglichkeiten, auch für sein Originalwerk in deutscher Spra-che, bei seinem amerikanischen Verleger Alfred Knopf... Und schließ-lich gab es die beiden Exilverlage in Holland, die in der Lage waren, sofort einzuspringen.
Es gab jedoch noch einen tieferen Grund für die Krise in ihrer Freundschaft:

GBF:Thomas Mann stand damals unter dem Einfluß von Erika und Klaus Mann. Die eine gewisse feindselige Einstellung gegen mich hat-ten ... ohne zu er¬wägen, was denn eigentlich mit dem Verlag und der Fa¬milie Fischer gesche¬hen würde, kam er auf die phantastische Idee, ich solle mich mit Querido in Holland vereinen, (und) ein gütiges Schicksal hat mich da¬vor bewahrt, denn ich wäre mit meiner ganzen Familie in Holland zugrunde ge¬gangen bei der Be¬setzung Hollands. Der einzige der sich gerettet hat, war Fritz Landshoff, der spätere Partner, zufälligerweise zu dieser Zeit in Eng¬land ....

GBF antwortete Thomas Mann vorerst mit einem Telegramm:
"Zürich, 28.IV.38. Stehe unmittelbar vor Abschluß mit Verlag ebenso großer literari¬scher wie geschäftlicher Bedeutung , der Ihre Billigung finden wird. Verlag von Weltruf Europa und Amerika ... Abreise heu-te wegen Ab¬schluß, schreibe unterwegs ausführlich. Bitte dringendst Entscheidung zurück¬stellen und persönliche Aussprache ab¬warten. Bin spätestens Ende Mai New York, um alles in Ruhe zu bespre¬chen."

GBF:In dieser Zeit, in der Thomas Mann diesen Brief schrieb, hatte ich bei einer Besprechung mit einigen Emigrantenfreunden in Zürich, da war Rein¬hardt und seine Regisseure usw. den Einfall, mich an den schwedischen Verlag Bonniers zu wenden... Herr Horch, der war As-sistent von Reinhardt und ich sagte immer, er muß ein Liebesverhältnis gehabt haben, er war so begeistert von Stockholm, dass da mir plötzlich die Idee kam, warum gehe ich denn nicht nach Stockholm. Und schrieb an Karl Otto Bonnier, der mir nur dem Namen nach be-kannt war, aber wir hatten ja ganz enge geschäftliche Verbindungen, denn er druckte alle unsere großen Autoren in schwedischer Sprache... und fragte an, ob er mir helfen könnte, mich in Stockholm niederzu-lassen. Ich bekam umgehend seine zustimmende Antwort.
Das habe ich dann TM mitgeteilt, diese Vorschläge mit dem Querido Verlag, dadurch ihm die Entscheidung erleichtert, dass ich mich einverstanden damit erklärte, eine gemeinsame Auslieferung unserer Bücher bei voller Aufrechterhaltung unserer Selbständigkeit in Hol-land durchzuführen. Und ein gemeinsames Verlagsunternehmen zu machen. Und das war dann tat¬sächlich die "Forum"-Serie. Sammlung von modernen Autoren für einen relativ billigen Preis, die wir gemein-sam in Holland herstellten.
DS: Und der Buchmarkt?
GBF: Es waren noch übriggeblieben - die Tschechoslowakei, und Un-garn. Die fielen aber auch bald aus. Dann war natürlich Holland als Absatz¬markt. Al¬l¬mäh¬lich fiel auch Holland aus. Dann hatte ich nur noch die Schweiz und die USA. Allerdings reichte das doch bis zu gewissen Auflagen bis zu 6000 Exem¬plaren. Bei "Lotte in Weimar" stieg das sogar über zehntausend Exem¬pla¬re...
Wir waren überall nur zwei Jahre. Außer in Amerika... nach zwei Jah-ren entwickelte sich in der Bevölkerung eine prona¬zistische Stimmung. So in Schweden. Das war für uns das Signal Schwe¬den zu verlassen... Wir beschlossen dann über die Baltischen Länder, Rußland, Ja¬pan, Pazifischen Ozean nach Amerika auszuwandern. Über den Atlantik konnte man nicht mehr reisen (Ja, da waren die U-Boote)... Im Transsibirischen Ex¬press hatten wir an sich Erste Klasse-Reservierung, und als ich die Billets in Moskau abholen wollte, da wurde mir mitgeteilt, dass zwei Kommissare diese Abteile für sich be-anspruchten. Und wir müßten uns also mit der hölzernen Klasse beg-nügen.
Als wir in Amerika damals landeten, hat uns Frau Mann am Hafen erwartet. An der Westküste. Und hatte schon ein Haus für uns besorgt , in dem wir in Santa Monica wohnten. Und ich war fast täglich da mit Thomas Mann zusammen.
DS: Er schrieb ja damals an den Josephsgeschichten...
Ja, der ... vierte Josephsband.
GBF: Zwei Monate haben wir in diesem angenehmen Klima ver-bracht, und dann sind wir von Santa Monica aus im eigenen Auto mit Tutti und den drei Kindern über 4800 Km quer durch den Kontinent gefahren, im September 40, es war eine abenteuerliche Fahrt nach New York.

In New York wurde die Familie Fischer sehr freundlich empfangen, die Hilfsbereitschaft von Freunden aber auch von bisher Unbekannten war groß, sie kümmerten sich um die neu Zugezogenen. So hatte etwa der alte Freund Hendrik Willem van Loon ...

GBF: ... der in Old Greenwich lebte, ein Haus für uns vorbereitet, ei-nes jener schönen weißen New England Holzhäuser, und als wir uns am Abend zum Essen setzten ... ging die Tür auf und es erschien ein älterer Herr, stellte sich als Alfred Harcourt vor, ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch, weil ich mei¬nen Verlag nach dem Beispiel des S. Fischer Verla¬ges hier in Amerika aufge¬baut habe... Am nächsten Morgen stand ich auf der Bahnstation von Old Greenwich, um zum erstenmal nach New York zu fahren, als mich Alfred Harcourt anrede-te, und mich fragte, ob ich ein Büro in New York hätte, ich sagte, Mis-ter Harcourt, ich bin überhaupt noch nie in New York gewesen. Also schön, besuch mich nachmittag um vier in meinem Office. Zu meinem Erstau¬nen fand ich ein enormes Verlagsbüro, denn Harcourt Brace war damals einer der größten literarischen und Schulbuchverleger Amerikas ... Und er sagte mir, also hier ist dein Schreibtisch, und dann hast du hier eine Se¬kretärin und ein Telefon, fang an... Und dann be-nachrichtigte er die Presse und am nächsten Morgen erschienen die Vertreter der großen Zeitungen und mach¬ten Riesenin¬terviews über den deutschen Emigrations-Verleger Bermann Fi¬scher,der jetzt in Amerika arbeitet. Und dann sagte Harcourt: Und jetzt laß mal deine Bücher kommen!

GBF spricht immer wieder von seinem Freund Dr. Fritz Lands¬hoff, der den Querido Verlag in Amsterdam leitete. Landshoff hatte Glück, sagt GBF, sein Verlag Querido und Allert de Lange, den Walter Lan-dauer leitete, wurde beim Einmarsch der Nazis sofort geschlossen. Landauer kam in einem KZ ums Le¬ben, Landshoff war gerade in England, rettete sich, Emanuel Que¬rido, der Landshoff zur Gründung des Querido-Verlages verholfen hatte, wurde von den Nazi¬mördern umge¬bracht; Landshoff wanderte im März 41 in die USA. aus:

GBF: Wo wir uns sofort zusammensetzten, und mit ungewöhnlicher Kühnheit Verlags¬gründungspläne schmiedeten. Es kam nur ein ameri-kanischer Verlag mit einer Produktion in englischer Sprache in Frage... Dem Mutigen ge¬hört die Welt. Das Glück war uns hold. Es fand sich der Mann, der offenbar zuviel Geld und eine große Hochachtung vor unserer Vergangenheit und unseren Fä¬higkei¬ten hatte... So dass wir im Frühjahr 1942 für unseren neu¬ge¬gründeten Verlag "HannahB. Fischer Publishing Corporation" ein vielver¬spre¬chendes Pro¬gramm zusammenstellen konnten.

GBF zählt die Titel auf: Die von Werfel übersetzten Briefe Guiseppe Verdis, Anthologien amerikanischer Autoren, Klaus Mann und Her-mann Ke¬sten stellten eine Anthologie moderner europäischer Dich-tung zusammen: "Harth of Europe", Klaus Manns Autobiogra¬phie "Der Wendepunkt" u.v.a. Der größte Erfolg war die Buchausgabe ei-ner Rede des amerikanischen Vize¬präsidenten H. A. Walace mit hun-derttausend verkauften Exemplaren.

GBF: Unser Leben spielte sich in einem Kulturkreis ab, den wir mitge-bracht hatten und quasi in den neuen, amerikanischen integrierten. Dieses hat sich wohl eh und je in der amerikanischen Geschichte so abgespielt, ein mel¬ting pot, dem der furchtbare europäische Nationa-lismus der Trennungen völlig fremd war. Diese Verschmelzung zweier Kulturkreise war das große Erlebnis der Emigranten in Amerika. In keinem anderen Land der Welt wäre sie möglich gewesen.

Die zehn Jahre in Amerika machten die Fischers wirklich zu Ameri-kanern voller Dankbarkeit. Durch Hermann Hesse habe er einiges über das Schicksal des Berliner Stamm-Verlages erfahren, der von Peter Suhrkamp ge¬leitet wurde, sagt GBF. Doch schon 1943 bricht der Briefwechsel ab.

Die ersten Friedenstage nach dem Sieg der Alliierten habe er auf dem Times Square in New York erlebt, sagt GBF, auch Thomas Mann Re-de "Deutschland und die Deutschen" im großen Saal der "Library of Con¬gress" in Washington, eine Ehrung für die gesamte Emigration:

"Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangen gute, das gute im Un¬glück, in Schuld und Untergang... Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, das schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugen und zu erklären: Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.... Ich habe es auch in mir, ich habe es alles am eigenen Leibe erfahren... Man hat zu tun mit deutschem Schicksal, wenn man als Deutscher gebo¬ren ist. Die kritische Distanzierung da-von sollte nicht als Untreue gedeutet werden. Wahrheiten, die man über sein Volk zu sagen versucht, können nur das Produkt der Selbst-prüfung sein. .."

Aber konnten die von Hitler mit dem Tode Bedrohten jetzt nach dem Ende des SS-Staates einfach zu¬rückkehren?

S: Und nach dem Krieg gab es diese großen Schwierigkeiten der Rückkehr, da war Thomas Mann eingeladen, 1949 zum Goethe-Jahr, und da gab es schon vorher, 45, glaube ich, diese Einladung von Wal-ter von Molo, sofort zurückzukehren, was er ablehnte, weil so ein Bruch war zwischen dem Erleben der Emigranten und dem Erleben der Deut¬schen in Deutschland, also dass keine Brücke so schnell möglich war.
GBF: Es war charakteristisch, dass ein Mann wie Molo, der ein An¬t¬i-nazi war, sich nicht vorstellen konnte, dass wir Emi¬gran¬ten uns in-zwischen völlig anders psychologisch entwickelt hatten. Ameri¬kaner geworden zu sein, war kein einseitiger Spaß, das ging bis tief in die Seele, wür¬de ich sagen, und das Vertrauen in die deutschen Versi-cherungen wie von Molo, später dann auch von andern, wir sollten zurück¬kehren, und man empfinge uns mit offenen Armen, das erfüll-te mich mit großem Mi߬trauen. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Versicherungen Glauben schen¬ken könnte.

Doch dräng¬ten die Autoren, ihre Bücher nun in Deutsch¬land neu auf-zulegen, die amerikani¬schen Behörden forderten Mit¬hilfe bei der "Reeducation", Peter Suhr¬kamp, der den Verlag bisher treuhän¬derisch ge¬führt hatte, lud zur Rückkehr ein: -

"Berlin, den 3. August 1945. Lieber Gottfried und liebe Tutti Bermann - die letzten Nachrichten von Ihnen kamen über Hesse zu mir, im Jahre 43. Danach ist das Schicksal lawinenartig über uns gekommen: am 22./23. November 43 wurde unsere Wohnung ... durch Bomben zerstört, am 4. Dez. beim Angriff auf Leipzig die Auslieferung ... ebenso die Vorräte und an¬gefan¬genen Bücher ... am 15. Februar 44 unsere Ausweichwohnung im Grunewald.... am 13. April 44 wurde ich von der Gestapo verhaftet ... kam An¬fang Januar 45 ins KZ Sachsenhausen ... lag im Krankenhaus Potsdam auf den Tod, bis Pots¬dam zerstört wurde ... am 27. April Einmarsch durch die Russen ... in den letz¬ten Apriltagen wurde das Verlagshaus in der Lützowstraße noch zerstört,... Im übrigen warte ich täglich auf Sie, um wieder in Ihre Hände ge¬ben zu können, was wir von Herrn Fischer übernahmen..."

GBF: Es war als wären die Toten auferstanden, unfaßbar, dieser Brief war wirklich, greifbar, trug die vertraute Handschrift eines ins Unbe-kannte Ent¬schwundenen, der uns in tiefster Not rief und unser längst verloren geglaubtes Erbe S. Fischer in unsere Hände legen wollte... Es ist schwer zu schildern, was wir empfanden. Man verlangte Treue um Treue. Konnte man vertrauen, durften wir unser Leben, das wir in Amerika geschaffen hatten, aufs Spiel setzen, den Gefahren einer de-moralisierten Ge¬sellschaft aussetzen ... Würden wir nicht als Eindring-linge, als Juden, die ihren geraubten Besitz zu¬rückforderten, wieder gehaßt und unserer amerikani¬schen Freiheit verlustig gehen?... War der grenzenlose Haß gegen dieses Deut¬sch¬land, das uns ver¬trieben und mit dem Tode bedroht hatte, zu überwinden?

Carl Zuckmayer schrieb 1945: "Suhrkamp und seine Frau Mirl leb¬ten in ei¬nem winzigen Zimmerchen in Potsdam, sie hätten keine Möbel, keine Bettstellen ... kein Gas, keinen Strom; Holz und Kar¬tof¬feln sind kilometerweit heranzu¬schleppen, und Suhrkamp sei noch krank ... Folgen der KZ-Haft."
Die Emigranten halfen, wo sie nur helfen konnten. Peter Suhrkamp schrieb an Tutti Fischer am 25. Februar 1946:
"Lassen Sie sich umarmen, Tutti! ... Sie haben mich in den letzten Monaten einige Male dem Weinen nahe gebracht. Es war kein blasses Ge¬rührtsein ... sondern ein Dankopfer aus ergriffenem Herzen. Wie haben Sie ge¬sorgt! ... ohne die unausgesetzte Hilfe seit September 45 ginge ich gewiß nicht mehr über der Erde..."

GBF:Es gab ja Leute, die mir sagten, du willst den Verlag in Deutsch-land wieder eröffnen, schlag dir das aus dem Kopf, das sagten mir ameri¬kani¬sche Freunde, die Deutschland kannten. Ich muß sagen, lei-der habe ich auf diese Versprechungen nicht gehört, obwohl ich ge-warnt worden war.. Aber jetzt komme ich schon wieder auf dieses Thema, die Klagen über die schreckli¬che Lage: der Verlag liegt in Trümmern, wir haben nichts zu essen und so , veranlaßte uns, jede Woche Pakete nach Deutschland zu schicken und uns immer mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut zu machen, den in Deutsch¬land verbliebenen Verlag durch Überlassung unserer Lizenz¬rechte wieder auf eine gesunde wirtschaftliche Basis zu stellen. Und das ge¬schah dann auch. In¬nerhalb von ganz kurzer Zeit hatte der Verlag einen wie-der nor¬malen Umsatz und konnte von sich aus existieren. Ich konnte zunächst 46 noch nicht nach Deutschland fahren, weil ich die Geneh-migung nicht erhielt und nicht einge¬bürgert war. Im Jahre 47 bin ich dann nach Deutschland ge¬fah¬ren...

Seiner Frau Tutti schildert er den Chock der Wieder¬begegnung mit Deutschland:
"Liebste.... so ich fand ich mich inmitten unendlicher Hoffnungslo-sigkeit, die von den drahtgespickten öden Trümmerhaufen ausging und von den ver¬hungerten Menschen¬gestalten, die zwischen ihnen ge-bückt und müde einher¬schlichen ... das Graue der Gesichtsfarbe und eine scheue Art des Blicks, das Verzagte, Geschlagene... Nach Berlin reiste ich mit den Papieren des Military Gouvernement als V.I.P. Diese Papiere machten einen zum Übermenschen, der wie ein Zaubergott den armen, im Schmutz kriechenden Gestalten ein wenig Glück brin-gen konnte."
Am 15. Mai ist er auf dem jüdischen Friedhof Weißensee bei den Gräbern der Eltern gewesen, sie seien unversehrt, der einzige Platz, der noch etwas vom alten Berlin erkennen lasse, durch die Toten lebe das Alte, drau¬ßen aber sei alles tot und vorbei. Das Zentrum Berlins - bizarre Trümmer, Radler, ein Fu߬gänger, dessen Schritte laut durch die Öde hallen.
Und die Wiederbegegnung mit den Mitarbeitern des alten S. Fi-scher Verlages schildert GBF in seinen Erinnerungen so:
"Viele von ihnen, die mir vor zwölf Jahren die roten Rosen zum Ab-schied gereicht hatten, drückten mir jetzt mit Tränen in den Augen die Hand. Ich konnte die Tränen selbst kaum zurückhalten vor diesen ab-gezehrten müden Gesichtern, die nur zu deutlich ausdrückten, dass sie von meiner Anwesenheit die Wendung zum Besseren erwarteten... Al-les widersetzte sich dem Gedanken, an diesem Elend, das ich nicht verschuldet hatte, mittragen zu sollen ... Suhr¬kamp hatte mich gerufen, um den Verlag in meine Hände zurückzulegen. Ich mußte es versu-chen."
Suhrkamp hatte am 15. Juni 1947 ein Testament aufgesetzt. Im Be-gleitbrief vom 18.Juni 1948 an GBF heißt es:
"Der Berliner Verlag ("Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer KG") ist seiner Struktur nach eine Kommanditgesellschaft, in der ich allein persön¬lich haftender Gesell¬schafter bin.... Zur Sicherung gegen dro-hende po¬li¬tische Gefahren habe ich 1946/1947 in Frankfurt a. Main den "Suhrkamp Ver¬lag vorm. S. Fischer Inh. Heinrich Suhr¬kamp" aufgebaut. Für ihn habe ich am 4. Oktober 1946 die amerikanische Li-zenz erhalten... Diese Frankfurter Firma gehört auch unter den Komplex, der in den Besitz der Familie S. Fischer über¬führt werden wird. Die vorstehende Verfügungen von mir stehen in keiner Ver-bindung mit der in jüngerer Zeit erlassenen Rücker¬stattungs¬gesetzen ... damit wird lediglich ein Gut, das ich während der erzwungenen Ab-wesenheit der Familie Fischer verwaltete, in deren Hände zurück-gegeben... Ich beanspruche auch für die Zukunft keine finanzielle Be-teiligung an dem Ge¬schäft, sondern lediglich ein Gehalt für meine Tä-tigkeit, solange ich im Verlag mitarbeite."
So gab es also zwei Suhrkamp-Fischer Verlage in Deutschland, die von Peter Suhrkamp als Treuhänder geführt wurden, weil GBF als amerikani¬scher Staatsbürger in Deutschland noch keine Geschäftstä-tigkeit ausüben durf¬te; außerdem gab es noch den bisherigen Berman Fischer Verlag in Stock¬holm und den ehemaligen Wiener Verlag... GBF verlegte den Bermann Fischer Verlag aus Stockholm nach Ams-terdam, wo er mit Dr. Fritz Landshoffs Queri¬do-Verlag zusammenge-legt wurde und nun Bermann Fischer-Querido Verlag hieß; in Ams-terdam war vorläufig die eigentliche Zentrale der drei Verlage.

GBF: Die Zusagen über die Rückgabe des Berliner Verlages an uns als die enteigneten Erben waren inzwischen so überzeugend und rechtlich verbindlich, dass ich nicht zögerte, mit der Re-Education Behörde der Besat¬zungsarmee ei¬nen Vertrag abzuschließen, nach dem ihr die Lizenzrechte an den wichtigsten Büchern - wie Lotte in Weimar, Zau-berberg, Doktor Faustus (Thomas Mann), Wem die Stunde schlägt (Hemingway), Lied der Bernadette (Werfel), Gestern (Stefan Zweig), Carl Zuckmayers Der Seelenbräu und Des Teufels General u.a. auf diese Behörde übertragen wurden, mit der Bestim¬mung, sie aus-schließlich dem Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer Verlag zur Ver-öffentlichung zu über¬geben.. Und da ich durch meine Verbindung mit dem Leiter der Educations¬branch in der Lage war, das notwendige Papier und Ein¬bandstoffe zu beschaf¬fen, war der Berliner Verlag, dem man diese Bücher aus den Händen riß, in kurzer Zeit wieder auf ge-sunder wirtschaftlicher Basis und konnte mit der eige¬nen Produktion beginnen, darunter an erster Stelle Her¬mann Hesses letztes Werk: "Das Glasperlenspiel."

Doch dieser Einbindung in eine Verlagsgruppe, die GBF vom Aus-land aus leitete, widersetzte sich Suhrkamp; dies freilich erst, als die beiden deutschen Verlage saniert waren!

GBF: In dem Augenblick, da die Versprechungen eingelöst wer¬den soll¬ten, bedurfte man unserer Hilfe nicht mehr. Wir waren von einem Tag auf den andern nicht mehr die gepriesenen Helfer in der Not, son-dern die Ein¬dring¬linge, die Juden, als Amerikaner mit abwegigen Vor-stellungen von neuen Buchtypen, neuen Vertriebs¬wegen und neuer Buchausstattung. Genau das war eingetreten, was ich 1945 befürchtet und in den Wind geschlagen hatte.

So, wie es Suhrkamp in Briefen vor allem an Hesse darstellte, ging es nicht um Geld oder Macht, sondern um zwei grundverschiedene Ver-lags¬konzepte und Ideale, Suhrkamp wollte seines durchsetzen, und ver¬langte daher ein entscheidendes Mitspracherecht im Verlag.

GBF merkte erst sehr spät, dass sich Suhrkamp gegen das aus Amerika mit¬ge¬brachte Verlagskonzept, wo das billige Buch, vor allem das Taschen¬buch, also das Massenbuch im Vordergrund stehen sollte, sperrte. Doch war Suhrkamp ein Betrü¬ger? Er wollte, anders als er an-fangs vor¬gehabt hatte, die ganze Entschei¬dungsbefugnis im Frankfur-ter Verlag be¬halten, um sein Konzept gegen das von GB Fi¬scher durchzusetzen!
GBF: Hier trafen zwei grundverschiedene Persönlichkeiten auf-einander, die eine als "Treuhänder" des in Deutschland verbliebenen Teil¬ver¬lages, in der Enge des Gesichtskreises eines verlorenen Deutschland lebend, die andere im Kampf um die Erhaltung und Fort-führung des exilierten Stamm¬ver¬lages von einem Land ins andere ge-trieben, mit einer verlegerischen Kon¬zep¬tion, dem lebendigen Leben zugewandt und S. Fischers Tradition fortset¬zend.

GBF blieb hart in diesem Kampf verlegerischer Konzeptio¬nen. Er kündigte Suhr¬kamp das Treuhandverhältnis und verbot ihm weite¬re Hand¬lungen in der Geschäftsführung vorzunehmen und die Verlags-räume zu betre¬ten...Hickhack jedenfalls: auch Suhrkamp hatte den Angestellten verboten, Weisungen von GBF entgegenzunehmen; GBF wandte sich nun an die Restitu¬tionskammer. Er habe zu spät vor der alliierten Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Frankfurt geklagt, sagt er, Suhr¬kamp habe dann sozusagen noch an der Tür des Gerichtssaales seine Zustimmung zum Vergleich gegeben, die die Wiedergutmachungskammer aufgesetzt hatte. Nun aber hatte Suhr-kamp eine selt¬same Begründung, warum er es nicht zum Prozeß kommen lassen wolle: "Ich.. wollte auf keinen Fall auch nur den ge-ringsten Anlaß zu ei¬ner Wie¬derbelebung des Antisemitismus geben."
Der Vergleich zwischen Suhrkamp und Bermann Fischer war die Trennung. GBF übernahm dabei auch die Schulden Suhr¬kamps.
Nach der Klausel der Spruchkammer wurde vereinbart, dass diejeni-gen Autoren, die während der Na¬zizeit in Deutschland bei Suhrkamp verblie¬ben waren, sich entscheiden konn¬ten, welchem der beiden nunmehr getrennt arbeitenden Verlage, sie sich an¬schließen wollten. Ernst Barlach (Erben) Al¬brecht Goes, Manfred Hausmann, Johannes v. Jensen, Erben Gerhart Haupt¬mann, Bernhard Kellermann, Luise Rinser optierten für den neu gegründeten S. Fischer Verlag. Während von wichtigen Autoren Bert Brecht, T.S. Eliot, Max Frisch, Hermann Hesse und Ernst Pentzoldt bei Suhrkamp verblieben; fast alle Autoren der Emigration, Thomas Mann an der Spitze, blieben bei S. Fischer .

S: Aber 1950 gab es da ja nochmals eine Auseinandersetzung mit Thomas Mann, glaube ich, also einen Brief Thomas Manns, wo er also sagte, alle meine wichtigen Bücher, Doktor Faustus, Zauberberg usw. sind gar nicht da.
GBF: Damals war doch meine Situation und meine große Aufgabe, die mir be¬vorstand, die ganzen verloren gegangenen Werke nachzud-rucken. Man stelle sich vor, dass ich nach Deutschland kam mit kaum einem nennenswerten Ver¬mögen und sollte jetzt also Hunderte von Büchern nachdrucken, die Gesamt¬ausgabe von Thomas Mann, von Stefan Zweig, von Döblin und Schnitzler, Wassermann usw. Ich konnte mich also nur darauf beschränken, einzelne wichtige Werke jedes Jahr und jedes halbe Jahr eines der wichtigen Werke von Tho-mas Mann als Einzelausgaben einer aufzu¬bauenden Gesamt¬ausgabe her¬zustellen. Genau dasselbe tat ich mit Hofmannsthal. Und so wur-den dann lang¬sam im Laufe der Jahre diese Gesamtausgaben wieder hergestellt. Thomas Mann hat das schon eingesehen.
S: Zuerst war er ungeduldig.
GBF: Ja. Es war sehr merkwürdig, dass er das nicht gleich selber ge-sehen hat, aber das hat er dann...
S: Er hatte ja andere Angebote...
GBF: Na, Angebote ...
S: ... ich sagte schon, diese Sache mit dem Schweizer Verleger Scherz...
GBF: Alle Verleger haben sich darum bemüht, aber das muß ich sa-gen, er hat mir tatsächlich die Treue gehalten, wie auch alle anderen... Auch Christiane von Hofmannsthal zweifelte daran und ich konnte sie davon überzeugen, dass ich das alles wieder auf die Beine bringen würde.
S: Mit Hauptmann hat's nicht geklappt.
GBF: Doch, doch. Hauptmann kam auch zu mir.
S: Aber das Angebot des Nachlasses war etwas zu...
GBF: Als ich mich entschlossen habe, Hauptmann wieder herauszub-ringen, Hauptmann lebte damals nicht mehr, erschien Benvenuto, mit dem ich seit Jahrzehnten eng befreundet war und sagte, Du, ich hab hier drei Kisten von Nachlaß Gerhart Hauptmann, willst du die nicht übernehmen. Ich sagte, ja sehr gern, was ist denn da drin. Da sagte er, ja, das darf nicht eröffnet werden, du mußt dich verpflichten, sie zu bringen, ohne zu sehen, was in den Kisten ist.
GBF:... Da sagte ich, lieber Benvenuto, das kann ich mir leider nicht mehr leisten, dafür hab ich nicht genug Geld.....
S: Ein Jahr zurück: erinnerst du dich an die erste Begegnung Thomas Manns mit Deutschland im Jahr 1949 zum Goethe-Jahr , das war ja auch also ein sehr schwieriges Unternehmen.
GBF: Ich habe Thomas Mann am Bahnhof in Frankfurt empfangen, und da wir aber Drohungen bekommen hatten gegen Thomas Mann, benachrichtig¬te ich die Polizei und bat um Polizeischutz . Es war mir doch zu gefährlich, ihn da ganz allein in Frankfurt herumlaufen zu las-sen.
S: Es gab also anonyme Anrufe oder so.
GBF: Ja. Und wir fuhren dann also in Polizeiautos in Deutschland he-rum, be¬suchten verschiedene Plätze , und ich war quasi als sein Sek-retär tätig. Und dann kam die große Diskussion mit Ostdeutschland; er bestand darauf, nach Ostdeutschland zu gehen, mit der Erklärung, die Deutschen in Ostdeutschland haben genau dasselbe Recht, seine Bücher kennenzulernen, wie die in West¬deutschland.
S: Außerdem gab's ja Weimar in Ostdeutschland.

Das war also 1949/ 50; eine neue Zeit. GBF hatte in diesen finsteren Jahren mit seinem Exilverlag viel für die Erhaltung der deutschen Li-teratur getan. Besonders wichtig waren ihm dabei die Bücher dreier Autoren:
GBF:Kafkas "Der Prozeß", "Das Schloß" und "Amerika" waren ver-gessen. Sie verschwanden während des Naziregimes völlig aus dem Be¬wußtsein der deut¬schen Leser. In Frankreich und in Amerika wußte man über das Genie Kafka, das die Literatur dieser Länder schon in den dreißiger Jahren tiefer beeinflußte als in dem Lande seiner Spra-che. Fünfundzwanzig Jahre wa¬ren nach dem Er¬scheinen des "Prozeß" in Deutschland verstrichen, als ich die¬ses Buch als er¬sten Band einer Gesamtausgabe Kafkas im Jahre 1950 aus völ¬liger Vergessen¬heit he-rausholte. Es rief eine Sensation von unerwartetem Ausmaß hervor.
Für den Polizeischergen, der 1944 die Familie Frank aus ihrem Unter-schlupf zum Tode holte, war der Haufen Papier, der aus Annes Tasche fiel, nichts anderes als der übrige Kram, den man ihnen mitzunehmen verbot... Aber Miep, die holländische Freundin und Helferin in der schrecklichen Not, sah einige Zeit später die Blätter am Boden, erkannte Annes Schrift und hob sie wie ein Hei¬ligtum auf ... So kam die Geschichte dieses kleinen Mädchens Anne Frank zu den Men-schen, die in Deutschland schon im Begriff waren, alles, was gesche-hen war, zu ver¬gessen ...
Als Franz Werfel auf der Flucht vor den deutschen Truppen durch Lourdes kam, gelobte er im Falle einer Rettung, ein Buch zum Lobe der heili¬gen Bernadette zu schreiben... Ich werde nie vergessen, wie ich ihn im New Yorker Hafen Hoboken noch recht elend von der Ans-trengung der Flucht emp¬fing. Alles, was er mit seinen Büchern erar-beitet hatte, war verloren. Das Buch über das Mädchen von Lourdes, das er damals im Kopf trug ... wurde ei¬nes der größten Bucherfolge... sie hat eine Auflage von mehr als einer Million Exemplare er¬reicht ...

Aber nach dem Krieg die Verbindung über den braunen Abgrund hinweg zur abge¬ris¬senen Tradition wieder herzustellen, war äußerst schwierig. Die Emigranten kamen als Fremde nach Hause.
GBF: Dieses war unsere Heimat nicht mehr. Wir waren frei und fremd.

Wir sprachen über GBFs "Zueignung", zum 70. Geburts¬tag Thomas Manns im Jahre 1945, sie war in der damals wiedererstandenen "Neu-en Rundschau" er¬schienen, "Zueignung", ein Wort zum Exil, - die mir wie ein Testament Bermann Fischers erscheint. Ich bitte ihn, sie vor-zulesen:
GBF: Ich blätterte die alten Hefte durch. Wieviel Haltung und Gesin-nung, welche Freiheit des Geistes, wieviel Schöpfertum spricht aus ih-nen. Es ist schwer zu fassen, dass all dieses dahingegangen sein soll. Aber es ist dahin. Nur eine dünne Decke war es über dem Abgrund. Eine Welt des freien Geistes hatten wir uns aufgebaut. Als die bösen Gewalten mit harter 0Hand zugriffen, da stob sie auseinander. Drau-ßen sammel¬te sich nur ein kleiner Kreis von Übriggebliebenen. Was sie vereint hatte, war zerstört. Für die fremde Umwelt aber waren sie etwas fragwürdige Geister, mit dem Makel der Erfolglosigkeit behaf-tet. Die Fremde ist hart.
Da aber erhob sich eine Stimme, Thomas Manns Stimme. Was als Masse von entwurzelten Existenzen erschienen war, hatte plötzlich ei-nen Namen und Ausdruck... Wenn es heute eine Literatur in deutscher Sprache gibt, wenn heute noch eine Tradition existiert ... so ist das Thomas Mann in hohem Grade zu danken ... Man müßte ein anderes Wort für den Begriff finden, der das reprä¬sentiert, was einstmals der Welt das Wort Deutschland bedeutete ...

(Nach einer Sendung von SFB/SDR/ Radio Bremen/ MDR 1995-1997)



SANT´ANNA DI STAZZEMA




Jeden Tag war sie da, diese Angst, auch Mutter könnte sterben, auch sie einfach nicht mehr da sein, der letzte Mensch und Zeuge der Vergangenheit: Dieser Ort, wie weit hat er sich doch schon entfernt, wird einmal ausgelöscht sein und verblasst schon mit ihr, tönt, schluchzt und schlägt zu.
Mutter sagt zum Beispiel: Joi, sieh den Schatten, den Wald, grü-ner Wald wie zu Hause, eine Wand, grüne Wand, lauschig. Oder: weißt du, ich werde alt, manchmal diese Schwindelanfälle, es ist wohl das Herz; ein Taumel meine ich, als hätte ich Schwammerl gegessen, als hätt ich einen Schwips oder wer weiß was.
Und dann singt sie: Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Weißt du noch, unsere Maifeste auf die Breite. Heute ist der erste Mai, alle Kinder bitten frei. Wunderbare Frühlingsluft, frisch, ganz frisch. Pfingstgefühle.
Und dann waren es wieder Pilze, Parasole, die wir hier unter den Kastanien am Brunnen sahen: Sieh ein Parasol, weißt du noch, Tante Cäcilie hatte fast damenschirmgroße Parasole unter den Tannen, Staubwolken riech ich, ihr rotes Mauthäuschen gleich an der Straße, und über die Felder liefen wir an den Fluß, an die Kokel baden, Krümmung, Wasser, einer ertrank, das passierte, in den Letten wurde er wieder gefunden. Andreas, du weißt, Andreas mein Cousin, wir liebten uns sehr, die ganze Kindheit, die war gemeinsam, der fand den Ertrunkenen, Andreas, sonst ein Familienathlet, schöner Bub, schöner Mann, war wie ein Siegfried, blond, wasserblauäugig, aß fünfzig Zwetschgenknödel, rief menj Boch jubiliert, und mit ihm holten wir riesige Parasole, unter den Tannen standen die Geheimnisse wie Wichtelmännchen mit riesigen Hüten, wie Chinesen oder so. Schööön.
Du weißt, wo Andreas während des Krieges gewesen war, sagte ich.
Bitte, mach ihn nicht schlecht, sagte sie und redete unbeküm-mert weiter: Parasole hatte Andreas in den Fäusten ... Unter den Tan-nen... und Pfifferlinge kamen in die Tokana und Täublinge mit Speck gebraten, wir aßen, Vater aß keine, fürchtete die Pilzvergiftung, ganze Familien starben bei uns an der Verwechslung: Sie aßen arglos Knol-lenblätterpilze.
Ja, was ist der Tod - eine Verwechslung?
Während sie eifrig gestikulierend erzählte - sie kann das – leckte sie begierig an ihrem Eis, das süß-klebrig auf ihre tadellose weiße Hose tropfte. Joi, da habe ich mich bekleckert; und wischte und wischte, zu Hause muß ich mir die Hände waschen, unbedingt. Du kannst es auch hier in der Wirtschaft, sagte ich: Dort die Tür zur Toilette. Komisch, Mutter konnte diese Tür nicht öffnen, war fast schüchtern in der fremden Umgebung auf der italienischen Sonntags-Terrasse mit den Karten spielenden und trinkenden Männern, sie brachte die Tür nicht auf, die sei verschlossen. Gehen wir, es ist zu laut hier, lieber in die Natur, in die Stille! Sonst ist sie doch laut, und hier nun hilflos wie ein Kind; diese Eisentür, grün gestrichen, der Beton dieser Terrasse rissig, darauf stand sie nun... Wie aber, wenn ich diesen Beton sehe, es gibt Worte, Beton – da denke ich an ein kleines Beton-Regenwasserbassin im sieben¬bürgischen Garten, unter dem Klofenster, Worte, die Mutter, sie sagt es, nicht mag – Beton-Kammer, im Beton mauerte die Mafia ihre Opfer ein... Beton. Grüngestrichene Tür aus Eisen... Zellen, Baderäume, Andreas weiß es besser... Wenn ich in seinen Kopf hinein sehen könnte, fragen: Andreas, woran denkst du bei rissigem Beton oder vor Eisentüren, oder wenn aus dem grünen Kachelofen etwas Gas ausströmt.
Woran würde er jetzt denken, dein Cousin, der Blonde, der Offizier bei den Wachmannschaften war, du weißt? Woran würde er denken? – Nervös soll er gewesen sein, konnte auch das Wort Beton nicht mehr hören, hatte eine Phobie gegen jede Art von Rauch.
Einmal war die ganze Stadt in Rauch gehüllt, sagte ich: Als bei uns in Schäßburg einmal Wehrmachts-Pferdebaracken brannten, roch es nach verbranntem Fleisch, nach verbrannter Haut und angesengtem Haar, neben der Lederfabrik wars, lichterloh brannte es, ja, da lagen Schwaden süßlichen Gestanks über der Stadt; sonst rochs nach Lohe am Kokelufer, zuweilen nach Kadaver, abgezogenen Fellen, Haut, ja auch Haarberge gab es, Gerbsäure in Bottichen.
Einmal fiel ein Kind in den Bottich mit weißlich schäumender Gerbsäure, sagte Mutter, wie schrecklich; man brachte das Kind ins Spital, die Säure hatte den ganzen Körper zerfressen, Haut und Fleisch fielen Stück für Stück ab, bei lebendigem Leib fielen sie ab; das Kind starb nach wenigen Tagen. Der gute Hans-Onkel, der Bruder meiner Mutter und Tante Cäcilies Bruder, sagte sie, der Hans-Onkel, der mit den guten Händen, er war Arzt, du weißt, ging täglich ins Spital, aber er konnte auch nicht mehr helfen, - er ist natürlich tot, der alte Arzt. - Er war nicht alt. Aber er ist tot. Und Andreas auch.


Am nächsten Morgen sagte Mutter, sie sei im Traum an jenem leeren Platz in St. Anna, dort in jener Leere mit der Kirche gewesen, sie habe die Menschenmenge auf der Dorfstraße gesehen, doch die Freude sei mit einer großen Angst vermischt gewesen. Dann aber habe sich gezeigt, dass diese Angst nicht unberechtigt gewesen sei, denn die Leute hätten alle gehetzte Gesichter gehabt, sie wurden nämlich von Russen mit Hieben zusammengetrieben.
Aber Mama, es waren doch SS-Leute in Santa Anna! Sagte ich.
Sie aber völlig unbeirrt: Nein, russische Gewehrkolben schlugen zu, und Fäuste von oben... vor allem Greise, Frauen und Kinder wurden so von den Russen mißhandelt. Es war ein Gewühl – und das Portal der Kirche stand weit offen, mit Kolbenhieben wurden unsere Leute da reingetrieben, in der Kirche zusammen¬gepfercht, denn es waren ja viele, sehr viele! Immer mehr und mehr Siebenbürger Sachsen strömten mit entsetzten Gesichtern ins Innere der Kirche, der Platz vor der Kirche aber war übersät mit Stöhnenden, Verwundeten, am Boden Liegenden, Schreienden und Toten, nur manchmal noch einzelne Schüsse, wenn ein Russe den einen oder anderen Verwundeten er-schoß. Im linken Kirchenschiff, wo ein Platz auf einer Empore oder Tribüne, die schnell in einen Altar verwandelt worden war, bauten ei-nige Russen hastig ein Rednerpult auf, und über den Beichtstühlen wurden Galgen errichtet, darunter aber standen nun die Gefangenen und sahen zu. Einige von ihnen kannte ich gut, sagte sie, und man hat-te mir gesagt, die Hinrichtung solle gegen Abend stattfinden, es war aber erst zehn Uhr vormittags. Es hieß, nur wenige Auserwählte soll-ten gehängt werden, am Abend würde man die Kirche mit den vielen Menschen in den Kirchenschiffen anzünden. Gräßlich!


Aber Mutter, weshalb drehst du das jetzt so?!
Es war 1945 im Januar, du weißt doch, da wurden unsere Leute nach Rußland deportiert, auch unser armer Georg, Friederikes Mann. Und er ist nie mehr wiedergekommen!
Ja, ch weiß, für uns war es aus, doch Andreas war immer noch in Auschwitz, dein Bruder in Buchenwald.
Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei...
Es war meine Kindheit, damals, genau zu jener Zeit... Übers Bachel bin sprungen... übers Wiesel bin i rennn ... alles so unschuldig: am Fuß des Himmels, blau, ein Leben lang bleibt es so: das Guckloch hinüber und nah. Ich kann es berühren: Barfuß liefen wir über die nackte feuchte Erde, fühlten Zementboden im Keller unter den nackten Sohlen, Sonnenstrahlen fielen durchs Laub, zeichneten Muster auf allen Wegen; alles wie frisch gewaschen. Wir liefen durch Pfützen, Lehm, Gras zwischen den Zehen... Differenz, termini, Wörter, erst jetzt wie ein Kloß im Hals, etwas geduckt die Phantasie, die Türen geschlossen; oft Zementboden.
Damals die Holzwege noch voller duftender Blätter, die Son-nenkringel, Kreise an der warmen Hausmauer: Muster auf dem Sand-boden, unsere nackten Füße tasteten sie ab; und jetzt kehren sie wieder im Traum: ein Widerschein von Licht, hallend, dichtes Leben, eine Wiederkehr, ein Kreis...
Am Grabenrand hinter der Sommerküche auf der Zisterne, unter den Rusterbäumen die Sonnenkringel, Schattenflecken, Muster wer-fend: Da wars schön kühl.
... und schrecklich... jedes Wort ruft jetzt eine andere Erinnerung wach ... sie liegen übereinander die Schichten, sie stören sich ... und ich kann es immer noch nicht glauben...
Und die Toten bleiben jung.
Ja, alle sind sie tot, alle...



Bei Familienfesten eine Durchreiche aus der Küche fürs herrliche Weinsteinkraut; der Graben: Holz- und Hohlweg rätselhaft, Mäuse in der Sommerküche, Angst der Frauen, sie könnten in die Scheide... in Kaminen über der Sommerküche der Uhu, zog die Lider den ganzen Tag verschleiernd übers Auge, und wenn der seinen Flug nachts zur Mäusejagd begann, als wollte er jene Angst auslöschen, träumten wir bereits. Zehnuhrkinderflüge – kein Problem, alle konnten wir fliegen, Schwerkraft aufheben, in uns noch keine bleierne Melancholie und Müdigkeit, Schwere, die zu Boden schlägt. Auf der Holzbrücke über den Graben noch trappelnd Roß-und-Reiter-spielen, Blinde Kuh, Verstecken mit Onkel Andreas und Onkel A., dem Töff, und dann wieder auftauchen, kein Problem.







ZWEIMAL DEUTSCH IN
SANT´ANNA DI STAZZEMA
Für Stefano Busellato
Oben
Nahe am Himmel
Blau die Blume
In der Ferne Das Meer -
Dort die Freiheit
mit dem Himmel berührt
Wie der Tod damals
Und dunkel der Himmel
verdeckt und geöffnet
Bach Schubert Beethoven
Lösen auf die Schwere
des Sterbens hier
Sie klingen wie „Gott“.
„Du siehst die Schuld
Die mir den Fluch verkündet“
Damals geschrieen geweint.
Gebetet:
O Dio Dio. O mio Dio
In deutsche Schüsse
Geweint.
Sie hallen noch immer.
Du singst. Die Kirche tönt.
Will sie enthüllen
Will sie verbergen?
Wir mit dem Rücken zum Altar
Christus wo warst du?
Umhüllt ist der Klang / bei
Offener Tür
Unschuldig grün die Wiese
Im Auge jetzt
Wo Blut in die Gewehre floss
Das Schreien.
Es knattert knattert mitleidslos
Die Welt
starb damals hier
Im Dröhnen der Berge.
Löst nun die Orgel
und deine Stimme
Mit deutschem
Gesang
Die deutschen Befehle:
FEUER! Gebrüllt
Zur Kirchentür
Mit den drei
Maschinengewehren.
Und du singst dazwischen
Brahms die Bibel
(Prediger, 4, 1-3)
Dass sie verstummen müssen
Die Klage: „… sie
hatten keinen Tröster;
und die ihnen Unrecht taten
waren zu mächtig.
Da lobt ich die Toten,
die schon gestorben waren
mehr als die Lebendigen,
die noch das Leben hatten;
und der noch nicht ist,
ist besser als alle beide,
und des Böen nicht inne wird,
das unter der Sonne geschieht.“
„O Gott der Langmut und Geduld“
Sant´Anna die Stazzema.

„Ach Gott, mein Gott
Wie lange soll ich sorgen.“
Hältst du mich fest
In dieser blutenden Kirche
Die alles sah?
Bach Schubert Mahler
Beethoven Brahms
Die Toten sind hier
Und sie warten.

Sant´Anna di Stazzema,
28. Juni 2009
Wikipedia

Im Sommer 1944 waren die deutschen Streitkräfte in Italien, wie an fast allen Fron-ten, auf dem Rückzug. Der Frontverlauf war mittlerweile bis in die Toskana vorge-rückt. Da die deutsche Besatzungsmacht junge Italiener zwangsrekrutierte und viele kampfunfähige Zivilisten zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet wurden, führte dies bei Teilen der italienischen Bevölkerung zu ei-ner Antipathie gegen den ehemaligen Verbündeten. Mehr und mehr schlossen sich dem bewaffneten Widerstand, der Resistenza an, um als Partisanen gegen die Besatzung vorzugehen. Die bewaldeten Berge der Toskana boten den Irregulären Schutz und ideale Bedingungen, um deutsche Nachschublinien zu stören.
Das deutsche Oberkommando reagierte auf diese Entwicklung mit äußerster Härte. Angeblich hatten Offiziere keine Strafe wegen „zu harten Vorgehens“ zu erwarten. Da Partisanen selbst nur schwer aufzuspüren waren, reagierte man mit Hinrichtun-gen von gefangenen Freischärlern und Geiselerschießungen von Zivilisten, um po-tentielle Unterstützer in den toskanischen Bergdörfern, welche die Partisanen mit Nahrungsmitteln und Informationen versorgten, abzuschrecken.


Hergang des Massakers
Am 12. August 1944, kurz nach 6 Uhr, umzingelten vier Kompanien der 16. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS” der Waffen-SS das Dorf. Sant’Anna hatte etwa 400 Einwohner und beherbergte mehrere hundert Flüchtlinge. Offiziell sollte die SS gegen Partisanen vorgehen, doch zu den etwa 560 Opfern zäh-len überwiegend Frauen und 116 Kinder. Sie wurden in Gehöften und auf dem Kirchplatz zusammengetrieben. Die SS warf Handgranaten in die Menge, erschoss wahllos Männer, Frauen und Kinder und brannte die Häuser nieder. Nach nur gut drei Stunden war das Dorf ausgerottet. Das jüngste Opfer war 20 Tage alt.


Nachkriegszeit und juristische Aufarbeitung
Sant’Anna di Stazzema wurde zum Teil wieder aufgebaut. Das Massaker wurde nach dem Krieg wie viele deutsche Kriegsverbrechen totgeschwiegen, da Westeuro-pa eine politische Einheit gegen die Sowjetunion bilden sollte. Die Akten über den Vorfall lagerten bis 1994 in einem versiegelten, mit der Tür zur Wand gestellten Schrank im Palazzo Cesi, dem Sitz der Militärstaatsanwaltschaft in Rom, der auch unter der Bezeichnung „Schrank der Schande“ bekannt war. [1] [2] So blieben die Tä-ter fast 60 Jahre unbehelligt. Erst im April 2004 eröffnete dasMilitärgericht von La Spezia einen Prozess gegen mehrere noch in Deutschland lebende Täter, die jedoch in ihrer Heimat als hochbetagte Rentner kein Strafverfahren oder gar den Strafvollzug fürchten müssen. Am 22. Juni 2005 endete dieser Prozess mit der Verurteilung von 10 früheren SS-Angehörigen zu lebenslanger Haft sowie Entschä-digungszahlungen in Höhe von ca. 100 Millionen Euro. Alfred Mathias Concina, Karl Gropler, Georg Rauch, Horst Richter, Gerhard Sommer, Alfred Schöneberg und Ludwig Heinrich Sonntag legten Revision gegen das Urteil ein, welches jedoch 2006 von einem Militärgericht in Rom bestätigt wurde. [3]
Karl Gropler - verurteilt nach italienischem Recht
Georg Rauch - verurteilt nach italienischem Recht
Gerhard Sommer - verurteilt nach italienischem Recht
Alfred Schönenberg - verurteilt nach italienischem Recht (inzw. verstorben [3])
Ludwig Heinrich Sonntag - verurteilt nach italienischem Recht (inzw. verstorben [3])
Alfred Mathias Concina - verurteilt nach italienischem Recht
Horst Richter - verurteilt nach italienischem Recht (inzwischen verstorben)
Werner Bruss - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
Heinrich Schendel - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
Ludwig Goering - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
In Deutschland hat dieses Urteil allerdings keine praktische Bedeutung, so dass kei-ner der Angeklagten bisher eine Strafe verbüßen musste. Dazu wäre eine Verurtei-lung vor einem deutschen Gericht notwendig, die allerdings aufgrund der deutschen Rechtslage als unwahrscheinlich gilt.[5]
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt zwar seit 2002 gegen neun der in Italien Verurteilten, bis heute wurde jedoch mangels Beweisen in keinem der Fälle eine Anklage erhoben. Fünf weitere Personen, die nicht in dem Prozess in La Spezia an-geklagt waren, blieben von Ermittlungen ausgenommen. Der aktuelle Stand der Er-mittlungen ist unklar, da die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Einsicht in die Ermitt-lungsakten verweigert. Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die den Verband der Opfer von Sant'Anna in Deutschland gerichtlich vertritt, stellte 2005 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, welcher mit der Begründung einer zu vermeidenden Gefährdung der Ermittlungen durch die Opfer abgelehnt wurde. [6] Gegen die drei rechtskräftig Verurteilten wurde im Juni 2007 ein Europäischer Haftbefehl gestellt. Dieser dürfte jedoch wirkungslos bleiben, da Deutsche zum Zwecke der Strafvollstreckung nicht gegen ihren Willen ausgeliefert werden dürfen.[4]
Kritiker werfen der Staatsanwaltschaft Stuttgart vor, die Ermittlungen eher aus sym-bolischen Gründen zu führen und in Wirklichkeit nur den natürlichen Tod der heute noch lebenden Täter abzuwarten. Dadurch versuche die Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens mangels Beweisen oder einen Freispruch zu vermeiden, was beides als Niederlage für die Justiz gelten würde.
Die Staatsanwaltschaft erklärte hierzu: „Die Ermittlungen dauern noch an, ein Ende ist nicht abzusehen. ... Wir wollen den Sachverhalt vollständig aufklären. Und es er-geben sich immer wieder neue Hinweise.“ Neue Zeugen hätten sich gefunden, wei-tere würden gesucht, jedoch könnten oder wollten sich vielleicht die Zeugen häufig nicht mehr erinnern. [7] 2007 erklärte eine Sprecherin im Gespräch mit der Frankfur-ter Rundschau: „Nach dem deutschen Rechtssystem müssen wir jedem einzelnen eine Tatbeteiligung nachweisen, und wir brauchen Mordmerkmale wie Grausamkeit und niedere Beweggründe, weil nur Mord nicht verjährt.“[4]
Die Staatsanwaltschaft hat ihrerseits die Verurteilung in Italien kritisiert. Sie sei ein „Schnellschuss aus der Hüfte“, bei dem sich die italienische Justiz zehn Angehörige der Einheit „herausgepickt“ und pauschal verurteilt habe.[4]
Am 60. Jahrestag des Massakers besuchte mit dem deutschen Innenminister Otto Schily erstmals ein deutscher Politiker eine Gedenkfeier im Ort.[8] Enio Mancini, der das Massaker als Junge miterlebte und nicht von den Deutschen erschossen wurde, hat an der Stelle des ehemaligen Dorfes eine Gedenkstätte und ein Museum aufge-baut, in dem Fotos, persönliche Habe, und Anderes zu besichtigen sind.

Verweise
Interne Verweise
Christiane Kohl, Journalistin und Schriftstellerin, Ehrenbürgerin von Sant'Anna di Staz-zema.
Massaker von Marzabotto
Literatur
Friedrich Andrae: Auch gegen Frauen und Kinder. Piper-Verlag, München, 1995, 311 Seiten, ISBN 3-492-03698-8
Claudia Buratti/Giovanni Cipollini: Vite bruciate. La strage di Sant’Anna di Stazzema 1944-2005, L’Unità, Rom 2006.
Carlo Gentile: Le SS di Sant’Anna di Stazzema: azioni, motivazioni e profilo di una unità nazista, in: Marco Palla (Hg.), Tra storia e memoria. 12 agosto 1944: la strage di Sant’Anna di Stazzema, Carocci, Rom, 2003, S. 86-117.
Carlo Gentile: Politische Soldaten. Die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsfüh-rer-SS“ in Italien 1944, in: „Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken“, 81, 2001, S. 529-561.
Carlo Gentile: Sant’Anna di Stazzema, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Primus, Darmstadt, 2003, S. 231-236.
Gerhard Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Täter, Opfer, Strafverfolgung. C. H. Beck, München, 1996, 278 Seiten, ISBN 3-406-39268-7
Weblinks
Partigiani – Widerstand gegen deutsche Besatzung und Faschismus in Italien 1943–1945
Stazzema
Eine Orgel für Sant' Anna di Stazzema
Dokumentarfilm über die Initiative: Eine Orgel für Sant' Anna di Stazzema
Erinnerungen von Enio Mancini – Überlebender des Massakers von Sant' Anna
Web-Portal von Sant’Anna di Stazzema
elenco delle vittime (italienisch) – Liste der Opfer
Aktuell (16.01.2007) laufende Sendung zum Thema im Deutschlandfunk
Die größten Massaker in Italien - Eine Übersicht
Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944 - Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in Deutschland Mai 2006, (Pdf 880 KB)
RBB – Kontraste: In Italien verurteilter Kriegsverbrecher als Nachbar – Dorfbewohner verteidigen ehemaligen SS-Mann (RealVideo & Mitschrift), 3. August 2006
Einzelnachweise
↑ Heike Demmel: Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema - Schleppende Ermittlungen in Deutsch-land www.resistenza.de
↑ Wolfgang Most: Der Schrank im Palazzo Cesi - Späte Prozesswelle gegen ehemalige deutsche Solda-ten in Italien. www.resistenza.de
↑ a b c Lars Reissmann: Verurteilung wegen des SS-Massakers von Sant’Anna di Stazzema bestätigt. Lokalberichte Hamburg, 17. Jahrgang, Nr. 24, 23. November 2006, S. 8, (Pdf 553 KB)
↑ a b c d e f Frankfurter Rundschau: Haftbefehle gegen Ex-SS-Männer beantragt, 26. Juni 2007
↑ http://www.broschuere.resistenza.de/material/broschuere_santanna_web.pdf Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944. Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kam-pagne zur Anklageerhebung in Deutschland S. 26
↑ Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944 - Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in DeutschlandMai 2006, S. 19-20, (Pdf 880 KB)
↑ Franz Schmider: Ein Massaker und eine Mauer des Schweigens. In: Badische Zeitung vom 6. Mai 2006, S. 3
↑ Otto Schily: Ansprache auf der Gedenkfeier zum



Im Frühjahr 2002 haben wir, selbst Musiker, eine Benefizinitiative ins Lebengerufen, derenZiel es ist, mit Hilfe von Konzerten von Musikerfreunden in Deutschland und Italien Spenden zu sammeln für den Neubau einer Orgel für die Kirche von Sant`Anna di Staz-zema, deren alte Orgel bei einem SS-Massaker am 12. August 1944, bei dem 560 Menschen den Tod fanden, zerstört worden war.



Nach vielen Jahren intensiver Kontakte in der Toskana hatten wir 1997 bei einem Besuch des Museo Storico della Resistenza von Sant`Anna den Gründer und Leiter des Museums, Enio Mancini, kennen gelernt, der selbst als Siebenjähriger das Massaker überlebt hatte. Bei unseren wiederholten Besuchen in Sant` Anna entstand schließlich die Idee zur Benefizinitiative als Zeichen für Frieden und Versöhnung.

Inzwischen wird die Initiative durch zahlreiche Musiker, darunter Mitglieder der Essener Philharmoniker und der Düsseldorfer Sinfo-niker, von Organisten und Chören sowie von Professoren der Mu-sikhochschulen Essen und Düsseldorf unterstützt.

Die Initiative wird außerdem aktiv unterstützt von der Comune di Stazzema und der Provincia di Lucca.
Nach ersten Konzerten in Essen in Anwesenheit einer Delegation aus Italien haben bereits zahlreiche weitere Konzerte stattgefun-den, darunter auch ein gemeinsames Konzert von italienischen und deutschen Jugendlichen in der Kirche von Sant`Anna.



Im Dezember 2001 wurde Sant`Anna durch Beschluss des italieni-schen ParlamentesNationaler Friedenspark. Dort werden nunmehr Veranstaltungen zum Thema Friedenskultur durchgeführt, eine zu-kunftweisende Arbeit insbesondere mit Jugendlichen, bei der Musik als sprach-unabhängiges und grenzüberschreitendes Medium einen besonderen Platz einnehmen wird. Der Orgel wird hierbei eine he-rausragende symbolische Bedeutung zukommen.









AUS DEM TAGEBUCH

...RINGSUM Soldaten und Neugierige und starrten in die Grube, und dieses Gefühl der freien Nacht für die einen, das der Unent-rinnbarkeit für die andern ist grausam, ich konnte ja frei sein, weg-gehn, sagte Roland oder auch Onkel Roland. "Es war schrecklich." Sagte er das? Ja, er sagte es: Einmal sah ich, wie zwei Kameraden auf zwei Juden schossen, sagte er, die einen Balken trugen, lachend sagten sie, einer genüge doch für diese Arbeit. Das sagten sie wirklich, du kannst es mir glauben, ich habe es gehört. Und das Singen dazu. Schwarzbraun ist die Haselnuß, schwarzbraun bin auch ich, bin auch ich, schwarbraun ist mein Mädel mein, gerade so wie ich. Hollarie juwijuwi hi hahaha, hollarie juwie juwie hie. Juwi juwi hi haha, juwi juwi hi hahaha...Ich hielt mir die Ohren zu. Und ich habe meist in ein Buch gesehen, um das nicht wahrnehmen und hören zu müssen, aber es war auf die Dauer unmöglich, die Mauer des Buches war viel zu dünn. Das Papier diente dort für ander Zwecke. Dann schrieb ich Gedichte, um mich zu beruhigen, dies ist eins, ich kanns noch aus-wendig:
Media in morte
Jetzt hat der Tod sein Recht! Jetzt fällt das Wort,
Und Menschenlaut gefriert auf Menschenmunde.
Unsägliches nimmt das Gesagte fort.
Vielleicht verschließt das Schweigen deine Wunde,
Und still verharrend am gesetzten Ort,
Verwandelst du die wandelbare Stunde.
In sanfter Hoheit, doch verborgen leiht
Der Geist dir wieder waltend das Gesunde
Und das Gewissen für die ganze Zeit.

Ich sah dort, wie einer einer Frau das Baby aus dem Arm nahm und dessen Kopf an einer Hauswand zerschlug und grinste. Das klingt, wie wenn ein Reifen platzt, sagte der. Es war der absolute Mob dort. Und man kriegt Schüttelfrost angesichts der Menschheit... Aber auch Studierte wurden zu dem, was man sich gar nicht vorstellen kann. Ich hab immer nur das Wenigste, meine Pflicht getan. Mehr nicht. Ich weiß, man klammert sich heute daran, dass auch SS- Leute dieses nicht aushielten, Zähne zusammenbeißen aus Ordnungs- und Pflichtgefühl: es muß sein. Schulz, Rasch, Nebe haben sich versetzen lassen, heißt es: oder kehrten aus dem Urlaub nicht wieder zurück; Nebes Fahrer, der Kriminalobersekretär Köhn, hat sich erschossen. Der Graf von Bach-Zelewski mußte mit einem Nervenzusammenbruch und Halluzinationen ins SS-Lazarett Hohenlohe eingeliefert werden. - Ich hätte es mir zu Hause niemals denken können, wir hatten ja eine so hohe Meinung.
Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, und das heißt, drei, vier, Erikaaaa...
Von Dolfy geht eine Rastlosigkeit und Nervosität aus, sein Gesicht ist irritierend sanft. Und schön wars, sagt er, wenn mir meine Mutter schrieb. Und sang unwillkürlich, summte oder pfiff ein Lied, meist, alle taten das, es wurde auch dort viel gepfiffen und gesun-gen,das war so die Zeit. Und waren sehr naiv.
Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf meinen Fuß,
hat ein Brieflein im Schnabel,
von der Mutter einen Gruß.
Er hat eine weiche pastorale Stimme. Unterbrach sich, setzte sich ans Klavier und spielte ein Schubertlied. Plötzlich ist er absent, starrt auf einen entfernten Punkt außerhalb des Raumes, ist nur mit sich selbst beschäftigt, seine Freundin, eine blonde Frankfurterin, tippt ihn vorsichtig an, wie man Irre anrührt, da er nur sich Wein ein-geschenkt hat und sagt: das war aber nicht höflich. Sieht ihn mit einer milden Wut an. Doch er nimmt es kaum wahr, murmelt abwesend jaja.
Du willst also ein Buch schreiben, erkundigt er sich neugie-rig. Was beschäftigt dich?
Die Ursachen unseres Verschwindens.

Warum bist du dann nicht aus Auschwitz geflohen, wie andere auch?! Stand die Todesstrafe darauf?
Er sah mich mit seinen bläßlichen Augen amüsiert an: Frei-lich stand die Todesstrafe darauf. Desertion. Nein, das wars ja nicht, an Mut hat es mir nicht gefehlt, aber ich war für Ordnung, für beding-slose Disziplin. Wohin hätte ich auch fliehen sollen, es waren ja meine Leute, die dort das Sagen hatten, die mich brauchten.
ORDNUNG also, dies Geheimnis nach dem wir suchen. Wie ES es schon im Sprachdurchlauf schafft, in großartigen Wortalche-mien, die ja die Macht sind: KL, HSSZPF, RF, SS. Anerkannt sogar vom Papst. Zur Beseitigung des WELTORDNUNGSWIDRIGEN ZU-STANDES, Chaos, die bolschewistisch-jüdische Aushöhlung und In-fektion der Seelen (und Geschäfte), Kampf für den ordnungsmäßen LAUF DER WELT. Roland hat Templin eine ORGANISATIONS-ZIZZE des ordentlichen Dienstweges in Angelegenheiten KL, geschenkt, die Skizze enthält auch die in der Praxis nachweisbaren Befehlswege (gestrichelt) mit handschriftlichen Eintragungen unseres Apothekers, der dankenswerterweise alle in der Skizze fehlenden Vernichtungslager als ordentlicher Sachse nachgetragen hat. Dolfy sah sie interessiert an, schob sie dann beiseite und erzählte weiter, wie sie, um dem zu entgehen, mit dem Kommandanten Höss gefeiert hatten, auch Weihnachten. Stille Nacht gespielt. Heilige Nacht, alles schläft einsam wacht. O du Fröhliche, O du Selige, gnadenbringende Weih-nachtszeit. Mit dem Kommandanten Höß. Klavier gespielt, um zu vergessen. Lichterbaum, Wunderkerzen, um zu vergessen. Tannenduft. Alles schläft, eiin...saam wacht. Und tröstete sich damit, dass er noch denken konnte: Und das FEST als Versuch dagegen. Wie die Musik. Was ist das "Ewige" Gegen das Verkommene, Verlotterte, Schmutzige, Unsaubere, und zu vernichten, was verfällt, wir: wollen das Lichte, Blonde, wider die feuchte Stelle. Am besten als das Niegesagte oder die niegesagte Waise im Fest zu halten, darin wäre der Glanz des Nichts, der einzig entspricht: Jahrtausende wie eine Sekunde, und wir, du jetzt noch, ich nicht mehr, eigentlich immer nur abwesend. Alles in die Flucht geschlagen, so zu sehen, ein langer Korridor, den du, ich weiß, oft träumst, halb geöffnete Türen, Türspalten darin Menschen wie Schemen, und durch die großen Fenster blickst du kurz, alles im Vorbeilaufen, Ereignisse, du läufst da durch, bist nirgends da, kannst nicht ausruhn, die Einbildung, zu Haus zu sein, gar dahin zu kommen, wie du, entschuldige, Idiot, es versucht hast, ist genau so ein Schemen, kurzes Aufblitzen von Augenblicken, Bildpunkten.
-Ja, seit das geschehen ist, hat der Rächer uns nicht mehr losgelassen, sagte Templin. Er hat auch Siebenbürgen vernichtet.
Manchmal glaube ich, es ist die Ordnungswut, die uns zu-grundegerichtet hat, Ordnung und Sauberkeit, Disziplin, Pflichkan-tigkeit...Es war auch Hitlers Wahnsinn, durchaus in klinischem Sinn.
Templin spürte den analen Ordnungssinn auch in sich, Ordnung auf dem Schreibtisch, alles in Reih und Glied, Bleistifte, Fe-dern, Papier, Bücher. Und fühlte sich dann im "Aufgeräumten" wohl. Primitiver Kampf wider die "Entropie"? Schmallippigkeit als junger Lehrer, da mußten die Schüler in Reih und Glied stehen. Parieren. Und die nicht gehorchten, bekamen Prügel, Strafe muß sein. Templin war in Amt und Würden. Bei den Vätern wars noch schlimmer mit der Ordnungsbesessenheit und den zusammenge- kniffenen Lippen. Ihre Taten wären anders nicht möglich gewesen.
"O Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehn..."

Und er erinnert sich, dass dieses Lied, Kitsch freilich, doch wie es am besten das Unwahrscheinliche ausdrückt, das freilich zeit-weilig befestigt wird mit einer schönen Naturerscheinung, solange wir da sind, versteht sich, gesungen also während der Kriegszeit von den Frauen, die Angst um ihre Männer hatten, zu oft nämlich, kam dieser schwarze Feldpostbrief. Das Lied aber, ist das Gegenteil, auch seine Mutter sang: "Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei," und sofort dann weiter: "Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai."
Der RÄCHER ist aktiv. Die Furie des Verschwindens. Es hat alles nichts genützt, sie hat gesiegt, auch im Kleinen siegt sie täglich, siegt dieses Unerkannte, das alte Nie, siegt jede Sekunde über uns: die Rache Entropie.



Aus den Tagtebüchern


1. Januar 95. Stehen spät auf. Anruf Ls Mutter. Fahren ans Meer mit Flocky. Sturm. Spazieren bis zu den Einfahrtslampen. Um 12 wieder zu Hause. Hannah wieder großartiges Essen. Pilze, Sellerie, Fleisch-braten.. Nudeln. Trinken Champagner dazu.
Abends telefoniere mit Mutter. Sie liest in meinem Gedichtband.






2.-5.Jan. Arbeit am Verweser. Sehr gut voran.

Mittwoch, 4. Januar. Sehen uns mit Ilse Staff. Hatte abgelehnt, uns am 1. zum Tee zu sehen. Kann dieses Teesehen nicht ausstehen. Kurz aber herzlich. Sie ziemlich neurotisch. Hab ihr einen Brief zu STE-HENDES ICH geschrieben, das sie gelesen hat, gute Worte, aber auch Kritik: Goffy.

6. Januar. Bei Francesco. Florenz. Vgl. Notizbuch. Music. Farlani und Utamaro. kennengelernt.
Utamaro Fickszenen löschen Pornographie aus. Der haarige Ein-gang mit dem Stengel. Auch von hinten. Die haarige Amöbe. Dann das Autoporträt von Music. Mehrer Schichten
Etwas ungehalten, weil F. sich vor allem an Hannah wandte. Doch auch ich war nicht gut, keine Redeekstasen mehr wie früher. Keine Lust. Müde. Aber auch das Hirn geht nicht mehr so gut.
Nachts deshalb Sorgen.


7. Januar. Sehr schlecht gelaunt. Stumm fast. Hannah macht mir Vor-würfe. Unterschwellig dieser Groll. Legt sich nach einem Spaziergang. Dann Music-Bild, "Wir sind nicht die Letzten" - Ich sage: Der Schrei. Sie: Der Mann. Zuerst der Mann. Das Haus hat sich verändert.
Schreibe am Verweser


8. Januar. Sonntag F. ruft an. Reden über Music. Über unseren Be-such. Sollten uns öfter sehen, auch bei Ausstellungen. Am 12. April in Parma Mattioli. Im April Farlani. Farlani einen Druck Hannah ge-schenkt, weil sie ihm einen Text von F. über Farlani sehr schön über-setzt hat.
Abends bei GBFischer. Unter Freunden und in der Familie wird er Goffy gnannt. Sehr lahm. Redet kaum noch. Auch ich wieder unlustig und müde. Obwohl ich eine ganze Bibliothek von Esoterik mitge-nommen habe. Er hatte danach verlabgt. Bleibt bei Köstler "Die Wur-zeln des Zufalls" hängen.
Essen das traditionelle Huhn. Rotwein.Trinke zu viel. Aus Frust.
Rede über meinen VW. Nur Annette reagiert. Sagt, bei 1000 Seiten 2 Bände. Er winkt ab. Sagt, auch die Buddenbrooks sollten nach Papa Fischer zur Hälfte gekürzt werden. Ist nicht geschehen, Ich sage, dann hätte er wohl den Nobelpreis nicht erhalten.
Ärgert mich, dass er sich mir kaum zuwendet. Wieder Hannah Aber ich sollte es ihr doch gönnen. Wie viele Frustrationen, da immer ich im Mitgelpunkt stand, hab ich ihr beschert.
Am Schluß bin ich ärgerlich, weil die Bibliotheksliste ganz falsch geschrieben wurde, Fehler: Dudenbrooks. usw. Sage, das hätte Hei-mann oder Loerke sehen müssen! In diesem Haus kann … darf das nicht sein. Er: Ist ja nur zum Verkauf der Bibliothek. Ich seh, wie er Geld und Literatur trennt. Schlechtes Omen für ihn.
Schlafe schlecht aus ähnlichen Gründen wie am 6. Nimmt meine seelische und geistige Kraft ab, mein Vermögen zu formulieren, zu er-zählen. Kein drive mehr?

20.21.22. Jan. Geburtstag bei GBF (Goffy), Annette fährt ab. Zeigt uns ihre Skulptur "Surviver" - ohne Kopf. Doch aus der Brust entsteht ein Phantomkörper.

5. Februar. Mittagessen bei Goffy. Er zeigt mir die Bilder seiner El-tern, der Sanítätsrat. Die Schwester ist in Norwegen von den Nazis deporiert worden, in Auschwitz ermordet. Ebenso ihr Mann. Der Va-ter noch in Berlin gestorben. Die Mutter erst nach dem Krieg in Hol-land und dort beerdigt.

Auch das Buch von seiner Frau Tutti Fischer wurde in der FAZ verris-sen. Wir sprechen über meinem Verriß in der FAZ des Stehenden Ich. Am 3. Er wußte es schon. C. Baumgarten hat es ihm am Telefon ge-sagt.


11.4. Mattioli-Ausstellung.
Annas Erlebnis.

Alles hatte bei einer Mattioli-Ausstellung auf dem schönen Land-gut Magnani-Rocco bei Parma begonnen, es ist das Landgut einer Stftung des bekannten italienischen Musikers und Kunstsammlers; auch er nun schon seit zehn Jahren tot. Ich der Erzähler habe gemein-sam mit dem Maler Mattioli, Magnani war ebenfalls musizierend da-bei, von hier aus alles beobachten können; Mattioli wäre sehr gerne bei seiner Vernisage mit dabei gewesen, und wir haben es ihm auch ermöglich, freilich unsichtbar für die Besucher, in den Ausstellungs-räumen des Landgutes als stiller Beobachter und nun fremder Gast anwesend zu sein; und ich versuche mich nun, geschätzter Leser, Ih-nen verständlich zu machen. Michael Templin, ein Freund der Familie, der ebenfalls jene Ausstellung am 23. Januar besucht hat, steht nun seit einiger Zeit, ohne dass er weiß, mit uns in Verbindung:

24. Januar. Von Anfang an ist das Ende gegeben, das ist klar, das ist klar, und ich muß das jetzt aufschreiben: mich hatte diese Ausstel-lung sehr beeindruckt, und ich habe es auch Hannah erzählt, Hannah, das ist meine Frau. Als wir nach Hause fuhren, auf der Cisa-Autobahn, da hab ich ihr diese unglaubliche Geschichte erzählt, Han-nah hatte in Magniani-Rocci nur wenig davon mitbekommen, weil sie an diesen Sachen nicht besonders interssiert ist: Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr es dagegen mich erregt hat, es war der einzi-ge Lichtblick, der einzige an diesem Samstag, denn sonst kamen mir diese Ausstellungräume, die geschönten Leute in ihren Sonntagsklei-dern, die Männer alle mit ihren ewigen Krawatten, und so, schrecklich hohl und leer vor, und kein Funke sprang von den Mattioli-Bildern über, keiner. Sonst war ich richtig geprickt und angemacht gewesen, jaja, von Mattiolis Bíldern, hatte gerne darüber auch ge¬schrieben, immer wieder, diese Reduktion der Welt auf Null mit farbigen An-wesen¬heiten an allen möglichen Grenzen; und ich hatte plötzlich Angst, ausgebrannt zu sein, und dachte an meinen alten Freund Cioran in Paris und an diese Schrecklichkeit des Alterns, dass er jetzt gar nicht mehr spricht, sich nur durch Gesten und Gebärden mitteilen kann, falls der Stupor es zuläßt, und dass er jetzt sein Lebensprog-ramm der "prunkvollen Ver¬wüstung" erfüllt hatte, so dass jetzt der ausgebrannte Geist nun in seiner eigenen Nichtigkeit dahintrocknet; fast schlau hat der Verstummte dazu als letztes nun ein Jugendwerk "Gedankendämmerung" in Deustchland erscheinen lassen, das er in seiner Muttersprache noch 1940 in unserer gemeinsamen Heimat ver-öffentlich hat; damals war ich genau sechs Jahre alt gewesen. Gewe-sen? Nun gut, lasse aber mein Erinnerungen jetzt nicht durchbrechen. Ich sprach mit Michum, unserem Analytiker, der aus Florenz auch zu seinem Lieblings¬maler und Freund gekommen war,, doch der über meine Befürch¬tungen, doch der winkte nur mit einem gequälten Lä-cheln ab und sagte, die Räume hier seien auch für ihn furchtbar leer; der Maler fehlt mir sehr, sagte er, es ist hier alles wie tot. Der alte Ma-ler war nämlich im Juli vergangenen Jahres gestorben, und Michum, der auch noch eine krebskranke Freundin mitgebracht hatte, die nur noch einige Wochen zu leben hatte, war sehr traurig, sein Blick abwe-send; wir irrten also zwischen Mattiolis Bildern umher, viele alte Be-kannte darunter, und landeten schließlich in einem Vorraum, wo Mat-tioli wirklich da zu sein schien, was noch unerträglicher war, kaum auszuhalten: dies Wiedeoaufnahmen in seinem Atelier, die Stimme, das Gesicht, alles fern, flach und leblos. Nur Anna, die Enkelin, und die Tochter Marcella, die plötzlich eintraten und uns stürmisch be-grüßten, hier also, das war mir jetzt klar, hier also war das Zentrum der Ausstellung, der Bilder, als wäre er genau an dieser besonderen und ausgezeichneten Stelle im Raum anwesend. Und von hier aus sah man auch das erste Bild der Ausstellung, vielleicht das tiefsinnigste Bild, das er je gemalt hatte, und das von hier aus auch die erste Aus-stellung ohne ihn, zu beherrschen schien: sein Kopf, ein Selbstporträt, trat aus einem schwarzen Hintergrund hervor, und er hielt die kleine Enkelin, damals noch ein Kind, eng umschlungn, als klammere er sich an diese kleine weiße Gestalt. Im Katalog war dazu auch ein Gedicht von mir abgedruckt, das geht so:

Auf einem Blick
Jenseits der Tür, davor
das Kreuz, das nach dem Tode
steht. Im Rahmen
stehst du schon
der Tür/ aus
ewiger Nacht

mit einem Fuß

Das Enkel
Kind, das dich umarmt
in Weiß steht
noch im Licht und
hält dich hier.


Nun gut. Anna zeigte mir auch das zweite Gedicht, ein Gedicht auf eines seiner wunderbaren Kruzifixe geschrieben, das im Kloster von San Miniato in Florenz aufbe¬wahrt wird. Und dann sagte sie: ich bin ein Stück von ihm, ich kann ohne ihn nicht leben. Und weißt du, was mir gestern Abend passiert ist, du glaubst es nicht, ich bin auch jetzt noch erschrocken; er hat sich gemeldet, er ist da, ich spüre ihn auch, und meine Mutter, auch meine Cousine Luci haben von ihm in dieser Nacht geträumt, und er hat ihnen gesagt, dass die Ausstellung gut und er einverstanden sei, und dass er auch nach Magnani-Rocco komme, hier also dabei sein wird. Geh, sagte Hanna, die mit zugehört hatte, das ist doch verständlich, ihr hab andauernd an ihn gedacht und natür-lich auch an die Ausstellung. Nein, nein, sagte Anna, nein, wißt er, dass er beiden dasselbe gesagt hat, Luci und auch meiner Mutter: infi-ne ho una casa! Endlich habe ich ein Haus. Michum stand auch dabei, und wagte nicht zu lachen Was aber mir passiert ist, du glaubst es nicht, sagte Anna: ich hab immer noch Angst, im Traum ist er ja fast jede Nacht da und zeigt mir dann die seltsamsten Landschaften, führt mich herum in einer ganz anderen Welt, die ich gar nicht verstehe, und er versucht es mir auch nicht zu erklären, wie er auch seine Bilder nie erklärt hat, das war eben so und nicht anders, auch wenn man es nicht begreifen konnte, man ahnte es, man fühlte es man war eben mittendrin - immer mit ihm, und wenn er dabei war, verstand ich es auch; doch gestern Abend, ja, da war ich sehr erschrocken, jaja, auch wenn ihr es nicht glaubt, ich hörte meinen Lieblings-Mahler, die Fünf-te, und ausgerechnet bei Maler also, es war schon der zweite Satz, eine gute CD-Aufnahme, da hörte die Musik ganz plötzlich auf, ich dachte zuerst an Stromausfall, doch die Lampe brannte ja, und in diese Pause hinein konnte ich ganz deutlich seine Stimme hören: Sono arrivato! Sono arrivato! Zweimal also Sono arrivato! Ich lief vor Schrecken hinaus. Und als ich mich wieder erklaubt und die Angst überwunden hatte, wieder ins Zimmer kam, da lief weiter die Fünfte, so als wäre überhaupt nichts geschehen, und alles so wie bisher und gewohnt. Doch glaubt mir, das Zimmer hatte sich verändert. Und ich dachte auch das Bild, dieses Motiv, wo er mich in den Armen hält, war ver-ändert, das Licht war anders, und auch ich weiß nicht was ... Aber es ist ja nicht so, dass er nicht auch ein anders mal da gewesen wäre, doch im Tarum ist das ja ganz normal, nur hier so, in der Wirklichkeit? Da paßte er gar nicht hierher, da war er eben ein Schrecken, obwohl es gar nicht so sein dürfte. In den Träumen kommt er, setzt sich an mein Bett, und nimmt mich an der Hand, dann fliegen wir fort. Und er zeigt mit diese Landschaften, auch Leute zeigt er mir, mt denen er nun zusammen sei, seine "Freunde". Und jetzt sei er ja zu Hause, sagt er. Und es ist wie früher beim Malen, nur braucht man kein Malgerät, sagte er, man denkt es nur, stellt es sich vor und schon ist die Land-schaft wirklich da, fabelhaft sei das, wie schön, und gemeinsam stellen sie nun diese Landschaften her, in denen sie leben, auch die Häuser , in denen sie wohnen. Und einmal zeigte er mir ein "Objekt", es schien zuerst aus Papier zu sein, doch wars dann doch ein ganz anderer, mir unbekannter Stoff, und in dieses Ding, das ganz merkwürdig gefaltet war, aussah wie ein Rettungsring, und mein Großvater, der hat ja im-mer so eine Schwäche für Geometrie und Topologie gehabt, wie er es nannte, wir haben ja beim Abbi auch sowas lernen müssen, und er sagte, dies sei so etwas wie ein Hypertoroid, und es enthalte die drei normalen und zusätzlich die drei zeitlichen Dimensionen. Sei aber selbst zeitunabhängig, und es war ganz merkwürdig da drin, und da konnte man malen und zeichnen, aber nur in Gedanken, und war so-fort weit weg, vor und zurück, bis weit in die Zukunft hinein. Und er sagte, daher sei es ja auch so schwierig, sich gegenseitig zu besuchen, weil so unterschiedliche Welten etwa unseren Biorhythmus stören könnten beim Eintauchen in zukünftige Zeit, und es käme alles durchein¬ander. Nach dem Aufwachen war es mir ganz unheimlich, weil alles so wirklich gewesen war, echt! Und ich hörte immer noch seine liebe Stimme und fing auch an zu weinen, schluchzte in mein Kissen, das dann ganz naßgeweint war.

Anna sagte, sie habe schon viele Traumtagebücher geschrieben seit dem Tode ihres Großvaters, und das wichtigste, was er ihr erzählt ha-be, sei ewas ganz Verrücktes, nämlich dass alles zu gleicher Zeit ge-schehe
Wie das, fragte ich.
Nun, es gebe überhaupt eine ganze Reihe von Leben, in denen wir mit dabei sind, jetzt, in diesem Augenblick, du und ich auch. Viele andere Leben in ganz anderen Gegenden, als wir sie uns vorstellen können.
Ja, sagte ich, da fällt mir ein schönes Gedicht von Friedrich Hölder-lin dazu ein: Es ist unmöglich, und mein innerstes / Leben empört sich, wenn ich / denken will, als verlören wir uns./ Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in allen Formen / mich kleiden, in alle Sprachen des / Lebens, um dir einmal wiederzubegegnen. / Aber ich denke, was sich / gleich ist, findet sich bald.

Sehr schön und richtig, ja, genau so ist es, rief Anna.
Unser kleiner Kreis hatte die Ausstellung und die vielen Leute völ-lig vergessen, die sich vor den Bildern drängten,
Und ich lachte, und sagte, zu Hause als Kind, da habe mein Bruder immer wieder rausbekommen wollen, wie man sein eigener Großvater wird; und wir hatten ihn als kleinen dicken Witzbold immer ausge-lacht.
Und es ist gar nichts zu lachen dabei. Ja, wenn die Leute sagen, in einem anderen Leben könnte ein Paar die Mutter-Tochter- Rolle spie-len, in einem anderen aber die von Vater und Sohn, oder dass ich hier die Tochter meiner Mutter sei, ein andermal aber ihr Vater sein könnte, ist das gar nicht nacheinander, sondern überhaupt gleichzeitig, und wir könnten das keines¬falls verstehen, einigermaßen mit übereinander-laufenden Filmen könne man das vergleichen, wobei mal der eine, dann der andere Film¬streifen bewußt werde, wir aber die übrigen im-mer wieder vergessen, ja, vergessen müßten, um leben zu können. Und überhaupt sei ja die Leinwand jener Ort (gar toplogisch zu nennen!), wo etwas erscheine und dann wieder spurlos ver¬schwinde, wie in Gespenster- und Gruselfilmen sei das, diese Er¬schei¬nungen seien da, redeten uns an, wir aber säßen ein wenig dumm auf unseren schwarzen Sesseln, flögen, an unsere Augen gefesselt, über sie hin-weg, so als wären sie gar nichts, und dann aber flögen auch sie selbst, diese Gespenster, kaum zu glauben, und doch sähen wirs ja wirklich und deutlich! Und nur weil das, was man im Film nicht sehe, über die Zeit hinwegspringe, naja, könne so etwas überhaupt sein. Aber das Zeitspringen das, was in Wirklichkeit geschehe! Und dann bückten wir uns, sozusagen symbolisch, um nicht davon getroffen zu werden, Huuh, das wäre grauslig, entsetzt aufgerissene Augen, und werden dann doch berührt! Aber genau so sei das ja in Wirklichkeit, was wir vergessen müßten, jeden Augenblick seien wir unser eigenes Gespenst. Sie dort aber, wo sie jetzt sind, sie hätten nun eine Art Brille, so dass sie dies Filme alle gleichzeitig sehen könnten. Vor- und rück-wärtslaufend. Egal, das könnten sie. Oder auch ein Film, der sich aus dem andern entwickelt und so. Und dieses Auftauchen und plötzliche Verschwinden bei uns von solchen Dingen sei völlig normal, und immer geh doch alles mit rechten Dingen zu, nur seien wir zu blöd, es zu begreifen, sagte er auf seine grantelige Art, die ich so lieb habe: weil doch diese Dinge, auch er etwa, falls er bei uns auftauchen wolle, was er nicht tue, um niemanden zu erschrecken, sei doch nur deshalb möglich, weil er in einem Zeitbereich lebe, in dem unsere Vergan-genheit nur Teil des großen, uns entzogenen, dimensionalen Zeit-`Raumes`sei. Oder so ähnlich, so genau kann ich das nicht mehr aus-einanderhalten! Jedenfalls gebe es keinen Tod. Aber eines erinnere ich noch, das war ein anderes Mal, als er sagte, das könne man bei Ufo-Landungen auch bemerken, die bei uns blöderweise immer noch ge-leugnet werden, da blieben an solch einem Ort Reste der Spuren künf-tiger oder vergangener Zeit, die etwa den Gang von quarzzgesteurten Uhren beeinflussen, Boden und Vegetationsveränderungen hinterlas-sen, diese Zeichen in Kornfeldern etwa. Und wir selbst projizierten Filme, und alles was geschehe, sei ein Netzwerk von solchen Be-wußtseins¬filmen. Und es gehe eigentlich nicht immer so weiter, denn es sei alles schon unendlich weit gegangen, eine große Verknüpfung, in dem die einzelnen Lichtpunkte andauern an anderen Orten auf-leuchten, und so der Anschein von Weitergehen entstehe.

Na siehst du, und mußt nicht traurig sein, sagte Hannah ein wenig spöttisch, wenn auch nachdenklich geworden, was du alles so einem Großvater zu verdanken hast. Meiner hat mir nur Geld hinterlassen. Dazu hat dir deiner noch ein ganzes Museum von Bildern geschenkt, das sehr viel mit jenen Filmen zu tun haben, von denen du erzählt hast.

Wir verließen schon am späten Nachmittag Magnani-Rocca, blie-ben nicht bis zum kalten Büffet. Ich war von den Träumen Annas so beeindruckt, dass ich auf der Heimfahrt von nichts anderem sprach. Wir fuhren von Traversetolo in Richtung Apennin, man sah die schneebdeckten Berge der Emilia, und ich sagte zu Hannah, wir sehen uns ja nun hier im Auto, und zugleich sehen wir dort auf die Schnee-berge, mit den Gedanken sind wir jedoch immer noch in Magnani-Rocca bei Annas Gruselgeschichten, wenn das, so oberflächlich gese-hen, nicht auch drei-vier "Filme" sind. Ich muß die ganze Zeit daran denken, dass ich meinen Roman nicht mehr einfach so lassen kann, wie er bisher war, ich brauche einen neuen Anfang. Nämlich diesen. Und ich brauche solch ein wirkliches Netzwerk, wie es Anna ge-schildet hat. Aber weißt du, ich freue mich jetzt sehr, auch wenn ich gestreßt bin, weil da von den Bildern Mattiolis diesmal zum erstenmal kein Funke zu mir übergesprngen ist, und ich mach mir Sorgen, dass ich alt werde. die Wahr¬neh¬mungen abbnehmen
Nein, nein, protestierte Hannah, ich glaub das nicht, du bist eben in deiner Phantasie sehr mit deinem Roman beschäftigt.
Ja, Hannah, ich freue mich in Tat, dass ich jetzt meinen Roman so mit dir erleben darf, und weiß jetzt auch, warum ich solches Glück empfinden kann, wenn ich meine Collagen im Roman zusammenbrin-ge, weil ich dann jenem Netzwerk nahe komme. Eine Art Engelarbeit: Je mehr Einzelszenen oder auch Fragmente sich gegen¬seitig anziehen, dichter werden, ein an¬näherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden "Sinnarbeit", die sich eben einem Unerreichbaren, ei-nem verborgenen Gan¬zen annähert. Personen und Ereignisse ziehen sich auch so an, keiner weiß warum, der innere Sinn aber, der ist nur fühlbar; nie erklärbar, du wunderst dich ja auch, wenn das Telefon läutet, du hast eben an Pia gedacht, und sie ist am Apparat;. und ei-gentlich müßte ich meine Personen, da sie ja zum Teil in der "Zukunft" leben, oder solche, wie mein Doppelgänger Nicco, in der Ver-gangenheit, aber auch jene, die "dort" sind, wie Mattioli, gleichzeitig hier jetzt "mitfühen", in mehreren Spalten, dass sie sich aber dann ihre Bewußt¬seinsströme verschränken, überschneiden: sie selbst dann plötzlich hier auftauchen wie Geister. Und ich oder du bei ihnen auch als Phantom erscheinen. Was allerdings gefährlich sein soll, Verstö-rungen hinterläßt.

Weißt du, was mich ein wenig stutzig macht? Du sagst, es vergehe eigentlich keine Zeit, es geschehe alles gleichzeitig. Dabei sehe ich doch, wie mein Vater altert, sich verändert ... Und wir, du hast doch vorhin dein Lamento angestimmt! Das Gesicht ist auch im Spiegel zu sehen.
Es gibt wirklich nur diesen Augenblick. Sonst nichts. Das heißt, auch er ist schon vergangen. Und das Gedächtnis, die Fakten selbst sind vergangen. Und auch dein Körper ist nicht der, den es vor einem halben Jahr gegeben hat. Es sind ganz neue Zellen, die ihn möglich machen. Das Erscheinungsbild aber ist da, nach einem bestimmten Wissen, das zu deinem Bild gehört, und dieses dann herstellt. In die-sem Wissen ist nicht nur das, was gewesen ist, sondern auch das, was sein wird, gespeichert.
Das ist so schwierig, kaum zu verstehen, sagte Hannah.

Aber nur, weil wir so eng denken, nur faktisch, also in einer Illusion gefangen sind. Denn eigentlich ist jene andere Möglichkeit viel plausibler undunserer Reife näher, sagte ich. Ist nicht auch die Zu-kunft andauernd da. Denk nur, du fährst doch jetzt genau diesem Ge-danken nach: ich will jetzt nach Hause kommen. Alles andere ist die-ser Zukunft untergeordnet, die du doch herbeiführst, verwirklichst ...


13.4.-22.4 Besuch L. Bidian und Katja. Schlechte Mischung Freund-schaft- Vermieter.
Und lernte K. dann kennen. Hart. Egoistisch. Kaum Zugang zu mir. Kein Interesse an meinen Gedanken und Arbeiten. Hörte weg. Redete monoman. Und Rechthaberisch. Am Schluss dann mein STI, das ich ihr widmen wollte, abgewiesen. Das bleibt. Aber als hätte ich etwas verloren, und hatte es auch. Mein e Emotion, meine Erinnerung sträubte sich dagegen. Es tat weh. Siebenbürgen und die alte Wunde gehört dazu.


23. 4. Und heute ein anderer Abschied. Von Circel (Flocki). Harn-stoffvergiftung. Urämie? Morgen soll er eingeschläfert werden. Es ist kaum vorstellbar. Auf dem Boot heute da war jede Ecke von ihm be-setzt. Er war ja auch Kindersatz. Und dieses Töten widerspricht mir. Ich würde ihn lieber sterben lassen. Er hat ja kaum Schmerzen, ist ganz vernebelt. Aber L. ist da entschlossener als ich. Auch dieser "kleine" Verlust tut weh, er war unser Hausgenosse seit 17 Jahren.


Mein Gedicht in Marciana vom 30. Juli 94. Heute neu geschrieben, wo es leider, leider nun endgültig gilt, du warst noch fast neun Monate bei uns:

EINE HUNDEBALLADE FÜR FLOCKI, UNSERE LIEBSTE KLEINE KREATUR
Auch wenn du gehst, bleibst du erinnert hier,
warst siebzehn Jahre mit uns kleines Tier.
Warst hier, wir beide haben diese Bilder
noch ins uns:
du kamst als kleines Knäuel, ein Tierheimarmer
früh zu uns.

So ruh in Frieden, geh zurück, woher du kamst,
wir bleiben hier und trauern lang,
und suchen dich
noch eine Zeit in jedem Winkel unseres Hauses,
und wo du saßest, liefst und belltest ist ein leerer Platz,
der wehtut, den du mitnahmst, kleiner Kerl,
den wir gemocht, der lang in unserem Leben war,
und uns beschenkt mit dem Bellino-Wesen.
Du, Flocki, liebster Hausgenoss seit Jahren.

Wir suchen dich wohl noch in unseren Träumen,
dort, wo dein kleines schwarzes Bild uns bleibt.
Vielleicht begrüßt du bellend uns, wer weiß,
in einem Himmel, den wir ahnen, und nur fühlen können,
vielleicht sehn wir uns später einmal wieder, wer weiß.

30. Juli 1994/ 24. April 1995

Ob mich da auch eine Schuld trifft, weil er für L., auch für mich, der Kindersatz war?




24. April. Nachts bellte Flocki gellend, wir konnten ab 4 Uhr nicht mehr schlafen. Er hatte Schmerzen. Um halb neun fuhren wir zur Tierärztin in Camaiore, er lag schon mit seinem Leichentuch eingewi-ckelt halbtot in seinem Körbchen. Die Ärztin führte eine Kanüle ein, in die kaum findbare Vene. Ein starkes Schlafmittel und dann das Gift. In Sekunden war der kleine Kerl tot. L. weinte, hielt ihm das Köpf-chen die ganze Zeit, ich auch. So humanisiert man die Kreaturen. Wir fuhren wieder nach Hause mit dem kleinen Leichnam. Und begruben ihn zwischen den Tannen, Weihnachtstannen, wo er ja auch immer mit dabei gewesen war. Ein kleiner Carrarmarmorstein mit seinem Namen, ein Holzstab. Und das Gedicht bekam er zwischen die Pfötchen. L. war gefasst. In mir war es schwer, und ist es noch.
Als wäre dieser Platz entsprechender als das Gequäle des armen alten Körpers. Jetzt ist seine Energie frei.

Auf dem Anrufbeantworter nun auch die Nachricht, dass Roxana tot sei. Goffy hatte angerufen. Vorher sagte es uns Iva. Das ist wirklich etwas anders, als unser armer alter Hund, der sein Leben gelebt hat. Sie hinterlässt einen kleinen 22 Monate alten Jungen: Pietro. Heute Nacht ist sie gestorben.

Was wirklich wahr ist, gibts noch nicht.
Und alles andere ist vergangen.
Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages
setzt du auch morgen nicht zusammen.

Am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf.
Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub.
Sprünge und Risse im Blickfeld Und alles
eilt/ Du hältst es notdürftig zusammen

treibst wie eine Mauerblume
Synthese zum Vor-
Schein.

Und wir saßen an diesem Tag in winzigen plätschernden Wellen, es schien in ihrer Sanftheit so, als wollten sie aufhören. Vor dem Sturm ist es meist ungeheuer sanft das Wasser, kleine Seespinnen rennen dann über die glatte Fläche. Netz. Denk du an ... Arachne vielleicht. Über uns ein altes Gefängnis. - Ich las in einer gescheiten Untersu-chung über den Tod, fand mich in der Beschreibung dieses Kreisens an den Rändern des Bewußtseins, das bald explodieren muß, wieder.
Liebe und Tod und die Revolte durchbrechen ein aufgezwungenes künstliches Ich, machen sprachlos. Widerstand gegen die Vaterspra-che, die abendländische. Und die Muttersprache der Gefühle, des All-tags? Und ihr mit offnen Sinnen wahrnehmbares Geheimnis? Dafür sind nicht einmal unsere Sprache, unsere Sinnkonstruktionen geeignet.

10. Juli 95. Schon vor zwei Wochen hatte Goffy jedes Gespräch über Thomas Mann, Literatur und seine Verlegertätigkeit abgelehnt, ja, ge-sagt: Hör doch endlich auf damit. Bei mir hat seit einem Traum von meinem Begräbnis und den Ahnen, ich hab ihn ja euch erzählt, eine Persönlichkeitsveränderung stattgefunden. Mich interessiert nur noch dieses Unaussprechliche, sagte er. (Am 31 Juli wird er 98). Er war still, man konnte nicht an ihn herankommen, und alles, was ich tue und schreibe, kam mir daneben so oberflächlich vor. Es traf mich wie ein Schlag. Und ich konnte nicht schlafen
Heute nun war er besonders abwesend, müde. Er sah L. und dann mich im Laufe des Abends schweigend, lächelnd an, als müsste dieser forschende Blick in uns eindringen, uns enthüllen, damit wir da seien, wo er sich jetzt befand.
Annette sagte, es gehe ihm nicht gut, die Nieren, der Kopf. Und tatsächlich, er sagte, nun müsse er uns viel zeigen, sehr viel, sagte er, dann bat er mich, wir saßen im Garten, von seinem Stammsitz im Zimmer seine Traumbeschreibung zu holen. Er blätterte ewig darin. Ich finde den Anfang nicht, sagte er. Wir warteten. Dann begann er zu lesen: Ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute. , Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um mich. Ich war ers-taunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts usw. Und das las er mindestens zehn Mal, zuerst dachte ich es sei eine raffiniert komponierte Fuge: ich er-wachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und be-fand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts. Ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angek-leidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleu-te, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts...
Dann aber merkte ich, dass er einfach "vergessen" hatte, dass er es schon gelesen hatte. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr. Der Kopf rauchte mir, ich dachte, ich drehe durch, und hörte immer noch seine Stimme: ... ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angek-leidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleu-te, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts.

Freitag, 29. 12. Fax von D. gegen 23 Uhr, harte Kritik an diesem Buch. Gegen 24 Uhr stieß ich Hannah von der Treppe. Sie fiel auf das Handgelenk, die Hand war verstaucht. Sie fiel mit dem Kopf auf den Steinboden. Sie lag da und wimmerte, sie schrie, es war ein Todes-schrei.

3. Januar 96. Feuerbestattung von GBF in Pisa. Ich dachte: Niemals hinab, eingezwängt ins Erdloch. Nein frei, frei zu Asche und Rauch verstreut in die Luft, ins Gras zwischen die Bäume, die weiter in die Ferne und aufs Meer sehen, im Chlo¬rophyll belichtet.


4. Jan. Nach der Einäscherung in Pisa, las ich von Dr. Moodys "Psy-chomanteum" (nach Herodot) "Das Orakel der Toten". Raum mit Spiegeln, wo die Toten befragt werden. Ich baue es nach, es ist ganz einfach. Es kommen direkte Stimmen, einzelne Worte. Liebst du mich? Ich höre ihre Stimme, die es sagt - manchmal höre ich sie noch in meinen Träumen. Liebst du mich? Ja, Ja - und wahre Liebe wird niemals enden. Dann wache ich schreiend auf.


5. Januar. Hier will niemand glauben, dass es die andere Welt gibt. Nach dem Tode aber will es drüben niemand glauben, dass wir je im Fleisch gewesen waren. Ungeheuerlich ist schon die Geburt!


6. Januar. Morgens ging die Tür plötzlich geisterhaft auf. Ich dachte, es sei der Hund gewesen. Doch der saß friedlich auf der Treppe, weil er zur Hündin wollte. Es muss etwas anderes gewesen sein.


Dann die wirklichen Begegnungen: gleich am Anfang des Tages die Nachbarin umarmte mich, wünschte auch mit den Augen alles Gute. Ob das hilft? Wir waren dabei, das alte Auto auszuräumen. Nostalgie. Es zum Schrottplatz zu fahren. Den neuen "Punto" abzuholen. Alle diese Verrichtungen in dieser physischen Direktheit machen ohne Ta-gebuch kein Vergnügen. Ich war deshalb etwas erregt. Gestern mit P. Henkelsekt darauf getrunken, dass ich wieder zum Tagebuch gekom-men bin, das Vergessen aufbewahrt wird. Erinnere so das Gestern: dass ich das Telefonat mit dem verunglückten Jungen unserer Freunde in der Schweiz verschoben hatte, der Arme lag dort mit Skiunfall im Krankenhaus. Mit ihm zu sprechen, wenn niemand mehr an ihn denkt, sei schön, sagte er. Telefonierte dann mit Franca, die ihre Tochter und nun auch ihren Dottore verloren hat. Dann mit Annette R. in London, die Knochenkrebs hat. Begegnung mit Gerardo P., sprachen über die notwendige Verbindung mit den Toten. Und über mein neues Roman-projekt "Engelszungen".


7. Januar. Heute mit Hannah wieder über den allgemeinen Unglauben gesprochen. Über dieses Leben im winzigen Ausschnitt und mit Re-duzierventil. Das müsse "falsifiziert" werden, um zu einer richtigen Haltung zu kommen, sagte ich.


Gespräch mit dem Sohn. dass er nicht mehr leben wolle, sagte er. Nur euch zuliebe bleibe ich noch da, das sagte er an einer Straßenbahnhal-testelle. Wenn ich nur könnte, sagte er, würde ich den Schalter abdre-hen. Eigentlich habt ihr mich nicht gewollt, niemand hat mich gewollt. Ich versuchte ihm verzweifelt das Schöne dieser Welt, die geistigen Freuden, die Berührungen mit der andern Sphäre nahe zu bringen, dass Freitod keine Lösung sei, dass Selbstmörder nachher orientie-rungslos herumirrten, gequält, weil sie der Natur zuwiderhandeln. Er aber: Du hast es ja selbst in allen deinen Büchern beschrieben, dass die Welt sowieso untergeht.


8. Januar. In der Süddeutschen gestern die Rezension von E. Endres über Jean-Claude Schmitts Wälzer "Die Wiederkehr der Toten. Geis-tergeschichten im Mittelalter", Klett, 95. Das Christentum ist nicht gespensterfreundlich. Warum? Auch in der Bibel gibt es kaum Toten-geister. Die Hexe von Endor ist eine Ausnahme. Las in Jaques le Goff "Die Geburt des Fegefeuers" über die gesellschaftliche Bedeu-tung der Jenseitsvor¬stellungen. Die Toten sollen auf uns angewiesen sein, ihre Qual könne so auch verkürzt werden, da sie ja nichts anderes seien als Erinnerte. Ähnlich bei Heidegger, der von Verstorbenen als "Gegenstand eines Besorgens" spricht. In Sein und Zeit. Es sind die bekannten Toten, die nicht zur Ruhe kommen, in unser Leben hinein-reichen. Und auch bei Heidegger gehen diese Toten mit uns um, als lebten sie, und erziehen uns, gehen über irgendeine Vorhandenheit weit hinaus, es sei der Bereich des Noch-mehr. Sowohl Schmitt als auch Heidegger fallen auf die "Erfahrung" rein, und wissen natürlich, dass es um eine "nicht vorhandene Realität" geht, und dass die Toten nur in der Phantasie der Lebenden eine Existenzberechtigung haben. Doch diese imaginäre Existenz könne sehr viel bedeuten. Auch Schmitt meint, was in unserer Zeit noch lebe, was noch nicht aufge-nommen sei in Frieden, der das Gegenteil eines schuldhaften Verges-sens sei, arbeite an einer Wiederkehr des Verbrechen von Auschwitz, von Katyn, von Algerien, von Bosnien.
Und hier auch Celan: die Sinnlosigkeit des Todes darf nicht sein!

9. Januar
Zu Rühmkorfs "Tabu I"

Es ist schon so wie du sagst
was du sagst zu den "fleißigen alten Kerlen"
lieber Rühmi nur fehlt noch
"in Ewigkeit Amen" und dass wir sie nicht mehr teilen
wie früher die großen Ströme
nach dem Ende der Großen Teilung
kalt war der Krieg doch wir lebten
jetzt werden die Kriege heißer
und wir sind kalt und kälter geworden.

Auch ich bin beim nervösen Flackern
angekommen und hoffe etwas gefunden zu haben
alter Freund
dass die Erbsünde eine reine Lüge ist
an die alle inklusiv meiner noch glauben
auf Sand gebaut auf Kindermärchen ist unsere Angst
Ob Lena Jenissei der Rhein Mississipi
die Donau auch und warum so exotisch
die Wolga sogar hier ach wie heißt er
Po natürlich und du denkst an Ärgeres
wir am Arsch der Welt
teilst mit keinen Armen wo andere nur austeilen
Jahre und Angst

Es stimmt früher da gabs weniger Gitter Chemie und Atome
offensichtlich nackter die Welt und aus-
gezogen ist sie so gegenwärtig und kommt der Wahrheit näher.




10. Januar. Ich sagte zu Anna, dass sich seit langem schon der Zu-sammenbruch der materiellen Welt vorbereite, also ein neues Para-digma nötig sei ( verwies auf K. Poppers Buch "Logik der Forschung") und wagte zu sagen, dass die "Aliens" von dieser Katastrophe sprä-chen, sie rufen zur Bewußtseinsveränderung auf, sagte ich mit Nachdruck.

Anna glaubt nicht daran, meinte, ich sei auf dem Irrweg. Ich aber sprach von einem Gewissenskonflikt. Und dass sie zu angepaßt sei.
Wieder ein Traum mit Ruth, der Fotografin Sie stellte diesmal die Linse ihrer Kamera genau auf meine Stirn ein, und die Bilder began-nen zu kreisen, sich schnell zu bewegen: In dem Augenblick war ein geflügeltes Pferd zu sehen, und das Pferd, das durch die Linse zu se-hen war, wandte uns scheinbar den Kopf zu mit tückisch zurückge-legten Ohren, es sah uns mit rollenden Augen und noch tückischerem Ausdruck an, eine Blesse lief quer über den Kopf. Jeder weiß, dass es aus dem Blut der geköpften Medusa "entsprungen" war, Poesie ver-steinert den Augenblick mit einem inneren Auge; doch es war ein wirklicher Stall: Ende Dezember ...




III

CARRARA

Draußen zwölf Grad Celsius. Der Himmel klar; ein schöner Tag. Über dem Meer etwas Dunst, dem Apennin zu rauchfarben. Fernsicht.
Nicht weit von hier Cararra, der Altissimo, Michelangelos Steinbruch. Den weissen Marmor hat er selber dort oben ausgesucht, zu Fuß ist er hinaufgewandetrt; Regen, Sturm, Nachtfrost. Er verstand Kunst als Widerstand gegen die Elemente, gegen sein eigenes Körperdasein; das verborgene Licht, den verborgenen Namen suchte er.
Ich wohne hier in seiner Gegend. Er ist schon lange tot; seit Frühjahr 1564. Ich gehe in Gedanken mit ihm um, mit ihm, dem Vorbild der Einsamkeit, einem der größten, daher unglücklichsten Menschen.
„Ich leb im Tode. Wenn ich´s wahr bekenne,/ leb glücklich ich im Unglück, möchte´s nicht missen. / Wer nie gelebt von Tod und Küm-mernissen, ins Feuer komme er, darin ich brenne.“

In Serravezza, waren wir heute, dort hat er gewohnt, es wird auch heute noch das Haus gezeigt. Eine Tafel. Serravezza am Zusammenfluss des Rimagno und der Ruosina, welche vereint den Namen S. erhalten, es hat auch heute berühmte Marmorbrüche, sie wurden von Michelangelo im Auftrag LeosX. 1517 angelegt, es hat Marmorschneidemühlen. Zu Seravezza. gehört auch das Dorf Ripa mit in neuerer Zeit eröffneten Quecksilber- und Zinnobergruben.
Als Michelangelo 1517 hier war, hatte er die Sixtinische Kapelle schon fertig ausgemalt, (von 1508 bis 1512 hat er daran gearbeitet). Und wenn ich hier auf seinen Spuren nachreise, habe ich natürlich an-dauernd die Sixtina im Kopf, denn ich hatte das Glück gehabt: ich hatte vom Direktor der Vatikanischen Museen Mancinelli und …. Den Auftrag erhalten, an der großen Dokumentation der Restaurierung mitzuarbeiten. Zum technischen Text des Chefrestaurators die Bildmeditationen zu schreiben. Vier Jahre lang durfte ich vom Gerüst in der römischen Kapelle „Seharbeit“ leisten; die vier Bände im Quartformat „Das neue Licht Michelangelos“ sind inzwischen bei Faksimile in Luzern auch erschienen.


Gedichte



Die Sixtinische Kapelle in Rom
(Aus meinem Roman: „Der Vertweser“ neuer Titel: „Romans Geister“)

Am nächsten Morgen Besuch in der Sixtina. Ja, die Sixtina. Hannah freute sich auf die überschäumend bunten Bilder, die sie "Diademe" nannte, sie hatte sie schon oft gesehen; alte Bekannte. Sie brauchte nicht wie Templin Namen und ein ganzes kompliziertes Gespinst von Deutungen dazu. Sie entzückte einfach das Blau Marias. Oder das Grün des Zacharias. Das Feuerrot des zornigen Engels oder das viel-farbige Schimmern der Schlange. Nur die Leute störten sie, das Ge-filme und Fotografieren, das Gesumme und Gestoße. Die Sixtinische Kapelle aber ist eine Sache für sich, hatte Templin entschieden. Und Hannah lächelte darüber, als wäre das nicht sowieso klar. Für uns in diesem Augenblick, nur für uns, hätte sie gerne gesagt, doch sie wuß-te, daß Templin damit die eifersüchtige Einsamkeit des Buonarroti meinte. Erst jetzt konnten die zwei Meter hohen Figuren: wie entweiht ganz nah: vom Gerüst aus nun auch von fremden Augen betrachtet werden. Den Papst Julius hatte der Buonarroti fast vom Gerüst gewor-fen. Von unten sah man weniger, die Propheten und Heiligen waren dort oben, zwanzig Meter hoch, nur klein wie sich Entfernende, Ent-schwebende wahrzunehmen.
Die Vier staunten, sahen die "Diademe" dort oben an der Decke, redeten allerlei Quatsch dazu, fast schadenfroh notierte Templin jeden Unsinn, den sie von sich gaben, weil sie gar nichts begreifen konnten. Hier ist´s besonders deutlich sichtbar geworden, daß man nur sieht, was man weiß, dachte er. Aber gehend weiß man oft besser Bescheid: Im Kapellenraum gingen die Vier jetzt dem Altar zu; Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung - Zeitenende am Altar und dahinter das Jüngste Gericht. "Du gehst zugleich auch dem Ur-licht, der Erschaffung der Welt zu", sagte Templin: "Seht, ist es nicht ein merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn: Grenze der Welt. Seht, an der Decke die Erschaffung des Lichtes, der Pflanzen, der Sterne, die Erschaffung Adams, Evas, und immer weiter hinab dem Ausgang, der Außenwelt Roms zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. Damals konnte etwa die Tragik, nicht zu Gott, zum Einen zu kommen, noch symbolisch dargestellt werden. Sogar die Trunkenheit des Schmerzes, der Teilung. Immer wieder erscheint dazu in der Malerei der Renaissance und des Manierismus Poros, der trunkene Gott der unerschöpflichen Fülle und des Reichtums, nur wenn wir unser kleines Ego und die dazugehörige Uhrzeit samt Zeit-planung aufgeben, uns öffnen, können wir daran teil-nehmen! Als müßte alles, was die Tradition zu bieten hat, aufgeboten werden, um sich jenem Einen, sich Gott, dem Licht anzunähern. Neun Deckensze-nen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer größere Entfer-nung von Gott und dem Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen. Das verwirrt. Logik und Wirklichkeit werden an der Decke buchstäb-lich auf den Kopf gestellt, die Figuren stehn Kopf, den Himmel als Abgrund über sich. Seht nur, wenn ihr die imaginäre Architektur als eine Perspektive seht, dann die Vorfahren Christi in den Lünetten, weiter die Decke mit der Urgeschichte, dann den Gang zum Altar, mehrere Perspektiven kreuzen sich an der Decke in vier Blickpunkten. Aufgelöst wird auch jede Chronologie und Richtung in einem Riesen-geflecht eines Konkordanzsystems der Bedeutungen im Kapellen-raum. Um alle Allegorien und Verweise zu begreifen, müßten wir Re-naissancemenschen sein..."
"Vielleicht ist dieses Konkordanzsystem nur noch abstrakt heute in der Mathematik möglich", warf Cris ein.
"Es sind Gleichnisse, nach Ortega Schöpfungsgeräte, das Gott im Innern seiner Geschöpfe vergessen hat", sagte Rut.
"Ausgangspunkt der Sixtina ist ja die hebräische Bibel", sagte Templin, "wo jeder Buchstabe zugleich Zahl ist, ein Zahlensystem al-so, Zahlensymbolik, ein Ideengeflecht des Lichtes, Proportion ge-malt."
"Lichtmetaphysik? Ich denke da an die Biophotonen!"
"Ja, genau, Lichtmetaphysik. Zahl, Ton, Maß, Maße, Rhythmus: Die Wellen stellen Zeiten, Räume, Dinge, Schichtontologien her. Mi-chelangelo war Neuplatoniker, das Licht ist Gott: die Eins, das Eine. Hier, seht, da strahlt es vom Altar her. Seht ihr dort oben an der Decke in der vierten Sequenz die Erschaffung Adams durch die Fingerberüh-rung der Eins: Digitus paternae dexterae. Und nur wer sich auf die re-naissance-theologische Allegorese, vor allem auf die Zahlensymbolik einläßt, kann eindringen und begreifen. Ohne dieses Deutungsmuster bleibt vieles unverstanden. Warum wird Adam in der vierten Sequenz erschaffen? Was bedeutet überhaupt Adam? Wir müssen es hebräisch lesen, denn die Bibel ist in dieser Urschrift geschrieben, wir müssen alles auch als Zahl verstehen, da im Hebräischen jeder Buchstabe einen Zahlenwert hat, nur so sind die schönen naiven Geschichten vom Paradies, von Adam und Eva usw. als Schöpfungsgeschichte und nicht als naive Kindergeschichte deutbar. Adam: Eins und Vier, die vier Elemente, die sich mit Gott, der Eins, oder auch dem theologisch verstandenen Nichts, wenn man will, verbinden. Michelangelo kannte diese Deutungen der biblischen Bildert im Werk Scechina des damali-gen Hoftheologen beim Papst Julius II Ägidius von Viterbo, Julius II ist der Papst, der die Sixtina in Auftrag gegeben hatte, Ägidio hatte die Kabbalah gedeeutet, jenen einzelnen hebräischen Buchstaben; die Kabbalah ist zur Deutung der Sixtina unverzichtbar. So z.B. das Wort Adam, es wird hebräisch a-d-m geschrieben. Die Vokale, außer a (1), durften nicht geschrieben, nur gedacht werden. Sie sind die Gnade Gottes in unserem Kombinationsvermögen. Die Konsonanten sind der Körper, dem dieser Geist noch eingehaucht werden muß, wie es Gott, mit Adams Körper tat. A ist Er, die Eins, Aleph, d, Daleth, ist die Vier (Elemente), m, Mem, die Vierzig, das Wasser oder die Zeit. Durch Adam bindet Gott sich an die Elemente (Körper) und an die Zeit. Das alles aber ist nicht abstrakt, Michelangelo übersetzt es in Farbklänge und Figurengeflechte, er verbindet diesen "Sinn" wieder mit dem schmerzhaft Sinnlichen des Körpers, will den Bruch heilen, der nach dem Sündenfall eingetreten war, wo Gott Adam die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis isolieren, abreißen läßt. Essen heißt hebrä-isch a-chol. A ist die Eins, chol heißt ´alles´, das Viele (auch Klang, der in allem gespeichert ist). Sonst ist das Essen also ein Verbinden von Einem und Vielem, Gott (A) und den Elementen. Bei Adam aber ist es eben ein Trennen, ein Abreißen. Daher der Tod ab jetzt, und je-des Herstellen mit dieser abgerissenen Frucht (der Erkenntnis) ver-mehrt die Unzahl, die Entropie, würde man heute sagen, also den Tod."
Rut, die die Kapelle nach der Renovierung noch nicht gesehen hat-te, schwieg. Es schien, als hörte sie Templin gar nicht zu, als wäre sie für sich mit den Ansturm der Bilder beschäftigt. Dann sagte sie hart:
"Ich kenne eine ganz andere Sixtina, Roman. Ich gebe zu, dieses Changeant kommt deiner Licht-Deutung sehr nahe, ja ihr entgegen, du hast mir früher auch schon einiges erzählt. Doch vielleicht literaturi-sierst du zu sehr... und dann, ganz ohne jede Einschränkung möchte ich diese Popfarben nicht gutheißen, sie sind mir manchmal zu kind-lich- knallig und wie nackt. Ist da nicht auch einiges von den Schatten abgewaschen worden, wie der Professor Beck aus den USA behaup-tet?"
Templin sah Rut an, als habe sie etwas Verbotenes gesagt: "Ich ha-be das Glück gehabt, oben auf dem Gerüst und ganz nahe den Gestal-ten der Kapelle etwas von Michelangelos äußerst intensiver schmerz-licher Sinnlichkeit zu spüren", sagte er laut, fast schreiend, daß sich ein japanisches Paar, das eben filmte, entrüstet umwandte; Templin war unangenehm davon berührt, daß ausgerechnet Rut seinen Enthu-siasmus zu stören wagte, ja sein Wissen nicht würdigen wollte. "Es schien mir", sagte er heftig und ein wenig gekränkt: "Es schien mir, als breche endlich einmal schmerzhaft Realität durch die Mattscheiben unserer Wahrnehmung! Unsere Sinne sind atrophiert, so daß wir nicht einmal mehr das Furchtbarste, den Glaubensverlust, den Michelangelo noch als schrecklichste Krankheit empfunden hat, wirklich als Un-glück und Verlust empfinden können, sonst wüßten wir nicht nur, sondern empfänden es mit allen Sinnen, was mit Utopieverlust ge-meint ist. Und diese neu entdeckten Farben sind eine enorme Provoka-tion, als würde dich ein elektrischer Schlag treffen: 500 Jahre fallen plötzlich zusammen, jene unheimlich starken Farben berühren distanz-los dein Auge. Wir sind dafür nicht gewappnet. Unsere Lebensum-stände sind so, wir registrieren nur, anstatt wahrzunehmen, es dringt nichts mehr wirklich in unsere Sinne. Ja, besonders deutlich habe ich diese Atrophie der Sinne oben auf dem Gerüst gefühlt, als die jungen frischen Farben, die enorme sinnliche Spannung des genialen Renais-sancemenschen Buonarroti wie Wahrnehmungsschläge auf mich ein-drangen, ich die riesige Sinnen-Distanz plötzlich spürte, und diese Farben am liebsten mit der Zunge berührt hätte! Symbole erschienen als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transzendenz, Kräfte, die auch im Leben und in der Geschichte heute wahrscheinlich noch stärker als damals akut wirken, wir sind aber unfähig, sie zu empfinden, gar, da-nach zu handeln, obwohl jetzt möglicherweise ein Jahrtausendebruch stattfindet. Man sieht nur, was man weiß. In der Sixtina aber sind die Bild- und Farbkräfte noch originärer Art, bewegen sich in einem lang-samen und großen Farbrhythmus, sie berühren in unserem Seelen-haushalt vielleicht jene Schichten, die durch den Glaubensverlust und die Hektik lahmgelegt worden sind. Hier aber an der Decke der Sixti-na wird versucht, das Quälende, Zerschlagene zusammenzufügen, zum Einen zu kommen. Jene Schichten in uns scheinen aufwachen zu können. Ich empfand eine sehr starke Erregung, jenes mysterium tre-mendum wohl, ein Zittern überfiel mich dort oben: Todesbilder, die ich in Zeitlupe sah, alle aber im Gesamtkomplex Kapelle in Richtung Altar, Licht, Erlösung, dahinter: das Jüngste Gericht. Und alles ist überwölbt vom Flug, Flug der kleinen Taube, dort im Fenster der Arche, über die ganze Decke bis hin zu Jonah fliegt diese weiße Tau-be, und Jonah heißt auf hebräisch TAUBE: Flug des befreiten ´Heiligen Geistes´, der in unserem Körper eingesperrt ist, der Astral-leib, der uns einmal in den Himmel führen wird."
"Also, wenn ich ehrlich bin", sagte Cris, "mir hat eigentlich die alte Sixtina mit den grauen diskreten Figuren besser gefallen in ihrem Schleier, als wäre da das Geheimnis besser gewahrt gewesen, als in diesem nackten Farbenrausch. Der Sinn ist nicht das Sehen, freilich der FLUG. Ist er nun nicht zu nackt?"
Hannah, die Schweigsame, tat etwas, was sie sonst nie tat, sie sagte Cris ins Gesicht: "Du verstehst gar nichts davon, Herr Physiker." Legte eine Pause ein, und meinte dann besänftigend: "Ich kann den ersten Eindruck nicht vergessen, vor allem als wir einmal dabei waren, wie ein Fenster geöffnet, also eine Probe aus der verschmutzten Decke he-rausgewaschen wurde, wir standen da, die Decke schwarz wie die De-cke eines alten Bahnhofs, und da brach plötzlich wie durch ein geöff-netes Fenster der Frühling ein."
"Und ist wirklich nichts abgewaschen worden?" fragte die Fotogra-fin mit der ihr eigenen Skepsis in der Stimme...
"Doch, schon", gab Templin rasch zu. "Aber es gab ja wenige Ri-tocchi, Nachbesserungen mit Tempera, Michelangelo hat alles ganz allein, die riesigen Flächen allein ausführen müssen, da hatte er keine Zeit für Schattierungen. Allerdings beim Gesicht der Schlange war ich selbst entsetzt, früher war's ein recht verruchtes Gesicht gewesen, und nun wirkt es wie das rosige Gesicht einer braven Hausfrau. Vor allem aber ist diese Patina, also die Zeitarbeit von fünfhundert Jahren abge-waschen worden, das geben die Restaurateure selbst zu."
Der Streit dauerte nicht lang. Rut, die Templin ganz nah fühlte, sah auf ihn, war erregt; Hannah aber war mit Cris vorausgegangen, auch sie hatte ihre Erfahrungen mit der Sixtina und erzählte dem Physiker davon, wies nach oben, erklärte ihm die vielen Figuren. Sie war je-desmal mit auf dem Gerüst gewesen, die sinnvollste Zeit ihres ge-meinsamen Lebens mit Templin. Gewesen? Und sie erzählte Cris, lachte und sagte: "Damit ist es nun leider vorbei, endgültig. Aber der starke, unvergessliche Eindruck bleibt, eine AURA, die dein Leben von nun an bestimmt, und auch einiges Wissen bleibt. Weißt du, wo-rauf Eva so erschrocken sieht, warum sie sich nach der Vertreibung an Adams Brust duckt? Nicht etwa auf den drohenden Feuerengel der Vertreibung sieht sie, sondern auf Adams Schulter, wo der übermütige junge Buonarroti einen Riesenphallus eingeritzt hat; ihr Schrecken ist dieser Knüppel." Und am liebsten hätte sie gesagt, und das saugende Loch, der Abgrund dieses Lebens und aller kommenden, davor müßtet ihr Männer auch Angst haben. Schwieg aber. Erzählte vom verrückten Bruno, dem kleinen Heiligen, dem Restaurator mit dem brennenden Blick eines Mönchs, der am findigsten gewesen war.
Templin schwieg. Rut schwieg auch. Und beide sahen gemeinsam die Decke entlang. Plötzlich lachte Templin laut und bitter auf, es war wie ein scheppernder Klang auf Blech, er zeigte auf eine Lünette nahe am Altar, auf Ruth und den verbiesterten Alten am Krückstock, Booz, ihren Pseudomann, sie, die Witwe eines Jüngeren und deshalb Freien. Templin, der sich als Alter fühlte, täglich die Jahre in sich wie eine Krankheit wachsen spürte, die unheilbar in ihn eingebrannt waren, sagte bissig zu Rut, die stumm neben ihm herging, den Hals schmerz-haft hochgereckt in Richtung der Lünette: "Nicht jede ist so sanft wie jene geschlagene junge Frau Ruth, zärtliche Linien im kommenden Licht da oben. Und die Ruth, sieh, wie sanft sie dort oben ist, trat an-scheinend sinnlos aus dem Leben und aus der Erscheinung zurück in die Majestät des Absurden mit diesem alten Ehemann, denn nur so kam sie zum alten Booz. Weißt du, was ich dazu geschrieben habe, in der dreibändigen Sixtina-Dokumentation, die ich dir geschenkt habe, du kannst es zu Hause nachlesen? Der Alte (das Alter) nimmt sie, ret-tet sie nach dem Tod des Jungen. So stellt sich ihr hoffnungsloses Le-ben wieder her..." Templin erschrak, hatte er zuviel gesagt, es ist fast anzüglich, dachte er, was ich da sage! Und er sah jetzt erst wieder die-se zurückgehaltene Trauer in Ruts feinem Gesicht, dessen Blick sich in die Figuren verlor; die Fotografin begriff jetzt erst, was sie längst gesehen und in sich aufgenommen hatte, seit Jahren. Langsam, wie unbeabsichtigt entfernte sie sich von Templin, ging genau zwischen ihm und Cris, der ihr den Rücken zuwandte, so daß nur sie ihn sehen konnte, er war nun weit entfernt, abwesend für sie, sie in einem leeren Zwischenraum, den nur manchmal einer der Besucher überquerte.

32
Templin blieb allein. Die Erinnerungen überfielen ihn bei jeder Bildsequenz. Und er war selbst verwundert, jetzt fielen ihm sogar Bruchstücke seines alten Textes ein, vergangene Zeit wie ein Gespinst, Sehgespenst: Trauer der Bilder im Kopf. Überall das Brennende, alttestamentarische FRAUEN, Michelangelos grausame und krude Sinne, Schmerzen, zu heftige Sinne, die die Blässe der Gedanken durchbrachen. Oben auf dem Gerüst das flammende Gelbrot der Joa-tham-Lünette, Gewänder der Mutter Joathams: Durchbruch durch die Zeit, Schwindel, der Sog, Wirbel aus Rot: überlebensgroß die FRAU, Stromstoß von Gefühlen, mußte sich am Gerüst krampfhaft festhalten, Angst, vom Gerüst in die Tiefe zu fallen, diese Flamme einer unbe-kannten Leidenschaft, als Farbe berührt, als Geruch, Fallen der Farben ins Herz, Rotmusik, gelber Pinselschlenker - das Rotbraun der Schulter in heftiger Bewegung: Faltenwurf, Kreuz und zuckender Blitz. Großer Rhythmus - feuerrot, ein viel zu starker Blick, ein Sog, ein Strudel, Rot, er glüht, als wäre er verliebt... fällt der Grund einer ganzen Himmelswelt in seine Netzhaut? Alltagsblick, Bilderknecht; am besten die Nacht: DU BRICHST DAS MATTE DENKEN AB... DU HEILST DIE SCHWACHE FLEISCHLICHE GESTALT ... Die blonde schöne Frau im halb geöffneten Morgenrock... darunter nackt, auf der Fensterbank die roten und mauvefarbenen Geranien, kostbarer Schrank, runder Spiegel, darin ein altersgeschwärztes Bild an der Wand und zu sehen im Bild des Traumbildes ein weißbärtiger Mann mit weißer Halskrause, drei Finger wie zum Schwur erhoben.






DER SÜNDENFALL. Kopie
Cappella Sistina

Der Anfang ist ein Baum in
Seinem Alphabet.

Was auszuführen wäre, das ist
ein weißer Fleck, und steht
auf einem andern Blatt,

unfertig, wie das Leben ist,
damit es sei.
Der Sündenfall: Wer ihn
besetzt. Denn der verliert, was
möglich ist: sie
nannten ihn auch Gott, den Herrn,

der sprach den Baum.
Wer aber spricht uns
frei.


DS/Januar 89


Die Musik von Michael Reudenbach ist ein Echo auf dieses Ge-dicht, sie löst Namen und Wörter wieder in ihren Ursprung, in Klang auf. Und wir wissen: die Welt besteht aus Klang. Das Gedicht aber ist Echo auf ein Bild von Carlo Mattioli, eines zeitgenössischen italieni-schen Malers, das den "Sündenfall" aus der Sixtinischen Kapelle auf bewegende Weise deutet: dass wir das Geheimnis verlieren, wenn wir es aussprechen.
Michelangelos Sixtinische Kapelle ist ein Echo auf die Genesis, auf Namen also, freilich auf hebräische; in deren Mittelpunkt steht eben jenes Geheimnis: ER, der unaussprechbare NAME. Den wir nur im Schweigen erreichen können.
Das Gedicht hier dient der Musik als eine Art Partitur; diese Parti-tur ist seine innere, UNSICHTBARE Form; sie allein macht das Un-mögliche möglich, etwas zu umkreisen und zu vermitteln, jenen "wei-ßen Fleck", der auf einem "andern Blatt" steht, der sich jeder irdi-schen Ausdrucksform entziehen muß, die ihn fest-legt; Er muß sich entziehen, um das, was Er ist: die reine Möglichkeit, nicht der Ver-nichtung preiszugeben.
Das dritte Kapitel im zweiten Buch Mose, Exodus genannt, gibt ei-ne sehr schöne Erklärung dazu: dort fragt Moses, Verfasser und Hauptfigur in einem, Gott nach dem Namen. Die Antwort lautet: "Ich bin, der ich bin." Doch läßt sich dieses "Ebysch asher ebysch" genauer als reiner Widerspruch erkennen und in eine seltsame Möglichkeits-Form übersetzen: ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE, oder: ICH WERDE SEIN, WO ICH SEIN WERDE.
Die unsichtbare innere Form des Gedichts geht von diesem Noch-Nicht aus, das aber trotzdem schon da ist. Darauf baut eine sich selbst aufhebende Ringkonstruktion; diese arbeitet mit Abaelards SIC ET NON; Passage für Passage wird das Gesagte, das ja schon da ist, zu-rückgenommen, um das Kommende möglich zu machen, so frißt sich das Gedicht selbst auf, und damit auch den Namen als Handelnden. Jener Name also wird gelöscht, der die Welt, in der jüdischen Überlie-ferung als Baum vorgestellt, durch Sprechen erschaffen hat ( "Im Anfang war das Wort"). Dieser von Ihm gesprochene Welt-"Baum" aber wird sofort zurückgenommen durch das, was "auszuführen wäre", nämlich durch den "weißen Fleck". Was auszuführen wäre, muß nämlich "unfertig" bleiben, unfertig wie das Leben, "damit es sei", sonst wäre es ja fix und fertig und damit tot und erstarrt.
Der Baum also, der am Anfang vorgestellt wird und Sein Alphabet, erweisen sich als menschliche Fälschung, wie alles über Gott Vorges-tellte und Gesagte. ("Du sollst dir kein Bildnis machen".)
Adams täglicher Fall durch uns besteht also darin, diesen unbetret-baren weißen Fleck zu "besetzen", ihn in Gedanken und in Kirchen einzusperren, Gott, damit uns, die Freiheit zu nehmen, indem wir ihn festlegen und so unmöglich machen.
So kommt das Gedicht als eine Art Rondo in der Wiederholung von Baum, Blatt, Baum in einem dramatischen Prozess des Ver-schwindens zum Anfang zurück. Jener, der den "Baum sprach" erweist sich als falscher Name, selbst als Genannter ("sie nannten ihn auch Gott, den Herrn"), und kann uns so nicht frei sprechen. Wer aber könnte uns frei sprechen? Vielleicht genau diese Bewegung der Aus-löschung, die sich in der Struktur des Gedichts, der Musik unsichtbar hinter dem Ausgesprochenen vollzieht: der Zustand des Loslösens, wenn wir alles Gedachte, Vorgestellte und Gewußte in uns löschen, hier schließlich auch das Gedicht und die Musik, die uns bis zu diesen Punkt gebracht haben. Alle alten Weisheiten vom Zen bis zur christli-chen Mystik kennen diese Katharsis, am schönsten hat sie Dante in seiner Divina Commedia ausgedrückt: bevor das Ich auf seiner Him-melswanderschaft das strahlende Licht und die Liebe ertragen kann, muß es verschwinden, wird es vom Frühling in Lethe getaucht, der Berg der Erinnerungen fällt ab, es nimmt Urlaub von sich selbst.
Zu sagen wäre noch, dass der Ton der Verse eine Variation von A (Anfang, Alphabet) ä,ü, ö und wieder zum A oder zum EINEN zu-rückführt.)

(Musik auf der DVD)






Besuch von Freunden aus Florenz. Gespräche über das Eine
Und die Sixtinische Kapelle

Nachmittag um drei rief Luca, der Musiker an: der den "Sünden-fall", ein Sixtina-Gedicht von mir, als Partitur verwenden will. Brachte Rut gleich mit. Gespräch über das Musikstück. Unterschwellig starke Spannung. Dann ging der Musiker. Wir tranken Tee. Worüber spra-chen wir? Hannah kam mit ihrem Bruder in den Raum. War wütend. Krudester Text. Krude Realität. Nacktheit des Geschehens: Und Elektra tat mit, einen Fuß auf, nicht nach einander. Das schmerzt manchmal, auf der Stelle, ein tiefes Loch, als wärs in die Erde gebrannt bis hinab, dachte ich, auf der Stelle Treten ja, bringt viel, und gesammelt.

Glaubst du immer noch daran, dass diese Nahrung wichtiger ist, dass die Seele etwas Wirklicheres ist, mehr Wirklichkeit besitzt, und die Aufnahme eine wirklichere ist, als die die unser Körper mit wirkli-chen Gegenständen, so dass auch das Essen weniger wirklich ist, als dieser Schein über dem Meer, der solche eine Freude macht, wie vor-hin die Zikaden, und jedes Wort, das ich sage, und mich berührt? Aber jetzt hab ich Hunger.
Möchtet ihr Käse und Oliven?
So ist es, ja. Ich spür auch einen gewissen Appetit. Und Wein. Ele, und dort das Gesicht, ein alter Mann über dem Vorberg, als säße er auf einem Pferd, erzählt von dem, was wirklicher ist: der Metamor-phose, den jetzt ists schon eine Art Hundeengel dort, seht ihrs, dort genau über dem Fernsehrelais gegenüber am Kirchturm. Ein rötlich angestrahter Hundeengel mit Feuerkopf über dem Meer nun.

Ich war froh, dass die drei heute platonisch gestimmt waren.

Also erzähl dann du es mir, Michum, bist doch mein Freund, nicht? Doch sag mir, warst du selbst bei jenem Gespräch dabei...?
Der Arzt griff sich an den Kopf: er war ja hier, die Gegenwart nahm zwar ab, aber sie geschah doch!
Du lügst, sagte die kleine Freche.Wir wollen die Lust, und die Wandlung dazu. Denk an TIMAIOS, Lust ist allein durch die Stö-rung, ist durch den Schmerz, Harmonie ist fad. Hast nicht du es gesagt: Begierde, Mut und das schöne Licht des Plötzlichen, ja, das Begreifen, das es einem aufgeht, sind die Drei, und für mich ists das Dritte...herrlich ists wiedererinnert, und all diese vielen Leben, ich war einmal ein...

Schön, hast aber zu lange, Mädchen, deinen Griechen nur aus der Ferne geliebt.
Du hast es selbst gesagt: Bei Proklos im "Timais-Kommentar" die "Ratschläge der Nacht" sind Urquell orphischer Weisheit: diese nächtlichen Eingebungen, Ekstase, auch die Liebesexstase - also Fülle. Doch sind sie nicht denkbar.
Ja, wie eine Erkenntnis des Todes ist das übernatürliche Ergrif-fensein als bacchischer Zustand, sagte er. Bei Ficino etwa: "dublici eb-riatione" 1. sublunarer Exzess. 2 Göttlicher Wahnsinn bei Orpheus, Plotin, Moses, David, Noah? So wärs also die Erkenntnis der EINS, der Zusammenführung, die in Fülle überfließende Befreinung und ein-leuchtende Einsicht gibt? (Moses Erleuchtung im Dornbusch auf dem SINAI etwa: und die Zehn als SCHRIFT? Als Buch? Dieses? Da wä-ren wir also ganz schön heruntergekommen. Worin wir uns befinden, genau im Sinn des Lesers, oder gar nicht.Da nur einen Moment, dann vorbei jetzt.

Als gäbe es Orpheus wieder

(XIII) Sei allem Abschied voran...
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei - und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen (Rilke aus: Die Sonette an Orpheus

1
Auch bin ich aufgewacht, und weiß,
Und bin nun schlaflos jede Nacht,
Der Vogel singt / ich bin ganz im Gehör
Am Baum der diesen Winter uns erfror
Und weiß, dass ich wie dich auch ihn
Zu wenig hier umgeben und geschützt.

Es kommt nun einer, der den Baum nicht kennt
Doch der den armen Platz nun für sich selber nützt

Und dieses Blatt das nicht mehr ist
Doch brennt
MEIN Vogel der aus deinem wehen Herzen singt
Der das Vergangene Leben wieder bringt
Als wärt er allem Abschied voran
Als es uns gab / nun in mir selber klingt.


2
Und dann frage ich dich / mein Gott wie
Alt / sind unsere Gefühle / doch
Und wie neu / diese Welt - wo wir
Hineingestellt sind / Atome in uns
Wie in anderen Dingen Tieren und Pflanzen hier
Elementen auch wir
Und Schluss ach Schluss
Trotz Radar
Und trotz Trotz: haben wir uns?



3
Erweckung

Orphus und Eurydike / so erweckt
An wem / an was
An einen bärtigen Ulyss?

Auch er Atom, na und wohin
Mein Freund / tauch tief in dein
Inferno / wo die Schatten blühn.

Und alles ist
Nichts als Kontur.




UND fragen, ob du hier nicht bestehn musst
Ihr Gesicht / das abfällt / und sich einem Dritten
Zu neigt

Und du warst ja so weit
Und stehst nun vor ihr wie ein Schatten / wie ihrer
Der einmal auch vor dir stand.
Schattengleich. Schattenzeichen. Nun bist du bei ihr
Und einer ist in dir / der weint / bitter ein Kind
Das noch viel Zukunft hat, hier
Du aber weißt / und spaltest dich
Und gehst / lässt sie los
Bist erst im Los / für immer mit ihr.





DAS EINE ist nicht das Licht. Es ist das NICHTS. En-Sof. Der unergründliche Abgrund aus dem das Licht erst bricht. Das Licht wäre der Punkt. Das Eine ist die Nacht. die TRUNKENHEIT NOAH wäre so zu deuten: als trunken von der Passion, Urbild Christi. So sei es bei Hieronymus. Mit Porus, dem trunkenen Gott des Reichtums stehe es im Zusammenhang. Also solch ein Reichtum, JA. Die unerschöpfli-che Fülle. Ein Medaillen-Porträt von Giovanni da Calvino CHRISTI hat die Aufschrift "Porus consilii filius". Trunken also vom Schmerz. Schmerz der Teilung, des Körpers. Bei Noah in der Sixtina sieht man die Spaltung der Sinne als 3 Söhne-Spaltung. Heute ist diese Spaltung der Sinne total, keine Liebe mehr führt sie zusammen wie bei Rilke. Paul Celan hat an dieser Atrophie nach dem Exil im Westen sehr gelit-ten, bei ihm erscheint dieser Schmerz als Extremzustand: "In Streifen geschnittenes Auge," die Qual des Banalen, der Wahrnehmungsver-lust. Schönes Zitat bei Pico, wo gezeigt wird, dass Platon den Reich-tum (an Ideen) (Symposion, aber Kritias: Ratsversammlung der NO-MOI) bei Poros aus dem Hebräischen habe, wo es ebenfalls Poros als Gott des Reichtums gibt und "Sohn des Ratschlags", wie ihn Platon, aber auch Avicenna nennt wie die Kabbala den ersten Grund "raten-den Grund", und der Areopagita nennt daher Christus, als Gottes Sohn, eben Engel des Ratschlags oder Bote Gottes. So kämen wir auch zum "Botenselbst" der Mystiker (Vgl.J. Schulze, Celan, S.37ff, auch über Zelem, den Sphärenleib, unser Christusleib?)

Warum aber 9 Bilder der Sixtina? Hängt es mit den 9 Musen zu-sammen? Und bei den Orphikern mit den 9 Bacchoi. Bei Pico in den "Conclusiones cabalisticae" (Nr.17) Vorschlag jeden Bacchus mit einer Muse zu paaren. Bei Ficino in der "Theologia Platonica" listet er die Bacchoi auf.

UNTERWELT also (Hades) mit Orpheus. Die Muse holen durch Ekstase? Bacchoi, sind sie die Unterwelt, oder die Öffnung selbst? (Vgl. Rilke: ORPHEUS/ EURYDIKE, HERMES.)

Es wäre wichtig, über die Sixtina wieder Interesse für "Poetische Theologie" und Kabbala ganz allgemein wecken.


Erinnert an jenes Ärgernis für sie, mein böser Fauxpas von "Pflichtübung" zu reden, Onan ausgerechnet mit ihr, und nicht an je-nes große Bild der Sixtina aus dem Sündenfall zu denken, wo Eva am Baum hingewendet ist zur windigen Schlange, zwischen Adams Bei-nen wie kurz vor dem Fellatio. Aber ich dachte dabei auch an die "Kunst des Bogenschießens", wie man erst im Loslassen ins Schwarze trifft. Die Seele kann viel erregender sein als der Körper und seine In-tensitäten. Und die Schwarzen Löcher; Wolfgang, unser Musiker, der mit dabei war in meinem Studio, daran dachte, ein Stück aus Null-punkten und Pausen zu komponieren, ins Schwarze zu treffen oder ins Weiße, fragte danach und alle lachten, weil wir im Körper und so obszöne Wesen sind.

Es kräht der Hahn
zum Himmel hinan:
Der Glocken Klagen
Hat elf geschlagen.
Es ist Zeit, diese arme Seele
in den Himmel zu tragen.










IV

LUCCA


Eine der schönsten Seiten über Lucca auf deutsch ist die von Nicola Kowski von der Uni Giessen. Ich setze sie hier rein:

Auf Stein gewachsen statt auf Sand gebaut - Lucca im Norden der Toskana

Daneben verblasst der Schiefe Turm von Pisa: auf dem Torre Guinigi wachsen Steineichen
Pisa, Florenz und Siena, Zypressen im Chianti-Gebiet – das verbindet der Italien-Reisende mit der Toskana. Doch nordwestlich dieser Touristenzentren liegt eine der bedeutendsten historischen Städ-te der Region, die sich ihren ursprünglichen Charme bis heute bewahrt hat. Ein Reisebericht
Wir kommen aus Südosten. Die Autostrada 11 führt von Florenz in Richtung Versilia-Küste. Unser Ziel ist weder Pisa mit seinem berühmten Campo dei Miracoli noch der Strand von Viareggio oder Livorno. Wir sind auf dem Weg nach Lucca, der Stadt mit dem angeblich besten Olivenöl Italiens. Der Besuch lohnt sich nicht nur für Freunde der mediterranen Küche. Was wir auf der Fahrt noch nicht ahnen: Am Ende des Tages wird diese Stadt einen tiefen Eindruck hinterlassen und unser Tos-kana-Bild nachhaltig verändert haben. In ihren mittelalterlichen Gassen haben wir Geschichte und Flair der Region erlebt - ohne uns als Touristen zu fühlen.
Inhaltsübersicht

Wechselvolle Geschichte – obligatorisch für Historiker
Lucca heute - grüne Festung
Sehenswürdigkeiten: Kirchen, Kunst und Kurioses
Entdeckungstour durch die Gassen der Altstadt
Im Zeitraffer: Von der römischen in die napoleonische Zeit
Nacht der tausend Lichter - Luminaria di Santa Croce
Weinberge und Olivenhaine - das Umland

Reiseinformationen im Überblick:
Stadttour Lucca

Agriturismo in den Colline Lucchesi
Ein spannendes Kapitel Stadtge-schichte:
Castruccio Castracani
Ghibellinen und Guelfen
Wolkenkratzer im Mittelalter

Videos:
Auf dem Torre Guinigi
Piazza Anfiteatro
Lucca: Luminaria di Santa Croce
Colline Lucchesi
Montecatini und Valdinievole
San Gimignano



Stadtpanorama mit Uhrturm

Porta dei Borghi


Wechselvolle Geschichte – obligatorisch für Historiker
Aus der heutigen Größe der Stadt lässt sich ihre geschichtliche Bedeutung kaum erahnen: Mit rund 85000 Einwohnern ist Lucca nur wenig größer als Gießen. Aber Lucca ist alt, es wurde schon in vorrömischer Zeit gegründet. Von wem ist unklar: archäologische Funde weisen auf keltische und ligurische Ursprünge hin. Namensgeber waren wohl die Ligurer, die mit "luk" einen Sumpf be-zeichneten. Im fünften Jahrhundert v. Chr. kamen die Etrusker, 200 Jahre später die Römer. 56 v. Chr. sollen sich in der nun "Colonia Luca" genannten Siedlung Caesar, Pompeius und Crassus ge-troffen haben, um ihr Triumvirat zu beschließen. Nach dem Untergang des Römischen Reiches ka-men die Goten und die Langobarden. Sie erhoben Lucca offiziell zur Hauptstadt der Provinz Tuscia – bis die Karolinger diesen Titel im 11. Jahrhundert an Florenz vergaben.
Bis ins hohe Mittelalter galt Lucca als größte und wichtigste Kommune der Toskana. Das Hand-werk, vor allem die Seidenverarbeitung, sowie der Handel florierten und brachten der Stadt Wohl-stand. Dieser weckte Begehrlichkeiten - vor allem bei den Pisanern, mit denen die Luccheser eine lange Feindschaft pflegten. Unter der Herrschaft des berüchtigten Castruccio Castracani befand sich Lucca Anfang des 14. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen und politischen Macht. Eine schwere Wirtschaftskrise veränderte auch die politische Gestalt: 1369 wurde Lucca Stadtrepublik.
In der folgenden Zeit verteidigte Lucca erfolgreich seine Unabhängigkeit – in erster Linie gegen Florenz. Ein bemerkenswerter Erfolg, denn es blieb schließlich die einzige toskanische Stadt, die nie in den Machtbereich der Medici gelangte. Erst 1799 wurde dieses Kapitel Luccheser Geschichte von Napoleon Bonaparte beendet. Er machte Lucca zum Fürstentum - und seine Schwester Elisa Baciocchi zur Fürstin. Der Wiener Kongress sprach 1814 die kleine, aber wohlhabende Kommune dem bourbonischen Herzogshaus von Parma zu. Nach einem kurzen Intermezzo habsburgischer Herrschaft wurde Lucca schließlich 1861 in das Königreich Italien eingegliedert. Zum Anfang ↑
Lucca heute - grüne Festung

1645 vollendet und 4,2 km lang: die Stadtmauer

Gärten im Schutz der Festung

Abendstimmung auf der Stadtmauer

Heute ist Lucca Provinzhauptstadt und ein bedeutender Standort für die Papierindustrie. Auch Zi-garren, Pflanzen und das bereits erwähnte Olivenöl werden in der Region hergestellt.
Das Stadtbild Luccas bestimmt ein gigantischer Festungswall. Zwölf Meter hoch und im Fun-dament ebenso breit umschließt das Bollwerk die gesamte Altstadt. Anfang des 16. Jahrhunderts sollte die Anlage zum Schutz vor den Florentinern dienen. Bis zur Fertigstellung vergingen mehr als hundert Jahre. Danach wurde das Bauwerk nie zur Verteidigung benötigt – zum Glück. Die geschickte Diplomatie bewahrte der kleinen Stadtrepublik nicht nur ihre Unabhängigkeit, sondern verschonte sie auch vor Kriegszerstörung.

Die Festung als Grünanlage

Dom San Martino


Heute erfüllt die Befestigungsanlage andere Zwecke: Die Bastionen und internen Räume des komp-lexen Wehrsystems beherbergen Ausstellungen und ein internationales Studienzentrum. Mit ihrer üppigen Begrünung bildet die Mauer den schmückenden Rahmen der Altstadt - und dient den Luc-chesern als baumbestandene Flaniermeile. Ein Spaziergang, besser noch eine Radtour, auf dem rund vier Kilometer langen Wall ist ein absolutes Muss – von hier aus genießt man einen herrlichen Aus-blick auf die Altstadt mit ihren zahlreichen Kirchen und Palazzi. Zum Anfang ↑
Sehenswürdigkeiten: Kirchen, Kunst und Kurioses
Imposant ist der Dom San Martino. 1060 wurde die Kathedrale von Bischof Anselmo da Baggio gegründet. Der Bischof wurde ein Jahr später Papst Alexander II., der Dom wurde 200 Jahre später vollständig umgebaut. Neben zahlreichen anderen Kunstschätzen birgt er in seinem Inneren das Volto Santo. Das Kruzifix soll ein authentisches Christusbild darstellen und vom heiligen Nikode-mus zur Zeit der Kreuzigung geschnitzt worden sein. Seinen Weg von Palästina nach Lucca fand das „Heilige Antlitz“ angeblich im 8. Jahrhundert auf einem unbemannten Schiff und einem führer-losen Ochsenkarren. Wissenschaftler stellten fest, dass es sich um eine Kopie aus dem 13. Jahrhun-dert handeln muss. Dennoch wird das Volto Santo als Gnadenbild verehrt und ist Ziel von Pilgerrei-sen.
Archäologie-Begeisterte sollten unbedingt einen Abstecher in die Kirche Santi Giovanni e Reparata einplanen, die sich in unmittelbarer Nähe befindet: In Ausgrabungen wurden verschiedene Schich-ten des Kirchengebäudes freigelegt, an denen die Entwicklung vom heidnischen Tempel zur Basili-ka ablesbar ist.

San Michele in Foro

Basilika San Frediano

San Frediano - Fassadenmosaik

Sehenswert ist auch die romanische Kirche San Michele in Foro. Ihre gewaltige Westfassade wird von einer Statue des Erzengels Michael gekrönt und vermittelt einen Eindruck von der einstigen Bedeutung Luccas. 1070 wurde mit dem Bau begonnen, doch nach Fertigstellung der reich ge-schmückten Fassade ging den Bauherren das Geld aus. So musste das Gotteshaus deutlich kleiner und bescheidener vollendet werden.
Direkt an der Stadtmauer liegt die Basilika San Frediano. Auch sie wurde mehrfach umgestaltet und ausgebaut. Hier gibt es ein prächtiges Fassadenmosaik aus dem 13. Jahrhundert zu bewundern, das die Himmelfahrt Christi in einer von Engeln getragenen Mandel zeigt. Unerschrockene können im Innenraum eine Mumie aus dem gleichen Jahrhundert ansehen: die Gebeine der heiligen Zita, Schutzpatronin der Zimmermädchen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Leiche vollständig erhal-ten ist. Üblicherweise werden Reliquien in kleineren Einheiten angeboten. So sind Körperteile der heiligen Katharina, Schutzpatronin Italiens, über das ganze Land verteilt. In der Kirche San Dome-nico in Siena kann man übrigens ihren Kopf besichtigen.

Palazzo Controni-Pfanner
Wenige Schritte weiter auf der Stadtmauer fällt eine aufwändig gestaltete Gartenanlage aus dem 18. Jahrhundert ins Auge. Sie gehört zum Palazzo Controni-Pfanner und kann besichtigt werden. Für Freunde des gestylten Grüns empfiehlt sich zudem ein Besuch im Giardino Botanico und in den Gärten der Villa Bottini.
Grüne Oasen gibt es viele in Lucca – selbst an den ungewöhnlichsten Orten. Auch die Steineichen auf dem Dach des 44 Meter hohen Torre Guinigi kann man besuchen – und von oben einen atembe-raubenden Ausblick über den mittelalterlichen Stadtkern bis zu den Apuanischen Alpen genießen.
Video-Clip: Auf dem Torre Guinigi

Torre Guinigi: Aussicht von oben
...und von unten

Und wie kamen die Eichen auf den Turm? Kein Reiseführer verrät uns die Antwort. Der Verkäufer in der Buchhandlung nahe der Porta dei Borghi weiß mehr: Die Eichen wurden im 15. Jahrhundert als Teil eines Hängegartens dort gepflanzt. Türme repräsentierten im Mittelalter häufig die Macht ihrer Besitzer. Über 130 davon sollen einst das Stadtbild von Lucca geprägt haben. Die meisten wurden vermutlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geschleift, um Baumaterial für Castruc-cio Castracanis Festung Augusta zu liefern. Der Turm der Familie Guinigi blieb verschont; er erin-nert heute an die Adelsfamilie, unter deren Herrschaft Lucca von 1400 bis 1430 in Frieden und Wohlstand lebte. Zum Anfang ↑
Entdeckungstour durch die Gassen der Altstadt

Künstlertreff: Caffè di Simo

"Tante-Emma-Laden" in Lucca: Alimentari

Blick hinter die Kulissen: Malerischer Hinterhof

Flaniermeile: Via Fillungo
Wieder zurück auf dem Kopfsteinpflaster der weitgehend autofreien Altstadt, führt uns der Weg in die Haupteinkaufsstraße Luccas, die Via Fillungo. Nach dem Touristengewimmel auf den überfüll-ten Plätzen und Straßen in Florenz frage ich mich erstaunt: Ist das hier noch die Toskana? Ja, das ist sie noch, aber urwüchsiger. Das Umland ist bergiger und waldreicher, die Region weniger touris-tisch erschlossen. Um die Mittagszeit sind die Straßen fast menschenleer, kein Geschäft hat geöff-net. Siesta. Erst am späten Nachmittag erwacht wieder das Leben.
Wir nutzen die Zeit für eine Pause im "Antico Caffè di Simo", dessen köstliche Pasticcherien-Auslage uns magisch anzieht. Innen fühlt man sich in vergangene Zeiten zurückversetzt: Die Ein-richtung stammt aus dem 19. Jahrhundert, und es hätte mich nicht verwundert, wenn Giacomo Puc-cini zur Tür hereingekommen wäre. Schließlich war dies sein Lieblingscafé. Der Opernkomponist war ein Sohn der Stadt; sein Geburtshaus liegt unweit der Kirche San Michele in Foro. Dort steht auch der Flügel, auf dem er "Turandot" komponierte.
Nach Verlassen des Cafés hält der Eindruck an: Wir fühlen uns in eine andere Zeit versetzt. Die Lä-den in der Via Fillungo werben mit historischen Fassaden; Leuchtreklamen sucht man meist vergeb-lich. Vereinzelte Jugendstil-Ornamente muten beinahe modern an. In urigen Alimentari kann man sich mit Olivenöl, Käse und Wein aus der Region versorgen – oder unzählige Sorten Focaccia pro-bieren. Feinschmecker kommen in Luccas Altstadt auf ihre Kosten. Besonders vor süßen Verlo-ckungen ist man hier nirgends sicher. Typische Luccheser Gebäckspezialitäten sind Castagnaccio, ein Kastanienkuchen, und Buccellato, ein Hefekranz mit Anis und Rosinen. Meine persönliche Empfehlung gilt jedoch den hausgemachten Schokoladen-Leckereien bei "Caniparoli". Zum An-fang↑
Im Zeitraffer: Von der römischen in die napoleonische Zeit

Tauben-Treff: Piazza Anfiteatro
Der Bummel durch die mittelalterlichen Gassen endet auf einem großen ovalen Platz. Die Form der Piazza Anfiteatro oder Piazza del Mercato ist kein Zufall: Auch sie ist auf Stein gewachsen, genauer gesagt auf den Fundamenten des einstigen römischen Amphitheaters, das in der Völkerwanderungs-zeit zerstört worden war. Steinquader des Theaters kann man überall in Lucca finden; sie wurden als Baumaterial für Kirchen und Paläste recycelt. Ursprünglich hatten die Luccheser den Platz vollstän-dig zugebaut. Erst 1830-1839 wurden die Häuser im Inneren des Ovals abgerissen und der Platz ge-schaffen. Tausende Tauben freuen sich… Rings um den Platz finden sich nicht nur Straßencafés und Eisdielen, sondern auch einige Läden für Kunsthandwerk. Keramik, Glas- und Kunstschmiede-arbeiten oder Korbwaren haben in der Toskana eine lange Tradition – und in den Boutiquen der Piazza einen stolzen Preis. Gleiches gilt für die Antiquitäten, die hier ebenfalls feilgeboten werden.
Auch wenn der Platz als einer der schönsten der Toskana gilt – die Luccheser treffen sich lieber auf der Piazza San Michele vor der Kulisse restaurierter mittelalterlicher Kaufmannshäuser. Zur Abendzeit leert sich die Piazza Anfiteatro. Dann verlagert sich das gesellschaftliche Leben in die unzähligen kleinen Lokale in den Seitengassen und auf die Piazza Napoleone vor dem Palazzo Du-cale. Hier ist das frühe 19. Jahrhundert lebendig – gestaltet wurde der Platz nach Plänen der Schwester Napoleons, Elisa Baciocchi. Ihr verdanken die Luccheser auch die Baumbepflanzung auf dem Festungswall.
Video-Clip: Piazza Anfiteatro

Zum Anfang↑


Piazza Napoleone beim "Luminaria"

Die Kirche San Michele in Foro im Kerzenschein


Nacht der tausend Lichter –Luminaria di Santa Croce
Einmal im Jahr ist es in Lucca mit der Beschaulichkeit vorbei. Am 13. September wird die Reliquie Volto Santo in einer feierlichen Prozession bei Fackellicht durch die festlich illuminierte Stadt ge-tragen. Dieses Schauspiel lockt alljährlich Scharen von Touristen an. Beleuchtet wird die Szenerie nicht etwa durch elektrische Lämpchen, sondern ausnahmslos durch Kerzen. Das Aufhängen und Entzünden der Lichter nimmt den ganzen Tag in Anspruch – und dokumentiert erneut das Traditi-onsbewusstsein der Stadtbewohner.
Video-Clip: Luminaria di Santa Croce
Lucca bietet nicht nur sehenswerte Kunst- und Baudenkmäler, sondern vor allem eine einzigartige, vollständig erhaltene historische Stadtstruktur. Der besondere Charme der Stadt liegt jedoch in ihrer Natürlichkeit. Der Schriftsteller Mario Tobino erklärt den Reiz Luccas so: "Die Luccheser haben etwas Außergewöhnliches vollbracht: sie haben es verstanden, ihre Stadt zu erhalten." In der Tat: Lucca gehört in erster Linie den Lucchesern. Man sagt den Bewohnern der Stadt nach, sie seien Fremden gegenüber wenig aufgeschlossen. Wir hatten nicht den Eindruck, dass Touristen als Stör-faktoren empfunden werden. Aber anders als in Florenz oder Pisa sollte man schon einige Brocken Italienisch parat haben, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.
Um das besondere Flair der Stadt zu erleben, sollte man etwas Zeit mitbringen. Ein Tagesausflug reicht für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Doch die Atmosphäre ist die eigentliche Hauptat-traktion. Wer mehr wissen möchte, findet hier die wichtigsten Informationen zum Reiseziel Lucca im Überblick.
Zum Anfang↑
Weinberge und Olivenhaine - das Umland

Das Umland: Weinberge...

Villen...

und uralte Olivenbäume

Und das Olivenöl? Das haben wir direkt beim Hersteller erstanden. In den Hügeln rund um die Stadt liegen zahlreiche Wein- und Olivengüter, die ihre Erzeugnisse direkt vertreiben. In einer sol-chen Fattoria im kleinen Dörfchen San Michele di Moriano haben wir nicht nur zahlreiche hausei-gene Produkte verköstigt, sondern auch ein preiswertes und typisch toskanisches Quartier gefunden - Familienanschluss und drei Haustiere inclusive.
Wer im Urlaub Ruhe und Erholung in idyllischer Landschaft sucht, wird in den Colline Lucchesi, wie die umliegende Hügellandschaft genannt wird, schnell fündig. Ein großes Angebot an privaten Ferienunterkünften - von preiswert bis luxuriös - sowie die vielseitige Landschaft - von Strand bis Gebirge - machen die Region zum Geheimtipp. Reiseinformationen sowie einen Überblick über lohnende Ausflugsziele gibt es hier.
Video-Clip: Colline Lucchesi
Zum Anfang ↑


Text und Fotos: Nicola Kowski


Weiterlesen:
Ein spannendes Kapitel Stadtgeschichte:
Castruccio Castracani - Söldnerführer und Herzog von Lucca
Ghibellinen und Guelfen
Wolkenkratzer im Mittelalter


Formularbeginn
suche in:
suche nach:


Hilfe zur Suche
Schrift: groß | nor-mal | klein
Kontakt
• Redaktion UNIver-sum
• Web-Master UNI-versum
Pinnwand
• Pinnwand: Anzei-gen aufgeben
• Anzeigen ansehen
Archiv
• Das Moers- Festival – abseits des Mainstreams
• Burma: "Je ärmer die Menschen, des-to mehr beten sie."
• Fachjournalistik bekommt neues Ge-sicht
• Unsittlich und kompromisslos
• Mehr...
Redaktion
Nicola H Kowski
20.07.2007 13:11

________________________________________


Castruccio Castracani - Söldnerführer und Herzog von Lucca

"Castruccio interminelli", Staatsbibliothek Lucca
Der spätmittelalterliche Condottieri war eine ambivalente Figur: Von den Lucchesern als Held verehrt, vom Papst mehrfach ex-kommuniziert. Sein politisches und militärisches Geschick ver-schaffte der Stadt die Vorrangstellung in der Toskana.
Engagement für die Ghibellinen
Castruccio Castracani degli Antelminelli (1281-1328) entstammte ei-ner alteingesessenen Kaufmannsfamilie aus Lucca. Schon früh betei-ligte er sich an den Parteienkämpfen zwischen Ghibellinen und Guel-fen, was 1301 zu seiner Vertreibung aus der Stadt führte. Nach einem kurzen Intermezzo in England - das er nach einem Tötungsdelikt fluchtartig verlassen musste - kehrte er nach Italien zurück. Dort begab er sich als Söldnerführer in die Dienste des Herrn von Piacenza, schloss sich jedoch 1310 erst Heinrich VII., dann dem ghibellinischen Anführer Uguccione della Faggiuola an. Uguccione wurde 1313 Herr über Arezzo und Pisa und ermöglichte ein Jahr später der Familie An-telminelli die Rückkehr ins heimische Lucca. Die Antelminelli erwie-sen sich als dankbar; sie verhalfen ihm kurz darauf durch Verrat dazu, die Stadt handstreichartig einzunehmen. Vermutlich war auch Cast-ruccio an dieser Eroberung beteiligt, denn er übernahm anschließend eine führende Rolle in Lucca.
Aufstieg zum Herrn von Lucca

Lucca in der Chronik des Giovanni Sercambio
Das Klima zwischen dem Söldnerführer und seinem Dienstherrn ver-schlechterte sich in der Folgezeit. 1316 wurde Castruccio wegen be-fehlswidriger Unternehmungen in Kerkerhaft genommen. Noch bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, brachen in Pisa und in Lucca Aufstände gegen Faggiuola aus. Glück für Castruccio: Er wurde aus dem Gefängnis befreit, während Uguccione nach Verona fliehen musste.
Nach Befreiung der Stadt von der Herrschaft Pisas ernannten die Luc-cheser Castruccio Castracani für ein Jahr zum Herrn der Stadt; das Umland sollte er jedoch seinem Verbündeten Pagano dei Quartigiani überlassen. Aus dem Mit- wurde bald ein Gegenspieler, dessen sich Castruccio zeitnah entledigte: Er vertrieb ihn aus Stadt und Umland und baute die eigene Machtposition stetig weiter aus. Schließlich ließ er sich von den Lucchesern zum Stadthauptmann, Schutzherrn und Signore auf Lebenszeit wählen.
Einmal in Amt und Würden, bediente er sich drastischer Methoden: Für den Bau seiner Festung Augusta ließ er die Bewohner eines größe-ren Stadtgebietes zwangsweise umsiedeln. Um Baumaterial zu gewin-nen, ließ er zudem viele der rund 130 Türme schleifen, die das Stadt-bild zuvor geprägt hatten. Auch bei seinen politischen Allianzen pflegte er eine unkonventionelle, aber stets machtbewusste Vorge-hensweise und wechselte strategisch geschickt die Seiten. So auch im Streit zwischen Ludwig IV. von Bayern und Friedrich dem Schönen von Habsburg um die Kaiser-Nachfolge Heinrichs VII.: Erst stand er auf der Seite des Habsburgers. Nachdem dieser jedoch von Ludwig IV. besiegt und in Haft genommen worde war, lief Castruccio zum siegreichen Bayern über.

Johannes XXII., Papst von 1316-1334

Vermutete Darstellung Castruccios, Campo Santo di Pisa. Foto: Kristina Killgrove


Politischer Einfluss und päpstlicher Bann
Diese Gefolgschaft brachte ihn schließlich in Konflikt mit der Kirche. Papst Johannes XXII. verweigerte Ludwig IV. die Anerkennung, wo-raufhin Ludwig das Kirchenoberhaupt kurzerhand für abgesetzt erklärte. Der Papst revanchierte sich, indem er 1324 erst den Bayern, ein Jahr später auch Castruccio exkommunizierte. Der Luccheser setzte davon unbeeindruckt seine militärischen Unternehmungen gegen die Genueser Guelfen und die Florentiner fort - mit Erfolg. Am 13. Sep-tember 1325 konnte er die Florentiner bei Altopascio vernichtend schlagen und brachte damit auch Pistoia unter seine Kontrolle. Die Florentiner strengten daraufhin einen Prozess gegen Castruccio an, der mit seiner zweiten Exkommunizierung endete.
Castracanis Sieg von Altopascio hatte die Macht der Florentiner ein-gedämmt und die Bedingungen für einen Italienfeldzug Ludwigs von Bayern verbessert - im Mai 1327 wurde Ludwig in Mailand zum Kö-nig von Italien gekrönt. Gemeinsam mit Castruccio konnte er noch im gleichen Jahr Pisa einnehmen. Bei einem feierlichen Besuch in Lucca verlieh er dem Luccheser ein neues Wappen und den Titel eines Her-zogs, verbunden mit zusätzlichen Rechten über verschiedene andere Städte der Toskana.
Höhepunkt und Ende
Castruccio befand sich nun auf dem Höhepunkt seiner Macht. Nach-dem Ludwig im Januar 1328 zum Kaiser gekrönt worden war, über-häufte er seinen wichtigsten militärischen Unterstützer mit Ehren. Castruccio wurde in den Ritterstand erhoben, zum römischen Senator und kaiserlichen Statthalter ernannt.
Innerhalb kürzester Zeit wendete sich das Blatt: Die Florentiner ero-berten Pistoia zurück, und das Verhältnis zum Kaiser wurde durch Intervention einiger abtrünniger Pisaner getrübt. Angesichts dieser Widrigkeiten fiel die inzwischen mindestens dritte Exkommunizierung kaum ins Gewicht. Nach langer Belagerung konnte Castruccio die Stadt Pistoia zwar wieder einnehmen, erkrankte dabei aber an Fieber. Am 4. September 1328 starb er infolge der Krankheit im Alter von 47 Jahren in Lucca.
Castracani in der Literatur
Die faszinierende Figur des Aufsteigers Castruccio inspirierte zahlrei-che Schriftsteller. In seiner Vita di Castruccio Castracani di Lucca (1520) zeichnete Niccolo Macchiavelli das Bild eines machtbewussten, vernunftgeleiteten Fürsten. 1811 verfasste die aus Lucca stammende Constanza Moscheni ein episches Heldengedicht. Mary Shelley benutzte die Lebensgeschichte Castruccios als Vorlage für ihren 1823 erschienenen Roman Valperga. Daneben beschäftigten sich auch Letitia Elizabeth Landon und Elizabeth Barrett Browning in ihren Werken mit der Figur des Söldnerführers.
Text: Nicola Kowski




Tagebücher. Und Tagebuchgedichte zu meiner Stadt Lucca






Lucca in meinen Romanen
(Der Verweser)

Ich weiß nicht, wer sich heute noch an jenen Zustand der Angst und des Gefängnisses im Kopf in jener miesen Epoche des Kalten Krieges erinnern kann ... als wären Jahrhun¬derte vergangen seit ich im ehemaligen Westen nur zu Besuch sein durfte, und ich mich in diesem verbotenen Gebiet bewegte, als ginge ich an¬dauernd einige Zentime-ter schwebend über dem Erdboden spazieren, glückhaft und spannend, aber auch nervenauf¬reibend war jeder Tag, kaum auszuhalten die Unruhe in jener - von der Poli¬zei - zugemessenen, ja, von ihr gestundeten Zeit, die sehr kostbar war, und die ich möglichst intensiv nützen wollte. Hannah und ich waren nach Italien, vor allem nach Rom und in die Toskana gefahren, nach Paris, nach Lis¬sabon, nach Griechenland. Ich war damals noch jung, und so konnte ich diese seelische und auch körperliche Strapaze, samt den Behörden- und Paßschikanen, relativ gut überstehen. Und Hannah, die ich kurz vorher in Frankfurt kennengelernt hatte, half mir dabei, reiste mit; sie sah nun nochmals mit meinen Augen und mit kindlich-naivem Erstaunen die ihr längst bekann¬ten Gegenden, wunderte sich, wie frisch die Eindrücke noch sein konn¬ten.

Doch das eigentliche Geschenk aus dem roten Gespenster-reich täglicher Alp¬träume war eine aufregende Entdeckung in der Stadt Lucca gewesen, deren Schönheit mir damals wie ein Wunder erschien.
Wie ein Leitmotiv sehe ich seither immer wieder die gleiche luc-cheser Szene vor mir, ausgelöst wird sie, wenn ich Pferdehufe auf Pflaster und Stein schlagen höre oder das Rattern eines Zuges ver-nehme, wie im Herbst 1968 bei einer Zugfahrt nach Florenz. Da lag ich im Abteil, hatte die Augen geschlossen, es muß bei Montecatini gewesen sein; das Ratatata war ein Ritt; und auch als ich die Augen öffnete, überlagerte ein Reiter das Augenbild; ich sah doppelt, sah ei-nen Film über die Außenwelt hinziehen; ein Mann stieg da am Ende einer Straße von seinem Pferd; am Ende der Straße war eine schöne Villa in einem Park mit alten Bäumen; der Mann band vor einem gro-ßen Haus mit grünen Läden das Pferd an einen Pflock, er ging durch die Haustür in den Flur; auf der Kommode lag ein kleiner schwarzer Kater... Huf des Pferdes noch hochgehoben, ihn zu prüfen; die geöff-nete Tür des Flurs, im Zimmer ein heller Raum... ein Gartenfenster und eine üppige Frau im halb geöffneten Morgenrock... sie darunter nackt, auf der Fensterbank rote und mauvefarbene Geranien, dahinter ein kostbarer Schrank im Halbdunkel des Raumes, ein runder Spiegel, an der Wand ein altersgeschwärztes Bild mit einem Weißbärtigen, der drei Finger zum Schwur oder zum Todeszeichen erhoben hatte.
Diesen Traum habe ich immer wieder geträumt, schon bevor ich in Lucca gewesen war, denn erst Weihnachten 1968 hatte ich Lucca zum erstenmal besucht, und dabei dieses Haus wirklich und daher voller Schrecken gesehen und wiedererkannt. - Ich war damals, Weihnachten 1968, durch die Via dei Fossi gegangen, da kam mir die Straße, da kam mir das Haus bekannt vor, und es war genau jenes Haus mit den grünen Fensterläden aus dem Traum, wo ich die Frau gesehen hatte, ie Tür stand einen Spalt offen, ich ging hinein, ich erkannte alles wieder: Ein kleiner Vorraum, sogar eine Kommode gab es, rechts die kleine Treppe, eine Tür, links eine andere, eine steile Treppe, ich ging hinauf, als käme ich nach Hause...
So war es auch mit dem Bild, ich sah es an der Wand hinter der bräunlichvergilbten Stehlampe, es stellte einen Bärtigen dar, das Haar silbrig, die grünlichen Augen prüfend, die Hand erhoben, warnende Geste mit den drei Fingern, offenbar ein Zeichen, das Todeszeichen... ich kannte es, ich erschrak. Szenen, die mir dazu aus dem Unbewußten hochstiegen, wie im Nebel Bilder formten, Traumfetzen und Fragmente, herausgewürgt voller Übelkeit, materielle Fragmente einer furchtbaren Vorstellung; Schwindel erfaßte mich, meist wird ein An-fall ausgelöst durch Blickkontakt, das Gesicht eines Unbekannten vor mir, blitzartig die Wahrnehmung: den kennst du, wo hast du den schon gesehen? Irgendwo erlebt und gut gekannt; doch ein Loch im Gedächtnis quält, dafür wühlende Emotionen, krankhaft, schmerzhaft. In der luccheser Via dei Fossi war das wieder so, Übelkeit und Schwindel und dann diese Traumfetzen.
Die Via dei Fossi liegt in der Nähe der Kirche San Francesco, wo an jenem Weihnachtstag 1968 der Leipziger Thomanerchor ein Kon-zert gab. Ich ging ans Ende der Straße, doch da war keine Villa, wie ich sie im Traum gesehen hatte, sondern eine Durchgangsstraße, Au-toverkehr brauste vorbei. Eine Ampel. Rechts eine Villa, doch nicht die meine. Der Park, ja den gab es noch. Doch die hohen Bäume war-en verschwunden. Der Verstand versagt - wie bei Todesfällen, konnte ich sagen: ich weiß, daß es dort ´ganz bestimmt´ eine Villa gegeben hatte? Woher wußte ich es denn?
Ich erinnere mich noch genau: Als wir in Lucca ankamen, es war meine erste Begegnung mit dieser Stadt, schien sie mir fremd; wir sa-hen zuerst den Dom San Martino, den Schwarzen Christus, lasen die Reiseführerkommentare, Heine dazu, gingen dann zum Palazzo Gui-nigi (der abge¬sprungene Ver¬putz erinnerte mich an Wien), auf dem hohen Turm war eine Steineiche, über den Büschen im Garten eine Palme - da hatte ich andauernd jenes merkwürdige Gefühl einer Wie-derbegegnung, und ich fürch¬tete jene Übelkeit, jenen Schwindel, wenn Szenen, Bilder, Gesichter aus dem Unbewußten wie aus verges-senen Alpträumen hochstiegen.
Als wir dann gegen Mittag durch eine mir bisher völlig unbekann-te Straße, die Via dei Fossi, kamen, da begannen die Traumfetzen tat-sächlich hochzustei¬gen; jeder kennt dieses seltsame Gefühl des Wie-dererkennens, des Déjá-vu: Ein Haus, vor dem wir standen, ja ... ich stand regungslos da und starrte das Haus an, es war mir vertraut wie die Häuser und Gegenstände meiner Kindheit.
Damals, als ich diese Stadt wiederfand, sie wie aus einem ver-gessenen Traum vor mir auftauchte, standen mir die Tränen in den Au¬gen: Als wäre jene Berührung mit ihr ein Durchbruch durch die Zeit gewesen - zu etwas heftig Ersehntem. Als gäbe es wirklich so et-was wie eine Wie¬derkehr; ich sah jenes Haus genau und mit den Händen greifbar vor mir; die Tür stand einen Spalt offen, ich ging hin-ein, ich erkannte alles wie¬der: Ein kleiner Vorraum, sogar eine Kom-mode gab es, rechts die kleine Treppe, eine Tür, links eine andere, eine steile Treppe, ich ging hinauf, als käme ich nach Hause... im Zimmer alte Möbel, starker unde¬finier¬barer Geruch, der sich wie gesprayt in Atmosphäre auflöste, mehr noch, sie war ein wenig gruftig, diese dichte Aura des Abgelebten, verrottet wie in alten lucche¬ser Villen, überall Spuren der Toten, alter Bewohner, von den Sinnen wieder zur Anwesenheit gezwungen.

Ein Wachtraum war es gewesen, und der hatte für mich eine noch größere Beweiskraft, als die in Lucca nachher gefundenen Dokumente über Granucci, die mich davon überzeugten, daß es zwischen uns eine geheime Lebensbindung gab; schriftlichen Dokumenten muß keiner trauen, Träume aber kann niemand fälschen. Schon lange vor jenem wichtigen Traum von 1968, hatte sich Nicolao Romano Granucci in meinem Leben eingenistet, sich immer mehr eingemischt; er läßt mich überhaupt nicht mehr allein; nachts diese Geräusche vom Fenster her; aus einer Ecke im Zimmer, wo der Wald hereinreicht, schwarz, da, und dort ein Gesicht, mit Angst geschrieben, oder eher geschrieen, nämlich mit zitternden Fingern, genau neben der Tastatur auf einem leeren Blatt, das immer noch daliegt. Schreiben scheint manchmal höchst gefährlich zu sein. An den Schläfen ein Druck, gespannter Bo-gen der Stirn, als wäre das Bewußtsein zu angestrengt, wie ein fernes helles Licht dieser Punkt im Hirn, der mir heimleuchtet; es verläßt mich nie, im Schlaf nicht, da wird es zu bunten Bildern, im Wachen nicht, da macht er mir schmerzhaft meine Absenz bewußt.

Dann kam mir eines Tages der Zufall, diese Konstellation des Un-gewußten, zu Hilfe: Jahre später, vom 27. Juni bis zum 29. September gab es im Rathaus der Stadt die erste Ausstellung über die luccheser Palazzi des 16. Jahrhunderts, und ich konnte dort mit Mario Berengo, Mailänder Professor und ´esperto assoluto´ fürs 16. lucchesische Jahr-hundert, ausführlich sprechen. Berengo bestätigte mir: Granucci, nicht unbekannt in der Stadtgeschichte, habe tatsächlich in der Via dei Fossi gewohnt, und auf dem alten Stadtplan Berengos ist auch die Villa am Ende der Straße eingezeichnet, an die ich mich erinnern konnte, Mario Berengo, Historiker und Archivar... ist es nicht merkwürdig, aus-gerechnet jetzt fand diese Ausstellung über die luccheser Palazzi des l6.Jahrhunderts statt, und Berengo bestätigte mir, daß jenes Haus dem "Todesdoktor" Rusticci gehört, daß der es Nicolao Granucci vererbt hatte, und dann: daß Granucci in der Kirche San Donino von Marlia begraben liege. Gesicherte Fakten, von denen ich jetzt hörte. Granucci - sei allerdings ein Pseudonym für Massimiliano Arnolfini gewesen.
Im Dezember 1968 hatte ich dann in der Biblioteca Governativa von Lucca ein Buch entdeckt; es war ein alter Schmöker des verkann-ten Romanciers und Zauberkünstlers aus dem sechzehnten Jahrhun-dert: Nicolao Granucci; und dieser Granucci hatte so manche Ähn-lichkeiten mit mir selbst, vor allem hatte er die gleiche Sucht zur Ab-wesenheit; als hätten wir die Vaterländer und Zeiten getauscht: Er war damals in meiner Heimat Transsylvanien im Exil gewesen, und ich lebte heute als Emigrant hier in seiner Gegend, der Lucchersia.
(…)

Signor Granucci verließ mich all die nervenaufreibenden Westjahre nicht mehr, er spukte in meinem Hirn und belästigte mich zuweilen. Ich fiel in meinem Bewußtsein um Jahrhunderte zurück: Granucci ließ mich nicht mehr los, so daß Hannah und ich, als die vielen Reisen in die luccheser Gegend zu teuer wurden, schon im Mai des nächsten Jahres endgültig in ein kleines Bergdorf der Lucchesia namens Aliano, übersiedelten; es bedurfte keiner großen Überredungskunst, Hannah davon zu überzeugen, ihren Verlagsjob aufzugeben und Deutschland zu verlassen. Sie tat es mit Freuden. Was weiter geschah, läßt sich auch so ausdrücken: Hannah, Granucci und ich wohnten dann weit vom Schuß und mit vielen Alltagssorgen und Finanzproblemen in ei-ner schönen Gegend zusammen, ich anfangs mit schrecklichen Schuldgefühlen, und trotz allem immer noch mit Heimweh. Nur Schreiben half noch, und - mein Freund Granucci, der mich, und das will ich gleich erzählen, eine Art Amor fati lehrte, daß es nämlich keine Zufälle gibt, sondern diese Lebenszufälle zu einem uns "zugeteilten" Schicksal gehören, das uns alle bestimmt. Das wußte der Dottore Nicolao Romano Granucci besser als ich und wir Heutigen, und lebte daher auch besser als ich und auch als jeder andere Zeitgenosse, sogar in seinem verfluchten finsteren Turm, an dem ich nun fast täglich vor-beifahre, sah er einen Sinn.
Ich hatte natürlich meine alten Recherchen wieder aufgenommen, denn genau jener Amor fati oder die vergessene Schicksalsliebe war ja durch mein seltsames Erlebnis schon bei einer der ersten Lucca-Reisen bestärkt worden, jenes Déjà-vu vom Winter 1968, das mich auch ich jetzt sehr tröstlich in meinem wunden Zustand des Emigrantendaseins immer wieder erinnerte, und mir hilfreich bestätigte, daß das, was ich getan hatte: mein Land zu verlassen, nicht in Deutschland zu bleiben, sondern, wenn auch mit Nöten und Existenzängsten in Italien zu leben, richtig gewesen war. Und diese Bestätigung war lebenswichtig, denn das Exil führt zu einem bodenlosen, dem Wahnsinn oft nahen Zustand, bei dem hochprozentiger Alkohol zum gefährlichen Tröster wird. Ein Kollege hatte Selbstmord begangen, ein anderer vegetiert seit Jahren in einer Heilanstalt dahin. Und ich habe einen Psychiaterfreund, Michum, der seit Jahren in Florenz lebt, und der mich mit Psychopharmaka versorgt oder wenn es notwendig wird, mir auch auf Zeit und als Freiwilliger einen Platz in einer ( anfangs noch offenen) Heilanstalt besorgt.
Am wichtigsten beim Heilungsprozeß aber war die hier noch un-betretene Natur, das Aufbrechen eines sehr weit zurückreichenden Gedächtnisses, das aufarbeitende Schreiben, dann aber vor allem - Granucci selbst.
3
Ich fange mit einem wichtigen Momentbild der Heilung hier in Aliano an: Einer der florentiner Freunde, ich glaube, es war Michum, sagte, er habe bei seinem letzten Besuch in unserem Haus beobachtet, wie sich mein Gesicht bei einem bestimmten Geräusch verwandelt ha-be, ich hätte dabei starr auf einen Punkt gesehen. Doch ich weiß es besser: Als wir nämlich den Maultierpfad überquerten, der an unserem Haus vorbeiführt, zum Auto gehen wollten, um ans Meer zu fahren, meinte ich, Hufe von Pferden und Mauleseln auf diesem uralten Pfad klappern zu hören. Dabei hatte ich dann tatsächlich mit einer ganz veränderten Stimme gesprochen, mich erschrocken umgesehen ...

Im Zustand der Absencen eines Emigrantendaseins fand meine erste wirkliche Begegnung mit Nicolao statt. Ich war mit Hannah wie-der nach Lucca gefahren. Und als wir in die Via dei Fossi kamen, sah ich über dem gewohnten Bild deutlich eine Pappelallee und dann auch einen Park mit Blumen. Ich habe heute noch diesen starken Geruch von Jasmin in der Nase, und sehe am Hang die gelben Himmels-schlüsselblumen, ganz nah dieser süßliche Geruch und die gelben Klöppel. Ich stand wieder vor dem Haus mit den grünen Fensterläden, trat ein, ging die steile Stiege hoch, klopfte an die Tür. Ein alter Mann öffnete mir diesmal und sah mich erstaunt an. Dieser Blick. Der Alte hatte ein verdrießliches Gesicht, ein äußerst faltiges, eine Art Mu-miengesicht. Nur die Nase rötlich. Sonst Blässe. Keine Haare. Eine Mischung aus Mönch und Gespenst. Und ich stotterte eine Entschul-digung, bat ihn dann, das Haus sehen zu dürfen, auch wenn ihm dies recht seltsam vorkommen müsse.
Affatto, schnarrte er, da ist doch jeder, der hier wohnen will, erwar-tet worden, ist willkommen. Auch Sie, mein Herr, sind erwartet wor-den.
Am liebsten hätte ich das Haus für längere Zeit gemietet.
Das ganze Haus ist zu vermieten, sagte der Mann.
Das ganze Haus?
Ja, das ganze Haus, sagte er. Ich bin nur der Verwalter, die Besitzer möchten hier nicht wohnen. Es spukt. Leider.
Es spukt? Das ist ja merkwürdig. Glaubt man in Lucca denn noch an Geister?
Ich habe auch nicht daran geglaubt, sagte der Mann mit seinem fei-nen Mumienlächeln; doch seit ich das Gespenst selbst gesehen habe, muß ich wohl daran glauben.
Sehr merkwürdig, murmelte ich.
Überhaupt nicht, caro Signore; Sie müssen entschuldigen, aber Sie selbst sind das Gespenst!




28.3.
Morgens / da war ich mir
So ernst und rund / von innen schwingend
Der Yogakopf / und bindet / die Sonne blendet
Ganz neue Wünsche / nichts zu tun
Dies Blenden ruhig trinken / für Einen-Andern
Tun. Neu aufgetischt mein unfertiges Fühlen

Das Insichruhn ist heilend / nach dieser Hölle der Nacht.
Alt- Anwesen / und Umsich zeigt sich heut
Ganau bildlos / alles Bild.

Die Auralosigkeit bin ich / daran ersticken
Dies ich ist meine grosse Krankheit.
Und keine Liebe / nie/ so dass sich Zeit
Nicht sammelt / und.
keine bleibt
Ein Hetzen ists / du alter Danaid..

12.12. 1986

Bisher berauscht von dem was hier verging / kam mir das Leben so lang vor
Wie diese Zeile, die verborgen zwar. Aber
Nie stirbt
Kommt aus dem Nichts /dieser Trank und bleibt: so ungetrunken
Unverbraucht
Vergilbt.

Jetzt blendet mich/ müde und macht mich blind
Was handfest ist
Und immer näher mir zukommt
Fast wie mein Körper
Und alle Leute wie sie leben
Der Tod.



Antiquitätenmarkt

In Lucca soll heute ein Antiquitätenmarkt sein, sagte Hannah beim gemeinsamen Frühstück. Und wir fuhren gleich los, fuhren über die pappelbestandene Allee der Stadtmauer, früher flanierten hier die jungen Leute, fuhren an der Tabakfabrik vorbei, die enge Zufahrts-straße zur Piazza Napoleone, zentimeternah an der alten Hauswand, am Tor, an den Fußgängern vorbei; Basar und eine bewegte Phantas-magorie, kein Trottoir, als ginge das Hausinnere direkt auf die Straße hinaus, das Zimmer unter freiem Himmel, Fahrräder, Fußgänger, Schwatz und Flirt. Es erinnerte mich an meinen ersten Gang durch die Stadt, alles heimisch und vertraut. Ich stand vor einem Portal, starrte auf zwei Holzfiguren, die noch immer einen Kopf hatten rissig, halb verwest, versank darin im eigenen Blick, und meinte die Figuren längst zu kennen, erschrak, als ich dann später feststellte, dass es das Haus des Todesarztes Rusticci war, wo doch Nicolao gewohnt hatte. Oder stand im Dom vor dem Grabmal der Ilarie del Caretto. Auf der Piazza San Michele vor der Kirche, sitzend, kaffeetrinkend, mit wi-derstreitenden Gefühlen, und wußte nicht warum, die überladene Schaufassade mit dem dicken und ein wenig tollpatschigen Erzengel Michael vor mir, der die reichen Handelsherren schützen sollte, die Lucca seit 1080 beherrschten. Hier tagte der Große Bürgerrat, der Consiglio Generale, das Stadtparlament, das so viele Todes- und Fol-terurteile gefällt hatte. Gegenüber rechts der Palazzo Pretorio... der Podestà, der Barghello, hier hielten sie Strafgericht...

Jean-Christian geht neben mir, trennt mich von Hannah, Hanna, Hanna, nennt er sie, ihren Namen, den er zärtlich haucht: Hannahhh. Plötzlich wendet er sich mir zu, ich seh mehr, ich sehe ein Röntgenbild auf der Antiquitätenmesse am Domplatz, da gehen die Bilder weiter; das Ambiente ist günstig: Stahlhelme und andere Waffen, eine Hakenbüchse, alte Tische, Truhen, Säbel, Spitzen, Nachttöpfe und Or-den, eine Porzellanwaschschüssel fällt aufs Pflaster, ich sehe Christian wieder ins Gesicht, er frägt, ob es denn nicht im Hebräischen eine Entsprechung zu "Scherben bringen Glück" gibt, ja sage ich, "schiwa-rath hakelim", das Zerbrechen der Welt... und bin gezwungen ihm ins Gesicht zu sehen, es wird länger und länger, der Bart zugespitzt wohl, spanisch verborgen die Photographie: ein Grande, und entwickelt Schwindel der Platz in Dauerdrehen und wir überqueren die Piazza San Lorenzo dei Servi, heute ist der 3.Juni 1992, 17 Uhr 10: Hannah redet auf den neben ihr ein das Gesicht verschwommen als hättest du eine zu scharfe Brille auf: alles verschwommen ein Anfall klar ein An-fall vom Bauch her steigts hoch dies Gesicht graublonde Barthaare ….





BAGNI DI LUCCA





Wir waren in diesen Tagen nach Bagni di Lucca gefahren, im Haupt-bad von Villa wollten wir die heißen Quellen besuchen und tüchtig al-le Gifte ausschwitzen. In den langen Gängen dieses Bades summte die Leere, Schritte hallten laut in langen weißen Korridoren, offene Türen, nackte Frauen- und Männerkörper in weiße Leintücher gehüllt, schimmernde weiche Frauenhaut, Haare wie Inseln und Flecken, das Dreieck ein Auge. Große, kleine, dünne und unförmige Körper, die froren, Nacktheit, die sich verstecken wollte. Scham. Ein scharfer Ge-ruch nach Schwefel erfüllte die hallenden Räume, zu hören, zu sehen war der Tag in diesem berühmten Badeort: Villa, Bagni di Lucca; die Stimmen, die klangen gedämpft, aus allen Türen ein Flüstern; nur die Ursache der Heilwirkung war nirgends mit bloßem Auge zu erkennen: Das heilende Wasser strahlte radioaktiv.
Nach dem Besuch beim Arzt nahm die alte Bademeisterin mich und Hannah in Empfang, sie wies uns eine Kabine an und reichte jedem ein weißes Leintuch; immer diese weißen Leintücher, dachte ich, als Kinder spielten wir dieses Gespensterspiel mit ihnen, trugen in der Hand einen Kürbis, Kerze flackernd im Innern, als wär´s ein Kapell-chen, das Mondsgesicht, gelb, hatte Augenschlitze, Mund, Nase, alles nur Schlitze, und sonst war er hohl, ein schweres rundes Ding, gerippt, eben die Wurzel, an einer Stange, hochgehalten, als wäre es ein Gal-gen, etwas geneigt, der Erde zu.
Ich hatte mich ausgezogen, und nackt, ging ich mit vorsichtigen Schritten in die Schwitzgrotte, saß nackt auf der Steinbank, vor mir zwei leere Höhlenaugen, sah das heiße Wasser in zwei Becken, es dampfte in leichten gekräuselten Säulen. Der Körper löste sich auf, ein Schneemann, der zerrinnt. In Strömen rann mir der Schweiß vom Körper. Regelmäßiges Tropfen von Wasser, und die Angst packte mich jetzt in der Schwitzgrotte: bist im Körper, in der Haut gefangen. Auch der Fels, sieh, ist in diesem Kalkstein gefangen, kleine Poren, da, auch Schwefelflecken, gelb...
Ich hörte die alte Bademeisterin mit brüchiger Stimme rufen, die Stimme kam von ganz weit her, ich stand langsam auf, spürte Schwindel, dann schwankte ich, mein Körper hinterließ eine Schweiß-spur, ich hatte das Leintuch um den Körper geschlungen, und ging mit tappenden Schritten, noch ganz benommen, barfuß über die nassen Holzlatten, darunter hart der heiße Stein; kam in den weißen Ruhe-raum, lag dann im Lehm, Lehmpackungen, radioaktiver Lehm. An-fangs ein wohliges Gefühl, Schlammpackung, mit der hier Heine ver-sucht hatte, seine Syphilis zu kurieren, was mißlang. Wie auch Mon-taignes Kur hier mißlang, Montaigne war einige Jahrhunderte früher hier gewesen als Heine, und Montaigne starb unter Qualen an Blasens-teinen.
Die Temperatur 41 Grad auch damals, als verginge keine Zeit, als wä-ren wir hier näher dem Innern der Erde, Schlammpackung wie hohes Fieber; Summen, sonst kein Laut; ich schwitzte wie als Kind im "Wi-ckel"; vor mir das Fenster, von Dampf beschlagen; Dampfwolken, Wolken, Wasser; im Dampf ist das Fenster zart und weich; Wasser in den Augen, Tränen auf undurchdringlichem Glas. Draußen ein Strauch. Chlorophyll. Das Grüne lockt. Und hier meine Haut. Weich. Wie wir vergehen, hier in diesem Körper. Je müder ich bin, dachte ich in meiner Lehmpackung, umso stärker und näher sind die Toten, an die ich denke, sie brechen die Wand auf, die uns trennt, zurück geht's tief ins Vergangene ...
Der Bademeister kam, und ich war froh, einen Menschen zu sehen, denn das Einsamkeitssummen war inzwischen unerträglich stark ge-worden.

Montaigne in Bagni

Montaigne, wie er ausgesehen haben mag, wie damals wohl ihre Kuren waren ... ihn auf einen Feder Strich zitieren? Montaigne... Ja, man schrieb ja auch da¬mals, genau wie heute ein Datum. Oder man sagte, welch schöner Tag, che bella gior¬nata. Montaignes Ankunft hier in Bagni di Lucca ... das war, ja, das war am 8. Mai 1581... Die Ver-gangenheit stirbt nie. Sie ist nicht einmal vergangen. Es war also Mai, als Michel de Montaigne, Landedelmann aus der Wein¬gegend von Bordeaux, hierher in die Lucchesia kam, er war in einer von Pfer¬den getrage¬nen Sänfte in Villa, dem Hauptort der Bäder von Lucca, ange-kom¬men, meh¬rere Diener ritten voraus. Der Herr Montaigne war aus-gestiegen, neben der schaukelnden Sänfte hergegangen. Neugierige Frauen sahen aus den Fenstern; wie immer, die Vorhänge zurückge-scho¬ben, so sahen sie hinab, sahen ihn, ohne dass er sie sah: Gemessen ging er, blieb ste¬hen, sah sich um. Auf dem Hauptplatz vor der Ther-malquelle ließ er die Die¬ner mit den Pferden warten und ging allein in eines der Gästehäu¬ser. Er be¬herrschte das Italienische, beherrschte so-gar das "passato remoto". In zehn Häu¬ser ging er, begutachtete vor al-lem die Klos; er war Pragmatiker; und er war krank. Er hatte schreckli-che Schmerzen gehabt, krank auf den Tod mit seinen Blasensteinen, infernalisch beim Urinie¬ren.
Nahm Quartier bei Paulino Cherubini, Capitano della Com¬pagnia delle Ordinanze, eine angesehene Persönlichkeit; der Capitano hatte viel zu sa¬gen, man befand sich schließlich im gefährlichen Grenz¬gebiet zum Todfeind Florenz.
Michel hatte Angst vor Stummheit im Schmerz bei den Koliken. Und wenn ich hier sterbe? dachte er: Ach was, laß uns bei den Freunden lieben und lachen, doch sterben und verwelken bei den Unbekannten, bei den Fremden im Ausland. Hier bin ich. Und ein Fremder. Doch kauf ich mich jetzt ein. Wenn man zahlen kann, findet sich schon je-mand, der uns den Kopf rich¬tet und die Füße einreibt. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich lieber zu Pferde als im Bett sterben. Lieber außerhalb des Hauses und weit weg von den Mei¬nen; der Tod mitten unter Anverwandten ist wie ein Herzzer¬reißen der Dinge.
War er hierher gekommen, um zu sterben? Das nicht. Doch er rechne-te schon lange damit, und war dabei ruhig und gelassen. Er sah die Leute mit ei¬ner Schärfe von der Seite an, dass die meinen mußten, es sei Mißtrauen, gar Hohn; sein Blick aber war nur prüfend; freilich, etwas zu lang. Doch er nahm die Welt so in sich auf, wie sie auf ihn zukam, im gleichen Rhyth¬mus. Und hier oben, wo die Weinberge bis zum Himmel hochsteigen, wie win¬kend hinein in die Bläue, also steil wie ein Gedanke, war die Zeit in der Natur sichtbar ge¬worden, dach-te er erstaunt. Auch dieses Haus des Capitano scheint ganz in der Natur aufzugehen, es atmet Ruhe. Und wie sagt Plotin noch: Zeit ist das Leben der Seele; hier hat jeder und jedes Ding Zeit.
Er mietete also eine Wohnung bei Cherubini; er nahm einen großen E߬raum, drei Zimmer und eine Kammer für seine Diener. Im ganzen waren da acht Betten, zwei mit Baldachin. Für den Tisch gab es Salz und Servietten je¬den Tag; das weiße Tisch¬tuch wurde alle drei Tage gewechselt. Küchengeräte aus Eisen gehörten zum In¬ventar - so hielt er es nachher in seinem Tagebuch fest; Und alles für 11 Scudi, einige Soldi mehr als zehneinhalb Pistolen, dies war der Mietpreis für 15 Ta-ge. Töpfe, Ge¬schirr, Teller, alles aus Steingut, die kaufte er, ebenso Becher und Besteck. Fleisch gab es so¬viel man wollte, Kalb¬fleisch und Ziegenfleisch, doch sonst überhaupt nichts. Poco o nulla. Und den Einkauf besorgte die Hausfrau. Etwa zwanzig Pistolen pro Kopf.
Kochen lassen konnte man in jedem Haus. Den Wein aber, sauer bei der Höhe, ließ er sich lieber aus Lucca und Pescia besorgen.
Er war allein, um nachdenken zu können, aber auch weil er fast gierig aß. Jetzt ausgehungert von der Reisestrapaze. Doch freute er sich da-bei über den wunderbaren Rundblick und das Rauschen der Lima im Tal. Nach dem Essen versuchte er den Tag zu beschreiben; doch wie immer hatte er an sei¬ner Schrift wenig Vergnügen. Meine Hand, dach-te er verärgert, ist so unge¬schickt, dass alles wie hingekrakelt aussieht. Gekrakel, Mi¬chel. Hast nachher Mühe, es wieder zu entziffern. Als hätte ich zwei linke Hände. Schon beim Schneiden der Feder kam er in heftige Erregung, weil das Spitzen wieder nicht gelang. Er warf das Schreibzeug zu Boden, doch es flatterte nur langsam in entgegenge-setzter Richtung sei¬ner Wut, die schneller war, und schlug auch nicht auf, er hätte es lieber knallen gehört.
Er überlas die Notizen vom Vortag aus Rom. Unleserliches überflog er... Hochamt, kleine Kapelle... Priesterornat... ein spiritato, trübsin¬nig der Beses¬sene, er schauderte vor Kälte. Gebete... Beschwörungs-formeln. Der Teufel sollte rausfahrn aus dem Leib. Doch der spuckte dem Priester ins Gesicht. Die Hostiendecke hatte der dann vor Schreck fallen lassen. In der rechten Hand aber hielt er krampfhaft die Kerze.
Mon¬taigne hatte hier furchtbar gelitten mit seinen Blasensteinen, starb bald darauf, das Bad hier hatte ihm nichts genützt, obwohl er jeden Morgen zum Bad ging, genau wie es in den Handschriften beschrieben wird: diszipliniert aus Kurgründen. Dort traf er meist den Bologneser Obersten Francesco Gambarini, im Ruhestand seit zwei Jahren; weiß-haari¬ger kann man nicht sein; und dann diese schöne Tochter. Sie wohnen vier Meilen von hier entfernt in Borgo a Mozzano. Als er im Dienst war, hatte er 16 Scudi Sold im Monat. Aber er kommt aus ei-ner reichen Familie, Gentiluomo, Passion fürs Kriegshand¬werk. Hier befeh¬ligt er 200 Soldaten, alle aus dem Dorf, ebenso der Capi¬tano und die Serge¬anten, die genießen Immunität wie Diplomaten, dürfen nicht verhaftet werden. Der Oberst muß von auswärts sein.
Vor zwei Jahren hatte Montaigne mal zuge¬sehen bei einem kleinen Manöver. Sie kämpfen gut, verstehen was vom Solda¬tenhand¬werk. Alle Achtung.
Montaigne und Gambarini grüßten sich.
Das Fräulein machte keinen Hofknicks, sondern eine Verbeugung wie Männer. So ist das üblich hier. Sie muß wohl sehr krank sein, sieht fast durchsichtig zart aus, das Gesicht wie man sagt: wächsern, Puppe. Mon¬taigne war ihnen gut bekannt, war in Borgo a Mozzano gewesen, sie haben eine schöne Wohnung, sogar mit Glasfenstern, eine Seltenheit hier, wo die Häuser sonst nur Holzfenster haben, dachte er,. wäh¬rend der Colo¬nello eifrig auf ihn einredete, dabei zuckte des-sen Hand wie ein Nervenblitz durch die Luft, als greife er nach etwas Unsichtbarem.
Dann kam auch Montaigne in den nassen Raum. Ein Nebenraum dien-te zum Auskleiden. Nackt standen die Männer unter der Brause; meh-rere Röhren verteil¬ten das heiße Wasser auf den Körper, vor allem aber traf ein starker Strahl den Kopf, massierte und erwärmte ihn. Der Bo¬logneser wirkte neben den beiden kleinen Gestalten wie ein Hüne, trotz sei¬ner nervös zuc¬kenden Hand strahlte er Kraft aus. Die Intimi-tät des Nack¬ten empfand Gambarini als peinlich, er bewegte sich, als wären alle Blicke auf ihn gerich¬tet und hielten ihn fest. Der Raum ist ja groß genug, dachte Montaigne, er ist fast halb so groß wie mein Sa-lon bei Cherubini. Was ist das Anregendste hier bei der Kur? Doch nur die Gesellschaft. Und während ihm das warme Was¬ser wohl-tuend den Kopf mas¬sierte, überlegte er, dass es wichtig sei, Heiterkeit an diese Orte mitzubrin¬gen, wo die Zeit sich dehnt und Lan¬ge¬weile aufkommen kann, genügend Heiterkeit, um die geselli¬gen Vergnü-gungen zu genießen, die Spazier¬gänge und Ausflüge. Ob in Frank-reich, Banièrs, Plombièrs, in Deutschland Baden-Baden oder hier Vil-la, - alle diese Zer¬streu¬un¬gen nehmen ihn hinlänglich in Anspruch; für Melan¬cholie, seinen Todfeind, ist kein Raum. Gesichter sehen, diese Reize, ein Liebes- Abenteuer zu er¬hoffen, das macht die eintönige Zeit im Badeort prickelnder. Und doch, zur Witwe Sercambi wird er heute abend nicht ge¬hen. Ich weiß, überlegt er, der Colonello kommt in die-sem Nekromanti¬schen Erzähl¬kreis wieder mit sei¬nen Geister-geschichten. Die schaurigste kenn ich, die hat er mir schon in seinem Haus erzählt. Be¬ginnt mit einem Spruch: "Und nach drei Tagen/ wacht die Schöne wieder auf,/ öffnet, öffnet, lie¬ber Vater mein,/ öffnet und zaudert nicht./ Drei Tage lag ich wie tot/ Zu retten meine Ehr." Auf dem Gesicht des großen und hage¬ren Colo¬nello liegt ein be¬sonders weicher Zug, Unglück zeichnet. Und seine Toch¬ter, die schöne Emi-lia, etwa 25 Jahre alt, hat ein Wachsgesicht, ist zerbrech¬lich wie eine Porzellanpuppe.

Am nächsten Morgen traf der Colonello seinen würdigen und verehr-ten Freund Montaigne im Bad Bernabó, etwa drei Meilen Fußweg von Villa entfernt. Das Bad hatte vor vielen Jahren ein Leprakranker ent¬deckt, so hieß es. Und die Leute erzählen andau¬ernd Gerüchte über dieses Bad; ge¬stern sei ein reicher Gentiluomo aus Cremona hier ge¬sehen worden, der wollte seine Zwergwüchsigkeit heilen; auch von einer Himmelser¬scheinung redeten die Leute, man habe eine Marien-erscheinung in ei¬ner Grotte beob¬achten können.
Mon¬taigne begutachtete das Bad. Die Quelle war nur von einem Dach bedeckt, ringsum Steinsitze, als wäre das Wasser, das da in einer Ei-senrinne floß, heilig. "Sieh, die Rinne ist von unten schon stark verros-tet", sagte Mon¬taigne: "Die Kraft des Wassers ist enorm." Als wäre es ein Selbstgespräch, Montaigne beachtete Gambarini kaum; dies Was-ser, von dem er zu trinken be¬gann, ein großes Wasserglas an den Lip-pen, war dem Körper näher, war al¬so wirklicher für den Kör-perfanatiker als der Mann, der neben ihm stand. "Dieses Wasser ist etwas wärmer als das in Villa", sagte er. "Riecht´s nicht stärker nach Schwefel? Sieh, die Stelle, wo es in die Rinne fällt", und er ta¬stete mit dem Zeigefin¬ger die glitschige Stelle ab: "weiß, wie Asche."
Im Tal rauschte die Lima.
Montaigne trank, goutierte, als wär´s der köstlichste Wein. Denn er fühlte sich heute morgen nicht wohl. Er ging hinter die näch¬ste Stein-eiche und pisste auf die rissige Rinde, ein Zug Ameisen er¬trank im zi-schenden Strahl. Wenn die schreien könnten. Jetzt bin ich für sie der Herrgott. Die Farbe ist normal, gestern fast schwarz der Urin, dachte er, verzog schmerz¬haft das fleischig runde Gesicht, winzige Steinbil-dungen tra¬ten aus. Das abgelassene Wasser war rot.
Ich hätte gern den Zwerg gesehen, dachte er: der aber kommt aus-gerechnet heute nicht. Wir sind allein.
"Ob der Zwerg gestreckt werden kann", sagte er in die Stille und er-schrak.
"Einige unerklärliche Heilungen sind nachgewiesen."
"Und die Erscheinungen?"
"Du meinst die der Maria von gestern?" (Er hat es also auch erfah-ren!) "Es ist der Mensch, der glaubt und betet", hörte er den andern sagen: "Es gibt eine Erregung der Sinne, und die Seele der Leute kann von einer religiösen Leidenschaft zum Glühen gebracht wer¬den, die dann solche Wirkungen auslöst. Ich für meinen Teil, trachte auch nach nichts an¬derem, als etwas hoffen und wünschen zu können; es ist er-barmungswürdig, zum Wünschen zu matt und zu müde zu sein."

Er atmete schwer. Hatte zuletzt lauter und heftiger gesprochen, als müsse er etwas abwehren. Blieb stehn und schwieg. Sein kleiner Schatten zwischen den Bäumen, der stand nun im Staub der Straße. Ein Reiter kam im Galopp vorbei. Sie wichen ihm aus. Montaigne hatte eine laute und ein¬dringliche Stimme. Er wandte sich ab, sah in den Fluß. Es war ihm aufgefal¬len, dass ihn das Sprechen anstrengte und ebenso schadete wie irgendeine Ausschweifung. Aber er wollte sich nicht mäßigen. Die Laut¬stärke und der Tonfall der Stimme, dach-te er, enthalten ja bereits etwas von Sinn und Be¬deutung meiner Mei-nung. Est quaedam vox ad auditum accomodatat...
Es ist viel versteckter Gram und eine große Beherrschung in dem starken Mann: "Und die Organe, die früher am tätigsten und die kräf-tigsten waren", sagt er, "die werden vertrocknen. Natur spritzte früher in die Zeit, so dass die Kinder eins nach dem andern kamen, in der Vollkraft meiner Jahre nahmen sie den ersten Platz ein, diese Organe werden nun am elen¬desten sein, sie entziehen uns Saft und Kraft und Lust am Leben: wer kei¬ner Frau mehr nachschaut, der ist schon tot."
Sie gingen in Richtung Kapelle. Da sagte Montaigne: Niemals habe er einen Bauern aus seiner Nachbar¬schaft dar¬über nachdenken sehen, in welcher Haltung er die letzten Stun¬den seines Le¬bens be¬stehen würde; "er fin¬det sich besser mit dem Tode ab, als der gelehrte Aristoteles. Wir quälen uns immer nur selbst, wenn wir der Natur vorgreifen. Nur gelehrte Pe¬danten lassen sich, auch wenn sie voll¬ständig gesund sind, durch den Tod den Appetit verderben. Und was uns die Wissen-schaften als höchsten Gewinn verspre¬chen, hat die Natur für sich, sie führt uns, ihre Schüler, ganz ohne Zwang."
Er hat keine gute Meinung von den Frauen, keine von der großen Lie-be. Montaigne hat nie eine große Liebe ge¬habt, dazu ist er zu nüchtern. Er läßt sich nie aus der Ruhe bringen in sei¬ner Selbstgerech¬tigkeit, der edle Egoist.
Man merkte es Montaigne an, dass ihm jetzt das Sprechen schwerfiel, er hatte Schmerzen; und es war ihm doch wichtig, den Schmerz in den Griff zu bekom¬men, indem er es sagte: "Ich bin im Kampf mit dieser Krankheit, aber dennoch ist es möglich, sich aufrecht zu halten, wenn man sich von der Todesfurcht befreit."
Er nahm Grausamkeiten hin, der berühmte Mann. Und war rück¬sichts-los offen. Und er schonte auch sich selbst nicht, wie der ein wenig schwerfällig, von Schmerzen Ge¬plagte, von Zeit zu Zeit die Hand an die Seite legte, stehenblieb, über sich selbst sprach, als spreche er über ein Ex¬periment: er zum Beispiel, er selbst sei scham¬haft-frech, sagte er, keusch-sinnlich, schwatzhaft-schweigsam, geistvoll-stumpf, und jetzt eben sehr mü¬de. "Das al¬les bin ich und seh ich in mir, je nachdem wie ich mich drehe. Und eben sind´s die Nieren und die Blase vor allem. Man sieht´s ja an den Ärzten, was für eine Scheinwissenschaft die Wissen¬schaft der Doctoren ist. Da lese ich gerade ein Buch von Donati über dies Wasser von Villa "De aquis lucensibus, quae vulgo Vilenses appellantur", eben in Lucca erschie¬nen, der schlägt vor, di pranzar poco e cenar molto, also wenig zu Mittag und viel zu Abend zu essen, sein College Franciotti aber sagt in seinem "Tractatus" genau das Gegenteil. Die medizinische Kunst, ja, ist keine, die wissen nichts und widersprechen sich dauernd. Denn es hilft da kein Buch, nur Erfahrung und Beobach¬tung; Nico¬lao, Sie ir¬ren, wenn Sie unbedingt ein festes und starkes Gefü¬ge in uns Menschen sehen wollen."
Da er sich an Donati gehalten, "mi provoco il vomito anche in seguito." Und er habe große Bauchschmerzen gehabt, und damit dann stun-denlang den Klorand gedrückt, oft scheißen müssen. Und drückte sich meist so offen und drastisch aus; wie sein Kollege Rabelais. Montaig-ne hatte auch jetzt große Schmerzen, eine einsetzende Kolik, der Bla-sen¬grieß. dass nun das Steinlei¬den ein Glied befällt, mit dem wir am meisten gesündigt haben, scheint folgerichtig, dachte der Colonello: die Mitte, wo der Schmerz im Harnkanal brennt.
Sie waren inzwischen in Richtung Villa die Serpentinen hochgestie-gen. Wie zärtlich dies Grün der Land¬schaft ist! Auch die eigene Natur bändigt man nur, wie ihre Schmerzen mit Sanft¬mut. Montaigne krümmte sich am Stra¬ßenrand. Schweißtropfen auf der ho¬hen Stirn, unter den Krämpfen zuckte der ganze Körper wie bei der Fallsucht; unter den dünnen, wie mit Tusche gezogenen Brauen die halbge-schlossenen Lider, darunter quollen dicke Tränen hervor; er über¬gab sich mehrmals. Grüne Galle und Erbrochenes lag im Staub der Straße wie ein¬gepökelt. Andere flu¬chen wie Kutscher. Das verstärkt das inne-re Zerren. Wir müssen die Gesetze unseres Daseins sanftmütig ertra-gen, dachte der Geplagte. Aber du stirbst ja nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst. Wenigstens einmal im Monat berührt dich der Tod mit eiskalter Hand. Redete sich gut zu. Diese Anfälle passen zu meinem raschen und sprung¬haf¬ten Tempera¬ment. Und jetzt ist´s ja wieder gut, ich nehme an, dass mich das heftige Erbrechen bei den Anfällen reinigt. Und dass die Natur in diesen Steinen alles Überflüs-sige und Schlechte sammelt. Der Anfall ist wie eine Medicin. Und stört nur dann, wenn es mir an Mut fehlt. Bei einem besonders schwe-ren Anfall habe ich ein¬mal zehn Stun¬den im Sattel ausgehalten. Man muß einfach die Schmerzen fort¬denkend ertragen; eine andere Verhal-tens¬regel gibt es nicht. Spielt, eßt, lauft, redet euch heiser, schlaft mit einer Frau, würde ich sagen, wenn ihr es könnt. Lacht auf. Und der Schmerz hält eher wach.
Er schritt schnell aus, seine kleine Gestalt lief durch den Staub. Er wollte den Colonello errei¬chen, da dessen übertrieben großes Barett mit dem Federbusch schon gegen den Hori¬zont wie ein Scheren-schnitt zu erkennen war.
Sie waren inzwischen oben angekommen.
"Na, mein Freund, Ihr seht ja von weitem wie ein schwarzer Para-dies¬vo¬gel aus", sagte Montaigne laut lachend.
Die Patienten mit Steinleiden hatten wie unter der Folter ge¬schrien. Aber Montaigne hatte sich voll¬kommen in der Hand. Und witzelte weiter. Er machte eine Pause, stützte sich auf einen Fels, indem er die bei¬den Hände nach hinten, die Handrücken ans Kreuz, die Handflä-chen an den Berg legte, als könne er so den Stein von seinem Körper fernhalten: "Die Attacken befallen mich so oft, dass ich gar nicht mehr weiß, was Gesundheit ist. Aber kein Schmerz kann so bitter und durch¬dringend sein, dass ein be¬herrschter Mensch darüber in Raserei und Verzweiflung geraten müßte."
Wenn man leben könnte, dachte der Colonello, so wie der Ruhige da, der die Dinge an sich herankommen ließ; der auch ohne alle Umstände bekann¬te, dass er gerne auf alle tastenden Versuche verzichten würde, klare Ent¬scheid¬ungen zu fällen, denn seine Seele könne keinen festen Standort haben, und so bleibe er stets im Stadium des Lernens und Probens. Und jetzt sei er in großer Verlegenheit, sagte er: auf dem Wege über Rom habe er Briefe von einem gewissen Herrn M. Tausin erhalten, "die am 2. Au¬gust in Bor¬deaux geschrieben worden sind". Seine Stimme klang, als habe er eine Todesnachricht erhalten: "Man teilt mir mit", sagte er, "dass ich einstimmig zum Bür¬germeister von Bordeaux gewählt worden bin, und man fordert mich auf, dieses Amt aus Vaterlandslie¬be anzunehmen. Das Schlimme aber ist, dass mir auch der König ein Schreiben hat zu¬kom¬men lassen, und mich drin-gend bittet, nicht Nein zu sagen." Aber ich werde „Nein“ sagen.
Montaigne starb zwei Jahre später, im Jahre 1583.

MONTAIGNE war sehr am Alltag interessiert, führte Tagebuch, und hielt den gewöhnlichsten Menschen für das größte aller Wunder, bemerkte Nicolao erstaunt.
Donnerstag war Corpus Domini: In Lucca die Prozession mit dem Schwarzen Christus. Montaigne badete anderthalb Stunden, das Wasser gut temperiert, schwitzte auch nicht zu heftig, nahm eine Brause, eine halbe Viertelstunde, legte sich für ein Stündlein hin, und bevor er einschlief, nun schon im Buonvisipalast, im prächtigen Schlafzimmer, spürte er an den Händen und andern Körperteilen ein Brennen. Er versuchte an das bevorstehende Fest zu denken: für Sonntag hatte er hundert Personen eingeladen. Die besten Tänzer sollten prämiert werden. Vincenzo Sanminiati, den Historiker, seinen Freund, und Granucci, den Arzt, hatte er gebeten, die Prämien in Lucca zu besorgen: 8 oder 10 Preise für die Frauen, um keine Eifersüchteleien aufkommen zu lassen, 3 oder 4 für die Männer. Während er ausgestreckt auf dem Bett lag, ließ er die Gedanken kommen. Die vertrieben seine Grillen. Und die Angst. Lelio Buonvisi kam ihm in den Sinn, sein merkwürdiges Leiden, dabei ist der steinreich, kann sich alles leisten, dachte er, aufgeputzt ist der wie ein Pfau, muß so manches maskieren, der arme Kerl, redet viel, recht lebenslustig, nur diese Gebrechen, die machen ihm zu schaffen; schlechtes Blut haben diese alten Familien, sind wohl inzüchtig. Das schlimmste Übel ist der Kopf. Leere oft, sagt er, die Leere quäle sehr. Mir gehts nicht viel besser, wenn die Kolik kommt. Seit 18 Monaten die Anfälle. Und finde darin einen Trost, im Kampf gegen den eisigen Tod. Diese qualvollen Attacken. Aber es ist dennoch möglich, sich aufrecht zu halten, befreit man sich von der Todesfurcht, vor allem von den Drohungen, Schlüssen und Schlußfolgerungen der Ärzte. Schluß mit den Schlüssen. Was kommen wird ,weiß keiner. Das Fest also. Auch der Buonvisi hat zugesagt. Wenn er`s nur nicht vergißt. Aber wie soll er`s vergessen, hier wird es stattfinden, in seinem Palazzo. Und er wird wieder schwadronieren, von seinen angeblichen Seeabenteuern erzählen. Diese Sucht, ein Seemann sein zu wollen; bei der schwächlichen Konstitution. Er braucht's und flunkert dann. Ob er Angst hat vor diesem Zustand der Leere? Und diese krankhafte Angst vor den Florentinern und den "Häretikern", die ihm nach Reichtum und Leben trachten. Die schöne Lucrezia mit ihrer Liebschaft ist daran nicht unschuldig. Merkwürdig, diese Italiener, auf so engem Raum können so viele Feinde miteinander leben. Auch hier in Villa. Daher sind Mord und Totschlag nicht ungewöhnlich in diesem Land. Wie der Buonvisi mit seinem schwachen Kopf durchkommt, ein Wunder. Ein Wunder überhaupt diese alltäglichen Dinge, sie könnten uns, wenn man das rechte Licht dafür fände, erstaunliche Einsichten in die menschliche Natur vermitteln. Die verborgenen Seiten an allem, womit man zu tun hat, und unergründliche, stille, dem Träger oft selbst unbekannte Veranlagungen, die nur wach werden, wenn die Gelegenheit dafür eintritt. Auch solch ein Fest ist eine Gelegenheit. Die beiden Rivalen; und Madonna Lucretiina wird vielleicht dabei sein. Kampfhähne; alle beide mit großen Worten. Der Granucci wird sich wieder beleidigt zurückziehen, sich vor dem Glanz verstecken, kleinmütig, unscheinbar, geduckt. Oder er wird es vermeiden und gar nicht erscheinen. Und sich entschuldigen: ... ja, die Arbeit, ja, diese vielen Besprechungen mit De Carli. - Carli, das ist jener, der den Buonvisi und die Mercanti am meisten haßt, der glaubt mit Jesualdo an Zeichen und Wunder, dass der "Messiasstaat" bald da sei. Vielleicht in der Leere, in solch einer Leere wie die im Kopf des Buonvisi einzurichten. Ein komischer Mann, dieser Lelio, der die schöne blonde Lucrezia im Bett hat, sie sieht aus wie vom Botticelli in Florenz gemalt, reine Primavera und treibende Venus, das juckt schon, wenn du sie ansiehst, und alle braten heftig in der Liebeshölle. Granucci am heißesten, samt Eifersucht, diese Giftwunde. Nur sie, die Lucrezia, sie ist sicher die Alleinleidende, haßt den Vergessenden. Ob sie, wie hier üblich, mit Gift umgehen kann? Der Lelio, ihr Eheverwandter, der vergißt ja sogar, was man ihm beim Essen vorgesetzt hat. Unglaublich, dabei ist doch Essen und Trinken die bes-ten Sache der Welt, besser noch als die Beischläferei. Im alten Rom da aßen sie bis tief in die Nacht. Stundenlang. Würzten dazu noch mit lehrreichen Gesprächen die nie zu lange Zeit. Und der Signor Lelio vergißt, was er eben am Gaumen gehabt hat. Wenn er sein Haus ver-läßt, wegen irgendwelcher Besorgungen, muß er zehnmal umkehren, nachzufragen, wohin er denn eigentlich gehen wollte. Sie lachen alle hinter seinem Rücken, auch das Personal. Die Stubenmädchen kichern. Die Pferdeknechte grinsen breit. Die Köchin schüttelt weise das Haupt. Für das Pater noster braucht er eine Ewigkeit, muß immer von vorne anfangen, kommt nie bis zum Amen, vergißt, dass er angefan-gen, wo er unterbrochen hat, und ist nur im Augenblick; was war, was kommt, fällt in eine Leere. Und mich rührt es ja, wäre mein Prinzip, nur - eben als Methode, nicht als Idiotie. Und doch gelingt`s ihm, Geld zu scheffeln. Der Moment zählt ja. Freilich, die Bücher müssen in Ordnung sein. Dazu hat er seinen Secretär. Und dieser Dottore, der in Padua studiert hat, ein gewitzter Kerl,der ihn berät: Geld in Köln,in Antwerpen,Genf, Lyon. Nun hat befahl, die Wahl zum Bürgermeister von Bordeaux anzunehmen, er nun wieder unentschlossen: wozu auch das Amt annehmen, er wäre unfrei; von sogenannten Ehren hielt er nichts, und lebte als einfacher Mann wie unter einer Tarnkappe, Selbständigkeit und innere Freiheit waren ihm alles. Sah die Weltver-besserer mit mildem Spott, manche haßte er. Wie sollte man diese Selbständigkeit, die so schwer zu verteidigen war,auf andere,gar auf viele übertragen.


Puccini. Lucca und Torre del Lago
Der schönste Puccini-Ausflug führt in die Berge bei Pescaglia im Hin-terland von Lucca, wo die Olivenbäume im Gras versinken, alters-schwache Lichtmasten den Weg in die Orte weisen und die Straßen so schmal sind, dass die Einheimischen vor jeder Biegung hupen. In das Dörfchen Celle, bestehend aus zwei Dutzend grauer Natursteinhäuser am Hang, muss man die letzten Meter auf einem Fußweg zurücklegen, vorbei an einem Madonnenwinkel mit steinernem Kniebänkchen, durch alte Torbögen und um die winzige Kirche herum, bis man in ei-nem renovierten Hof mit ocker- und malvenfarben verputzten Fassa-den steht: Hier sind Puccinis Vorfahren geboren. Im bäuerlichen Stammhaus des Familienclans ist ein kleines Museum eingerichtet, das an diesem Nachmittag aber leider geschlossen hat – wie überhaupt nur ein bellender Hund und eine zugeschlagene Tür darauf hindeuten, dass das Dorf bewohnt ist. Auf dem Friedhof, ein paar Straßenwin-dungen oberhalb von Celle, sucht man den Namen Puccini jedoch vergebens. Auf jedem zweiten Grabstein steht »Lucarotti«. Die Welt ist klein hier oben.
Man scheut sich, Giacomo Puccini einen Mann von Welt zu nennen. Einerseits war er weit gereist, hat Südamerika gesehen und wurde in New York bejubelt. Andererseits liegt (abgesehen von der Mailänder Studienzeit) keiner seiner Wohnorte weiter als 30 Kilometer von seiner Geburtsstadt Lucca entfernt. Puccini wollte raus – und doch am liebsten bleiben, wo er herkam. Gut möglich, dass an diesen wider-strebenden Heimatgefühlen Lucca schuld war mit seiner berühmten, komplett erhaltenen Wallmauer. Wie in keiner anderen toskanischen Stadt umschließt sie das Zentrum und hält weit mehr zusammen als nur die historischen Häuser und Kirchen. Sie gibt den Altstadt-Lucchesern, zu denen die Musikerfamilie Puccini gehörte, das Gefühl von Geborgenheit. Sie funktioniert wie die Metallringe, die Gourmet-köche beim Anrichten benutzen: Das Kostbarste wird in der Mitte des Tellers getürmt. Aber hat die Mauer nicht auch einen Sardinenbüch-seneffekt? Eng hocken alle aufeinander. Oben auf der Wallstraße sind die Touristen auf Mietfahrrädern unterwegs, bei denen die Sättel viel zu niedrig eingestellt sind. Kurios drehen die Radler die Beine nach außen, um mit den Knien nicht an den Lenker zu stoßen. Auch die Luccheser pflegen diesen Fahrstil, weil er das Anhalten

Also zu Lucca gerhört der in Lucca geborene Puccini; auch wenn er ein Leben in Torre del Lago verbracht hat, also eigentlich nahe Via-reggio zu suchen ist, dieser mir unsympathische Maccho und Frauen-held. Helmut Krausser hat einen Roman darüber geschrieben. Und auf Italienisch kenne ich die Geschichte aus dem Roman meines Viaregg-giner Freunde Giancarlo Micheli.

In der „Welt „lesen wirs: „Mozart hatte Affären, Strauss und Brahms auch. Liebschaften gehörten unter Komponisten fast zum guten Ton. Der Opern-Komponist Giacomo Puccini hatte drei große Bettge-schichten. Helmut Krausser enthüllt sie in "Die kleinen Gärten des Maestro Puccini". Für die Frauen endeten die Abenteuer bisweilen tödlich“ (2008) Der Rensent holt kräftig aus und findet Komisches und Lächerliches auch bei Kllen Puccinis:“ Sand einer Dame in Her-renhosen verfallen. Ob bei Schubert überhaupt was war, ist bis heute nicht aktenkundig; trotzdem starb er an Syphilis – wie auch der bei Männern wildernde Robert Schumann, den ein sadomasochistisches Abhängigkeitsverhältnis an die zunehmend herbere Clara band. Peter Tschaikowsky könnte einem Fememord mit schwulem Hintergrund zum Opfer gefallen sein, Richard Wagner schlief mit der Frau seines besten Freundes und trug gern seidene Damenwäsche. Brahms konnte nur bei Prostituierten und Alma Mahler vergnügte sich mit der halben Wiener Intellektuellenwelt und sorgte dafür, dass es ihr guter Gustav postwendend erfuhr; während Richard Strauss unter dem Knüttel sei-ner bärbeißigen Gattin Pauline stand, der er in der Sinfonia Domestica wie in der Oper „Intermezzo“ nicht eben schmeichelhafte Musik-denkmäler setzte. Und so fort. Dann wäre da freilich noch Giacomo Puccini (1885-1924), ein Lebemann der italienischen Belle Epoque, ein dauererregter Faun; den seine überstarke Libido freilich nicht nur zu einer hinreißenden Galerie singender Frauengestalten von der femme fragile und der Primadonna über das trink- wie bibelfeste Cowgirl, die japanische Kindgeisha, die fehlgetretene Nonne bis zur männermordenden China-Prinzessin inspirierte, sondern immer wieder auch im realen Leben in beträchtliche Kalamitäten brachte. Am Schlimmsten und Öffentlichkeitswirksamsten war der Prozess, in den sein Gattin Elvira 1909 verwickelt war und wegen Beleidigung und übler Nachrede verurteilt wurde.
Affären-Vorwürfe belasteten Puccini
Sie hatte nämlich Doria Manfredi, ein Dienstmädchen im Hauses Puc-cini fälschlich verdächtigt, mit ihrem Mann ein Verhältnis zu haben (dabei schlief dieser doch nur mit ihrer Schwester). Das einfach Ding aus dem nahe Dorf neben der luxuriösen Villa Puccini am Lago Mas-saciuccoli bei Viareggio sah sich von den immer bösartigeren Nach-stellungen der megärenhaften Gattin in Worten wie Taten in die Enge getrieben und wusste keinen Ausweg mehr als sich zu vergiften.
Ihre Verwandten wollten freilich die Sache nicht vertuschen, sondern schalteten Anwälte ein: Ganz Europa weidete sich an dem, was folgte. Für Puccini, der seit der zunächst erfolglosen „Madame Butterfly“ im Jahr 1904 keine Oper mehr zu Stande brachte, sich aber mit diversen Libretti herumgeschlagen hatte, waren das schwierige Jahre.
Der kreative Knoten löste sich erst mit der 1910 vollendeten „Fanciul-la del West“, einem Auftrag der New Yorker Metropolitan Opera, und auch zu seiner ihm entfremdeten Frau, der Mutter seines einzigen Sohnes, die er erst 1904 geheiratet hatte, fand er wieder zurück. Bis der heftige Raucher 1924 über den letzten Takten seiner Oper „Turan-dot“ an Kehlkopfkrebs starb.
Krausser deckt nicht vollständig auf
Auftritt Helmut Krausser. Der Schriftsteller hat nicht nur vergnüglich über den Teufel in Gestalt des Pudels von Maria Callas („Der große Bagarozy“) sowie über den Verbleib ihrer Divenasche publiziert, er hat auch in „Melodien“ den Vorhang über der prallbunten Welt der Barockoper zurückgeschlagen und sich selbst zweimal für den Kom-ponisten Moritz Eggert als Librettist versucht.
Weiterführende Links
• Puccini – keiner bringt uns so zum Weinen
• Opern-Stars Netrebko und Villazón drehen Film
• Glamour! Bohème! Netrebko & Villazón
• Keine Zärtlichkeit bei "Tosca" in Bregenz
• Der Bewusstseinszwerg
Nun hat Krausser, passenderweise zum Puccini-Jahr, das dessen 150..Geburtstag am 22. Dezember begeht, gleich zwei Werke um und über diesen vorgelegt. Was aber nichts macht, denn Krausser weiß auch, dass über Giacomo Puccini angeblich fast so viel Sekundärmate-rial vorliegt wie über Richard Wagner. Und doch gibt es in diesem al-so gut durchleuchteten Werk noch einige dunkle Stellen.
Am Montag erscheint der biographische Roman „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“ ein mittelanger Triptychon über dessen drei be-deutsamste Affären – zu denen Helmut Krausser freilich nicht die jah-relange wilde Ehe mit Elvira Bonturi, verheiratete Geminiani zählt. Schon auf dem Markt ist hingegen „Die Jagd nach Corinna“, ein nüch-terner Arbeitsbericht, der aufdröselt und belegt, wie er nach vielen Irr- und Abwegen in jahrelanger Recherchearbeit die Frau fand, welcher der erste Roman-Teil gewidmet ist und die er hochtrabend als „eines der größten Geheimnisse der Musikgeschichte“ annonciert, das er nun gelöst habe.
Der Weltkomponist umgarnt die Näherin
Freilich nicht allein, so generös ist Krausser doch. Entscheidend betei-ligt war auch der Puccini-Biograph Dieter Schickeling, der als bedeut-samster deutschsprachiger Forscher für Leben und Werk eines der nach wie vor populärsten Komponisten überhaupt nun termingerecht seine Biographie – die ausführlichste zum Thema – erweitert und ak-tualisiert bei Carus und Reclam vorgelegt hat (463 S., 39,90 €).
Parallel zur einer nun schon seit Jahren andauernden Neubewertung seiner viel strapazierten Opern durch bedeutende Dirigenten und Mu-sikforscher, sollen nun auch die letzten trüben Ecken im blühenden biographischen Puccini-Garten gelichtet und ausgeschnitten werden. Helmut Krausser vertikutiert hier durchaus professionell und bringt akkurat in Form. Ganz ohne seine sonst übliche barock ausufernde Sprachgewalt, nüchtern fast, mehr auf die Fakten, denn auf die schüchtern sie umhüllende und dezent ausmalende Fiktion bedacht.
Es wird im Lauf der 380 Seiten klar, wie sehr die nicht standesgemäße Liebe des Großbürgers, Frauenlieblings und Weltkomponisten Puccini zu einer minderjährigen Turiner Näherin namens Maria Anna Coriasco, die man aus Briefstellen nur als „Corinna“ kannte, kurz nach der Jahrhundertwende sein Denken und Schaffen beeinflusst hat.
"Corinnas" Gefühle bleiben unerwidert
Vier Jahre zog sich wohl die Affäre hin, am Ende verhandelten An-wälte, wurden Detektive eingeschaltet und waren von Elvira, über di-verse Männerfreunde bis zum befehlsgewaltigen Verleger Giulio Ric-cordi fast das gesamte Puccini-Umfeld in die immer unappetitlichere Episode involviert. Da wird intrigiert, belogen, bestochen, geschmiert, gefleht und gehofft.
Und das vor allem, weil „Corinna“, die schließlich sitzen Gelassene, ihre aufrichtige Liebe einforderte und ihn nicht aufgeben wollte und konnte. Denn der technikverrückte Komponist, nach seinem schweren Autounfall zunächst auf Krücken gehend, hatte wieder zu seiner Le-bensgefährtin Elvira zurückgefunden und diese später auch geheiratet.
Die reine Liebe „Corinnas“ aber, die später mit Geld und juristischen Drohungen gestillt werden musste, findet sich sicher im in dieser Zeit entstandenen bittermandelsüßen Melodram von der „Kleinen Frau Schmetterling“ wieder. Krausser, oft behindert von noch lebenden Anverwandten, hat alle Lebensspuren der 1882 geborenen, 1961 ge-storbenen Maria Anna Lucia Coriasco zusammengetragen. An Bild-dokumenten fand er nur ein Grabsteinfoto und mögliche Aktaufnah-men, die von Wilhelm Plüschow angefertigt worden waren. Ihre im Buch ausgebreitete Vita im Schatten ihres kurzen Lebensromans ist dann reine Krausser-Erfindung.
Von der Geliebten zur Seelenfreundin
Doch der große Erotomane Puccini spiegelt sich nicht nur im Licht dieser eher trübseligen Affäre. Krausser lässt im dritten Buchteil jene linkisch-schüchterne Doria Manfredi auftreten, deren sprachlose, aber keusche Bewunderung des spät nachts sich mit seinem Kompositionen herumplagenden Maestros der aufgebrachten und inzwischen aus Prinzip misstrauischen Elvira mehr als nur ein Dorn im Ehefrauenauge wurde und eine Kausalkette fataler Folgerungen in Gang setzte.
Die verdruckste Moralinsäuerlichkeit einer bigotten und möchtegern-moralischen Ära wird hier grausam Realität, die bösartigen Verteidi-gungsfeldzüge einer nur noch geduldeten Gattin, das vergebliche Fes-thalten eines alternden Lebemannes an der längst verflossenen Jugend und ihrer schal gewordenen Junggesellenherrlichkeit. Und die arme Doria ist ihr hilfloses Opfer, dessen Jungfräulichkeit dann erst die Au-topsie offenbart.
Themen
• Helmut Krausser
• Giacomo Puccini
• Die kleinen Gärten des Maestro Puccini
• Affäre
• Komponisten
• Oper
Als glamouröses Trostkissen fungiert immerhin im Mittelteil von „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“ die jüdische Engländerin Sybil Seligman, die kurz die Geliebte, dann aber zwanzig Jahre lang die Seelenfreundin Puccinis wurde, die einzige mit der er seine geheims-ten Gedanken und Neigungen teilen konnte. Die luxuriös verheiratete Mutter zweier Söhne, die später, nach der großen Depression, uner-kannt und in Armut starb, hat der in Sachen Puccini erstaunlich obses-sive Helmut Krausser ebenfalls aus dem Dunkel des Fußnotendasein entrissen, sie als Geschmacksberaterin und Geistesvertraute inthroni-siert.
Wer nach dieser Lektüre weiter in den Melodietränen von Manon, Mimí und Minnie schwelgt, wird dies sicher mit anderen Ohren tun.
Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini.Dumont, Köln, 380 Seiten, 19,90 Euro
Helmut Krausser: Die Jagd nach Corinna. Belleville, München, 142 Seiten, 14 Euro

(Aus: Die Welt)

DIE ZEIT haut noch kräftiger in den Maestro-Macho ein:
Der Macho von Lucca

Von Claus Spahn | © DIE ZEIT, 29.05.2008 Nr. 23
Frauen, Flinten, 14 Autos: Giacomo Puccini ließ es sich gut gehen in seiner toskanischen Heimat. Eine Reise zu den Orten, an denen der Lebemann seine Opern schrieb.
Das also ist die Landschaft, die zum Komponieren unsterblicher Bel-canto-Arien inspiriert. Man kann sie am Lago di Massociuccoli bei Torre del Lago betrachten, keine fünfzig Schritte entfernt von der Vil-la Giacomo Puccinis, an der Stelle, an der ein einsamer Bootssteg ins Wasser führt. Von hier aus ist der Komponist zu seinen morgendlichen Seeausflügen aufgebrochen, ganz früh, wenn der Nebel noch durch das Schilf zog und Stille über dem Wasser lag. Ist diese Landschaft nicht ausgesprochen musikalisch? Gleicht die glatte Seeoberfläche nicht einem Streicherklang im Pianissimo? Bilden die toskanischen Hügel und die Bergkette der Apuanischen Alpen, die sich auf der anderen Uferseite erheben, nicht einen perfekt instrumentierten Kontrast? Und erinnert der gemächliche Flug eines Wasservogels hier nicht an eine Soprankantilene, gesungen von Renata Tebaldi? So träumt der Belcanto-Spurensucher. Aber so ist es nicht.
Giacomo Puccini hatte keine Melodien im Kopf, wenn er über den See blickte und einen Wasservogel aus dem Schilf auffliegen sah. Er form-te in einem solchen Moment die Augen zu Schlitzen und zog den Ab-zugshahn seiner Flinte. Er war getrieben von einer berserkerhaften Jagdleidenschaft. Puccini schoss auf alles, was sich bewegte. Sogar mit der Pistole soll er den Vögeln hinterhergeballert haben, wenn ihm die Schrotpatronen ausgegangen waren. Das ist der Grund, warum der in Lucca Geborene sich ein Haus am Massaciuccoli-See bauen ließ: Krickenten, Blessrallen, Haubentaucher, Kormorane, sie alle gab es zuhauf in den weiten Schilfflächen des seichten Gewässers. Und Puc-cini wollte sie vom Himmel holen.
Beruhigt konnte die Gattin nur sein, wenn nachts das Klavier erklang
© Zeit online
Im Jagdzimmer der Villa Puccini, die der Komponist von 1900 bis 1921 bewohnte, stehen bis heute die doppelläufigen Flinten im Waf-fenschrank, und es riecht nach geöltem Eisen. An der Wand hängt der graugrüne Drillich des Jagdwüterichs, darunter sind in einem Regal die verschieden hohen, frisch geputzten Stiefel aufgereiht. Und am Sims mit den Trophäen lehnt eine Waffe, die so monströs ist, dass man lachen muss: armdick der Lauf, geschätzte Rohrlänge zwei Meter zwanzig. Mit diesem Ungetüm, so heißt es, habe Puccini auf Enten in extraweiter Entfernung angelegt. Aber vor allem war es wohl Protzob-jekt eines Supermachos. Die Kumpane, mit denen er sich gern umgab, werden ihm entsprechend die Schulter geklopft haben, wenn er mit der Riesenbüchse mal wieder einen kapitalen Schuss ins Geflatter ab-feuerte.
Von außen gleicht die Villa in Torre del Lago einer Diva, die sich vor langer Zeit von der Bühne zurückgezogen hat. Die Fensterläden sind geschlossen. Der Garten wuchert. Neben dem Eingang liegt im hohen Gras ein Schild mit dem Hinweis, dass das schmiedeeiserne Tor nur alle vierzig Minuten für Besucher aufgesperrt wird. Drinnen spricht aus nahezu jedem Einrichtungsgegenstand der Besitzerstolz eines Mannes, der es aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zu Berühmtheit gebracht hat. Die Decken ließ er sich von befreundeten Bühnenbild-nern im Belle-Époque-Stil verzieren. Vorm Fenster steht der repräsen-tative Bugatti-Armsessel, neben dem Kamin ein japanischer Paravent mit Perlmuttvögeln. Man muss die ausgestellten Dokumente im Haus nicht lange studieren, um zu verstehen, dass Puccini nicht nur ein empfindsamer Künstler war, sondern auch ein italienischer Lebemann von rustikalem Gemüt. Mit seiner Männer-Clique zog er sich zum Kartenspielen in eine Bretterhütte zurück, den Club La Bohème, in dessen Satzung sich die Mitglieder verpflichteten, »gut zu trinken und noch besser zu essen«. Er hatte eine Schwäche für Geschwindigkeit und Motoren – und konnte sich stets die rasantesten Automodelle leis-ten, weil ihm bereits seine dritte Oper Manon Lescaut zum Welterfolg geriet und die Musik ihn nach und nach unermesslich reich machte. 14 Autos hat er besessen, vom noch pferdekutschenähnlichen De Dion-Bouton aus dem Jahr 1901 bis zum schnittigen, 130 Stundenkilometer schnellen Achtzylinder-Lancia Trikappa von 1923.
Ein testosterongesteuerter Frauenaufreißer war Puccini auch. Immerzu und überall unterhielt er Affären, in Briefen freute er sich, wenn er wieder »una vagina fresca« in Aussicht hatte. Pikiert vermerkt der englische Puccini-Biograf Mosco Carner, »der sexuelle Akt« sei für den Komponisten »nur ein Mittel zum Zweck« gewesen und »nicht physischer Ausdruck einer tiefen gefühlsmäßigen Bindung an eine Frau« – um im nächsten Absatz schnell wieder den Bogen zur Kunst zu schlagen: Die Fantasiefiguren der Opern seien, so Carner, die wah-ren Geliebten Puccinis gewesen, Mimi aus La Bohème oder Tosca oder Cio-Cio-San und Liù aus Madame Butterfly . Um sie habe er ge-weint, wenn er ihnen Arien schrieb.
Da wundert es nicht, dass die matronenhafte Gattin Elvira auf den wenigen Fotografien, die es in der Villa von ihr gibt, so unfroh drein-schaut. Verzweifelt eifersüchtig war sie. Mit gutem Grund. Wirklich beruhigt konnte sie nur sein, wenn das Förster-Klavier im Komponier-zimmer erklang, an dem der Gatte meist nachts – mit Hut! – bis zum Morgengrauen saß und Noten schrieb. Irgendwann begann Elvira , ih-re ganze Wut auf das Dienstmädchen Dora zu projizieren. Als Hure, die es heimlich mit ihrem Ehemann treibe, verleumdete sie das schüchterne Kind im Dorf. Das Mädchen wusste sich nicht mehr an-ders zu helfen, vergiftete sich und verfügte, dass man nach dem Tod ihre Jungfräulichkeit feststellen solle – was geschah und in einen pei-nigenden Gerichtsprozess gegen die Hausherrin mündete. Elvira wur-de wegen Verleumdung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die Gia-como erst vor der Revisionsverhandlung mit Geldzahlungen an die Familie des Opfers abwenden konnte. Der gerade erschienene Doku-mentarroman Die kleinen Gärten des Maestro Puccini des Schriftstel-lers Helmut Krausser handelt von diesem Fall und anderen Amouren des Komponisten. Als »kleine Gärten«, die man einem Künstler nicht verwehren dürfe, hatte Puccini seine erotischen Eskapaden verteidigt.

Der „Tagesspiegel allerdings ist höchst unzufrieden mit Kraussers Buch, ebenso die Taz. Es komme nur das Ordinäre hier vor,
„Wer sich für den Schöpfer der „Bohème“ oder der „Madame Butterf-ly“ begeistert, wird darum schwer enttäuscht: Er begegnet einem Maestro in der Midlifecrisis, einem egozentrischen Jammerlappen, der Frauen gefühllos behandelt, Freundschaft mit Bauchpinselei verwech-selt und seine Freizeit mit der Jagd auf Geflügel und Geschlechtsver-kehr verbringt. Da ist die 17-jährige Bäckerstochter, mit der er sich ein paar Jahre vergnügt, um sie dann wegzuschmeißen wie ein Stück schimmliges Brot. Da ist die kluge Engländerin, die nur noch reden will. Da ist das hässliche Hausmädchen, das ihn vergöttert, und am Ende von Puccinis notorisch eifersüchtiger Ehefrau in den Selbstmord getrieben wird. Mit erheblichem Sprach- und Fantasieaufwand imagi-niert sich Krausser Puccinis Privatleben in den Jahren 1902 bis 1910, zitiert umfangreich aus der Korrespondenz („Es lebe die Möse, in die man wie in einen Hausschuh schlüpfen kann!“), ergänzt die nicht überlieferten Briefe, Begegnungen, Begattungen mit stilistischem Ein-fühlungsvermögen. Alles, was Musikhistorikern entbehrlich für das Verständnis des Künstlers Puccini scheint, sammelt er auf, breitet es aus, eine Resterampe, die aber keinerlei Erkenntnisse vermittelt, weil die Musik weitgehend ausgeklammert bleibt, weil sich der Komposi-tionsprozess vor allem als Suche nach guten Libretti darstellt. Derart seiner Aura beraubt, bleibt der Held als literarische Figur ein Zwerg. Puccinis Ruhm beruht auf seinem genialischen Theaterinstinkt. Stets hat er sich und seine Librettisten so lange gequält, bis die Handlung von allem Überflüssigen befreit, die Partitur auf ihr Maximum redu-ziert war. Seine Opern haben keine Note zu viel. Dieses Buch hat 377 Seiten. Frederik Hanssen.“




In diesem Jahr stehen mit La Boheme, Tosca, Manon Lescaut und Turandot wieder vier Puccini-Opern auf dem Programm dieses einzigartigen Festivals. Hier bietet sich für den Zuschauer die einmalige Gelegenheit, in die besondere Atmosphäre, die schon den genialen toskanischen Komponisten inspiriert hat, einzutau-chen.
Außerdem gibt es zwei große Ballettabende: Schwanensee und Gi-selle.
Ein lyrisches Galakonzert mit der Sopranistin Angela Gheorghiu und dem Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Alberto Veronesi beschließt am 23. August das Programm.
Alle Termine finden Sie natürlich im Veranstaltungskalender von toscana-tip. Und wenn Sie die unterschiedlichen Bestzungen der Opern interessieren: die finden Sie in der Presseerklärung der Festivalleitung.


Puccini und Torre del Lago
Als Puccini das erste Mal Ende des 19. Jahrhunderts nach Torre del Lago kam, war es Teil jener Toskana, die noch trockengelegt werden musste, ein Streifen Wildnis, die bis hinunter in die raue südliche Ma-remma reichte. Nur einzelne isolierte Badeorte von internationalem Ruf, wie zum Beispiel Viareggio, feierten die „Belle Epoque“ und un-terbrachen mit ihrer modernen bürgerlichen Freizügigkeit die zurück-gebliebene Trostlosigkeit des „Hinterlandes“.
Es waren für die ganze Region die Jahre einer außergewöhnlichen künstlerischen Betriebsamkeit: Florenz, Livorno, Pisa und auch Lucca – die Geburtsstadt Puccinis – waren in Kontakt mit Paris und den eu-ropäischen Hauptstädten, Ideen und Personen reisten wie wild umher, Maler und Musiker trafen sich in ihren Häusern und in Cafès – um dann wieder dorthin zu gehen, wo die Natur noch starke und natürli-che Eindrücke bot, um in Kontakt mit den Wurzeln ihrer eigenen In-spiration, ihres eigenen Lichts und der reinen Klänge zu treten.
„sonnige Strände, kühle Pinienwälder, der immer still dort liegende See: das ist der Garten Eden“: Puccini hatte zwei große Leidenschaf-ten: die Musik und die Jagd, und der See von Massaciuccoli schien ihm der ideale Ort zu sein, um beiden zu frönen. Er kam 1891 als dreißigjähriger Mann an, entschied, sich dort niederzulassen und mie-tete einige Zimmer an. Nur wenige Jahre später stellten sich die Erfol-ge von Manon Lescaut (1893) und La Boheme (1896) ein. Mit dem Geld, das diese beiden Erfolge einbrachten, kaufte er sich das Haus seines Lebens, einen antiken Wachtturm, den er vollständig restaurie-ren ließ. Er schüttete mit Erlaubnis des Markgrafen Ginori, dem der See gehörte, sogar ein Stück Seeufer auf, um den Garten und die Stra-ße vor dem Haus anlegen zu können. Von hier aus kam er sofort auf den Bootssteg, von dem aus er zu seinen Ausflügen aufbrach, auf de-nen er vor allem Blässhühner und Schnepfen jagte.
Das Haus kann man besichtigen, und es spricht immer noch von diesen Dingen: Klaviere zum Komponieren, die Erinnerung an die großen Aufführungen und die Preise der internationalen Triumphe, die Bilder des Freundes und Malers Ferruccio Pagni, den der Komponist oft zusammen mit anderen Künstlern, wie Plinio Nomellini oder den Tommasi Brüdern besuchte. Puccini blieb dreißig Jahre in Torre del Lago und komponierte hier seine bedeutenderen Opern, Tosca (1900), Madamme Butterfly (1904), La Fanciulla del West (1910), La Rondi-ne (1917) und Il Trittico (1918). 1921 zog er in die neue Villa, die er sich in Viareggio hatte bauen lassen, wo er allerdings nur noch drei Jahre bis zu seinem Tod 1924 lebte.
Gemäß dem Wunsch des Sohnes wurde der Komponist in einer Kapel-le, die in dem Haus am See eingerichtete wurde, begraben.
Auch der See erinnert an die Geschichten der Vergangenheit. Man kann ihn mit dem Boot erkunden und vor der Villa Puccini ablegen. Das Licht ist dasselbe wie früher, und auch die Ruhe: heute ist der See Teil des Regionalparks von Migliarino, San Rossore und Massaciuccoli mit 24.000 Hektar Stränden, Pinienwäldern und Sümpfen, mit einer außerst reichhaltigen Vogelwelt.
Die Frucht dieser Verbindung zwischen dem See, Puccini und der Musik ist das Puccinfestival, das seit 1930 am Ufer des Sees stattfin-det. Es noch von Puccini selber angeregt worden und voll und ganz seiner Musik geweiht.
Torre del Lago ist untrennbar mit der Figur Giacomo Puccinis ver-bunden, der hier seine Villa bauen ließ, die heute Wohnhaus und Mu-seum ist. In ihr komponierte er seine bekanntesten Opern und sie be-wahrt heute in einem kleinen, zu einer Kapelle umgewandelten Saal die leibliche Überreste des großen Meisters zusammen mit denen sei-ner Frau Elvira und denen des Sohnes Antonio.
Das Festival wurde 1930 von Giovacchino Forzano, dem Librettisten zahlreicher Opern von Puccini und erstem Regisseur von "Turandot", ins Leben gerufen. Um Puccinis Wunsch "einmal würde ich gerne hier vor meinem Haus eine meiner Opern unter freiem Himmel hören" zu erfüllen, führte er am 24. August auf einer Bühne, die auf Pfählen ge-nau vor dem Haus des großen Komponisten im See stand, "La Bohe-me" auf. Es dirigierte Pietro Mascagni, Regie führte er selber.






Das Puccini Festival von Torre del Lago läßt Besucher in die Atmos-phären eintreten, die den weltbekannten Meister inspirierten. Das gro-ße Freilichttheater erlaubt dem Publikum, die Opernaufführung zu-sammen mit der natürlichen Umgebung zu genießen: die Bühne öffnet sich direkt auf der eindrucksvollen Aussicht des Massaciuccoli Sees und der Apuanischen Alpen im Hintergrund. Als Puccini Torre del Lago entdeckte, wurde er von seinem Charme verzaubert, und er be-schrieb es mit diesen Wörtern: ".. höchste Freude… Paradies… Eden… 120 Bewohner, 12 Häuser. Ein ruhiges Dorf mit außerordent-lichen Sonnenuntergängen.." Nach ein Jahrhundert ist Torre del Lago immer noch ein irdisches Paradies: sonnige Strände, frischer Pinien-wälder, stille Seeufer. Um dieses zerbrechliche Gleichgewicht zu be-wahren, gründete Regione Toscana 1979 den Regionalen Park von Massaciuccoli - San Rossore, ein Naturschutzgebiet zwischen Pisa und Viareggio, dem See und dem Tyrrhenischen Meer. Der Park erstreckt sich über 23 tausend Hektare, in den die typisch südländische Fauna wohnt. Besonderheit des Naturschutzgebietes ist die gleichzeitig Anwesenheit von atlantischen und kontinentalen Pflanzenarten, die normalerweise im südländischen Gebiet nicht wachsen.


Im Sommer 1891 mietete Puccini zwei Zimmer in dem vor dem Mas-saciuccoli See liegenden anspruchlosen Haus von Venanzio Barsuglia, Wildhüter im nahen Landgut Borbonis. Infolge des Erfolgs von Tosca kaufte Puccini das Haus, das wurde von berühmten Künstlern und Architekten (Luigi De Servi, Plinio Nomellini, Galileo Chini) im Ju-gendstil umgebaut. Die Villa, wo Puccini ungefähr 20 Jahren wohnte und arbeitete, ist heute ein Museum, das diese Kunstjuwelen zusam-men mit Andenken des Meisters schätzt: feine Dekorationen von No-mellini und Pagni, das Kamin von Galileo Chini, Bugatti und Tiffany Möbel, eine reiche Sammlung von Waffen und Jagdbeuten, und das Föster Klavier mit "Dämpfern", denn Puccini liebte, bei Nacht zu komponieren. In der Villa ist auch eine kleine Kapelle mit dem Grab des Meisters und seiner Frau Elvira.




Dieses neue Theater fasst immerhin mehr als 3300 Besucher, und es war an diesem 15. Juli auch so gut wie ausverkauft. In dem buntge-mischten Zuschauerstrom sahen wir nur wenige Ausländer. Überwie-gend waren es Italiener, die in der untergehenden Sonne unterwegs waren. Und während sehr viele ausgesprochen schick und ausstaffiert der Bedeutung des Abends Ausdruck geben wollten, gab es auch etli-che, die gerade von der Arbeit oder vom Strand zu kommen schienen. Auch die italienischen Hausfrauen, die nur eben die Schürze abgelegt und die Pantoffeln durch elegantere Halbschuhe ersetzt zu haben schienen, waren vertreten.


Das Theater selber ist trotz seiner Größe wirklich sehr zuschauer-freundlich: Die Reihen sind großzügig bemessen und werden von vie-len Gängen zerschnitten, sodass jeder Sitzplatz bequem zu erreichen ist. Ich musste mich am Anfang der Oper allerdings an die etwas lei-seren Töne der Sängerinnen und Sänger gewöhnen: ihre Stimmen sind nicht verstärkt. Dennoch hört man alles, wenn man sich einmal darauf eingestellt hat.

Wir kamen in den Genuss einer schlichten, aber sehr einfühlsamen Ausstattung, sehr schöner Stimmen und eines guten Orchesters – mit einer Ausnahme: leider war Roberto Aronica in der Rolle von Rodol-fo wohl erkältet, schon nach wenigen Minuten im ersten Akt wackelte sein ansonsten eindrucksvoller und ausdrucksstarker Tenor bedenklich und verschlechterte sich von Takt zu Takt. Und hier verwandelten sich die bisher so großzügigen und gutgelaunten Besucher in unbarm-herzige und unnachsichtige Kritiker: Sie quittierten jede seiner „Ver-fehlungen“ mit empörtem Raunen und pfiffen ihn am Ende des ersten Akts gnadenlos von der Bühne. Es wurde daraufhin auch vor dem zweiten Akt eine kurze Pause angesagt, obwohl hier keine vorgesehen war, und weiter ging es dann mit Gianluca Terranova als Rodolfo, der ja sowieso für die Vorstellungen im August vorgesehen war. Er konn-te Roberto Aronica aber trotz seines technisch einwandfreien Auftritts nicht gänzlich ersetzen: Dazu war er zu klein und zu ausdruckslos. Er kam mir vor wie ein kleiner Junge in zu großen Kleidern, und die Lie-be zu Mimi konnte ich ihm nur schwer abnehmen.
Allerdings war Maija Kovaleska eine wirklich großartige Mimi, sodass ich mich schließlich selbst mit Rodolfo und seiner Liebe und Verzweiflung abfinden konnte.
Taten es die anderen auch? Ich weiß es nicht, denn am Ende verwan-delte sich das zuerst wohlwollende Publikum von einem zwischenzeit-lich ungnädigen sogar in ein unhöfliches: Die letzten Töne waren noch nicht verklungen, da sprangen schon viele auf, um zu ihrem Auto zu hetzen. Auch die Verbliebenen brachten die Darsteller nur mit Mühe zu einem einzigen Vorhang, dann bröckelte wirklich alles auseinander und lief Richtung Parkplatz.

Die Abfahrt war dann wieder ein Exempel italienischer Verkehrstüch-tigkeit: Hunderte von Autos räumten in kürzester Zeit unter der Lei-tung unserer freundlichen Polizisten die Parkplätze, auch deshalb, weil der Verkehr besser abfloss, als er es in Deutschland jemals tun könnte: Bei der Abfahrt wurde nämlich über lange Strecken einfach auch die Gegenfahrbahn mit genutzt, und die entgegenkommenden Fahrzeuge nahmen die Behinderung offensichtlich resigniert oder mit stillem Einverständnis in Kauf.




Online aus: Toscana-Tipp


V

Pisa




Pisa steht auf die Ufer Arnos un der nähe von seiner Mündung und ist eine wichtige Seerepublik geworden, die ihre Herrschaft bis nach Kor-sika ausdehnte. Der Verfall dieser Herrschaft ist sowohl von der Riva-lität mit anderen Städten des Hinterlandes (z.b. Lucca und Florenz) als auch von dem Zusammenstoß mit Genua ausgelöst worden. Genua war nähmlich eine andere Seerepublik, das um den Handel gegen den Osten mit Pisa wetteifernte.
Die Kunstschätze Pisas sind in Piazza dei Miracoli (Wunderplatz) zu-sammengezogen: der pisanische romanische Dom, die Taufkapelle und besonders der Glockenturm, der als "der schiefer Turm" weltberühmt ist. Ein anderes bedeutendes Monument ist die Kirche
S.Maria della Spina, die die Üferpromenade Arnos entlang ist und die seit kurzem umstrukturiert worden ist. Pisa ist auch die Stelle, wo eine alte und bedeutende Universität stattfindet. Außerdem hat diese Stadt einen Militär- und Zivilflughafen, der mit dem ganzen Welt verbunden ist S.Maria della Spina, die die Üferpromenade Arnos entlang ist und die seit kurzem umstrukturiert worden ist. Pisa ist auch die Stelle, wo eine alte und bedeutende Universität stattfindet. Außerdem hat diese Stadt einen Militär- und Zivilflughafen, der mit dem ganzen Welt verbunden ist.
Die Provinz Pisas erstreckt sich auf 39 Gemeindeverwaltungen und hinzieht sich von dem Berg Sella und den Hügeln bis zum Mün-dungstrichten Arnos, in dessen alluvialen Talebene wichtige Wirt-schaftstätigkeiten zusammengezogen sind

„Pisa orientierte sich bereits seit der Antike am Meer. Damals lag die Stadt noch an einem großen Lagunensee, der sich bis nach Livorno er-streckte. Kaiser Augustus ließ einen Flottenstützpunkt im Süden der Lagune errichten, den pontus pesanus. Die Stadt selbst gründete sich aus einer römischen Militärkolonie. Sie lag im Mündungsgebiet der beiden Ströme Arno und Serchio.
Pisa (lateinisch:Pisae) ist etruskisch für Mund. Die freie Entfaltung Pi-sas war durch den Zerfall des römischen Reiches begünstigt. Die übri-gen tyrrhenischen Küstenstädte waren durch die Sarazeneneinfälle und Sumpffieber in ihrer Entwicklung immer wieder zurück geworfen. Pisa hingegen hatte die nötige Zeit um eine Flotte aufzubauen, um so Schiffe für die Kreuzzüge bereitzustellen. So vertrieben sie die Mu-selmanen aus Palermo im Jahre 1063. Ferner nahmen sie Sardinien und Reggio di Calabria im Jahre 1015, Karthago, Bona und die lysarischen Inseln in den Jahren 1030 bis 1035 in ihren Besitz. Letztlich konnten sie sich Handelsstützpunkte an der syrischen und kleinasiatischen Küste sichern. Aus dieser neu gewonnenen Machtposition heraus konnte Pisa zu einer internationalen und autonomen Stadt werden.
Zu dieser Zeit zählte Pisa zu den vier stärksten Seemächten der Apen-ninen-Halbinsel, neben Amalfi, Genua und Venedig.
In den folgenden Machtkämpfen zwischen Kaiser und Papst und dem zufolge auch zwischen Ghibellinen und Guelfen mußte Pisa eine klare Position einnehmen. Die Stadt stellte sich auf die Seite des Kaisers und der Ghibellinen. Zum stärksten Rivalen für Pisa wurde die Guel-fen-Stadt Genua, die zu einer aufstrebenden See- macht wurde. Durch den Untergang der Staufer verschlechterte sich die Lage für die Ghi-bellinen-Städte.
Aufgrund dieser Ereignisse konnte Pisa seine Machtstellung als See-republik nicht behaupten.“ (Wikipedia)
Immer wenn wir mit unserem Segelboot am Meloria-Turm bei Livorno vorbeisegeln, das Wasser ist hier nur zwischen 3-6 m tief, man sieht die Felsen, muss ich an den Untergang Pisas denken.
Diese alte Seemacht unterlag in der Seeschlacht am Felsriff Meloria gegen Genua am 6.August 1284. So lang her also ihr Ende. Diese ver-nichtende Niederlage der pisanischen Seeflotte, bei der über 20.000 Pisaner ums Leben kamen, dies war der Ausgangspunkt für den Machtverlust Pisas. Von dieser Niederlage konnte sich die Stadt nie wieder ganz erholen und verlor ihre Seemachtstellung für immer.
Hier der Schiefe Turm, aber auch Dom und Baptisterium sind in jener grossen Zeit erbaut worden.
Die Piazza dei Cavalieri (zu deutsch Platz der Ritter) ist berühmt für ihre repräsentativen Bauten. Sie liegt in der Altstadt Pisas und be-zeichnete früher den weltlichen Hauptplatz der Stadt Pisa. Die ein-flussreiche Familie Medici demonstrierte auf diesem Platz ihre Macht, doch das ist nicht die einzige Bedeutung des Platzes für die Geschich-te dieser Stadt. Pisa verlor die Eigenständigkeit 1406 auf jenem Platz mit der Übergabe der Schlüssel der Stadt an Vertreter der größten Konkurrentin Florenz.
Der Palazzo dei Cavalieri wurde um 1560 von dem Architekten Gior-gio Vasari erbaut, der den Auftrag von der florentinischen Familie Medici bekam. Die Piazza sollte neu und besser gestaltet werden. Der Palast erhielt eine kurvige, von Wappen geschmückte Fassade und ei-ne von Statuen geschmückte Treppe. Der ehemalige Ältestenpalast, auch Palazzo della Carovana genannt, beherbergt heute eine Eliteuni-versität, die eine Nachfahrin der von Napoleon gegründeten Scuola Normale Superiore ist.
Die, ebenfalls von Giorgio Vasari um 1567 erbaute, Kirche Santo Ste-fano dei Cavalieri ist für ihr imposantes Inneres bekannt. Arabische Schätze, ein Barockaltar und eine antike bemalte Holzdecke veredeln diese Kirche und erinnern an das große Ansehen der Piazza dei Cava-lieri. Der tüchtige Architekt Vasari errichtete ebenfalls den bekannten Uhrenpalast Palazzo dell'Orologio. Er bezeichnete den Übergang von der Torre delle Sette Vie, einem Stadtgefängnis und der Torre della Fame, dem Hungerturm, der seinen Namen dem elend verhungerten Stadthauptmann Graf Ugolino della Gherardesca verdankt. Er wurde 1288 des Verrats angeklagt und mit seinen Kindern in diesen Turm gesperrt. Hinweise auf diesen Grafen finden sich in Dantes ,,Inferno". Letztendlich ist die Piazza dei Cavalieri einer der schönsten europä-ischen Plätze aus der Renaissance.
In der Stephanskirche beindruckt die Steinigung. Dieses Grauen. Und gleich vis a vs der Hungerturm. Ugolino della Gherardesca, ca. 1220 in Pisa; † März 1289 ebd.), also auf dem Höhepunkt von Pisas Seemacht. Ugolino war toskanischer Adliger sardischer Herkunft, Flot-tenbefehlshaber und als Oberhaupt der mächtigen Familie della Ghe-rardesca einer der führenden Politiker der Stadtrepublik Pisa. Sein po-litischen Konkurrenten, des Erzbischofs Ruggieri, brachte ihn ins Ge-fängnis, er wurde er schließlich zusammen mit zwei Söhnen und zwei Enkeln eingekerkert und dem Hungertod überlassen. In Dantes „Gött-licher Komödie“:
Doch obwohl Pisa eigentlich immer kaiserlich also ghibellinisch war, verbündete er sich mit den Guelfen. Schwankte hin und her. IN der entscheidenden Schlacht Meloria trug er zur Niederlage Pisas gegen Genua bei, indem er seine Schiffe zurückhielt. Dann weigerte er sich als Podesta Frieden mit Genua zu schliessen, da er Angst vor den heimkehrenden Ghibellinen hatte. begann er mit den von den Guelfen beherrschten Städten gegen das ghibellinische Pisa zu konspirieren. Schließlich griff er mit der Unterstützung Karls I. von Anjou seine Heimatstadt an und zwang sie zu einem erniedrigenden Friedens-schluss, der seine Rehabilitierung und die der anderen exilierten Guel-fen einschloss.
Als Verräter wurde er gerichtet. Auch Dante stuft ihn unter die Verrä-ter ein
Ugolino wurde gefangengenommen und zusammen mit seinen Söhnen Gaddo und Uguccione und seinen Enkeln Nino (genannt il Brigata) und Anselmuccio in die „Muda“ geworfen, einen Turm, der der Fami-lie Gualdini gehörte. Auf Anordnung des Erzbischofs, der sich in der Zwischenzeit selbst zum Podestà ausgerufen hatte, wurden die Schlüs-sel zum Gefängnis im März 1289 in den Arno geworfen und die Ge-fangenen dem Hungertod überlassen.
Ihre Leichen wurden im Kreuzgang der Kirche San Francesco begra-ben. Im Jahre 1902 wurden die Überreste exhumiert und in die Grab-kapelle der Familie della Gherardesca überführt.
Obwohl schon Giovanni Villani und andere Schriftsteller die Ge-schichte Ugolinos erwähnen, beruht ihre Bekanntheit gänzlich auf Dantes Göttlicher Komödie, in der Ugolino und Ruggieri in das Eis des zweiten Rings (Antenora) des neunten und tiefsten Höllenkreises verbannt sind (Canto XXXII, 124-140 und XXXIII, 1-90).
Ugolino erscheint im Inferno als verdammte Seele, aber auch als rä-chender Dämon: Aus dem Eis des neunten Höllenkreises ragt nur sein Kopf heraus, der aus Rache ewig an dem Schädel des Erzbischofs Ruggieri nagt.
In Dantes ‘‘Göttlicher Komödie‘‘ wird die Szene wie folgt geschil-dert: (Karl Streckfuss)
„Du höre jetzt: Ich war Graf Ugolin, / Erzbischof Roger er, den ich zerbissen. / Nun horch, warum ich solch ein Nachbar bin. / Dass er die Freiheit tückisch mir entrissen, / Als er durch Arglist mein Vertrau’n betört, / Und mich getötet hat, das wirst du wissen. / [...] / Ein enges Loch in des Verlieses Mauer, / Durch mich benannt vom Hunger, wo gewiss / Man manchen noch verschließt zu bittrer Trauer, / [...] / Als ich erwacht’ im ersten Morgenrot, / Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen, / Die bei mir waren, und verlangten Brot. / [...] / Schon wachten sie, die Stunde naht’ heran, / Wo man uns sonst die Speise bracht’, und jeden / Weht’ ob des Traumes Unglücksahndung an. / Verriegeln hört’ ich unter mir den öden, / Grau’nvollen Turm – und ins Gesicht sah ich / Den Kindern allen, ohn’ ein Wort zu reden. / Ich weinte nicht. So starrt’ ich innerlich, / Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte: / Du blickst so, – Vater! Ach, was hast du? Sprich! / Doch weint’ ich nicht, und diesen Tag lang sagte / Ich nichts und nichts die Nacht, bis abermal / Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte. / Als in mein jammervoll Verlies sein Strahl / Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände / Auf vier Gesichtern mein’s und meine Qual. / Ich biss vor Jammer mich in beide Hände, / Und jene, wähnend, dass ich es aus Gier / Nach Speise tat’, erhoben sich behende / Und schrien: Iss uns, und minder leiden wir! / Wie wir von dir die arme Hüll’ erhalten, / Oh, so entkleid’ uns, Vater, auch von ihr. / Da sucht’ ich ihrethalb mich still zu halten; / Stumm blieben wir den Tag, den andern noch. / Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten? / Als wir den vierten Tag erreicht, da kroch / Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen: / Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch! / Dort starb er – und so hab’ ich sie gesehen, / Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag, / Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen. / Schon blind, tappt’ ich dahin, wo jeder lag, / Rief sie drei Tage, seit ihr Blick gebrochen, / Bis Hunger tat, was Kummer nicht vermag.“ (Inf. XXXIII, 13-18; 37-39;43-75)[1]
31.Juli 92. Ich stehe in Pisa auf der Piazza dei Cavalieri vor der Scuola Normale, im Rücken der Hungerturm des Grafen Ugolino, Hunger¬tod, damals fast "privat"; kein Grauen mehr, wir sind "abge-härtet", die alte Bestialität, an die die Militärkirche Santo Stefano mit Galeeren (hier nun schon als "Kultur" erinnert), ist wie ein grausames Märchen; in Bosnien werden Kinder lebend ins Feuer der wiederers-tandenen Öfen geworfen.
Mittagessen im Restaurant "La Grotta" mit Mario Pezzella, Hoch¬schullehrer an der Scuola Normale. Unser Gespräch dreht sich um die neuen Terroranschläge. Die Mafia und - die Schulkinder sind aktiv. Einem Afrikaner wurde unter einer römischen Brücke von Halbwüchsigen die Haut abgezogen. Pezzella erzählt, dass bei seinen Stu¬¬denten die Aus¬drucks¬fähigkeit, ja die Worte für Dinge fehlen, die sie fühlen. Wortmarken werden hin- und her geschoben. In Deutsch-land heißt das: Super. Total gut. Oder: Scheiße. Spracharmut aus Man¬¬-gel an Gemeinschaftsformen des Zu¬¬sam¬menlebens. Es ist nir¬gends so schlimm, wie in den Familien, wo oft die einzige Ver¬bindung zwi-schen den Eltern und Jugendlichen das Spickbrett in der Küche ist. Was außen geschieht, wird gekonnt formuliert, aber für "Zustände", Er¬re¬gungen, persönliche Wahrnehmungen gibt es keine Sprache mehr.Rasch auftauchende und wieder verschwindende Re-flexe,Gefühle, Weltfetzen, die sich nicht binden. Daher kann heu¬te auch niemand mehr erzählen, wie noch unsere Eltern und Großeltern.
Wir sprechen darüber, dass heute nichts mehr "wirklich" ist, alles nur Vorführung, Theater, die Welt ein Gespensterwerk. So drin-gen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berühr¬ten, damit auch Fülle. Heute stellt die arme Küns-t¬lichkeit auch die Alltags¬welt her: Verkehr, im Wohn¬zimmer elek¬tro-nische Haustiere, im Bü¬ro der Computer, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvor¬gänge, in der Liebe Aids. "Draußen" AKW, Ra-ketenkriege, Satelliten. Aber in der Fa¬mi¬lie, in der Politik, im sozialen Leben, in der Wirtschaft, und im Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so gehandelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.


Der schiefe Turm

"Dieser Turm ist die Seele der Stadt", sagt der Historiker Rodolfo Bernardini. Einst habe er für die Seemacht Pisa einen imperialen Traum verkörpert.
Doch die Neigung wurde so gefährlich, dass der Turm in den neunzi-ger Jahren gesperrt werden musste.
Mit Metallringen um den Turm, tonnenschweren Gegengewichten aus Blei und schließlich Bodenabsenkungen an der Nordseite erzielten die Experten erste Erfolge, die gefährliche Neigung zu begradigen. Das Monument richtete sich zunächst um 4,1 Zentimeter auf. Jetzt soll über 41 Bohrkanäle an der Nordseite weiteres Erdreich abgetragen werden.
Allerdings neigt sich der berühmteste Turm Italiens, seit es ihn gibt. Schon 1174, ein Jahr nach Baubeginn, sackte er unter dem Gewicht des ersten Stockwerks ab. Um die Schräglage zu korrigieren, bauten die Architekten den Turm damals senkrecht weiter. Er ist daher in sich krumm.


Heute also in Pisa, als ich da am Palazzo Lanfranchi vorbeiging, musste ich wieder an Shelley denken. Und daran, dass seine Segel-fahrt von Lerici nach Livorno, von dort nach Pisa, seine letzte gewe-sen war. Ich wusste, es war auch der letzte Brief an Mary, seine Frau. In diesem Brief schrieb Shelley von Pisa aus an Mary, er könne sich nicht freimachen, Williams käme allein mit dem Boot nach Lerici zu-rück. Doch am 7. Juli machte er sich dann doch frei. Und das war fa-tal. Wo saß er als er dieses schrieb, in der Villa? Im Palazzo Lanfran-chi? Und wenn wir jetzt zum Campo Santo gehe, ist es so, als sähe ich am besten mit seinen Augen. Denn nichts, Nichts hat sich verändert seither hier auf der Pizza dei Miracoli, auch nicht der Schiefe Turm, es sei denn, dass die Architekten es tatsächlich geschafft hatten, mit einer Unterschürfung an der Nordseite, die 4,5 Meter der Schieflage um 44cm zu verringern. Ging also Shelley an jenem 7. Juli 1821, wie er schrieb, zum Campo Santo am Dom, sah wie wir jetzt die Sarkophage, etruskische und römische an, und vor allem jene Urne, die der griechischen seines toten Freundes Keats ähnelte. Und wie jetzt war da ja auch Pan zu sehn, der lüsterne Erdgott der Mittagsstunde, wenn alles sirrte und flimmerte, heiße Luft, wie eine Grenze des Lichts, das sich in Wohlgefallen aufzulösen schien ... Einsame Gedanken, die sich dem Begriff auch heute entziehen, Grenzen des Himmels; nackt bleibt dabei und öde das Hirn. Hier war das Meer einmal Eins mit der Urne, die Form, Firmament, das sich in den Wellen spiegelte, dies ist das Element, das er mag, das dazwischen liegt. Er, ein unbekanntes Wesen, das hier erkennbar wird in der langsamsten Zeit, zögert dort am Dom in der Mittagsglut, dass es fast stehen bleibt, als wüsste er schon, ahnte er seinen nahen Tod im Meer. .
Von hier schrieb er also an Mary einen Brief, den er aber nie abge-schickt hat; denn er schrieb ihn an Niemanden; und er wußte schon, dass noch nichts ist, bevor wir es nicht schreibend wirklich gesehen haben, denn Vorgänge werden erst zur Geschichte und erkennbar im sekundären Akt der Wahrnehmung. Und die Augenblicke lassen sich in den Ablauf der Gedanken nicht einbringen, entweder du lebst oder du schreibst. Eines aber, so sagte er oft, ist möglich: das Boot, als wäre es das Gefäß der individuellen Gedanken, in der Steuermannskunst aber bist du eins mit den Elementen, See und Wind, die Bewegung des Steuers steht im Zusammenhang mit den elementaren Bewegungen des Gefühls. Es sei die alte Steuermannskunst, von der schon Platon gesprochen hatte, höchste Form der Selbstbewegung. (Ich sehe einen Wagen gleich dem Boot/ Das sichelschmal des Mondes Vater trägt.) Waren sie deshalb erst nachmittags aus Livorno abgesegelt, um nachts anzukommen. Die Pausen sind dann äolisch gefüllt mit Zwischentönen. Und so war es auch am 8. Juli: Berge und Wälder waren am Ufer zu sehen, durch jenen luftigen Schleier erschienen sie wie im Spiegel eines Zauberers. Wolken sind seine Räder, blau und golden, wie jene, die die Geister des Gewitters auf des erleuchteten Meeres Fläche türmten: Such as the genii of the thunderstorm, schrieb er: Wenn Sonne in sie fährt; sie rollen und bewegen sich, als wäre ein Wind in ihnen; darin sitzt ein geflügeltes Kind, das Antlitz wie die Weiße allerhellsten Schnees, die Federn wie sonnige Frost-Kristalle. Es ist wie das Unbetretene, die Reinheit, die sonst nur besudelt wird, herabgezogen in den Dreck von dem Mob und den Reichen. Im Gewitter aber geschieht die Transformation, der Grund wird erkennbar. Der Vorschein wird durchstoßen, und durch den Körper fließen Licht und Musik - wie durch leeren Raum: Zehntausend Kreise wie Atome ineinander in sich selbst verschlungen, Sphäre in Sphäre; jeden ZWISCHEN¬RAUM bevölkern unvorstellbare Gestalten, durchsichtig füreinander, wie sie Geister in dunklen Tiefen träumen; und sie wirbeln auf tausend unsichtbaren Achsen kreisend in tausenderlei Bewegung durcheinander; mit Gewalt mörderischer Schnelligkeit gemessen, langsam kraftvoll, drehen sie sich entzündend mit vielfach gemischten Tönen, wilde Musik und verständliche Worte ... im Innern der Kreise ist einer, der sprüht, der spricht im Traum des rasenden innern Lichts von einer fernen Liebe, die erscheint, wenn alles, was nur Vorschein war, uns täuscht, gelöscht ist und verschwunden im Weiß der Schnelligkeit, du absinkst erst im Hirn bewusstlos, dann im Schlaf der Erde eine Lücke findest, um hinüber zu der Wirklichkeit des Potentiellen zu kommen, in einen Raum, wo du das bist, was kurz im Blitzen deines Gedankens glückt als "fading coal"; der Körper aber trennt, grenzt nie an die Berührung der Imagination. Man spürt sie in dem weißen Kind des Sturmes, der Bogen seiner Bahn ist die Stirn, dort blitzen blaue Feuer, die den Abgrund füllen. Und dann der Gott, der rief: Seid nicht! Und sie so nicht mehr waren, wie meine Worte.


Was wusste er von Galileo Galilei und seinen Fallgesetzen, Galilei, der ja diesen Gedanken so nah war. Und von dem die Legende überliefert ist, er habe diese Gesetze auch vom Turm aus überprüft, nämlich, dass alle Gegenstände, egal ob Stein oder Feder alle gleich schnell fallen, der Fall also keineswegs mit dem äußeren Gewicht, mit dem An- und Augenschein zu tun hat. Er selbst beschreibt sein Experiment mit einem zur schiefen Ebene geneigten Brett, einer Rinne, in der eine Metallkugel abwärts rollte, da es noch keine genauen Uhren gab, maß er die Zeit der Beschleunigung mit seinem Puls oder mit einer Wasseruhr. Wichtig war, dass er vom Augenschein und vom praktischen Experiment abstrahieren konnte, er sich VORSTELLTE, dass ohne jeden Widerstand, also im Vakuum ein Körper in Bewe-gung nicht mehr aufzuhalten war. (Und ich hör die Stimme meines Physiklehrers Roth, der „Physi“ hieß, schnarrend: Ein Körper, der in Bewegung ist, der will in Bewegung bleiben. Ein Körper der in Ruhe ist, der will in Ruhe bleiben.“ Das Trägheitsgesetz. Das aber ist un-möglich in unserem irdischen Erfahrungsraum. Für ihn konnte Galilei die irdischen Abweichungen berechnen, Analyse der Kräfte der Rei-bung, des Auftriebs, etc.. mathematisch berechnen. Dazu diente ihm, wie Kepler, sein Zeitgenosse, ein wunderbares geistiges Argument, dass es zwei Bücher Gottes gebe, die Bibel, das Buch der Erlösung, und das Buch der Natur, das in der Sprache der Mathematik und Geometrie geschrieben sei. Das Experiment diente ihm nur zum Er-zeugen von Phänomenen, die man normalerweise nicht sieht. Kepler hat das in seiner „Welt-Harmonik“ noch schärfer und schöner durch-dacht. Gott habe die Welt geschaffen gemäß seinen Schöpfungsge-danken, Zahl und Figur für uns, Proportionen also. (Die übrigens in der hebräischen Bibel ebenfalls eine große Rolle spielen, denn jeder Buchstabe ist gleichzeitig auch Zahl. Und eine Art qualitative Mathe-matik. Die ungeheuer und enorm sinnreich ist im Hebräischen. In der Übersetzung geht das alles verloren! So etwa im Wort „Gott“ Jahweh. Ohne Vokale geschrieen JHWH= J(10)H(5) W(6) H(5), das poten-zierte Eine (10) wird durch die Trennung zwei mal 5 (W bedeutet „und“ oder Mensch) Erbsünde: durch Mann und Weib gespalten.
Und nach Kepler vollzieht der Mensch als Ebenbild Gottes durch Ma-thematik die Schöpfung, also die Gedanken Gottes nach, die in ihm wirken!. Das ist freilich von Platons „Mimesis“ abgeleitet: des al¬ten Begriffes "Mimesis", was keineswegs Realitätsspiegelung heißt, son-dern Sichineinssetzen mit der "Ebenbildlichkeit", die "Apriorität des Individuellen" zu entdecken (Omoisis to theo, bei Platon: Anglei-chung an das Göttliche im Menschen. Dazu gehört, den Schein, das soge¬nannte "Wirkliche", die Hülle zu zerbrechen, zu entlarven; in der Moderne mit sprachlichen Mitteln; meta-phérein -Metapher- heißt ja hinüber-tragen, anderswohin tragen.) Und da wären wir wieder bei Shelley. Doch auch zum Geheimnisvollsten, nämlich der Schwerkarft, aber auch der geistigen Schwerkraft des Herzens, die Zeit und Raum und auch jede nur angelernte vernünftelnde Logik aufhebt. Wir spüten diese Umkehrungn sogar körperlich wenn wir im Turm selbst sind, beim hinauf gehen meinen hinab zu gehen du umgekehrt, alles wird ach im Gleichgewichtssinn schon auf den Kopf gestellt, jenen andern Kopf der Schöpfungsgedanken nämlich.


IN PISA maß Galilei die Unzeit
ich seh hinauf Blau jener Fall
die Wolken ziehen weiter
der Turm fällt um.
Von unten gehst du hoch
warum/ du meinst hinab
zu gehen im Kopf
die Sprachen fallen
aus.
Kein Stil in einem Zentrum mehr
die Galerien gestaut
die Zeit/ im Bild siehst du dich klein
als wärst du nicht mehr drin
wie auch/ sowohl im Vers gefügt
als läs ich ihn verkehrt
im Gras dort auf der Wiese
Angst, so kehr ihn um
im Kopf schaff ich ein wenig Platz
da steht der Turm und trägt das Blau
den Himmel schon
im Substantiv davon.


Aber wir sprachen natürlich auch über Newton, der ja in seiner Philo-sophiae Naturalis Principia Mathematica (1686) das Gesetz der Schwerkraft ableitet. Er vereinte damit die Forschungen Galileo Gali-leis zur Beschleunigung und Johannes Keplers zu den Planetenbewe-gungen (Keplerschen Gesetze) zu einer einheitlichen Theorie der Gra-vitation und legte die Grundsteine der klassischen Mechanik, indem er die drei Grundgesetze der Bewegung formulierte
Dabei ist besonders wichtig di Gravitations-Naturkonstante G.


Doch auch hier gibt es eine Legende: Im Jahre 1666 Sir Isaac Newton unter einem Apfelbaum geschlafen haben Er hatte zuvor darüber nachgedacht, was den Mond wohl in seiner Bahn hält. Plötzlich fiel ihm ein Apfel auf den Kopf, und da begriff er: Die gleiche Kraft, die den Apfel zur Erde fallen lässt, hält auch den Mond in seiner Bahn. Das ist die sogenannte Erdanziehungskraft. ER hatte schon 1666 seine Formeln aufgeschrieben.
Und ich las dann Gedicht, erzählt ihr auch, dass sich seine Formeln zuerst als falsch erwiesen, erst 10 Jahre später, als neue Fernrohre eine genauere Bestimmung der Distanz Erde Mond möglich machten, war-en sie genau richtig. Sein Intuition, apriorisch und außerhalb der Er-fahrung. Jenes ebenbildliche Schöpfungswissen, von dem Kepler und Platon und Kepler gesprochen hatten, gaben ihm die richtige Formel ein. Heidegger hat dieses in seinem Kantbuch „Di Frage nach dem Ding“ zitiert, um seine apriorische Erkenntnistheorie zu unterbauen.

Wenn man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis

WO ICH HINABSCHAU - mein Gewicht
einst wars der Apfel/ fiel
in das Gesetz; und ohne Namen kommst du
nicht davon/ am Campo Santo hockt das Eine
mit Falken und mit Tauben: du bist im Bild
der Flügel in der Farbe rauscht
der Engel blättert ab als wäre alles aus-
gestanden/ Augäpfel lesen weiß verkehrt
die Seite ist schon umgeschlagen.
MANCHMAL noch um-
gelegt der alte Turm
Kopfgewächse aus Silben
und Worten kehren
eine Welt um
mit List.


Ja, es war Zeit zum Campo Santo zu gehen, der ja gleich nebenan lag, dieses lang gestreckte Gebäude. „Campo Santo Monumentale“, und es beeindruckt freilich auch heute noch, dass der Überlieferung nach, alle lesen das heute: 1203 Der Erzbischof Ubaldo de´Lanfranchi von der Kreuzfahrt damals in der Hohen Zeit der Seemacht Pisa Erde in Sä-cken aus dem Garten Gethsemane im Heiligen Land mitgebracht habe. Und der Campo Santo, der freilich erst siebzig Jahre später,1278 von Giovanni di Simone gebaut wurde. erst 1358 wurde er fertig gestellt, soll diese Erde enthalten.


Wir sehen da vor uns einen lang gestreckten Kreuzgang mit Rundbo-genarkaden, er umschließt rechteckig einen grünen Innenhof. Rasen, Zypressen, also Leben symbolisierend, ein starker Kontrast zur To-desatmosphäre auch der Fresken, vor allem zum „Triumph des Todes“, vor dem wir dann lange stehen… Es war ja ein ganz normaler Friedhof in jener alten Seemacht-Zeit, und spätantike Sarkophage umgeben uns, sie standen zuerst draußen vor dem Dom auf der Piazza die Miracoli.
Auffällt, dass wie Wüstenkarten sonderbar nackt geformt unterbre-chen die Fresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Auch diese Wüsten sind ein Kriegsverbrechen. Alierte Bomber warfen ihre tödliche Last am 27. Juli 44 ausgerechnet auf diesen Kunstplatz, der zum Kulturerbe der Menschheit gehört. Das Bleidach schmolz und das flüssige Blei rann über die Freken, zerstörte sie. Schon bald wurde mit der Restaurierung begonnen. Einmalig die Methode, die Fresken wurden behutsam losgelöst und auf speziell entwickelte Eternitplatten mit Holzrahmen aufgezogen. Und Glück im Unglück: beim Loslösen kamen rote Vorzeichnungen („sinopia“) von hohem künstlerischem Wert zum Vorschein, sozusagen sichtbar gewordene Inspiration der Künstler, Ideen dem Kopf entsprungen und festgehalten als Urentwurf für die Fresken, die oft dann von Schülern oder Mitarbeitern ausgeführt wurden.


Das Fresko muss im Zusammenhang mit der großen Pest 1350 und den mittelalterlichen Totentänzen gesehen werden: Und ich denke dabei auch an die Totentänze von Florenz (Santa Croce), und Basel (Predigerkirche).Und ich muss dabei auch an die heute Transkommu-nikation denken, als wäre sie ein Wideraufleben er alten „Totenge-spräche“ und Totentänze. Die Legende von den drei Lebenden und den drei Toten der Dialog von Lebenden und Toten, wobei die Toten die Lebenden warnen! Damals hieß es „gottgefällig“ zu leben, um der Strafe des Jüngsten Gerichts zu entgehen. Was ja im tiefsten Grunde richtig ist, wenn wir auf die neuern Forschungen des Nahtodes im kli-nischen Bereich und der Tonbandstimmenforschung eingehen. Aber auch sonst alter parapsychologischer Dokumente, die zum Teil in Emil Matthisens dreibändigem Werk „Das persönliche Überleben des Todes“ festgehalten sind: und wo das Leben als Vorbereitung, um die besseren Schwingungsebenen durch Reife zu erreichen, weil nach dem Tode Schwingungsgemeinschaften hierarchisch geordnet, diesen Zu-stand spiegeln. In der Literatur seit Dante gibt es viele Intuitionen da-zu. Am schönsten vielleicht bei Novalis und Rilke:

Zitat


Aber auch das memento mori, der großn Pest 1347-53, der Verweis auf die Vergänglichkeit des Lebens, auf die Nichtigkeiten materieller und ideeller irdischer Güter., die wir auch in den „Trionfi“ von Petrar-ca finden, wo die Liebe zu Laura den Tod überwindet: Der Tod ist Nichts als Übergang, die eigentliche Angst auf dem Totenbett ist im Gegensatz zu uns, nicht das Sterben, sondern die Angst dem Danach nicht gewachsen zu sein. Dem Gericht also. „Den Gerechten aber – und wegen ihrer Keuschheit gehört Laura zu ihnen – ist der frühe Tod deshalb recht. Rasche Verwesung bedeutet schnelle Trennung des Fleischs von den Knochen, ist Erleichterung der Seele, die vom Kör-per nur beschwert ist.“ Und bei Boccacio kommt der Glaubensverlust durch das Grauen im „Decamerone“ am stärksten zum Vorschein: Flo-renz, Santa Maria Novella, ist der Zufluchtsort von junge Männer und Frauen ungestört miteinander reden können. Draußen auf dem Lande suchen die zehn nur den angenehmen Ort, den „locus amoenus“ Lie-bes-Idylle angesichts des Grauens. Ihre Geschichten aber sind voller Lieb, mehr Erotik, ja Pornographie. Überwindung des Todes und ihrer Welt, die von der Epidemie erschüttert wird. Dieser Schwarze Tod mit Schreienden, dem Verwesungsgestank, dem Grauen beim Schwarzen Tod, ließ sich wie etwa heute Kriege, KZ schwer wiedergeben, besser in Sprache.
Buffalmacco: Die drei Lebenden und die drei Toten, Pisa, Camposan-to. „Nachdem man lange zweifelte, wer für die Fresken in Pisa ver-antwortlich war, hat sich heute eine Meinung durchgesetzt, die sie auf überraschende Weise mit dem Dekameron des Boccaccio verbindet: Kein anderer als der in den Novellen zitierte florentinische Maler Buf-falmacco wird in Anspruch genommen. Boccaccio schildert ihn als gescheiten, oft hinterhältigen Schalk, der seine dummen Mitbürger auf den Arm nimmt. Geschichten von ihm erzählt man sich schon in jenen Wochen, da die Pest wütet, also 1348; sein Werk ist Geschichte wie das des Giotto di Bondone (1267-1337). Mithin entstanden die Grundlagen für die Todesmeditation, auf die der Schwarze Tod in Italien stößt, nicht durch das reale Ereignis angeregt, sondern als Ausdrucksformen der direkt vorausgehenden Generation.“ (Eberhard König, FU, Berlin)
Hinzu kommen Antike und arabische Legenden im ikonographischen Programm des Mittelalters, etwa die Legende von der Freundschafts-probe und von Barlaam und Josaphat.
[...] Doch zum „Triumph des Todes“ in der Nordhalle! (Buffalmacco?) 1360, also 7 Jahre nach der Pest. Es konnte fast ganz gerettet werden. Die Vorzeichnung , mit drei Hauptszenen sehr sinnreich: Unten links: Reiter und drei Damen weichen erschrocken vor drei offenen Särgen zurück. Oben: Szenen aus dem Eremitenleben: in der Mitte: die Unglücklichen rufen nach dem Tode; unten rechts: zeigt den Tod, wie er’s ich auf jene stürzt, die das Leben lieben und weiter leben wollen. Wichtig, die Szene des Konzertes.
Es ist durch die vielen Jahre, auch weil die Fresken ja im Freien stan-den, die Farbe wie zerbröselt, und die Konturen unscharf. Aber es ist genau zu erkennen, dass es sich um einen Kampf der Engel und Dä-monen im Zwischenreich handelt, um die Armen Seelen, die dieses Zwischenreich durchqueren müssen. Auch das ist n er Parapsychologie bekannt, in den Nahtoderlebnissen von Patienten geschildert worden. Und dazu , was heute genau so gilt, das unverantwortliche Erdenleben der meisten, auch meines freilich. Diese Trägheit, dieses In den Tag hinein leben mit banalem Zeug. So hier, wie im Memento mori berittene Damen und Herren, die zur Jagd reiten, um sich zu vergnü-gen, plötzlich auf drei offene Särge mit Toten stoßen, die ihre eigenen sein könnten, und Entsetzen zeigen. Der Mönch Macarios an der Treppe zum Einsiedler, versucht sie zu warnen. Ähnlich in der rechten Ecke, wo zehn junge Leute, wie im Decamerone übrigens, zusammen sitzen, idyllisch sich vergnügen, Laute und Wein, Tanz und Liebe, und genau darüber die Maske des Todes und Szenen von Armen Seelen, die von Dämonen in die Hölle geführt werden, nicht sehen. Es ist der „Tag des Zornes“. Aus den Mündern der Verstorbenen kommen die Armen Seelen, als Kinder dargestellt. Alles ist umgeben auch von To-tenvögeln und Fledermäusen. Nur der Eremit in der oberen rechten Ecke, scheint unberührt von allem.

Tod also zentral. Ich fand ein Gedicht von mir:

GRAU kommt
ganz nah/ an meinem Haar entlang der Tod.
Aus einer Ferne,/ die ich so nicht kannte.
Nun ist er fühlbar da/ und wirft schon Schattenringe.
Und kehrt mir meine Zeit,/ die ich hier lebte um.

Er kommt von vorn,/ aus dem, was bisher gar nicht war,
schon auf mich zu,/ und doch/ scheint es als sei es längst vergangen.

Jetzt stehst du vor mir,/ dein Gesicht ist blass.
Du hast dich abgewandt,/ dein Mund scheint blau.
Und das V ertraute kann nicht singen.

Schau, - alles was noch einmal kommen wird, / ist für mich
so,
als ob es längst verging.

Auf dieser blassen Grenze,/ die jetzt deutlich wird,
steht einer,/ der mich in die Lehre nimmt.
Der den Verstand ver-rückt, die Worte - / weit hinter sich zurücklässt,
jetzt, -/ bevor der Aufstieg in das Eis beginnt.

Klammer dazu:


Das "Totengespräch", wie es Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes literarisches, vielleicht heute als wichtigs-tes Genre. Es ist eine Wiederkehr des verdrängten Todes, die Kom-munikation mit dem Undenkbaren, dem "exzen¬trischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das frappierend Neue: über un-sere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte ( Tonband, Fernse-hen, Com¬puter); sie er¬möglichen das Undenk¬bare, die äußerst schwie-rige Kommuni¬kation mit einem anderen "Zeit¬feld", nämlich mit den soge¬nannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende Materie ange¬sehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die To-ten bezeugen, dass es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, dass wir uns kein Bild von jener frem¬den Sphäre machen dürfen - und es auch nicht können. Das Geheimnis, das Verborgene muß ge-wahrt werden, es schützt sich aber schon durch seine sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff dieser Zivili-sation. Der skeptische Physiker Prof. H. S. meint, dass es bei diesen merkwür¬digen "Durchsagen" schwierig sei, zu un¬terscheiden, welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte Projek-tionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyber¬space, zu Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, dass es um höchst un¬heimlich "realisierbare Wahr¬schein¬lichkeiten" von "Toten" geht: "Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als dass wir unsere Vorstellungen berechtigterweise übertra¬gen dürften". Bild- und Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Ver-gessen geschlagen. Muss der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN geantwor¬tet werden, mit Para- und Hypo-taxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen zer¬schellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annä¬herungen am Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum Gespensterreich geworden - und wir, die Nach¬geborenen, sind im späten Nachher ihre Phantome. Die Metapher ist ein viel¬leicht antiquiertes Sprungbrett, dahin zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukom¬men in den historischen Null-bereich, wo womöglich eine Tür wartet.
Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische wesentliche Prä¬dikate" mit denen das, was er dann das "Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden werden, "wenn sie einem Ge-genstand als ihrem Träger bei¬ge¬legt werden, der selber in ihnen noch nicht mit er¬kannt ist, auch nicht in ih¬nen erkannt werden kann, son-dern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, dass heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Litera¬tur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene aufs Un¬heimli¬che und Paradoxeste real zu werden scheint; dass auch die jahrtau¬sendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei dieser Öff¬nung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Er-lebnisse auf¬genommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Er-lebnis und Erin¬nerung" (Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen ist, Zukunft, Gegen¬wart, Vergan-genheit sich auf das Schönste - und auf das Gefährlichste treffen, sei-ther bedeuten auch einige der alten , "abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas; erstaunlich ist auch: vieles bisher Abge¬lehnte, Verdrängte, Diskriminierte und sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt wieder; oft eine Wie-derkehr, die Grau¬en aus¬löst; denn eine Zeit des Subjekts scheint noch nicht ganz "real", je¬doch in seiner furchtbaren Unreife und Irrationali-tät täglich schon erkenn¬bar, gefährlich aufgebrochen auch in primiti-ven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den "Instink-ten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.



Dom (Kathedrale) und Baptisterium.


Der Dom zeigt wieder die Macht der Seerepublik Pisa, die 1063 sogar Palermo erobert hatte, erbeutete Schätze machten diesen Dom in sei-ner Großartigkeit möglich. Baumeister war der berühmte Buscheto. Noch im 14. Jhdt. wurde gebaut, da wars Giovanni Pisano. Doch Baugeschichten und Jahreszahlen, Baudetails etc. von denen die Füh-rer strotzen, besagen an sich gar nichts. Sie können erst mit dem Er-lebnis des Dominnern uns etwas sagen. Schon die Piazza die Miracoli selbst, verwandelt Ästhetik und Schönheit in eine verzaubernde Stimmung, die tiefer geht als nur Landschaft gehen kann. Eine Ein-stimmung, die freilich nur wirken kann, wenn wir uns vom chronokra-tischen Zeitgefühl loslösen, uns Zeit gönnen, ja Plotins Spruch, Zeit sei das Leben der Seele, ganz ernst nehmen, alles wie bei der Meditation abschalten, vor allem die Touristenverunreinigung ringsum, und Gesichter in der Menge suchen, die diese Gestimmtheit, einen gewis-sen erwartungsvoll-staunendenfeierlichen Ernst ausstrahlen. Und nicht das Abhakgefühl der meisten, die nur da sind, weil man dies „gesehen haben muss“.

Der Dom ist romanisch-pisanisch sehr stilprägend gewesen.
Baptisterium, Dom und Baptisterium, diese Dreiheit ist aufeinander so abgestimmt, und endet an der Marmormauer des Campo Santo als memento mori dieses aufblitzenden Augenblicks, dass man dies Jetzt, ist man bereit, voll erlebt, falls man Turm und Campo Santo schon in sich aufgenommen hat, und niemals sollte man die Reihen-folge umkehren, und zuerst Dom und Babtisterium besuchen! Bewusst wird man sich dieses Moments nur wenn man den Campo Santo und das Turmgefühl kennt, und so der Augenblick Ewigkeit widerspie-gelt., man es sich vorsagen sollte. Weil die Wirkung des lebendigen Grüns inmitten zum harten Marmor, sogar das Wort Gras so bedeu-tungsvoll wird, man es in sich umkehren sollte, denn es ist aller Zu-kunft, der Tod, Carraramarmor aber hat Ewigkeit in sich, diese For-men des Heiligen gibt es seit 800 Jahren.

Und dann kommt man zu den Bronzetüren des Meisters Bonanno Pi-sano. Leben Jesu? Byzaninischer Einfluss ist unverkennbar.
Die Kuppel ellipsenförmig und hat schonen gotischen Note. Durch die Spitzbögen und Dekorationen.


Romanische Basilikabauten oder hochstrebende Gotik! Das Grunder-lebnis ist wichtig. Und das Erlebnis dann in der Kathedrale selbst: Ähnlich wie im Florentiner Dom, zuerst der Architektureindruck der Schönheit und Stille, eine Andachtstimmung , wenn man es zulässt, durch sie ist Ästhetisch , die fünf Schiffe und die reich verzierte Kas-settendecke, der Blick zur Schlussapsis wie eine große Erwartung, die Größe wird durch grauschwarze Bandverzierung der Mauern und Säu-len die Bögen der Seitenschiffe gleichsam ins Vertraute und Geheim-nisvolle wie in einen eigenen Innen-Raum reduziert. Doch dann wirkt schon die Apsis von vorne, so dass der romanisch-orientalische Aspekt vom Gefühl des Emporstrebens ersetzt wird, fließend die Übergänge im Gefühl. Vielleicht wirkten auch die Emporen, die marmorweiß sind und die auf die Seitenschiffe und das Querhaus hinausgehen; sie sind durch starke zweiteilige Rundbogenfenster gegliedert. Aber eben schon in der Höhe verstärken sie die Perspektive zu jenem Punkt der Apsis, wie der Einfall des Unerklärlichen, des Einen in spirituellem Magnetismus zu geschehen scheint. Es ist nicht nur die Apsis, sondern die hohen Bogengänge, teilweise mit Spitzbögen im Mittelschiff, dann aber besonders über der Apsis, wenn wir diese erreichen, das Gotische, die Ellipsenform der Kuppel, die sich über dem Presbyteri-um auf hochstrebenden Spitzbögen erhebt, die uns zu jenem magischen Innenpunkt, der unsichtbar bleibt, hinführt.. Dort aber gibt es DEN Punkt des einfallenden inneren „Strahls“, fast magnetisch, ziehend, ähnlich wie ich es auch in Florenz am gleichen Punkt unter der hohen, hinaufstrebenden Kuppel vor dem Altar empfunden hatte! Der ganze Raum ringsum, löste sich auf.
Der Eindruck wird verstärkt durch die weltberühmte rein gotische Kanzel neben dem ersten Pilaster der Kuppel … gut gewählt diesen Ort des WORTES.

Frei schwebend zum Leichten in aller Schwere HIER
Blau: pythagoräisch das große Quadrat
dieser Erde, Schwerkraft Gottes, des Herzens HIER
Doppeltes Dreieck, sein Auge.

Und gold wie die Gotik
himmelnd und leicht
das Geheimnis des Urlichts
Entelechien ein Blitz
aus dem Auge des Herrn


Und nicht zufällig sind ja hier in der Kuppel Fresken von Rimaldini über Mariae Himmelfahrt, und die Zwickel tragen die Gestalten der Evanghelisti, die ja auch himmelten. Himmelfahrt also, zumindest mit der Seele, diesen Einruck hatte ich. Und ich muss an das erstaunliche Erlebnis des André Frossard, der solch eine Vision in einer kleinen Kirche des Quartier Latin hatte, und einen Besteller darüber schrieb: „Gott existiert“, denken und kann mich darin gut einfühlen!.


Und andere Erinnerungen kommen: Kölner Dom, Straßburger Müns-ter, Dom von Florenz, Ulm? Oder Paris – Notre Dame de Paris, ei-gentlich hier das stärkste Domerlebnis. Es war auch der erste Dom in meinem Leben, den ich in meinem Leben 1968 nach der Flucht sah. Und dann war es das „Gebirge“ des Kölner Doms, eine Legende für mich, schon als Kind zu Weihnachten hatte ich seine Glocken gehört. Und viel gelesen. So wusste ich, dass die Baupläne von Albertus Magnus stammten, dem, doctor universalis, der sich selbst "Bruder Albert von Lauingen" nannte, den die Geschichte nur als Dominika-nermönch und Ordens-Prior, als Bischof und päpstlichen Nuntius, als Universitätslehrer und Rektor der Hochschule Köln, als Naturforscher und Philosoph kannte, wurde 1193 in Lauingen geboren und starb am 15. November 1280 in Köln. Seine Schüler waren u. a. Thomas von Aquin und Meister Eckart.
Und auch die Geschichte dieser Baupläne ist etwas Wunderbares, und heute bestätigt dieses meine Grundauffassung, dass Kunst, wie auch Wissenschaft, man denke an Galilei und Newton (Vgl dazu S. ) aprio-risch ist, Intuition, Einfall aus der andern Sphäre.
Eine Legende berichtet, dass Albertus Magnus den Plan zum Bau des Kölner Doms entworfen haben soll. Eines Nachts seien ihm im Gebet vier Männer erschienen: Ein Greis, ein älterer Mann, ein Mann in den besten Jahren und ein Jüngling. In der Hand hielten sie Zirkel, Win-kelmaß, Maßstab und Waage. Es sei dann die Jungfrau Maria einget-reten, nach deren Angaben die vier Männer den Bauriss des Domes auf die Wand gezeichnet hätten. Später sei nach diesem Plan der Köl-ner Dom gebaut worden.


Dieses Ganz Andere als Einfall, die der einflussreiche Rudolf Otto in seinem Buch „Das Heilige“ mit dem „Numinosen“, einem Zustand, einer besonderen in Worten nicht ausdrückbaren Gestimmtheit in Be-ziehung setzt, und dieses „Erwecktwerden“ zu etwas sonst zutiefst und intim, fast schamhaft Verborgenem, das plötzlich alles in eine wunderbare Geborgenheit verwandelte, hab ich am stärksten im Flo-rentiner Dom, dann im Straßburger Münster gespürt. Calvin nennt es „divini numinis intelligentia.


Dieser Eindruck des leuchtenden innern Punktes unter der Kuppel vermittelt freilich über dese Formen der genialen Architektur, wird in Pisa besonders verstärkt durch die wunderbare Kanzel. Des Giovanni Pisano, viel später erbaut 1302 bis 1311.


Man kann hier das ganze mittelalterlich Weltbild daran studieren, der Mittelstütztpfeiler enthält Figuren des Triviums und Quadriviums: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Astronomie, Arithmetik, Geometrie, Musik. Und auf einem Piedestal die Figuren der drei Theologischen Tugenden. Zwei Außenstützen werden von Löwen, die Pferde reissen, getragen. Symbol für den Sieg des Christentums über die Heiden. Eine andere Stütze wird von Figuren der vier Kardinaltugenden getragen, auf ihren Schultern die Kirche als Frau, sie säugt zwei Kinder, das alte und Neue Testament. Die Auß0ensäulen tragen einen schmalen Architrav. Sybillen und Propheten. Darüber neun Reliefplatten getrennt durch Propheten und Heiligenfiguren. Darüber wieder ein reichverziertes Gesamtsims, das ein adlergeschmücktes Lesepult trägt. Die neun Reliefplatten erzählen biblische Geschichten. Verkündigung, Geburt des Täufers, Geburt Jesu, Die Heiligen drei Könige. Flucht nach Ägypten. Kindermord. Judaskuss und Gefangennahme. Kreuzigung. Die Auserwählten. Die Verdammten. Die Szenen voller Ungestüm und Leidenschaft.


Und nun der berühmte Bronzeleuchter. Galileis Messingkronleuchter mit den vielen Waagschalen. Eine Legende besagt, Galilei habe die Pendelbewegung des Leuchters beobachtet und daraus das Gesetz über den Isochronismus aufgestellt. so das Pendelgesetz gefunden. Es besagt, dass ein an einem Punkt aufgehängtes, frei schwingendes Pen-del für eine Schwingung, also für die Bewegung vom höchsten Punkt der einen Seite bis zu dem höchsten Punkt der anderen Seite, unab-hängig von der Schwingungsweite immer die (fast) gleiche Zeit benö-tigt. Die Schwingungsdauer ist abhängig von der Pendellänge und der Erdanziehungskraft. Diese Pendeleigenschaft der zeitgleichen Schwingungsdauer nannte schon Galilei "Isochronismus". Mit dieser Eigenschaft war das Pendel der ideale Gangregler für ortsfeste Uhren. Also unser ganze Zeitmessung ist davon abhängig.




VI
FLORENZ

Ankunft in Florenz, mein Gott, wie wäre das früher gewesen, Flóorenz sagten die Leute bei uns in Transilvanien, sogar Mokan, der Geschichtslehrer. Also Ankunft, wieder einmal Ankunft, mit Blick nun, von der Autobahn kommend, auf die Villen der Vorstädte, dann endlos langweilige staubige Straßen.
Manchmal Verkehrsgewühl, heiße Mittagsluft, ohrenzerreissendes Hupkonzert; immer weniger ist dies für mich nun Nebensache, wie am Anfang, als ich noch überall Mythen nachreiste, eignen Träumen. Immer mehr kommt es an mich heran, das Florenz der Florentiner. Die Museen, die Kostbarkeiten sind für Fremde, für Besucher; die Uffi-zien, der Palazzo Vecchio – erste Erlebnisse – sind fern nun wie die Erinnerungen aus der Kinderzeit: Enthusiasmus bei dem naiv gestirn-ten Himmel der Deckenbemalung mit Engelornamenten, Blumen, Ve-getalien, Tiere – weiter Öffnung des Raumes.
Wir gehen wieder einmal über den Ponte Vecchio, früher sollen von hier die Metzger vertrieben worden sein, dafür durften Goldschmiede das Panorama schmücken; fad nun der Lungarno, noch fader das „Schmuckstück“ mit Filigranarbeiten und goldnen Ohrgehängen, Pil-lenschächtelchen aus Silber, nachgemachten alten Zinngefäßen für reiche Scheißer aus dem Norden. Schau Hannah, wunderbar, dass sich da vergammelte Hippies umarmend in der Mitte der Brücke breitma-chen, ihr Lager aufgeschlagen haben; antiquierter Protest, auch das schon überholt: die Verweigerung. Das scharfe Profil einer jungen Frau in wallendem weißem Gewand ist vor dem Hintergrund des Nachmittagshimmels zu sehen. Geistesabwesen, wie irr, sieht sie über das Wasser.
Fugen kommen mir ins Gedächtnis. Gestern haben wir Mahlers Kind-heitssymphonie gehört. Hannah sagt, das Motiv sei nicht ‚Weißt du wie viel Sternlein stehen’. Vor Jahren ein Foto mit den Eltern – genau hier an diesem Platz: Blick durch die geschwungenen Bögen der Brü-cke hindurch auf den Fluß, dahinter sanft die Berge. Ganz geprickt gingen die beiden damals noch von einer Brückenseite zur andern, sa-hen kindlich lachend ins Objektiv – das Foto klebt nun im Album. Sie sind nicht mehr da. Tot, sagt man.

Damals hier Verzückung, im Baptisterium schwingende Sicherheit, Kuppelgleichgewicht des Brunelleschi, so empfand ich es: als wäre ich für einen Augenblick geborgen; Hannah fühlte das gleiche, in den Uffizien das Anheimelnde – wie Baumschatten des Abendlandes, die Decken, immer wieder ein Kindertraum, gold- und blauschimmernde Himmel.

In der Campagna bei der ersten Anfahrt auf Rom ein prickelndes Ge-fühl von Frühlingsluft, das war köstlich wie eine einsetzende Verlieb-theit. Wir begannen mit der Erde aufzutauen.

Als ich den Dom zum ersten Mal sah: plötzlich stand er vor mir, ein riesiges, für den verwirrten Blick unglaublich hohes, aber heiteres ‚Mausoleum’, wie eine Sphinx, ein schwerer orientalischer Traum. Damals hatten sich auch noch die Eindrücke mit Erinnerungen an zu Hause überlagert, völlig unzugänglich für andere, bis ins Absurde per-sönlich: unerfindlich, weshalb ich dabei an eine Tante denken musste, die Heydel hieß, an ihre efeubewachsene Mietwohnung mit einer gro-ßen beleuchteten Uhr.

Dann gab es eine Phase, da sah ich nicht einmal auf, als wir am Dom vorbeigingen. Ich dachte nur: etwas kitschig, ich muss nicht hinsehen, es genügt, dass er da ist und mich stört, diesem Menschengewühl noch die wenige Sonne wegnimmt. Die blau eingezeichnete Busspur hinter dem Baptisterium wirkte wie eine Sackgasse, geometrische Bornier-theit.
Die Legenden, denen ich bisher nachgefahren bin, sind verbraucht, nichts Besonderes, nichts Neues mehr. Dagegen muss ich mich heftig wehren.

Hier liegt alles abseits, die Stille,
jetzt, toskanisch, ist passé,
ganz egal an welchem Ort.
Auch Rom wirkt
bei genauem Erleben (durch den Lärm)
völlig weglos und abgeschnitten.

Wer aber ist dann mein Adressat?
Irgendwo ist er zu vermuten,
denn ich weiß es mit großer Gewissheit,
dass mir der Lärm etwas verbirgt.

Ein Monolog geht um
tausendfach.
Von vorn aber kommt kein Genosse mehr heran.

Da in der Schlucht zwischen Baptisterium und dem sich hochtürmen-den Dom, hat er wieder ‚das Gesicht’ gemacht, konnte er nicht auf-schauen, nichts sehen also.
Es gab andere Begegnungen. Das Bemühen um genial als Kunst ge-stoppte Zeit war hier gelungen in Konstruktionen des ‚Stadtirren’ Brunelleschi, vom Kuppelbau erfolgreich aufgehobene Naturgesetze der Schwerkraft. Der aus des Meisters Kopf entsprungene Plan zum Bau hält allen Festigkeitslehren spottend.. Voller Ehrfurcht riecht man an den alten Holzmodellen im Museum, den Atem verschlagen uns die wurmstichigen Holzgerüche, die Probehandlungen des Meisters real vor uns. Wenn wir den Sinn spüren, hinaustreten auf die Piazza, hat sich die plötzlich verändert: die Piazza, die Straße ein Spielplatz, Fuß-ball spielende Kinder, Flanierende, die mit ihren Mädchen den Aus-flug für den Sonntag aushandeln; vertraut, tröstlich die Stimmen, die Farben, der Platz von sienafarbenen Häusern wie auf einer Bühne um-geben. Geborgenheit wie überall, wo die Welt wie eingezäunt zu sein scheint. Hannah sagt, sie denke an das sonnige Bischofsgärtchen mit Rosenzaun hinter der Notre Dame. Und weißt du noch, die im Mond-schein spielenden Kinder hinter S. Martino in Lucca, oder jener Platz in Venedig, wo die Schritte auf dem Pflaster hallten und nur drei späte Spaziergänger sich flüsternd unterhielten. Wenn Man also eintritt von der Piazza in die Santa Croce, wo gleich das Cimabue-Kruzifix vorn empfängt, hervorleuchtet aus dem Dämmer, wie im Märchen ein Licht den Verirrten im Wald nach langem Irrgang.
Traumschichten für mich da an der Kirchenmauer entlang, wo nur marmorne Schnitte von Bildhauer-Blicken die Zeit ausgespart haben. Kitschige Denkmäler für den Exilierten, der die Hölle kannte, für den Mann aus Pisa, der die Fallgesetze fand, für den gütigen Zyniker, den Taktiker der Staatskunst – als sähe ich’s nun durch eine Jalousie im brütenden flimmernden Hochsommer, angenehm die Kühle des Still-standes durch den aufgeweckten Traum. Sieh dort, wie sie sich kunst-voll stäuben und durch unsere gegenwärtigen Blicke leben, die nach-vollziehen, was für sie war, freilich ihnen ganz fremd. Wo sie wohl jetzt sind, höre ich Hannah neben mir sagen.
Straßen, Gassen und dann wieder der schützende Dämmer des Kir-cheninnern. Die Via Magazzini vom Palazzo Vecchio zum Dom. Überall die zahmen weißen Tauben.
Weißt du noch, sagt Hannah, hier in dieser Tavola Calda haben wir 1974 gemittagtgegessen??, caccia, abgeschossene Vögel, hattest du bestellt, ich sehe, wie sie die geschwungene Acht am Himmel ziehen, mit Schuldgefühlen gegessen, dachtest, es sei Wild, die Sprache traf sich nicht mit deiner Phantasie, du hast sie geschlachtet, die Acht, Fremdsprache, wie so oft, ich habe darunter gelitten, hier in diesem Land, in jenem andern, sage ich. Deinen Vogel, ich weiß, den hast du nie abgeschossen, sagt sie.


FLORENZ
11.April 1993. Hannah würde sich sofort an die Piazza bei der Kirche Santa Croce in Florenz erinnern: sie weiß es, wie ich es weiß und erinnere, viele gemeinsame Erinnerungen: Ich habe dazu keine Tage-buchnotiz; obwohl ich seit 68 regelmäßig Tagebuch schreibe und einen ganzen Kasten davon besitze, habe ich die Szene nirgends mehr gefun¬den, doch das Gedächtnis ist relativ genau: Wir traten damals aus der Kir¬che ins Freie, eine Zi¬geunerin bedrängte uns; wir wandten uns ab; als wir unten an der Treppe standen, kam die Zigeunerin wie-der, überreichte ze¬remoniös Janns "gefundenen" Geldbeutel, und er-hoffte Belohnung, die sie auch bekam. Die Piazza war wie eine Stube, ein Hof mit fußballspielenden Kindern, Lie¬bespaaren, Spaziergängern, tröstlich die Stimmen an jenem Nachmittag, der Platz umgeben von siena¬far¬benen Häusern. Und dabei fiel mir auch das sonnige Bischof-gärtchen an der Nôtre Dame de Paris ein; und die im Mondschein ball-spielenden Kinder hinter dem Dom San Martino in Lucca. Es fällt mir ein Platz in Venedig ein, wo abends die Schritte auf dem Pfla¬ster fern in einem sonderbaren Mauerecho hallten, und sich nur drei späte Spa-ziergänger flüsternd unterhielten, wie eine kurze Erleuchtung war der Augenblick, ein Widerschein der innern Außenwelt, die mit den Jah-ren in uns, in ihr, in mir gewachsen ist, und sogar damals in der Kirche Santa Croce, als ich gemeinsam mit ihr, und dies nicht zum ersten Mal, auf den toten und noch lebenden Christus des Cimabue gesehen hatte, war es auch eine gemeinsame Erinnerung, als ich den Blick mit hinausnahm auf den Platz. Und als wäre der Kreuzweg mitten in die-sem Moment unseres Le¬bens, wie ein Licht des Empyreums, das die Sekunden berührt.
Nach jenen Erinnerungsaugenblicken gingen wir in eine Tavola calda, und das Inferno begann, der Riß und Bruch, auch mit ihr, als wäre sie unter anderen Menschen ganz plötzlich brutal zur Außenwelt geworden; und ich weiter innen geblieben, außen ein Idiot, und nur lächerlich. Es musste so kommen. Ich versuchte natürlich, ihr aus dem Mantel zu helfen, fand aber den Klei¬derhaken nicht, drehte mich ver¬zweifelt im Kreis. Nur ruhig; sagte sie. Ja, genau so war es auch: Nur ruhig, sagte sie, der Haken ist über deinem Kopf; blickte auf-wärts, dort war der Haken, rasch den Mantel, und setzte mich aufat-mend an den Tisch, setzte mich auf den Mantelsaum, riss den Mantel herab, sie kicherte, ich wurde unter dem Mantel vergraben, die Wut stieg in mir hoch. Was nimmst du, höre ich ihre Stimme von "drau-ßen", sie kann sich das Lachen kaum ver¬beißen. Der Kellner wartet, ich weiß. Aber sonst bestellt ja sie, über meinen Kopf hinweg, warum heute diese Rücksicht? Doch ich wickelte und wickelte, vielleicht hat-te sie das Mitleid gepackt für diesen Wickel¬menschen, der aus sich nicht her¬ausfindet. Verlegenheit und Unsicherheit, zu langsame Refle-xe und man¬gelhaftes "Auftreten" ; Klotz, du Trans¬sylvan. Dabei ist Florenz doch eine Stadt voller Ticks und Psychopathen, aber der ele-gante Tick verlangt das selbstbewusste Auftreten, er ist nur mit erho-be¬nem Kopf erlaubt, mit nonchalanten Gesten, nicht geduckt, gefan-gen und in Schweiß gebadet, verwirrt von Angst und Scham, sich lä-cherlich zu machen. Endlich hatte ich es ge¬schafft. Nach einer Weile, wir hatten den Antipasto schon hinter uns, crostini warm, Leberpastete auf geröstetem Brot, Gallo Nero, sah ich zum Nebentisch: da saß ein Menschenkoloss mit vornüber gebeugtem Bi¬berkopf, der Mann trommelte mit seinen Fingern matt auf dem Teller, in der anderen hielt er in Menschenfresserposition aufrecht die Gabel, er be¬nahm sich also genau so, wie ihm zumute war. Er benimmt sich, wie ihm zumute ist, murmelte ich vorwurfsvoll ....




VII

Viareggio



Viareggio ist der äl-teste, größte und be-lebteste Badeort der Riviera der Versilia, ein weltbekanntes Touristenziel . Via-reggio ist auch Zent-rum des Vergnü-gens, Wiege des Karnevals und des Elite-Nachtlebens mit seinen renom-mierten Schickeria-Lokalen. Im Som-mer lebt man in stimmungsgeladener und farbenfroher Atmosphäre, sobald die nächtliche Stra-ßenbeleuchtung der Gegend ihren be-sonderen Reiz ver-leiht, im Winter herrscht beeindru-ckende Stille nach prachtvollen Son-nenuntergängen. Die ganzjährig stattfin-denden kulturellen und volkstümlichen Veranstaltungen werden seit Jahren von einem breiten Publikum besucht.
Für Carlo Mattiolis Bild „Versilia“


VERSILIA, SOM-MER im Bild,
was wirklich ist, so
leg den gelben Sand, die
Düne wandert an den Nervenrand, so
leg die Blüte, die Idee im Baum,
die Augenweiße, Schnee und mil-chigblau, die
Irisblitze, Roter Ap-fel Mund, der Raum
ist feenweißer als ein Traum.

Die Paste Schwarz, sie ist wie
trocknes Blut, das aus den Dingen
fließt,
so leg es aufs Papier, und tast die Spur,
was wirklich ist,
ist nicht mehr gut.


So riech die Som-mererde hier, ein
Flimmern, heiß, die Augenuhr, das
Meer, das Land sind
dunkel, nur der Blick ist da, die Zunge,
der Geruch: vor dir das Farbenfeld: der
Bleiche Sand und Alles rinnt und
blutet grün schwarz violett
die Nacht ist rot,

er wurde wie ver-schont - ist dieser Mann
lebt noch und baut im Nichts ein Herz
der Farbe Immernie

und wohnt lang nach dem Tod
ein Leben durch die Augenwand

Hier ist so lang
du noch verschwin-den kannst

sein Land.

Es gibt nur wenige geschichtliche Hin-weise auf diese Stadt. Den Namen leitet man ab, von "Via Regia" eine mittelalterliche Straβe, die man heu-te noch längs des Burlamacca – Kanals verfolgen kann. Im XV. Jahrhundert bauten die Einwoh-ner Luccas die höl-zerne Festung und von diesem Datum an hatte dann Via-reggio strategische Wichtigkeit und der Hafen belebte sich erstmals durch Han-delsverkehr. Erst Jahrhunderte später jedoch begann das industrielle Wach-stum der Stadt, als die ersten Schiffs-werften entstanden. . Das Meer, der große Verbündete der Ein-wohner Viareggios, diente als Ansporn für den Bootsbau, ein für die Fischer äußerst wichtiger Produktionsbereich. In denselben Werften werden heutzutage teure Luxusjachten gebaut.
Auf jeden Fall ist der Tourismus Aus-hängeschild dieser Stadt: um die positi-ve Entwicklung ei-ner der bedeutend-sten italienischen Badeorte nachzu-vollziehen, ist ledig-lich zu erwähnen, dass es hier Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bereits 3000 Umkleidekabi-nen gab. Die Mi-schung aus grünen Hügeln, Pinienhai-nen und blauem Meer geben der Ge-gend ihren besonde-ren Reiz, ebenso wie der weltberühmte Karneval. Ein langer Zug von Karnevals-wagen wecken die Leidenschaft einer Stadt , die sich das ganze Jahre über auf dieses Ereignis vor-bereitet: Kostüme, Aktualität und Poli-tik sind Themen, an denen sich die Phan-tasie der humorvol-len Professionisten auslässt . Der Kar-neval von Viareggio wurde erstmals im Jahre 1873 gefeiert und ist auf der Rangliste internatio-naler Bekanntheit mit dem Karneval von Rio gleichzus-tellen.
Viareggio ist außer-dem für seinen Lite-raturpreis bekannt, der erstmals 1929 von Leonardo Repaci ins Leben gerufen wurde und auch heu-te noch in unserer Li-teratur seine Spuren hinterlässt. Der Baustil Viareggios zeigt keine Beson-derheiten: mit seinen im Liberty-Stil vom Architekt Belluomi entworfenen weichen Formen und seinen Keramikstrukturen von Galileo und Chi-no Chini bietet sich dem Beschauer ein einheitliches Stadt-bild. Eine Besichti-gung des Matilde-Turms und des Shel-ley-Platzes, Standort der Büste des Dich-ters, ist ebenfalls interessant.


Tagebuch


Für meinen toten Freund Fintoni

Doch Jugend so grün wie die Oliven, silbern
wie deine Sonette, hier, wie sie lebten
als Landschaft; da gehst du, ich sehe es,
du last es vor, auf deinen Lippen stand
der Schmerz, unter einer Landschaft Mattiolis
violette Grenzen, dahinter ein Feld:
und alles war doch nur ein Zimmer
der Freundschaft bei Paola und Francesco:
Oh, come trova il corpo una ragione
e una bellezza nel suo quotidiano
indossare poi togliere la maglia
del capo, dove svela quel cespuglio
di riccioli arruffati bruni lucidi.
Und doch auf den Lippen damals, schwarz,
eine Wunde mit dem Vater, an einer Seite

brennend zu fühlen und offen bis heute.

Oder am Tisch mit ihm, tavolo fermo,
wir tranken Rotwein in Parma, aßen und lachten
und du sagtest, glänzend der Blick; wir hier
seien doch noch geblieben: Creature mute
della terra antica, cuore che batte
dalle lontananze. Berührt uns gemeinsam:
ein grünes Tal, Versilia, e sono
i seni colline remote, docili, ove giocammo
nell`infanzia del mondo, und das Tal,
es steht nun umgestülpt, noch da und ist schon
längst vergangen.


Nichts, Nichts ist
vergangen, solange wir hier sind,
beständig wie der Tod, der alles,
nur sich nicht nimmt.











Szenen in Viareggio aus dem „Verweser“ und „Romans Geister“



Ich hatte schon gleich am Anfang unseres Aufenthaltes hier die Torre Matilde in der nahegelegenen Hafenstadt Viareggio mit meinen Flo-rentiner Freunden besucht, es waren Michum, seine Frau Argia, eine Analytikerin, und ihre Tochter Tanja, Medizin- und Musikstudentin in Mailand; und ... naja, da hatte ich wohl einen besorgniserregenden Schub, eine Art Halluzination....da ... ja... da...stand Granucci wie eine Erscheinung im runden Raum des Turmes unter der wackligen Treppe, er hob zum erstenmal die Hand, genau wie auf jenem Bild in der Via dei Fossi machte er das Todeszeichen: Ich sah ihn wie in einem Spiegel, die Mauer war durchsichtig wie Glas, keiner freilich sah ihn, außer mir, ich wagte auch nichts davon zu erwähnen, sondern schwieg mich über dieses so seltsame und sicher besorgniserregende Ereignis aus. Weder Michum, noch Hannah erfuhren etwas von mir! Die hätten mich wahrscheinlich in Behandlung gegeben, gar eingeliefert! Oder nur ausgelacht?! Nein, ich wollte nicht ausgelacht werden, da bin ich sehr empfindlich: "Wieder spielt dir deine überhitzte Phantasie einen Streich" – hätte es dann geheißen!
Die Torre Matilde steht am Tyrrhenischen Meer an einem Kanal, der sich im Badeort Viareggio von einem sumpfigen See zum Meer hinzieht, mein Wohnort Aliano liegt nur einige Kilometer davon ent-fernt in den Apuanischen Alpen; und so genau, wie in jener Torre habe ich Nicco nur noch einmal sehen können. Das ist gar nicht so lange her. Der schlimmste Traum aber war am realsten: - Gott, dieser Blick, grüngesprenkelte meerige Augen hatte er, die mich durchdringend an-sahen: so, als dürfte ich nicht fortgehn, ihn einfach stehen lassen, ver-gessen, so als wäre das der Abschied für immer; täglich gibt es dies, kaum bewußt, die vielen Blicke, die uns streifen, Dinge, die wir an-dauernd aufgeben; hier aber war´s, als fordere dieser tieftraurige Ab-schiedsblick mich auf, etwas zu tun, als ginge es nicht um ihn, sondern um mich selbst, ein geschriebenes Glück? nein, sein Unglück, das mir bekannt war, als wäre ich dabeigewesen damals in diesem Turm am Meer ... als sie ihn verurteilten und einmauerten...
Viareggio gab es damals noch nicht, nur die Weite leerer Räume, umschwirrt von Mückenwolken.
Wären es nur diese wenigen Begegnungen mit ihm gewesen, hätte ich alles vergessen können, täglich vergessen wir ja andauernd das "Wichtigste", sehr beeindruckt oft von etwas anderem, lassen wir es dann doch liegen, das Leben wird so peu à peu beiseite gelegt, und es kommt nie zum "Wichtigsten".


(…)

Die nette schwarzäugige Bibliothekarin, in die ich mich dann fast ver-liebte, daher auch gerne und immer öfter nach Lucca fuhr, brachte alte vergilbte Prozeßakten, Zeichnungen mit einem genauen Grundriß der Turm-Anlage, und sogar eine Reihe von Manuskripten und Memoiren an meinen Tisch im großen Lesesaal, teils gedruckt, teils handge-schrieben, ein Wirrwarr von Buchstaben in altertümlicher Orthogra-phie, und mein Hirn- und Angstphoto bekam nun auch einen amtli-chen Namen: Nicolao Granucci, geboren am 6. August 1544 in Lucca, zwischen 1582 und 1603 auf der Flucht und im Exil, kreuz und quer durch Europa, 1600-1603 in Transsylvanien, Nemesvár, 1604 lebens-lang eingemauert im Turm von Viareggio, gestorben im Turm - Mai 1618.

(…)

Es war ein schöner Tag im April des Jahres 16o3, winziger Zeit-punkt im Universum... er, der Fremde, scheint sehr müde zu sein, sein Bart schimmert schmutziggrau, vornübergebeugt die Gestalt, gebückt. Und hört ein fernes Lachen dazu.
... und dachte, den ersten größeren Stein würde er anstoßen, so hieß es damals. Und fallen, ich, der Verräter. Verräter? Hängen sollt ihr ihn, hängen, den Fremden. Aufhängen soll man ihn, jeder, der sich fremd fühlt, fremd ist, soll hängen, zu Asche und Staub werden, was sucht er unter uns guten Bürgern, die hier Steuern zahlen!? Sah in der abgerissenen braunen Hose, dem löchrigen grünen Wams und mit dem langen Wanderstab, der sich wie selbsttätig voranbewegte, ihn mitzog, wie ein Zigeuner, ein Jude, ein Ausländer, bestenfalls wie ein Armer und Landstreicher sah er aus.
Doch keinem kam der Geruch dieser Erde hier so nah. Keinem! letzter Frühling: April. Die Obstbäume standen in Blüte, die Kirsch-bäume waren schneeweiß. Wie jung und neu sie sind, und nichts da-von hätte ihn im Aus-Land erreicht, woher er ja kam; Paris, zuletzt war es Transsylvanien gewesen, wo sich die Füchse und Wölfe Gute Nacht sagten, und wo er sich versteckt gehalten hatte, versteckt dort am Ende der Welt, die Ferne und Fremde ist ein Versteck vor den ge-dungenen Mördern. In medio virtus - in summa felicitas. Sie hatten ihn verfolgt, quer durch Europa hatten sie ihn verfolgt; in der Normandie war er ihnen nur durch Zufall entkommen, im Schloß Montaigne hätten sie ihn fast entdeckt, er hielt sich hinter Büchern versteckt, da, wo es noch vertraut roch; kein Grün wuchs sonst in der Fremde durch den Geruch, durch die Schleier der Augen - hinter dem grauen Widerschein seines müden Gesichts.
Ein müdes Gesicht, lange Wanderung, schöne Zeiten, dies Schick-sal damals, Granucci, Nicolao.
Und wie ihn die Leute beschrieben: umnachtet. Er war kaum noch in der Lage zu sprechen.
Ein mitleidiger Herr aus Bagni nahm ihn auf seinem Pferdewagen mit. Bis Villa. Es war Ser Carlo, ein Sohn der Witwe Sercambi. Welch ein Zufall, dachte Nicolao verwundert. Es gibt keine Zufälle. Er war damals ein kleiner frecher Junge gewesen, der am Fenster Grimassen schnitt, wenn die üppige Witwe mit ihm, Granucci, dem Untermieter, oft am hellichten Tag ins Bett ging.
Granucci gab sich nicht zu erkennen. Er ließ den andern erzählen. Der Wagen ratterte durch Monsagrati. Der Dialekt des Ser Carlo tat Nicolao gut. Der junge Sercambi fing an, von den Visionen einer ein-gemauerten Nonne, der Donna Lucida Lucrezia zu erzählen, und von einem Stadtrat und Richter, der vor Jahren verrückt geworden war, nach einem blutigen Todesurteil in Lucca, einem Todesurteil gegen die schöne Donna Lucrezia, den Dottore Nicolao Granucci und die gedungenen Komplizen, die Mörder.
Ob er, der Richter noch lebe? Nein. Wie er heiße? Donati. Doch seine Mutter wisse es besser, sagte Sercambi: "Donati, jaja. Die Älte-ren wissen es, das hat damals großes Aufsehen erregt, wie die Visio-nen und dann ihr Erscheinen nach dem Tode." Wer sei denn erschie-nen? "Donna Lucrezia: In jener Todeseinsamkeit, hatte Don Antonio gesagt, und dabei die Hände gefaltet, gen Himmel geschaut, kann je-der Wunder tun zwischen Himmel und Erde. Früher eine große Sünderin, auch jetzt wieder Sünderin. Vom Bösen dann geholt, nach dem sie gerichtet worden, eine Hexe, hat noch Glück gehabt, nicht zu warten, bis der Pakt zu Ende war. Supplicium. Bei der Fastnacht am Dom von Lucca... es soll im Februar 1573 gewesen sein, heißt es, und dreißig Jahre der Pakt. 1603 geht der Pakt zu Ende, und die Höllenfahrt der Lucida hätte beginnen müssen.
Granucci begann zu zittern. Im Dunkeln, in der Tiefe der Finsternis ist Gott nah, habe Don Antonio, der Pfarrer gesagt, hörte er noch den Schwätzer da neben sich. Lucrezia, meine arme Lucrezia, flüsterte Ni-colao. Im Pferdegetrappel, das ihn näher an jenen Ort brachte, wo sein Heimweh sich nun zusammenzog wie eine Falle. Granucci war ganz blaß geworden, am liebsten wäre er abgestiegen. Doch wagte er es nicht, den Sercambi zu bitten, endlich aufzuhören oder zu halten. Es wurde dämmerig im Tal, Schatten kamen aus den Bäumen, aus allen Tagesdingen, als wären die Augen nur täuschend im Licht gefangen. Die ersten Sterne, eiskalte Punkte, fern, dachte Nicolao, schützend ist die Dunkelheit, so kommt man zu Hause an. Die Welt ein Papierding, als hätte es einer nur geschrieben, und fällt dann jeden Abend zusam-men. Nur Stadträte in einem gewissen Alter glauben, sie festhalten zu können mit verschnörkelten Sätzen des Schreibers und mit Gesetzen, die in wurmzerfressenen dicken Folianten als Schrift festgehalten sind, Leben damit auch auslöschen zu können. Richter. Mein Gott.
Nicolao, der alte Heimkehrer, sah den Pferdehintern vor sich. Pfer-deäpfel, übriggeblieben aus dem Paradies für Kinder. Schlafen, nur schlafen wollte er. Und gerne sterben. Das Tal hatte sich geöffnet, auf dem Berg Anwesen und Zypressen. Dieser besondere Rauchgeruch aus den Kaminen, und ein lila Duft nach Abendfrische, nach Pinien, Linden und Kirschblüten. Gott erhalt dich, Lucca. Ist nicht weit.
Nicolao stieg kurz vor Villa ab. Er sah in das Wasser des Serchio, trotz Dunkelheit schimmerte es silbern. Eine Mondsichel stand über dem Tal. Es rauschte. Jeder Stein war ihm vertraut.
Man sah ihn am Serchio, wie er die Erde küsste, dann wie er dasaß und an Kräutern roch, an Gräsern, Wasser aus dem Fluß trank; er soll dabei gejauchzt und geschrieen haben wie ein Kind, ein Lied singend, manchmal pfeifend. Auch hatten ihn die Leute mit einer schwarzen Katze spielen sehen. Andere mit einer Eidechse, in deren Hierogly-phenzeichnung er zu lesen schien.
Er wagte nirgends einzukehren, schlief in Scheunen und Ställen, doch die Leute wußten von ihm, und so auch der Stadtrat, der tagte im Mai, und faßte den Beschluß, daß der widerrechtlich Freie seine Strafe verbüßen müsse. Und der junge Richter Donati trug Fall und Urteil vor, forderte mehr Härte.
Er verschwieg, daß ihm Lucida Lucrezia Mansi erschienen war, und daß er ihren Einflüsterungen unterlegen, als wäre er besessen, der Richter Donati, und hörte auch im Consiglio ihre feine Silberstimme: fordere den Tod, fordere den zehnfachen Tod!
Neunundfünfzig war Granucci im letzten Sommer geworden. Und es war ihm gleichgültig, was sie mit ihm taten, nur diese Luft, diese Erde, den Serchio, die Straße seiner Kindheit, die sienafarbenen Hauswände, den Geruch nach Rauch am Abend wollte er noch einmal empfinden können, und dann zog es ihn hinab in diesen Boden, als wäre er schon zwischen Wurzelwerk tief geborgen, so daß ihn keiner mehr störte.

76
In Camigliano wurde er verhaftet; ziellos war er umher geirrt, feier-te Begegnung mit jedem Stein, dem Haus, der Pinie im Dickicht des Gartens, wo er Lucrezia zum letztenmal frei gesehen hatte, dann hatte er sie nur noch in San Francesco am Sprachgitter gesehen, in jener bit-teren Nacht vor der Flucht... die verlöschenden Kerzen, Dunkelheit ringsum, Fallen ins Nichts, streckst die Hände aus, kein Gesicht mehr, das ihm vertraut, von ihm geliebt worden war.
Im stinkenden Verlies kam er in einen leeren, finsteren Ort, ein Nirgendwo. Granucci träumte wüst von Lucrezia. Und er träumte von Lucida wie unter Zwang, als wären dies zwei verschiedene Personen. Der Richter ließ ihn reifen fürs Verhör, tagelang hungern. Granucci halluzinierte, halluzinierte die Ereignisse von früher, sie brachten ihm sein Leben wieder, die früheren, die glücklichen Tage, bevor das Un-glück geschah...
War er wirklich heimgekehrt? Wer kann es glauben, daß es die Stadt nach soviel Zeit, noch gab. Die Gedanken seiner achtzigjährigen Mutter Caterina erreichten ihn immer noch, Caterina, die von ihm wußte, sich härmte. Sie hatte erreicht, daß das Kopfgeld von 1000 Scudi aufgehoben worden war. Doch der Haftbefehl blieb bestehn. Und die Stimme der Lucida im Kopf des Richters Donati, der das Schicksal Nicolao Granuccis letztlich bestimmte! Er hatte ihm Furchtbareres bestimmt, als den hundertfachen Tod... Es war Lucidas Rache im verwirrten Kopf des Richters.
Donna Caterina ließ am 31.Juli in Nicolaos Namen eine Eingabe aufsetzen, um ihn vor dem schlimmsten Tod zu bewahren. In der Kan-zelei, wo alles vollgestopft war mit Folianten und Schreibpulten, wo zwei jüngere spindeldürre und pockennarbige Schreiber hantierten, brüstete sich der kugelrunde Notar, der da stand wie ein Punkt neben zwei Ausrufezeichen, und er sei mit seiner Kunst fähig, Nicolao, den Sohn, frei zu bekommen; man hole Schätze aus dem Tinten-Faß, ver-möge des "Spiritus papyri", da sei er guter Dinge; tauchte den Feder-kiel ins Faß, und schrieb kratzend:
"An den hochlöblichen Magistrat..."

Aber es half alles nichts, am nächsten Morgen kamen wieder die Häscher, kein Henker, und führten Nicolao in Ketten zur Tortur; sie lasen ihm in der Folterkammer die chiffrierten Briefe aus England und aus Transsylvanien vor, er, aufgezogen mit Gewichten an den Füßen. Man wechselte ab. Verhör. Brief um Brief, ordentlich numeriert. Und vor den verschwimmenden und tränenden Augen das vergilbte Per-gament. Oft auch in Granuccis Schrift.
Zauberer nannten sie ihn, Essig ins Gesicht, saure Ohnmacht, Er-wachen dann.
Und Granucci meinte, Lucrezias höhnisches Lachen zu hören, ja, einmal auch ihr wutverzerrtes Gesicht vor sich zu sehen. Sie war im-mer dabei.
Das Stadtparlament (Consiglio Generale) ließ sich anscheinend rühren von so vielen schmerzlichen Nöten der Mutter, und antwortete mit einem Erlaß: ein Pergament mit vielen Siegeln: Daß Nicolao Gra-nucci, der sich im Zustand der Geistesstörung und des Außersichseins (fuor dal cervello) befinde, die Todesstrafe umgewandelt werde in die Strafe: lebenslang eingemauert zu werden im Turm von Viareggio. Bei einem Fluchtversuch aber sollte erneut die kapitale Strafe in Kraft treten, für ihn und auch für die Fluchthelfer.
So las Donna Caterina mit ihren kranken Augen, die sie zusam-menkniff: fast den ganzen Tag las sie an diesem Brief.
Nachmittags ging sie zu Girolamo. Girolamo saß in der dunklen, nach Leim und Leder stinkenden Höhle seiner Schusterwerkstatt; er nahm mit seiner großen Hand zitternd das ungewohnte Pergament und sagte mit heiserer, etwas brüchiger Stimme: "Wir gehen zum Notar in die Kanzelei. "
Doch alles, was der hochlöbliche Magistrat nun heute als Gnade und Recht und in Gottes und Christi Namen beschloß, traf die alte Frau nicht mehr; es war wie eine längst erwartete Todesnachricht. Sie ahnte des Sohnes tausendfachen Tod nicht mehr, den er nun erleiden mußte durch ihre Liebe und Lucidas Haß.

(…)

... Es war wieder ein Samstag; Granucci aber wußte es nicht mehr: Und der Stockwart kam, der sprach nicht; schloß nur rasselnd die schwere Tür auf, stumm wie ein Stein, nahm die Ketten, sperrte ihr Schloß auf, von der Mauer kam das Eisen, nicht aber vom Fleisch des Gefangenen los, Hand und Fuß, sie schmerzten. Und sah sie, die Här-chen an seiner Hand. Der Stockwart gab dem Gefangenen zwei Fußt-ritte in die Hüfte, packte ihn, und ein Soldat packte ihn, und so wurde er in den Hof geschleift; die Füße schlaff nachgezogen, als gäb`s für seine Beine keinen nächsten Augenblick mehr, Nicolao schloß ge-blendet die Augen, hinter den Lidern Schwärze und schnelle Fadenfi-guren: dann blinzelte er, sah den Schrecken Gleichgültigkeit: das rot-bläulich aufgedunsene Gesicht des Kerkermeisters, und neben dessen Kopf das kleine Viereck, Wolken zogen, blauer Himmel; Sommer, in den Linden und Zypressen zwitscherten Vögel. Nicolao holte Atem, atmete gierig die Frische ein, aß Luft, in der Kehle ein Schlucken, Hauch eines Windes an der Wange. Zwei vom Ältestenrat, Alfredo Guinigi und Gerardo Pini, sie warteten, Hände auf dem Rücken, unge-duldig, auf der Stelle tretend, neben dem schwarzen Gefängniswagen, Figuren, skurrile Zeichnungen ihrer Schuhe und der Hufe im Morast, und mehrere blaurot uniformierte Stadtsoldaten und Wächter im Hof. Die Wachen nahmen den Blassen, das Haar nun wolkenweiß, und war wie ein Punkt, in die Mitte, er willenlos, schenkte dem Ablauf der Zeit keine Beachtung mehr, ließ, was geschah, geschehen, er längst tot, apathisch zwischen zwei Soldaten, saß in sich hinein gesunken auf der Holzbank. Der Wagen vergittert. Luft und Land nur noch ein Aus-schnitt, winziges Bild. Zwei Wächter neben ihm und zwei Stadtpoli-zisten gegenüber. Die Fahrt: fast drei Stunden bis Viareggio. Nicolaos verschleierte grüne Augen starrten unbewegt auf den dicken Polizisten vor ihm, der hatte eine große Warze auf der Wange, der saß dumpf da, Nicolao starrte auf die Mücke, die über die Warze kroch, dann aufflog und summend herumschwirrte. Alle, nur die Mücke nicht, wurden auf der holprigen Straße geschüttelt wie unbewegliche Puppen, als wäre jeder Stoß das mechanische Schicksal; übelster Gestank übler Träume; was sollte jetzt beginnen, hatte die Zeit ihren Todesauftrag: wehrlos der Körper, zu groß, durch ihre Maschen zu schlüpfen, wie die Seele durch Türen und Mauern. Der Körper, als wäre er schon lange gefan-gen, und nun lebenslänglich im Turm, lebend zu sterben.
Dann Viareggio, arm, das Nest mit ein paar Hütten, wenige Fischer, flickten die Netze.
Nicolao hatte noch kurz, fast blitzartig einen trüben Himmel gese-hen: schwere schwarze Gewitterwolken von Westen, Libeccio, die Augen gingen darin unter, blicklos; von hier hatten sie ihn vor acht Jahren zur Galeere nach Genua gebracht, ein verfluchter Ort. Samt der Luft, in die sich eine Brise von Salz mischte. Hatte er schon den Blick einer andern Welt in den Augen oder war´s nur der Schleier, den das Alter in die Sinne zieht, das Licht nimmt ab, eine Glasplatte schiebt sich zwischen Augen und Licht, zwischen ihn und diese Menschenge-sichter, die uniformierten Arme. Diese Arme stoßen ihn hinein: ihn, einmal schon, am Anfang war´s, als sein Leben aus dem Unsichtbaren zur haarigen Form und zum Augenoval wurde, fleischig jetzt auch wie eine Ritze, innen aber die feuchte fensterlose Zelle; und kommende Leere in der Höhle - schon gemessen bei lebendigem Leib, und soll die Strafe sein, von jetzt an seine Uhr, die Ewigkeit im Dunkeln zu messen. Er sieht sie noch vor sich, jämmerlich dieses Gericht, nachdem er es jetzt weiß, jetzt in diesem Flug: Guinigi und Pini standen noch hilflos dabei, Stockwart und Kastellan wagten nicht, ihn auszu-peitschen ... vorgeschriebene Rutenhiebe auf den nackten Körper, das Hemd herabzureißen, der Riß im Leinen, der Riß, aufreizend zu hören, ausgefranste Leinenstreifen, aber nicht um zu verbinden, sondern um Schmerzen zuzufügen, Klatschen, dann die ewig eiternde Wunde, als wäre der Körper zu nahe am Ich. Müde Schreie, das Stöhnen der Kreatur. "Warum holt er nicht seine Dämonen, der Hexer", flüsterte ein Soldat. "Siehst du es nicht, der hat keine Kraft mehr."
"Los", sagte Pini, der vom Ältestenrat, als wollte er schnell die schützende Mauer zwischen dem Verurteilten und sich aufrichten: "Los, wo ist der Meister." Der Meister also und ein Geselle schleppten Ziegel um Ziegel herbei, daneben Pini, ein blonder Hüne, schließt sei-ne wasserhellen Augen. Hinrichtung, denkt er, und wenn in der Stadt die Armesünderglocke erklingt, einer gehenkt werden soll, kommt nicht nur das Schreien und Stöhnen aus dem Armesünderloch, sondern auch ein dumpfes Klagegeheul aus dem Gefängnis, zu hören ist ein Weinen, Fluchen und Beten der andern Gefangenen. Hier aber ist eine Leere: und keine Verbindung zwischen Tat und Strafe, 22 Jahre. Man hätte den Mann laufen lassen sollen, denken sie, und tun das Gegenteil, nicht sie, die Amtspflicht oder der Dienst. Keiner sagt ein Wort, man hört nur das Geräusch der arbeitenden Maurer. Dann nur eine kleine rechteckige Öffnung am Boden ganz unten links noch offen, mit einer Klappe versehen, durch sie eine irdene Schüssel für den täglichen Fraß, Gefäß mit Wasser, alle Jahre wurde etwas Kleidung und alle drei Jahre eine Decke hereingeschoben. Jahre? So lange wird es nicht dauern. Ein, zwei Jahre in der eigenen Scheiße liegen, denkt einer, Schweiß und Pisse... furchtbarer Gestank. Steigt ins Hirn, wird langsam verblöden, und nur noch stöhnend dahinvegetieren. Die Keller-Kälte im Winter steigt langsam blau in den Knochen hoch, unter der Haut, hochwandernd die Totenstarre wie schwärzlich brandiges Gift. Sein Lebenszeichen: pestillenzartiger Gestank, ein Körper, der das Sterben ausströmt; der Kübel mit den Abfällen jede Woche durch den Luftschacht hochgezogen und geleert.
Wer wider die SICHTBARE Ordnung Gottes, also des Staates rebelliert, für den ist die härteste Strafe zu gering, hatte der Richter Donati verfügt. Am liebsten hätte der Richter Donati den Häftling langsam verhungern lassen, ihm die Waffe der Staatsgewalt - die qualvollste Ewigkeit gezeigt. Zu verteidigen ist unter allen Umstän-den: Zeitqual, die Mauer, der Augenschein, der regiert. Ohne ihn kein Körper, keine Strafe, kein Staat. Die Mauer deckt, was ist: Wo die von der Staatsgewalt gestanden hatten, als wäre das Nichts so noch einge-dämmt, fades Summen, jetzt nur dieses; Häscher und Polizisten waren fort, als wären sie noch das Leben gewesen; die Mauer stand. Un-durchdringlicher noch die Finsternis, ein Schimmer vom Luftschacht her, undichte Stellen von der Klappe links unten, Lichtstreifen, Licht-striche wie Linien, auf denen die armen Augen noch zu schreiben hät-ten, drangen durch die Ritzen ein.
Die Tage vergingen, die Wochen, die Monate. Und dann die Jahre. Es war also noch etwas da im halben Tod des Nicolao Granucci. In je-nem engen stickigen Raum geschah das Undenkbare. Der Kastellan hörte es, anfangs, beobachtend seine Neugier, die ersten Monate, der Mensch, ohne sich für immer, wie namenlos war er? - schlug an den ersten Tag, dann wieder, schlug einigemale heftig mit dem Schädel gegen die Wand, dumpfes Geräusch, auch innen, der Schmerz, stellte sich der von außen Beobachtende, der Gefängniswärter stellte sich vor: den Schädel an den Ziegeln, das Knochengehäuse, sein Gefängnis zu zertrümmern mit dem Kopf. Die Kraft reichte nicht aus, Klopfzei-chen des Sterbenwollens, als letzter Fluchtweg nach draußen, schwä-cher und schwächer das Dröhnen, Kopfbewegung mit der Stirn, noch Bogen einer Gedankenbahn.
Frischer Mörtelgeruch einige Wochen im Raum, wie ein Beginn das Ende, doch von draußen mitgebracht, etwas wie Hoffnung. Rissig die Hand, nichts mehr farbig, speigrau - kein Himmel, Schwärze, lichte Schwärze und von den geschlossenen Lidern fielen Lichtfäden schwammen auf dem Augapfel wie auf einer kleinen Erdkugel; ein Ich war ja noch da hörte den Hahn... Fischerhütten ein Hund; sie spielten im Nebenraum Karten, Schritte, die gedämpften Stimmen; ein Nach-bar der hatte eine Kuh ein anderer das Fischerboot... alles einfach und Anfang. Sturm heulte unter dem Turmdach sie tranken Grappa und spielten Karten Hören bis in das Lautlose auch ein Lauschen anfangs war´s in seinem Ohr das zum Hirn näher rückte alles rückte zum Dich-ten und dem Lichtpunkt ... wurden deftige meist ordinäre Reden über Frauen geführt und er bat Maria Lucrezia um Vergebung: Sagte sie, warte... die Zeit ...so komm ich zu dir... du wirst meine Liebe sein. So irre Sachen, aber auch kindliche Witze von draußen, grobe Gesellen .... Lachten. Einer sang. Und stockte plötzlich, flüsterte, auch die andern flüsterten, als gäbe es einen Toten oder ein Phantom ... schon im Loch mit den zwei Seiten. Nur der Fischer (nach mehreren Glas Grappa) wurde so grob - wie er schimpfte, und er, der Eingesperrte war un-sichtbar mit am Tisch, Karten zu bewegen, Angst klapperte über das Holz, bewegte ein Messer, und klirrend fiel das Glas auf den Steinbo-den, dies Spiel bewegte die Gedanken, sie stritten unflätig und zogen blank, als fiele es ihnen schwer, frei zu sein, leben zu können. Singen half wenig. Aber keiner von der andern Seite der Mauer wußte es, je-der Versuch wäre vergeblich gewesen - die Mauer zwischen den Li-dern, den Silben zu durchstoßen; es gelingt in Gedanken nicht... erin-nert nicht, und auch kaum mit Worten: Jeden Augenblick frei sein zu können, die Mauer zu durchstoßen wie einen Wahn, den langsamen festen Wortbau zu durchstoßen, festgehalten auch im Auge: so benenn nicht mehr, und im Finstern ist´s wie neu geschaffene Fenster, durch-stoßen das Nichtsehen und Nichthören hier, aufhören, aufhören, hi-nausziehen ins Freie, und so endlich leben...
Anfangs war er gefangen, und jetzt erst wird es klar, es ist wich-tig, die feste Welt, die Ungerührte zu durchstoßen, e tutti i rituali..., sogar das Gebet; dieser Weg führt nicht zum Ziel, Zeit umzukehren, das Ja kommt von selbst ... ja, aus der entgegengesetzten Richtung, und dazu ist gleich eine Geschichte zu erzählen... Immer das Gegenteil sei richtig, das Gegenteil von dem, was man gewohnt ist, gelernt von denen draußen im Wahn. Die aber wissen es nicht, daß nur das Gegen-teil tatsächlich wahr ist und wirkt.
Es war ein gefangenes Insekt, er hörte das Rascheln, unter sich das Stroh, roch daran, warf sich mit dem Gesicht in die stinkende Materie, griff nach der feuchten Wand, wich zurück, wühlte sein Gesicht ins Stroh, faßte nach einem quietschenden Wesen, wollte sich daran fes-thalten, am glatten Fell, und spürte Schmerz, das Viech hatte gepfiffen und zugebissen. Und er wußte, das Andere Buch hätte ihn nicht gerettet. Und nur dieses hier an der Hirnwand gelesene, rettete ihn ... war nichts anderes als sein Traum, und Alpträume mitten in ihm. Finsternis, ein Schimmer nur vom Luftschacht her ...
Die Wächter hörten ein Schlagen an der Wand, Geräusche wie von Geistern, Klopfen. Fanden den Gefangenen dann, blutüberströmt, wieder im Versuch, aufzubrechen das schlimmste Gefängnis, den Kopf. Rannte gegen die Wand, der Schädel hielt. Und schrie, bat, jammerte: Tötet mich, jedem 50 Scudi für den Tod. Sie fesselten ihn, Füße an die Hände, er, gesetzt in die Mitte des Raumes, konnte sich nicht rühren, dort am Boden, beschmiert mit Exkrementen und Erbro-chenem. Er, zusammengebunden wie ein groteskes Fagott. Und er hörte "Lucida" aus den Mauern, sie kam und wirbelte mitten im Raum, ein Echo. Er aber bewegte wieder sein Kopfkino, um zu überleben ... Templin lichtzeilenweise ...

Im Mai 1618 berichtete der Commissar aus Viareggio, daß es der Tod sei, den man zu erwarten habe, daß der Gefangene das Essen drei Tage lang nicht angerührt habe, und einmal sei Blut an einem Löffel festgestellt worden.
Schwäche, Alter, Krankheit? Wie alt war er denn überhaupt? Den Akten nach vierundsiebzig. Und er lebte, das schiere Wunder, der ei-gentlich Längsttote, selbst erstaunt jeden Tag, daß er noch da war, daß wieder ein Tag begann, aufgewacht aus Wachträumen, die ein Toter in andern Räumen lebte, wirkliche Räume, die die Lebenden nur verges-sen haben, obwohl diese Räume auch auf sie warten.
Doch an diesem Morgen im Mai 1618 irdischer Zeit, hatte er auf-gehört, mit seiner Hand nach dem groben Kotzen zu tasten, das rauhe dickhaarige Muster zu spüren, der Naht entlang, wo eine Ratte saß, vertraut quietschte, er hatte sie längst abgerichtet, mit ihm zu leben, ohne ihn anzufressen, und auch sonst schien er durch Einwirkungen eines Feldes geschützt, das er sich hier in der Finsternis aufgebaut hat-te. Auch das Hören, das sich anfangs ungeheuer gesteigert hatte, das Gehör, das überscharf war, wie bei Hunden, Rascheln des fauligen Strohs, jenes Quietschen und das Laufen übers Stroh, irgendwo in ei-ner Ecke, unsichtbar im Dunkeln, hatte wieder abgenommen; nur der Geruch war ganz nah, und wie er selbst in der Nase zu sein schien, nicht abnehmen wollte, der eigene Gestank, und ging doch mit ihm um, wie mit der Welt gleich nebenan; anfangs hatte er sich mit Brot-kügelchen die Nase zukleistern wollen, doch drohte er so zu ersticken, entfernte die Brotkügelchen schnell, die Luft war zu stickig. Nun spürte er nur noch die sanfte samtige Dunkelheit. Ja, der Körper, der dort auf dem Stroh wie halbverwest und unbewegt lag, war längst nicht mehr da, ein Nachtschattengewächs, das regungslos auf dem Stroh dahindämmerte, es war noch ein Gewicht, das ihn hier hielt, wie eine alte Gewohnheit und selbstvergessen nach eigenen Gesetzen, er aber dürfe nicht sterben, seine Zeit sei noch nicht um, hörte er jene ihm schon bekannte weibliche Stimme, er sei ein Versuch, und Wissen für später... Doch jetzt war es anders. Als er wieder "draußen" war, hin-derte ihn niemand mehr am Flug.

Nachdem auch der Commissar über Nicolao Granuccis Zustand dem Rat der Stadt Lucca berichtet hatte, ordnete der Rat an, daß un-ter diesen Umständen die Mauer abgebrochen und der seit vierzehn Jahren Eingemauerte zu befreien sei, daß aber ein Arzt und ein Pfarrer zu ihm bestellt werden müßten, damit er geheilt werden oder falls nötig, die heiligen Sakramente erhalten sollte, so er dazu noch fähig sei; doch nur unter der Bedingung, daß acht Stadtsoldaten den Besuch zu überwachen hätten, und er selbst nicht aus seiner Zelle hinausgeführt, der Mauergrund (fondo) nicht bewegt werden dürfe.
Keine offizielle Quelle hat berichtet, wie das Innere der Zelle aus-sah, wo nach vierzehn Jahren Dunkelheit wieder Licht einbrach, und wie der alte Häftling ausgesehen hat, denn als der Commissar und der Capitano den unglücklichen Mann, der einmal einen Namen gehabt hatte, an den er sich aber nicht mehr erinnern konnte, mehrfach ans-prachen, antwortete er nicht; viermal mußte die Commission durch das Essensloch in die Zelle hineinschreien, bis Granucci überhaupt einen Ton von sich gab, in jenem Augenblick nämlich, als gegen jede Amtsvorschrift der Commissar, der noch jung und unerfahren war, sich hinabbeugte und durch das einzige Loch in der Mauer rief: "Non c'è nessuno?! Ist denn hier niemand?" kam prompt die Antwort, krächzend und kaum zu verstehen und nicht mehr menschenähnlich, sondern schnarrend wie die Stimme eines Automaten: "Qui non c'è Nessuno... Hier ist Niemand!" Und dann schreiend: "Fort, fort ... fort mit euch ... Ruhe... gebt endlich Ruhe!!"
Da aber wurden Maurer geholt, Auftrag des Stadtrates, weisungs-gerecht, Steine aus der Mauer herauszubrechen; als sie die Mauer auf-brachen, da kamen von der andern Seite mit Wucht Steine zurückgef-logen, alle flohen, eine Verletzung befürchtend, niemand hatte dem al-ten und kranken Mann hinter der Mauer diese Kraft zugetraut. Am Rand des Registers vom 13. Mai 1618 ist diese Notiz zu lesen: " Non fu aperto il fondo perché Nicolao non volse, e lassó intendere, che a-prendosi, si sarebbe amazzato." (Das Verlies wurde nicht geöffnet, da Nicolao dieses nicht wollte, und er gab zu verstehen, daß er sich das Leben nehmen wolle, falls geöffnet würde.)
Doch drei Wochen später kam das Ende: Er rührte die Schale mit dem Essen nicht mehr an, so der Wächter im Bericht an den Commis-sario. Der Commissario schrieb von neuem an den Rat: der Gefangene todkrank, doch von sich aus keinen Priester verlangt. Er hatte ihren Gott längst hinter sich, so wäre auch der Tod ganz anders zu sterben.
Dann aber das Unerhörte: sie brachen, ohne zu fragen, die Mauer, die Trennwand auf: Gewalt über den Körper, über den Tod hinaus; die letzte Freiheit, Nirgendwo für uns, wo soll diese sein? Pfarrer und Arzt ins Jenseits der Trennwand gekommen, prallten entsetzt zurück... halb verfault, zum Skelett abgemagert lag er da, tot - ein fremder Kör-per.







VIAREGGIO. Strand

So war ich dann auch nachmittags in V. am Meer: Ich ging ins flaschengrüne Wasser, windkühl der Sand, Südwind, zwei Kinder spielten neben dem Treibholz am Ufer, aufgewühlt das Meer, plötzlich schrie das kleine Mädchen, der Vater rannte hinzu, um das in einer schäumenden Welle verschwindende Kind wieder herauszuziehen. Strafend sah eine unter ihrem roten Damensonnenschirm strickende Oma zum Fahrlässigen.
Wassertriefend kam ich an den Strand, nahm das blaue Hand-tuch, meine Mutter saß im windkühlen Sand und las in meinem Buch, hochgezogen die Augenbrauen, ich winkte, meine Mutter also da an der Sandburg mit Kinderfahnen und Kinderburgen und Kindertürmen und Kinderkirchen aus Sand, auch sie also ein Gast hier, andauernd die Gäste auf unserer 'Insel', doch kommen sie nicht aus dem Uner-warteten, Offnen, von dort, wo sie Himmel und Erde berühren, sie kommen aus dem, was war, das Überraschende muß dann hier entste-hen. Ich sehe ihr zu, vorher war sie im Wasser gewesen, klein, man sah nur ihren Kopf, die Schultern, die muskulösen Beine unsichtbar, jetzt gehen meine Blicke über ihren Kopf, das schüttere Haar, als wollte ich versuchen, in ihren Traum einzudringen, als könnte er sich mit meinem vermischen, sich ein gemeinsamer Raum bilden, jetzt, nachdem der alte Herrgott sich nirgends mehr zeigt. Seither, seit über vierzig Jahren, aber gibt es kein wirkliches Leben mehr, nur noch dieses: das vergangen ist.



Und dann wars heute am Meer mit Hannah und der kleinen Dea, ja. In der Ferne ein Segel trotz bewegtem Wasser, drohende Wolken, früher, als wir jünger waren, haben wir das ja auch gewagt, sagbte Hannah Weißt du noch im Februar mit Gianna und dem Siebenmeterboot, da gabs auh kein Halten, nur seine Frau Maria, bremste ihn andauernd, wennn das Boot zu sehr krängte. Und wie immer beim Gehen, spra-chen wir viel, gehend, Erinnerungen wie von den Wellen und weither gebrahct. Und in dem Augenblick dat es mir leid, die neue Dogital-kanmer nicht dabei zu haben; früher viel mehr aufgenommen, und jetz liegt sie, nur noch gut, um das bisher aufgenommene widergeben zu können? Wie mit meinem leben und schreiben? Ich, nur nioch der Verwalter meiner Ernte? Hannah sgte, es ist schade, und öde, wenn es nicht jetzt gecshieht, aber du warst früher auch besser, es fiel dir mehr ein. Ja, nichtmal die Holländerin, die mich 90 zur Solitude gebrahct hatte, sie war in der Jury fiel mir gleich ein. Dann plötzlich wie ein Blitz: Van Maaren. Ja, das kommt aus jener Zeit, als dein Hirn noch frisch war, hörte ich Hannah ins Rauschen sagen. Und Dea sprang an mir hoch. Weist du noch Huchel, damals beim Suhrkampempfang, ihm viel kein Name mehr ein, und seine siebenbürgische Frau half ihm. Schlimmer jetzt mit Walter Jens, der nicht mal mehr seine Frau erkennt in seiner Altersdemenz! Besser noch, als überhaupt wegsein! Daq kräht bald kein Hahn nach dir. Und sei froh, so Hannah dass sie noch nichts über dich gebrahct haben, so in weiser Vorasusicht wie beim „…uns geht’s ja noch gold“. Der Name, bitte der Name… Klar, …kowski, ahc Kolakowski, Senkwosiki… Kemp…Kempowski. Na, endlich. ER hatte ja auch Krebs. Besser so, up and away, als sich wie Jens jahrelang zu quälen. Getsren sagte ich unserem Freund Hem…Ja, dein Hem, so Hannah:Euer Gequatzsche, vier Stunden lang qwars. Ja, er sagte mir auch, dass seine Prager Frau allergisch ist, wnenn wir über Transsylvanisches reden. Dabei wars ja mehr, viel mehr. So auch, dass Inge Jens und der Sohn das im Stern publik gemahct haben vor allem aucvh deshalb, um zu zeigen, dass so etwas nicht sein darf, dass Euthanasie in solcheinem Fall sein muss, vor allem, da Jens es auch , sogar schriftlich verlangt hatte, seine Wille aber nicht respektiert wur-de.

Dann sprachen wir über Rühmi. Der arme Rühmkorf. Auch er hat Krebs. Und auch über den haben sie jetzt einen Vor-Nachruf schon in der „Zeit“ gebracht. Lebe ich so jetzt, diese Augenblicke, LEBEN, erinnert, errinnernd mit den Ander, auch den Sterbenden? Und nehme aus dem Regal „ Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich…“ Und seh ihn, so freundlich auf mich zukommen, am Rowohltstand in Frankfurt, und erkundfigt siuch so schön nach mir… und ich bin nur bockig, warum.? Er sagt „Wir“, und ich sag, wir müssen was tun? Und dann den Spaziergang durch den Schlosspark in Stuttgart, mit Uwe Schultz? Ja. Er im wallenden dunkjlen Mantel, so stiliserte er sich da-mals, auch heute? Er hat kaj tatsächlich eine Gemeinde, Fans, oder hatte er sie nur? Rowohlt? Jaja, er hat ein Verlags-Haus wenigstens, dort war er ja Lektor gewesen, dann kam Manthey, und in Hamburg da besuchten wir ihn mit Jürgen M. Und er hatte unendlich Zeit für uns. Worüber wir sprachen, wohl über mein Ostwestliches und die Schockerfahrungen West? Aber nein, das war nicht die erste Begeg-nung, die erste war, auch bei ihm zuhaus, wohl im Winter 68 oder Frühjahr 69? Von Internationes vermittelt, Dr. Fehr, und ich kam als Exot und wurde schön empfangen und sie hörten zu, da war ja auch noch… Gott, der Name fällt mir nicht ein, ist ja auch verschollen oder gar tot? Hatten ihn einmal auf Elba getroffen, in den engen Gassen von Oberhalb Porto Azzuro, und gab mich schüchtern nicht zu erken-nen, gar minderwertigkeitsdumm? Wie ich auch sonst manchmal als Aussenstehender am Anfang klopfenden Herzens vor Versammlungs-türen oder Lesungen stand und vor Begegnungen mit namhaften Kol-legen gar Angst hatte, so geschehen mit Peter Härtling etwa, ein an-dermal be einer VS Versammlung.

Und heute den Entschluss gefasst, die alten Tagebücher auf Band zu sprechen, und in diesem Stil fliessen zu lassen! Oder muss es die „Fingersprache“ sein, sonst entwickelt sich nichts?


Nach unserer Fahrt durch die Pineta versprach ich Hannah

Der Regen im Pinienhain (La pioggia nel pineto)

La pioggia nel pineto ist eines der schönsten (und daher bekanntesten) Gedichte von Gabriele d'Annunzio. Es gleicht fast einer Musikkompo-sition oder einer großen Klänge­symphonie wegen der aufmerksamer Art wie die Klänge und Geräusche, die die Regentropfen erzeugen, als sie auf die Vegetation trommelt, wiederge­ge­ben werden. Eine auf-merksame Beschreibung des Grüns mit Hilfe der na­men­tlichen Nen-nung der verschiedenen Waldpflanzen nimmt die vielfältigen Nuancen ihrer Farben wahr.

Inspiration ist d'Annunzio ein Spaziergang im Pinienwald an der Ver-silia (dem nördlichen Teil der toskanischen Küste) in Gesellschaft sei-ner Geliebten, wäh­rend der Regen auf die Baumkronen prasselt und die sommerlichen Hitze neu­es Leben eingehaucht bekommt. Fast sieht es so aus, als würden die Geliebten mit der Vegetation und den Bildern und Düften des Waldes zu­sam­menschmelzen. Im Foto das wenig Sympathische Harte dieses Dichters, ein Militarist und Kriegs-hetzer auch noch im ErstenWeltkrieg. Seine Villa am Gardasee / Gar-done ist auch danach, der triefende Kitsch. Als wir die Villa besuchten erbrach sich unser kleiner Hund, der mehr Geschmack hatte… Nicht unweit hier auch die Reppublica di Saló. Ich denke an den Film.



Hier sein schönstes Gedicht: In der deutsche Übersetzung sind zwar die Inhalte und der Rhythmus ein­wand­frei und treffend wiedergege-ben, vieles von der Stimmungen aber, die vom Klang der vokalenrei-chen und kürzeren italienischen Wörter erzeugt werden, ist verloren gegangen. Hier musste der deutsche Übersetzer leider (schuldlos) ka-pitulieren.

Der Regen im Pinienhain ..

Schweige. Auf der Schwelle
des Waldes höre ich
die menschlichen Worte nicht,
die du sagst. Aber ich höre
neue Worte;
die von weit entfernten Tropfen und Blättern erzählen.
Höre. Es regnet
aus zerrissenen Wolken.
Es regnet
auf salzige, trockene
Tamarisken,
Es regnet
auf die schuppigen und stacheligen Pinien;
Es regnet
auf die göttliche Myrthe,
auf die unzähligen Blüten des leuchtenden Ginsters,
auf Wacholder voller duftenden Beeren,
Es regnet
auf unsere waldesgleichen Gesichter,
Es regnet
auf unsere bloßen Hände,
auf unser leichtes Gewand,
auf die reinen Gedanken,
die den neuen Geist erwachen lassen,
auf das schöne Märchen,
das gestern dich verzauberte, das heute mich verzaubert.
Oh Ermione.

Hörst du? Der Regen fällt,
auf das verlassene Grün,
Mit einem endlosen, wechselnden Plätschern in der Luft,
je nachdem ob das Laub dichter ist
oder weniger dicht.
Höre. Es antwortet
auf den Regen der Gesang
der Zikaden,
die sich weder durch südliches Rauschen
noch durch den grauen Himmel
abschrecken lassen.
Und die Pinie
erklingt und die Myrte
erklingt anders und der Wacholder
wieder anders, verschiedene Instrumente
unter unzähligen Fingerschlägen.
Und verschlungen
sind wir im Waldgeist,
eines Baumes gleich lebend;
Und dein nasses Gesicht
gleicht einem von Regentropfen
bespicktem Blatt,
und deine Haare
verbreiten den Duft
leuchtendes Ginsters,
ich du Nymphe des Waldes,
die du den Namen Ermione trägst

Höre, höre. Der Ton
der luftigen Zikaden
wird nach und nach
dumpfer
unter heftigerem Regen;
aber ein Gesang mischt sich ein
der rauer ist
und von dort hinten kommt,
aus feuchten verborgenen Schatten.
Dumpfer und schwächer werdend
verklingt er.
Nur eine Note
schwingt noch und verklingt,
blüht wieder auf, schwingt und verklingt.
Man hört das Rauschen der Wellen nicht.
Jetzt hört man auf allen Blättern
den silbernen Regen prasseln,
der wäscht,
und das Prasseln
das sich im dichter
oder weniger dichten Laub verändert.
Höre.
Die Tochter der Lüfte schweigt, die Tochter der Erde jedoch,
die Unke,
singt im entfernten Schatten!
Wo nur – wo?
Und der Regen fällt auf deine Wimpern,
Ermione!

Er benetzt deine schwarzen Wimpern,
als weintest du aus Freude;
einem Baum entsprungen scheinst du.
Und das ganze Leben in uns ist jung und frisch,
und das Herz wie eine unberührte Frucht,
deine Augen gleichen Quellen in der Wiese,
deine Zähne bitt’ren Mandeln.
Eng umschlungen oder gelöst
wandeln wir durch das Dickicht.
Fast umschlingt das kräft’ge Grün uns’re Knöchel,
rankt sich um uns’re Knie
wo nur – wo?
Es regnet
auf unsere waldesgleichen Gesichter,
es regnet auf unsere bloßen Hände,
auf unser leichtes Gewand,
auf die reinen Gedanken,
die den neuen Geist erwachen lassen,
auf das schöne Märchen,
das gestern dich verzauberte,
das heute mich verzaubert.
Oh Ermione.
(


Frasquita

Frasquita, das Boot

Unser Segelboot heisst „Frasquita“, ein altes englisches Holzboot, eine „vela storica“, auf der Insel Withe im Ärmelkanal für den Atlantik erbaut. 34 Fuss, 10m, 60, ein Sloop, ein Einmaster, wir segeln seit 25 Jahren im Mittelmer mit der geliebten „Frasquita“ Immer wieder wer-den wir gefragt, ob wir auch Sturm gehabt hätten? Ja, bis 56 Knoten in der „Rondinara“, einem kleinen Naturhafen im Süden Korsikas, ganz nahe von Bonifacio zwischen Sardinien und Korsika. Aber da kann man ruhig liegen, weil der Wind auflandig ist, keine Wellen entstehen. Und ich schwärmte von der Luft, von jenem jungfräulichen Moment, wenn der Tag anbricht, alles stehen bleibt, die Natur frisch und jung den Atem anhält, in der Ferne das Sonnenphänomen mit den ersten Strahlen in die Dämmerung einbricht, wie eine neue Weite und Offenheit, Leben bringt, als wäre alles noch möglich. Unsere Segler-Routen: Viareggio, Capraia, Macinaggio, Campoloro, Portovecchio, Maddalena, Campoloro, Montechristo, Elba, Giannutri. Korsika und Sardinien gehören also dazu. L. erzählt dann gerne von einer Rück-fahrt ohne Motor, nur mit Wind, und der Gefahr, am Felsenufer zu zerschellen. Horrorfahrt von 30 Stunden, ohne Schlaf, ständig am Ru-der. Daß man auch den Atantik überqueren könne, nur den Windpilo-ten einstellen müsse, und der Passat richte es schon.


NACHTGEDANKEN IN VIAREGGIO
Die Sonne verglüht in scharfen Konturen;
am Rande des Meeres fahren
die heimkehrenden Fischer
in immer kälteres Rot -
in meine Augen ein, vor ihnen
sind die erleuchteten Fenster
ganz nahe Sterne:

Warum reise ich? Weil ich unbeschwert nirgends sein will.
Das Ankommen ist beschwerlich, das sieht man vor allem
beim Einlaufen von Segelbooten hier im Hafen von Viareggio.
Nie ankommen müssen!
Reisen als Symbol: Ulysses, der schönste Name.
Flucht bei einer Reise, Flucht vor sich selbst, vor der Katastrophe,
unglücklichste Form künstlichen Daseins.
„Gute Reise!“ Du sagst es wie „Grüß Gott“: das Unbekannte
schleift sich ab! Edmond Jabès: Elargir les horizons du mot!









Ritorno a casa: Elba-Viareggio, 31.07,2006


Dieter Schlesak, von Beruf Schriftsteller und Lyriker, beschreibt seine Begegnung und seine elementaren Freuden mit der klassischen Kreuzeryacht „Frasquita“, deren Eigner er (zusammen mit seiner Frau, der Literaturübersetzerin Linde Birk) seit 27 Jahren ist:

Der Umgang mit klassischen Yachten ist eine einmalige sinnlich-ästhetische Freude und „Entgiftung“, wie eine tiefsinnige Meditation, die den langsamen Verlust der elementaren Naturwahrnehmung für Stunden, Tage und Wochen wieder vergessen lässt, ja, eine heilende Gesundung vom Zivilisationsstress sein kann. Schon bei einer kurzen Ausfahrt von einigen Stunden ist sie spürbar, die wohltuende Meer-und-Windwirkung im einmaligen Rauschen des durchs Meer pflügen-den Bootskörpers unter Segel, wenn endlich auch der Hilfsmotor ausgeschaltet ist.
Da verbindet sich die ästhetische Freude am alten, klassischen Boot, das aus Holz, aus Gottes Material ge3schaffen wurde, von leider bald nicht mehr zu findenden kundigen Bootsbauerhänden, wo der Meister nicht nur sein Können, sondern auch seine Seele im Abdruck seiner Arbeit hinterlassen hat. Ein Kunstwerk, eine wunderschöne Boots-skulptur, die es nur einmal auf der Welt gibt, und inzwischen auch Zeit in sich hat, und die Ausstrahlung und Seele und Fahrfreude der vielen Segler und BootsEigner und Könner in sich speichert. Der Eigner solch eines Bootes hat ein immer wieder beim Fahren auflebbares Boots-Gedächtnis und Mitschwingen mit dem lebendigen Wesen solch einer klassischen Yacht, die auch singt und tönt und „knarrt“ und „spricht“! ein vielschichtiges Talent ist dazu beim Bootsführer erforderlich, das über erlernbares handwerkliches Geschick hinaus viele angeborene Fähigkeiten auf anderen Gebieten besitzen muß, so nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch ein poetisches Gemüt und ästhetisches Vergnügen, und ein Erinnerungsvermögen, in dem freilich auch die Angst aus der Erinnerung der vielen prekären, oft kaum zu meisternden Situationen im Sturm oder in anderer Gefahr, die einmal auch eine Flaute bei Motorschaden und felsiger Küste und bewegtem Meer prickelnd, aber auch zur Vorsicht mahnend, sein kann, courragehemmend, aber auch lebenssteigernd…

Ein gestandener Mann oder eine gestandene Frau (es gibt da nicht nur Weltumseglerinnen!) mit maritimen Ambitionen kauft sich entwe-der ein neues Schiff mit allen modernen elektronischen Schikanen, aber ohne Gerüche, Tradition und Gedächtnis, aber mit Freude am Neuen, oder - wenn er direkt an seine Jugendsünden anknüpfen möchte (ich habe schon mit 12 Jahren Hansekoggen maßstabsge-recht als winziges Fernwehobjekt gebaut). kauft er sich eine alte, möglichst eine sehr alte Holzsegelyacht. Das könnte eine eine Kiel-yacht aus so gutem Hause sein, dass die mit viel Stolz dann gern ge-nannte Herkunft auch sachkundige Kritiker ehrfürchtig aufhorchen lässt. Man nehme etwa eine solche Yacht mit gut fünf Tonnen Depla-cement von gut 34 Fuß Länge über Deck, wie unsere Frasquita, die in den sechziger Jahren von zwei berühmten englischen Seglern entworfen und in siegreichen Regatten im Atlantik gefahren wurde!
Die englische Yacht verkörpert mit ihren weiten Überhängen schon für den Laien die Klassik des Yachtbaus schlechthin.

Das Schiff erhielt 1965 bei der Taufe und beim Stapellauf auf der In-sel Withe den Namen „Fabius“, und 1967 unter den berühmten Bootszeichnern und Seglern Englands Primrose und Illingworts vier-zehnmal Regattagewinne in der Irischen See, als Langkieler war es für den Atlantik und als sportliches Boot geplant (Ocean racer). Hier die Regattagewinne:

1967 Racing Results: R.O.R.C. Class III Irish See

Obverall North West Offshore Assciation ….
Points Championsship………………………….. 2nd
Morecamble Bay – Dun Laoghaire ………………….1 st
Abersoch – Dun Laoghaire ……………….. …1 st
Holyhead – Dun Laoghaire ………………………… 2 nd
Cardigan Bay Cup ………………………………….. 2 nd
Criccieth Race ………………………………………. 1 st
Pwhelli Regatta ………………………………………. 2 st
Tremadoc Lay Log ……………………………………1 st
Abersoch Regatta …………………………………….1 st
August Race ………………………………………….1 st

1967 Racing Results contd.;

Ladys Cruisere Race 1967 …………………………….1 st
Scyc Championship ……………………………………..1 st
Joint SCYC PSC Championship 1 st

R.O.R.C. Rating: 21.03, in class

Lloyd´s Survey: Summer 1968 Survey Report available
All recomandation carried out by builders under Lloyd´s supervision and final certificate 1968.

Die Yacht ist nach der britischen R.O.R.C-Formel gebaut.
Da man in den ersten Jahren nach dem Kriege der Meinung war, man würde sich im Laufe der Zeit an die britische RORC-Formel (Royal-Ocean-Racing-Club-Formel) anlehnen, damit man an internationalen europäischen Regatten teilnehmen könne, wurden damals viele Schiffe im Hinblick auf eine spätere RORC-Vermessung ent-sprechend dieser Formel gebaut. Die RORC-Formel begünstigte lan-ge, schmale und tiefgehende Yachten mit kleinem Spiegelheck. Und man sieht „FRasquita“ noch heute deutlich seinen „Stall“, also die Herkunft aus der englischen RORC-Formel an.

Das Schiff wurde in der IOR-Klasse III (Eintonner) vermessen und führte ab 1965 die Segel-Nummer 2881 (schwarz). Di auch auf dem Großsegel weit sichtbar aufgedruckt ist!

“Frasquita/Fabius ist, da sie auf Hochseeregatten bei jedem Wetter seefähig bleiben musste, äußerst stabil aus Mahagoni auf Eichespan-ten und mit eisernen Wrangen gebaut. Die stabile Bauweise macht sich bis heute bezahlt, da das Schiff noch immer sehr kräftig ist. Für ein viel und hart gesegeltes Holzschiff ist dies eine Seltenheit.

Wie man weiß, trauten sich die beiden englischen Starsegler, wie auch andere Stars auf dem Meere zu viel zu, und erlitten mit einem anderen Schiff, nicht mit Fabius, bei einem schweren Sturm Schiff-bruch, kamen dabei im Atlantik ums Leben. (Ilingworth schrieb über sein nautischs Leben eine Biographie, wo er auch die Arbeit an mit und an seinen Booten beschreibt:


Further Offshore: Ocean Racing, Fast Cruising, Modern Yacht Handling and Equipment (Gebundene Ausgabe)
von John H. Illingworth


Fabius wurde (möglicherweise von Erben oder der Werft selbst) an den römischen Journalisten Henri W. Toluzzi verkauft. Über dessen Geschichte wir leider wenig wissen, nur soviel, dass er viel im Mittel-meer gesegelt und bis nach Malta gekommen ist. Aber nach fünf Jah-ren schon verkaufte er es in Basel (Bill of Sail nr. 315 1969) an den Amerikaner Allan P. Carlisle aus Palm Beach Florida, wo es dann auch registriert und nun als Heimathafen unter amerikanischer Flagge „Palm Beach“ fungiert, auf dem Heck stand dieser Ort noch als wir es übernahmen: Palm Beach, Florida.


Allan hatte viele Boote, er war ein echter Bootsnarr, ein wenig ver-rückt, sein letztes Boot, auf dem er sommers auch lebte und viel im Mittelmeer herumfuhr, war die schöne und so windschlüpfige und schnelle Frasquita (sie erreich bei gutem Wind ihre kritische Rumpf-geschwindigkeit von 7,5 Knoten), Allen lebte allein auf einem Schiff, das als Sportsboot (daher die Regattasiege in der Irischen See!) für eine Besatzung von sieben Mann ausgelegt ist: zwei Mann in der Ka-bine des Vorschiffers, das durch Toilette und Waschräumchen von der eigentlichen Kabine, dem „Salon“, getrennt ist, und auch zwei be-festigbare schöne Mahagonitische hat, wo sieben Mann gemütlich essen können, auf den beiden Betten sitzend, über denen früher spartanisch auch noch zwei Hängematten angebracht werden kön-nen, so dass gemeinsam mit der Hundekoje hinter dem Kapitänstisch auf der Steuerbordseite, der siebente Schlafplatz ist.


Allen war ein pingliger Mann, der, als er Frasquita dann im November 1980 an den Schweizer Maler Jean-Peter Fluck verkaufte, in langen Briefen auf alle Einzelheiten und auf wichtige „Verhaltensregeln“ beim Umgang mit seinem geliebten Boot aufmerksam machte.


Schon Toluzzi änderte den männlichen Namen Fabius in den spani-schen Frauennamen „Frasquita“; ein Boot muss einen Frauennamen haben! Oder war es seine Geliebte? Die Yacht lag, bis sie Fluck kaufte und sie nach Korsika überführte, in Cannes/ Frankreich ….
Das Boot war noch unter dem Namen Fabius beim Cruising Club of Switzerland unter der nr. 315 in Basel registriert.


Das Jahr 198o und 1981 war für uns ein gutes Jahr, wir waren nun seit 1973 in Italien, lebten in einem Bauernhaus auf den toskanischeh Hügeln in der Lucchesia (Camaiore/Agliano)und sahen aus unseren Fenstern das Meer; ein Freund, Florentiner Analytiker schwärmte von der kleinen Yacht seines jungen Freundes, den wir dann kennen-lernten; er nahm uns mit auf die Yacht der Familie und wir hatten un-ser erstes Segelerlebnis; es ließ uns nicht mehr los. Und wir fuhren nach Marina di Pisa, nach Viareggio vor allem, aber auch ins Magra Tal und sahen uns die Boote an, wollten eines kaufen. So kamen wir zu unserem ersten bescheidenen 7m Segelboot, das wir im Februar 1981 im Hafen von Viareggio kauften, es aber schon nach einem Jahr wieder abstießen, da es uns zu klein und vor allem zu unstabil und unsicher auf dem Meer erschien, eine Elbafahrt im Sommer 81 hatte uns gereicht.


Frasquita lernten wir 1984 in der schönsten Bucht Korsikas, der Rondinara, nahe der Bocche di Bonifacio kennen (sehr gefährliche, von Stürmen heimgesuchte Meerenge zwischen Korsika und Sardi-nien); wir waren mit unserem zweiten Boot, der „Iswara“, einem neun Meter Glasfiberboot unterwegs auf einer Segeltörn rund um die Insel Korsika; die beiden Boote lagen nebeneinander vor Anker; wir lern-ten den Maler J.P. Fluck kennen, freundeten uns an, segelten 1985 gemeinsam bis nach Sardinien, überführten das Boot nach Viareggio, bildeten eine Eignergemeinschaft, (zum Maler J.P. Fluck: http://www.wendlingen.de/aktuell/archiv/kw14_02.htm ) die wie alle Eignergemeinschaften schief ging, und kauften im September 1986 die 32 Anteile von J.P.Fluck , so dass wir nun das Boot für uns hatten. Es wurde unser lebendigstes Haustier, nein, eine große Liebe, in die wir viel von uns selbst aber auch nicht wenig Zeit und Geld für Überholungsarbeiten investierten, und je älter das Boot wurde, auch investieren mussten, bis es dann 2004/2005 in sechs Monaten Arbeit zu einer Generalüberholung kam: mit ganz neuem Deck, neue Auf-bauten etc.etc., und einer sorgfältigen meisterlich gekonnten Repa-ratur des Unterwasserschiffes durch den bekannten Schiffszimmer-mann Franco Pierucci aus Viareggio, der heute eine große Werft in Australien leitet; und durch seine Meisterleistung ist Frasquita in seiner vollen Schönheit wieder erstanden und heute sicherer denn je. Denn überholt wurde auch der 20 Jahre alte Motor. Hier ist die aufgebockte „Frasquita“ nach der Generalüberholung in voller Schönheit zu sehen:


Nach der Generalüberholung 2005

Und hier eine Ansicht vom Heck vor der Reparatur:





Da wir nur 9 km von Viareggio entfernt wohnen, fahren wir mehrmals in der Woche, auch im Winter, zu unserem Boot im Hafen des Yachthafens „Madonina“, wo wir nach einigen Jahren des Wartens endlich auch einen der begeherten Bootsplätze erhielten.



Ausfahrten und Törns sind dann, wenn nicht gerade wichtige Boots-Arbeiten anfallen, die Regel, vor allem außer den großen sommerli-chen Inselfahrten bis nach Sardinien, segeln wir in die nur 20 Meilen von Viareggio entfernte wunderschöne Bucht von La Spezia: zum romantischen ehemaligen Fischereihafen und „Seeräubernest“ Porto-venere, Modell auch für Thomas Mann „Mario und der Zauberer“:zur Insel Palmaria, die einstmals August von Platen zu seinem Exil wähl-te, und zum legendären Cinque Terre. Aber auch die Küste von Leri-ci, wo im Sommer 1822 der große englische Dichter Shelley mit sei-ner Frau Mary (Erfinderin von Frankenstein) und seiner kleinen Yacht lebten, und Shelley auf dem Weg von Livorno nach San Terenzio in einem Sturm unterging, ist unser Ziel.

Hier eine Erinnerung an solch eine Fahrt:
Unser Segelboot durchfuhr den Wolkenschatten, windgejagt, denn ich sah, meine Gedanken flogen mit. Der Mann aber, darunter, mit dem Blick auf dem Kompaß, übte wie angebunden an das Gesche-hen, dem ich folgen mußte, um es beherrschen zu können, keine "SteuerManns Kunst", mitten im weißen Rauschen und melodischen Geräusch des Bootskörpers, der schwang vibrierend im Wasser; ich freute mich daran, dass wir nichts erzwingen wollten und von Wind und Wasser abhängig waren, und spürte an der Pinne die Richtigkeit meiner eignen zarten Bewegung der Hand, um mitten in der Bewe-gung zu sein, alles stimmte, war wie ein Zusammenhang mit der elementaren Bewegung des Gefühls, ein leises Zittern des Steuers.
Schon dort auf dem Boot versuchte ich, Hannah hielt das Steuer, "das Sehen schreibend zu einer Beschäftigung zu machen", wie Shelley auf seinem Segelboot. Und ihr fiel, als sie die Wolken sah, ein Vers von ihm ein.
"Wie Wolken fliehen Hoffnung, Würde, Liebe,
Sie bleiben nur auf ungewisse Zeit. -
Der Mensch wär stark, besäße die Unsterblichkeit,
wenn der erhabne Geist nur in ihm bliebe ... "
Hymn to intellectual Beauty", - die Verse tauchen in mir jetzt auf, so schrieb er damals in sein Notizbuch.
La Spezia nordwestlich, voraus im Blick San Terenzo, des Dichters Ort, ein Felsennest im Golf, klein, der Hafen, steinig. Es hat sich nicht viel verändert, außer dass es jetzt natürlich die Asphaltstraße gibt, die die Orte verbindet, und der Golf, der blaue, gehört zum dreckigsten Golf Italiens. Mary, Shelleys Frau, sie hatten 1816 geheiratet, nach dem Selbstmord Harriets, der ersten Frau Shelley, dachte ich, hatte mit mehr Erfolg als ihr Mann geschrieben, vor allem ihr "Dr. Fran-kenstein" wurde weltberühmt, Mary schrieb in ihrem Tagebuch von einer "blauen Wasserfläche, der vom nahegelegenen Schloß Lerici von Osten und vom entfernten Portovenere von Westen fast ge-schlossenen Bucht" umgeben ist, schrieb damals, und ich konnte es auch heute beim Vorbeisegeln vor mir sehen:
"Von verschiedenen Formen der Felsen, die steil zum Ufer abfielen, über das sich nur ein rauer gewundener Fußpfad nach Lerici hinzog, aber keiner nach der andern Seite, das gezeitenlose Meer, das weder Sand noch Steine am Ufer zurückließ, dies alles gab ein Bild, wie man es nur auf Salvator Rosas Landschaften wiederfindet."
Mein Blick nahm San Terenzo unter dem jagenden Weiß wahr, die Brise nahm zu.
Eben als Hannah "Shelley", seinen Namen, aussprechen wollte, den sie zusammen mit San Terenzo bis jetzt nur gedacht hatte, tauchte fünfzig Meter vor dem Boot ein schwärzliches Ungeheuer auf, das Wasser rann in Sturzbächen vom Be¬obachtungs¬¬turm, rauschte, ein Atom-U-Boot stellte sich quer, durchbrach das Klingen am Außen-rand des Rumpfes, und der Steuermann warf das Ruder herum, die Segel flatterten , schlugen an den Mast ...
Und ich höre schon das Knirschen des Holzrumpfes auf dem Stahl, erscheint wie vorher die Wolke auf ihrer beweglichen Hirnwand ein kleineres Boot und die hohen ... Wellen ... im Sturm ... der Unter-gang Shelleys damals im Juni 1822 ...


Zwei Jahre lang fuhren wir noch mit dem uralten und langsamen Benzinmotor, der uns als Hilfsmotor vor allem in die engen Häfen hi-neinbrachte und bei Flaute uns zu bewegen half, bis er (auch aus eigner Schuld) im Sommer 87 den Geist aufgab, und wir unsere größte und gewagteste Segeltour hinter uns brachten, nämlich nur unter Segeln in mehreren abenteuerlichen Segeltagen von Korsika bis nach Viareggio zu kommen, die Häfen so gut es ging meidend.
1988 bekam dann Frasquita einen neuen und starken Dieselmotor (Perkins, Perama 30), der immer noch wunderbar läuft.

Gesegelt wird unsere Yacht allein von meiner Frau und von mir. Wir machen lange Fahrten im Mittelmeer (Lieblingsziel Elba, Marciana Marina).

Wir bemühen uns, das Schiff in seinem Aussehen zu erhalten, wie es 1965 ausgesehen hatte. Das heißt: keine modernen Beschläge und Extras, wenig Elektronik, bis noch vor einigen Jahren benützten wir ein uraltes Schlepplog (Walkers „Excelsior“ IV Patent Ships Log“), dessen Propellerchen immer wieder von grossen Fischen geschnappt und geschluckt wurde. Wir haben auch noch die in Handarbeit gefertigten Tiefenmesser, Log und Windmesser, den Goniometer Heron Direction-Finding aerial von Brookes& Gatehouse Ltd. Eng-land, Hecta. Depth Meter, Homer. Marine Radio Recever, Model K. Sestrel –Moore Main Compass with electrics etc.

Dazu die alte Besegelung (die Segel sind nur zum Teil erhalten):

Sails: 14 racing saile 1965,1966,1967 in individual dacron sail lage
1 Spinnacker 1965 Ratsey
1 Spinnacker 1966 Lucas
1 Spinnacker Staysail 1965 Ratsey
1 Genoa Masthead 1965
Genoa Masthead 1967
Genoa R.O.R.C. 1965
1 Genoa No. 2 1965
1 working Jib 1965
1 Quadrilateral 1965
1 Ghoster Genoa 1965
1 Storm Jib 1965
1 Main Sail 1965
1 Main Sail 1967


Und wir haben bis heute keine stromschluckende Ausrüstung. Seit zwei Jahren erst einen Rollfock, freilich auch einen starken Autopilo-ten, modernen Tiefenmesser und Log. Ebenso sogar einen kleinen Kühlschrank. Der Kurs wird ohne Satelliten per Hand berechnet. Das Schiff wurde von uns meist seegerecht benutzt, also viel gesegelt und wenig motort. Mit seinem 30PS-Diesel ist es genau richtig. Es wird viel geankert. 100 Tage im Jahr „bewegt“.


Natürlich begrüßen wir die Bewegung, die die klassischen Yachten, zu denen Frasquita als Nachkriegsbau ja in besonderer Weise gehört, wieder in Erinnerung bringt. Nein, es sind keine nur „Lustyachten“. Die alten Yachten sind viel sportlicher und nasser zu segeln als die heute modernen. Darüber hinaus sind sie auch viel spartanischer eingerichtet. Mit den heutigen Plastikwohnlauben sind sie in keiner Weise zu vergleichen. Mit ihrem modernen Wohnlaubenkomfort sind die viel eher Luxus, und eine Art „Badewannen“, wie sie hier heißen. Die alten Schiffe besaßen viel Segel und wenig Platz, keine Heizung und keinen Kühlschrank und oftmals nicht mal einen Motor! Und wenn sie einen besaßen, dann hatte er nur wenige PS. Die Yachten waren reine Sportgeräte und als handwerklich gefertigte Einzelstücke waren es fast immer auch ästhetische Kunstwerke.
Da solche Schiffe heute so gut wie nicht mehr anzufertigen sind, ei-nerseits weil es kaum noch solch fähige Handwerker gibt, anderer-seits weil solche Schiffe heute unerschwinglich teuer wären, bin ich der Meinung, dass Yachten, wie unsere, inzwischen Kulturgüter ersten Ranges sind. In einer Zeit, wo jede alte Karre, Oldtimer, Kaffeemühle oder alte Heißmangel als museumswürdig angesehen wird, sind es unsere antiken Holz-Segel- Schiffe längst.

Seit 2005 sind wir Mitglied im italienischen Club für „Vele storiche“, historische Boote von Viareggio:
ASSOCIAZIONE VELE STORICHE VIAREGGIO
c/o Club Nautico Versilia, Piazza Palombari Artiglio, Darsena Europa, 55049 Viareggio (LU)
Consiglio Direttivo tel. 335 360140 fax 055 222286 france-sco@riccardobarthel.it
http://www.velestoricheviareggio.org

Die Homepage von Dr. Dieter Schlesak und Linde Birk-Schlesak mit Adressen und allen unseren Daten und Büchern:
www.dieterschlesak.de
schlesak@tiscali.it


Anhang:
Zu Angus Primrose und John Illingworth:

So schreibt der Sohn von Primrose:
I saw the conversations above, and thought I had better join in... Before I go too far, I should say I dont know as much about the whole thing as I ought to. Its one of those things you dont appreciate at the time. But having said that, you are correct about GMIV being designed by Illingworth and Primrose. I believe my father was responsible for most of the design, with John Illingworth being primarilly resoponsible for the rig design, as was the norm in the design office. And you are corect about Angus being lost at sea in 1980. And as far as I know there have only been a few articles in the yachting press about him (See Classic Boat magazine by Ian Dear, not sure about the date right now), and allmost certainly no biography written (that I now about anyway). The one thing I do know about the whole project is that Angus and Sir Francis did not exactly see eye to eye. I maybe seeing things from the Primrose side of the fence, but I think Angus was pretty happy when the whole thing was over. The biggest falling out was when GMIV reached Austrailia, and Angus got a telegram saying that he had "proper designers design an new keel profile". Angus's reply was simple: "Just get on with it. If you've only reached Austrailia, she's not even run in yet". I think the rest is history. Having said all that, the one thing that really did make Dads blood boil was seeing GMIV, or any boat for that matter, being put in concrete. He would have been really happy to see her in the condition she is now (apart from the addition to the keel and rudder...!)
I hope this all helps a bit.
Dan Primrose


I read John Illingsworth book on the maid of malham, it was I think his autobiography however he along with angus primrose was the designer og GMIV and there was a chapter in the book where he went on at length about chichester;percieved shortcoming of the boat and gathered that he wasnt too impressed by chichester. mind you this is a sailor builder and designer who thought nothing of building a boat then chopping and changing quite literally all aspects of the boat till he got it right, rather in the same way as modern Americup yachts are treated, new keel here, longer transom, chop a few feet of the bow etc and this is in the forties I beleive anyway a riveting read. highly reccomend it.







BYRON. SHELLEY


17. 9. Morgenlauf nach Peralla. Frischer Morgen. Blick auf C. und das Meer. Der Hund pisst an am Olivenbaum. Gedichte von Buf-foni. Nur mit Gedichten lässt sich Landschaft, ja, der Tag öffnen.
Gedicht
Ich rieche wieder den Geruch der Landschaft, den Wald, den Berg von früher. Angeblich soll er Manfred in Don Juan verwandelt haben. Manfred? Der Normanne. Jener, den Byron Lebensekel empfinden ließ. Vorbild des Weltschmerzes? Bis hin zu Büchners Danton. Lenaus Faust? Auch TS gehört zu ihnen.
Byron. Ja. Byron und Pisa. Byron und Shelley hier. Manfred? Die Normannen und Sizilien. Wer war Manfred, wer war Robert Guis-card? Den Kleist zum Vorwurf nahm? Die tiefste Melancholie und der Trübsinn? Manfred viel später: Sohn Friedrichs II und der Lancia, unehelich, Friedrich traute sich noch auf dem Totenbett. Manfred: König von Neapel und Sizilien. Seine drei Söhne endeten im Kerker. (Geb. 1232)
Guiscard allerdings Machtmensch: Sohn Tancreds von Hauteville, zur Zeit Barbarossas geboren. Herzog von Apulien und Kalabrien. Entriß das Land den Griechen, kam bis Saloniki. Gegen Byzanz auch. Sein Bruder Roger eroberte Sizilien von den Sarazenen. Sein Feind war Abaelard? Jedenfalls bei Kleist. Und der Todeswunde nahm den Machtmenschen Guiscard als Vorbild, scheiterte daran.
Auf dem Weg von Cherbourg nach Caen sprechen wir über Hautevil-le. Von hier also ging die Eroberung Siziliens aus.
Auf dem Weg zum Pont de Penhir kommen wir nach Crozon. Unterb-rechen. In der Kirche das Martyrium der Legion Thebaine: 400 holz-geschnitzte Figuren. Zehntausend wurden gekreuzigt. Unvorstellbar dieser Wald von Kreuzen. Ist es das Verdienst des Cristentums, sol-ches Leid geschaffen zu haben, noch vor der Machtergreifung durch die Kirche? Der Tod dieser Menschen, der mich noch heute beschäf-tigt.
Gestern Gespräch mit Paola aus Florenz. Als ich von unserer Reise in die Normandie sprach, sagte sie gleich, habt ihr das Haus Monets ge-sehen. In Honfleur, ja. Das Boudin-Museum. Aus diesen Bildern er-fährt man mehr, als aus der Landschaft, vor allem wenn man nur mit dem Auto fährt. Unsere Reise hätte ein Mehr gehabt, wenn wir mit Monet hier gewandert wären, und in der Bretagne, oben zwischen St. Briac und St. Servan gibt es sogar Reproduktionen, Landschaft und Malbild gegenübergestellt. Sogar Picasso war hier. St. Malo ist ja auch so, dass man dies Wattenmeer, die Burg, die Inseln, und Chateaubri-and nicht vergißt.


Shelleys Schiffbruch und Tod in Viareggio

Ich erinnere mich noch genau, unser Segelboot durchfuhr den Wolkenschatten, windgejagt, den ich sah, meine Gedanken flogen mit. Der Mann aber, darunter, und den Blick auf dem Kompaß, übte wie angebunden an das Geschehen, dem ich folgen mußte, um es beherrschen zu können, keine "SteuerManns Kunst", mitten im weißen Rauschen und melodischen Geräusch des Bootskörpers, der schwang vibrierend im Wasser; ich freute mich daran, dass wir nichts erzwingen wollten und von Wind und Wasser abhängig waren, und spürte an der Pinne die Richtigkeit meiner eignen zarten Bewegung der Hand, um mitten in der Bewegung zu sein, alles stimmte, war wie ein Zusammenhang mit der elementaren Bewegung des Gefühls, ein leises Zittern des Steuers.
Ich aber: jetzt, der nun berichtet, war und bin wie nicht da. Das gerahmte Seestück dort sehe ich schon, weiß aber, so, wie ich jetzt sehe, ist er nur in meiner eignen Wahrnehmung, und vergangen. Und stillgelegt, ein BILD in mir. Schon dort auf dem Boot versuchte ich, Hannah hielt das Steuer, "das Sehen schrei-bend zu einer Beschäftigung zu machen", wie Shelley auf sei-nem Segelboot. Und ihr fiel, als sie die Wolken sah, ein Vers von ihm ein.
"Wie Wolken fliehen Hoffnung, Würde, Liebe,
Sie bleiben nur auf ungewisse Zeit. -
Der Mensch wär stark, besäße die Unsterblichkeit,
wenn der erhabne Geist nur in ihm bliebe ... "
"Hymn to intellectual Beauty", - die Verse tauchen in mir jetzt auf, so schrieb er damals, 1816 sein Notizbuch.
La Spezia nordwestlich, voraus im Blick San Terenzo, des Dichters Ort, ein Felsennest im Golf, klein, der Hafen, steinig. Es hat sich nicht viel verändert, außer dass es jetzt natürlich die Asphaltstraße gibt, die die Orte verbindet, und der Golf, der blaue, gehört zum dreckigsten Golf Italiens. Mary, Shelleys Frau, sie hatten 1816 geheiratet, nach dem Selbstmord Harriets, der ersten Frau Shelley, dachte ich, hatte mit mehr Erfolg als ihr Mann geschrieben, vor allem ihr "Dr. Frankenstein" wurde welt-berühmt, Mary schrieb in ihrem Tagebuch von einer "blauen Wasserfläche, der vom nahegelegenen Schloß Lerici von Osten und vom entfernten Portovenere von Westen fast geschlossenen Bucht" umgeben ist, schrieb damals, und ich konnte es auch heute beim Vorbeisegeln vor mir sehen:
"Von verschiedenen Formen der Felsen, die steil zum Ufer abfielen, über das sich nur ein rauher gewundener Fußpfad nach Lerici hinzog, aber keiner nach der andern Seite, das gezeitenlose Meer, das weder Sand noch Steine am Ufer zurückließ, dies alles gab ein Bild, wie man es nur auf Salvator Rosas Landschaften wiederfindet."
Mein Blick nahm San Terenzo unter dem jagenden Weiß wahr, die Brise nahm zu.
Eben als Hannah "Shelley", seinen Namen, aussprechen wollte, den sie zusammen mit San Terenzo bis jetzt nur gedacht hatte, tauchte fünfzig Meter vor dem Boot ein schwärzliches Ungeheuer auf, das Wasser rann in Sturzbächen vom Be¬obach-¬ tungs¬¬turm, rauschte, ein Atom-U-Boot stellte sich quer, durch-brach das Klingen am Außenrand des Rumpfes, und der Steuer-mann warf das Ruder herum, die Segel flatterten , schlugen an den Mast ...
Im Schrecken aber, und höre schon das Knirschen des Holz-rumpfes auf dem Stahl, erscheint wie vorher die Wolke auf ihrer beweglichen Hirnwand ein kleineres Boot und die hohen ... Wellen ... im Sturm ... der Untergang Shelleys damals im Juni 1822 ...
Ich stelle ihn mir vor, ich mache ein Gedankenexperiment: Shelley beobachtet uns, sieht zu, berichtet jetzt aus einer Zu-kunft, die er gekannt haben würde, gäbe es die Zeit nicht, mischte sich ein in meine Gedanken, nähme mir das Wort, Unmögliches geschieht, und das, was wirklich ist, wird aufgebrochen, vermischt mit Ideen ...
Es ist Poesie, es ist Fiktion, die die Zeit aufhebt. Und jetzt der vorgestellte Tod, der Tote und seine vergangene Phantasie, die immer noch lebt, in meiner Phantasie. Die wiedergibt, was er, was wir alle, als Kind gesucht haben? Poesie ein Umweg? Lacht er? In mir klingt sein Gedicht.

Im Hafen von Livorno unter englischen Kuttern, amerikani-schen Klippern, genuesischen Feluken, einer neapolitanischen Brigg und holländischen Galeoten begeisterte er sich für Segel-schiffe, dort war die Idee entstanden, in den Golf von La Spezia zu übersiedeln, ein eignes Segelboot zu haben. Byron ließ sich anstecken. Käptn Trelawny gab den Auftrag an seinen Kollegen Roberts nach Genua weiter, einen kleinen zweimastigen Schoner ohne Deck für Shelley und einen großen Schoner für Byron zu bauen. Er selbst hatte das Querschnittmodell entworfen.
Trelawny und Williams hatten auch die Villa Magni entdeckt, sie waren die Küste der Bucht von La Spezia entlangeritten, hat-ten zwischen San Terenzo und Lerici eine Villa, die Villa Magni für Shelley und Williams gefunden, für den anspruchsvollen Byron war aber kein entsprechender Palazzo aufzutreiben gewesen, so blieb er in Pisa.
Ich stelle mir vor, wie sie damals dort in San Terenzo gelebt haben; alles war vom Meer bestimmt, Leben, Tod, der Zustand, die Gefühle. Und Shelleys letzte Dichtungen sind davon be-stimmt. Erste Anzeichen von TBC machten sich bemerkbar, tiefe Melancholie und Depressionen überfielen ihn.
"Manchmal, wenn der scirocco wütete - an diesen Küsten "ponente" genannt, verdüsterte sich die Sonne", schrieb Mary. "Die Stürme und Böen, welche uns bei unserer ersten Ankunft begrüßten, säumten die Bucht mit Schaum. Der Wind heulte um unser ungeschütztes Haus, dass wir fast auf einem Schiff zu sein glaubten. Die Menschen dort waren rauher als die Gegend. Unsere nächsten Nachbarn von San Terenzo waren den Wilden ähnlicher als alle Menschen, unter denen ich früher gelebt hatte. Viele Nächte verbrachten sie singend oder eher heulend am Strand, die Frauen tanzten in den Wellen, die sich an ihren Füßen brachen, während die Männer, an den Felsen gelehnt, in den wilden Chor einstimmten. Der nächste Ort, um Nahrungsmittel einzukaufen, war das dreieinhalb Meilen entfernte Sarzana jenseits des Wildbaches Magra, und auch dort waren die gebotenen Vorräte sehr mangelhaft."
Sie lebten in einem einsamen und verlassenen Gebäude, das man Villa Magni nannte, obwohl es mehr einem Boots- und Ba-dehaus ähnlich sah als einer Villa ... Das Haus hatte ein ungep-lastertes Erdgeschoß, das zur Aufbewahrung von Bootszubehör und Angelgerät benutzt wurde, und darüber ein einziges Stock-werk, das in einen Saal oder Salon und vier kleine, einst weißgetünchte Räume aufgeteilt war; auch gab es einen Kamin zum Kochen ... das einzig Gute war eine Veranda zum Meer hin, die fast über das Wasser gebaut war.
Mary, diese attraktive Frau mit dunkelblondem Haar, feinen regelmäßigen Zügen, einem sensiblen ovalen Gesicht, - diese hochbegabte und intelligente Mary war schon 1814, noch nicht siebzehn Jahre alt, schwanger, mit dem einundzwanzig¬jährigen Percy Busshe Shelley von zu Hause durchgebrannt, gemeinsa-mer Selbstmord war geplant. Ihre Schwester Claire schloß sich der Flucht an, warf sich dem skandalumwitterten Lord Byron an den Hals, gebar ihm die Tochter Alba, die in einem veneziani-schen Kloster "abgelegt" wurde. Diese Vier also bildeten nun hier den unzertrennlichen Freundeskreis. Inzwischen hatte die Halbschwester Marys, Fanny Imlay Selbstmord begangen, eben-so die erste Frau Shelleys, Harriet Westbrook, die sich im schwangeren Zustand in einen Teich stürzte, und Shelley zwei Kinder hinterließ. Schon drei Wochen später heirateten sie, Per-cy und Mary, auch sie hatte schon zwei Kinder, zwei weitere Geburten und eine Fehlgeburt folgten; zwischen 17 und 25 war Mary andauernd schwanger. Nur ein Sohn überlebte und wurde ein mittelmäßiger Mensch.
Byron und Shelley waren zu Hause geächtet; wegen seines Atheismus´ und seines Lebenswandels war Shelley von der Universität Oxford relegiert worden. Ihr Ruf war miserabel, Klatsch und Gerüchte umgaben sie, mit Mary und Claire lebten sie angeblich alle vier in einem Inzestverhältnis zusammen. Und sie wurden ständig von Alpträumen und von Halluzinationen geplagt. In Genf, aber auch in Italien verbrachte man die Abende gemeinsam. Und Gespenstergeschichten wurden gelesen; als eines Abends Byron aus Coleridges "Christabel" rezitierte, fing er plötzlich zu schreien an, lief mit einer Kerze in der Hand aus dem Zimmer; er habe Mary nackt gesehen, anstelle von Brustwarzen weit aufgerissene Augen!
Das Unheimliche ging um, Shelley aber sublimierte es zur Form, Gott und alle Phantome waren ihm reiner Geist. "Als Knabe suchte ich Gespenster", schrieb er: "lief/Voll Angst durch Kammern, Kirchen und Ruinen/ Und Wälder, still im Sternenlicht, mit ihnen/ Gespräche führen mit den Gräbern. Zu tief/ Auf all die falschen Namen, die ich rief, / kam keine Antwort - ich sah keinen - ... / Da kam dein Schatten über mich ... / Uns gibst, was ich nicht fassen kann in Töne ... / Und jede Form, die dich enthält, / Den deine Wunder, Geist, gebannt."
Das Leben des Ehepaares Shelley im Golf von La Spezia war eine Flucht, keine Idylle; die Spannung zwischen Mary und Per-cy, wie könnte es anders zwischen solchen Eheleuten auch sein, war unerträglich; er, immer in den Wolken und sie ein Gesellschaftswesen, praktisch veranlagt, und auch noch vom "grünäugigen Ungeheuer" Eifersucht besessen, wenn er über Liebe auch nur schrieb. 1819 war ihr kleiner Knabe in Rom gestorben; zwei Selbstmorde lasteten auf beiden. Dazu kamen Shelleys Liebschaften mit der Contessina Emilia Viviani, Jane Williams, und wahrscheinlich auch mit Marys Schwester Claire; schließlich gab es zu allem Übel auch noch große finanzielle Engpässe und Mißstände.
Shelley predigte nicht nur die freie Liebe, sondern praktizierte sie auch. Libertinage als Provokation.
"Ich habe nie zur großen Sekte derer gehört", schrieb er, "Die predigten, dass sich jeder eine Geliebte oder einen Freund aus der Schar erwählt, und alle andern, schön und klug, kalt der Vergessenheit anheimgibt ... "
Dieser Abenteurer, Libertin, streitsüchtige Ehemann, erwies sich als etwas ganz anders, als vermutet: nicht nur als ein Dich-ter, der in die Natur vernarrt, todessüchtig und lebensgierig ist, sondern tatsächlich so etwas wie ein gefallener Engel war. Ihm, der mit geistigem Absolutheits¬anspruch angetreten war, setzte ihm die Realität auf furchtbare Weise zu.
Eine merkwürdige Abenteuerergestalt, ein Freund, der diesen tragischen Sommer mit ihnen erlebt hat, der Schiffskapitän Ed-ward John Trelawny, den Mary als einen Mann, begabt mit

Geist, Charakter - und Empfindungsstärke, kennengelernt hatte, war zerrüttet durch das Gefühl seiner Nichtigkeit, daher auch zerfressen von Neid und innerer Unzufriedenheit. Er tauchte noch vor ihrer Übersiedlung in die Villa Magni am Golf von La Spezia bei den Shelleys und dem Ehepaar Williams, mit denen er befreundet war, in Pisa am Lungarno auf, um Shelley, den er als Dichter verehrte, kennenzulernen. Er saß mit den Williams im Salon, ihm gegenüber eine Tür, die offenstand und in den Gang führte, und plötzlich sah er aus dem Dunkeln ein paar funkelnde Augen auf sich gerichtet, so beschrieb er seine erste Begegung mit Shelley, der erst als ihn Frau Williams aufforderte, geschwind ins Zimmer glitt und errötete wie ein Mädchen, so der Cäptn: "Da streckte mir ein hochgewachsener schlanker Jüngling beide Hände entgegen; ich blickte in sein von Röte überzogenes offnes Gesicht und konnte es kaum glauben, dass dies der Dichter sei. Nach Austausch der üblichen Begrüßungen und Höflichkeiten nahm er Platz und hörte zu. Ich war sprachlos vor Staunen: Sollte dieser so sanft wirkende, bartlose Jüngling tatsächlich jenes mit aller Welt im Streit liegende Ungeheuer sein, das von den Vätern der Kirche exkommuniziert und durch den Machtspruch eines grimmigen Lordkanzlers seiner bürgerlichen Rechte beraubt worden war, von sämtlichen Familienangehörigen verworfen und von den rivalisierenden Größen unserer Literatur als Gründer einer satanischen Schule geschmäht? Wer die Göttlichkeit Christi in Frage stellte oder seinen Unglauben bekannte, wurde als Verbrecher gebrandmarkt und hatte alle Welt gegen sich."
Gekleidet war Shelley, so Trelawny, wie ein Knabe, schwarze Jacke und Hosen, doch alles zu eng, als hätte der Schneider beim Maßnehmen geknausert. Er trug, wie immer, ein Buch in der Hand; es war diesmal Calderons "Magico Prodigoso", sonst war es meist Platon; Jane Williams bat Shelley, daraus vorzulesen, und er legte ab "vom Strand des Alltäglichen, das ihn nicht interessieren konnte", sprach über Poesie so, dass jeder glaubte, wie es manchmal im Traum geschieht, die Wahrheit, nach der man leben müßte, plötzlich zu wissen. Die Poesie ... so Shelley, weckt und weitet den Geist selbst, indem sie ihn zum Gefäß Tausender nie gekannter Gedankenverbindungen macht ... Wie eine "verglühende Kohle" sei der Geist, sagte Shelley, er könne sich schwer hier halten in unserer so groben Sphäre, sagte Shelley, er bleibe nur Momente, in unserer so groben Sphäre: "Die Poesie ist nicht wie das logische Denken, eine Kraft, deren Gebrauch den Befehlen des Willens gehorcht." Sie sei nur momentweise aus der andern Seite der Welt des Ungeschehenen hier auf unserer Welt, "Geist im schöpferischen Akt ist wie eine verglimmende Kohle, die eine unsichtbare Macht wie ein unbeständiger Wind zu vergänglicher Glut entfacht. Diese Kraft kommt von innen wie die Farbe einer Blume ... Und die herrlichste Poesie ... ist wahrscheinlich nur ein schwacher Abglanz der ursprünglchgen Vorstellung ... " "Erleuchtete Augenblicke" werden schwer durch die Maschen der konventionellen Sprache gebracht, "Bindegewebe der konventionellen Diktion." "Die Poesie ist das Verzeichnis der besten und glücklichsten Augenblicke der glücklichsten und besten Geister." Aber es sind eben nur Mo-mente, ein kurzes Glück.
Dann verschwand Shelley, kehrte aber mit Mary wieder, einer Frau mit "stillen grauen Augen", blondem lichtem Haar. Diese fragte nach Neuigkeiten aus London und Paris, nach neuen Büchern, Opern, Hüten, Hochzeiten, Moden und Morden. Der Poet aber verschwand, als dieser Kaffeeklatsch begann.
Um ihn war es still, er hatte keine Gemeinde. Seine Leser konnte man an den Fingern abzählen. Seine Arbeiten wurden kaum verlegt, sie waren im Handel nicht erhältlich; von seinem Drama "Queen Mab" ließ er dreißig Exemplare auf eigene Kos-ten drucken und verteilte sie unter seinen Freunden. Dabei war er gesellig und fröhlich, locker in Gesellschaft, und ohne jeden Konkurrenzneid; zu Byron, der viel mehr auf Anerkennung und aufs Eitelkeitskarussel des Betriebes gab, sagte er einmal: "Schreiben Sie nichts gegen Ihre Überzeugung, nichts, was Ih-nen nicht die Wahrheit zu schreiben eingibt; Sie sollten selber den Weisen Ratschläge geben, anstatt sich von Narren beraten zu lassen. Die Zeit wird das Urteil des Pöbels verwerfen. Und die zeitgenössische Kritik stellt nur die Summe der Ignoranz dar, gegen die das Genie sich zur Wehr setzen muß."
Er hatte den Autor in sich schon abgeschafft und sein Ich, er war völlig selbstlos, half uneigennützig, wie ein Kind, offen und natürlich. Als wäre er irgendwie schon posthum, als hätte er sich hinter sich, lebte an einer Grenze, die ihm gefährlich war, bis zur Todessucht, der Schwere zu entgehen, das "große Geheimnis" zu erfahren. Der Käptn, der einige der berühmten Kollegen Shelleys zu nahe und zu persönlich kennengelernt hatte, von ihnen sehr enttäuscht worden war, hatte, wie er sagt, zänkische alte Weiber, saure Pedanten, hochmütige Gecken, freche Snobs und kriecherische Speichellecker, eine schöne Sammlung im Zoo des Herrn also, kennengelernt. Man finde da nicht hochherzige Wahrheitssucher, Freunde reiner Erkenntnis, wie man sich wohl anfangs gutgläubig vorstellt, Leute, deren äußerst verfeinerte Natur die Gemeinheiten des Lebens nicht ertragen, sondern eitle Egoisten, die ewig über Kleinigkeiten zetern und klagen. Als allgemeine Regel, so der Seemann, möge also gelten, Autoren, deren Werke einen erfreuen oder entzücken, zu meiden, denn die persönliche Bekanntschaft könnte einem leicht das Vergnügen an den Werken verderben. Shelley aber sei die große Ausnahme von dieser Regel gewesen; und um sich von seiner Poesie eine richtige Vorstellung machen zu können, mußte man seinem täglichen Leben beigewohnt haben; seine Worte und Taten erklärten seine Schriften am besten. Unleugbar liebte Shelley alles andere mehr als sich selbst, und der einzige Schmerz, den er seinen Freunden zu-fügte, sei die gänzliche Gleichgültigkeit gewesen mit der er alles abtat, was ihn selbst betraf. Und Trelawny erzählt eine seltsame Begbenheit, die diesen Mangel an Selbsterhaltungstrieb drastisch belegt: Es sei an einer tiefen Stelle des Arno gewesen, da habe er, der Käptn, Wasserkunsttücke vorgeführt, in der Südsee gelernte, gefährlich wirkende Kapriolen, und der Nichtschwimmer und Versemacher habe beklagt, sich nicht über Wasser halten zu können; Blei, kein Vogel zu sein. Und da habe der Schwimmer ihm geraten, er müsse einfach glauben, er könne es. Und der Pa-piermensch habe seinen Rat befolgt, sei jedoch nicht wieder aufgetaucht; er habe auf dem Grund bewegungslos wie ein Aal gelegen, und der Ratgeber mußte in den Fluß springen, den To-dessüchtigen an die Wasseroberfläche und an Land zu holen, sonst wäre er ertrunken. Wieder etwas zu Atem gekommen, habe der ungerührt erklärt, er gehe ja immer allem auf den Grund, und nach einer Minute hätte Trelawny nur noch seine leere Hülse gefunden, so wäre er dem Körper entkommen.
Ob er denn an die Unsterblichkeit glaube. Nein, wie könne er auch, es gäbe ja keine Beweise. Wir könnten unsere innersten Gedanken genausowenig wie jenes Geheimnis ausdrücken und wissen, wir selbst seien uns unverständlich. Und gegen die Reli-gion, was ihm soviel Feindschaft eingetragen, sei er nur, weil die verhängnisvoll das Denken ins Unendliche einschränke, also das Gegenteil ihrer selbst sei.
Und Byron sagte später: "Sie jagten ihn wie einen tollen Hund aus dem Land, nur weil er das Dogma in Frage stellte".
Das große Instrument des sittlich Guten sei die Imagination; und die Poesie diene der Wirkung, indem sie auf die Ursache einwirke ...
Romantische Gründe sind nicht erlernbar, und Vorkommnisse dazu haben einen tödlichen Ausgang, weil sie über uns hinausreichen, den Mund stopfen im Fließen, Ersticken daran, dass alles vergeht, in Pisa floß der Fluß direkt unter Shelleys Fenster, der Poet gedieh nur in Wassernähe, suchte sie, Städte und Menschen beunruhigten ihn, und er floh zum nächsten See oder Tümpel.
Daher war er auch hierher in diese Villa gezogen. Doch "der Dämon des Todes, der den Dichter zu Wasser stets begleitete", wie sein Freund Trelawny schrieb, war nicht nur ihm, sondern auch allen aus seiner Umgebung gefährlich. Der Käptn berichtet, wie Shelley mit seinem winzigen Dingi, einem Beiboot aus Flechtwerk und geteerter Leinwand, einem zerbrechlichen Spielzeug, mit dem der Dichter gern im Wasser spielte, und das bei der geringsten heftigen Bewegung kenterte, seine unglaubliche Ungeschicklichkeit kam hinzu, selbst bei schlechtem Wetter hinaus aufs offne Meer paddelte, sich dann vom Wind zurücktreiben ließ; ja, eines Tages bei Flaute und spiegelglatter See überredete er Jane Williams, sich mit ihren Kindern in seine Einmann-Nußschale zu kauern, so dass der Dollbord nur eine Handbreit über dem Wasser stand, ein leichter Wind, eine unvorsichtige Bewegung, eine kleine Welle mußte das Dingi kentern lassen, unter ihnen weggleiten lassen; und keiner konnte schwimmen. Er war traurig und niedergeschlagen, saß da, den Kopf auf die Brust gesenkt, rief dann aber plötzlich erregt: Nun wollen wir gemeinsam dem großen Geheimnis auf den Grund gehen. Jane betrachtete zuerst gelähmt vor Entsetzen ihren schrecklichen Fährmann, war aber dann geistesgegenwärtig genug, ihn zu wecken, und sagte: Nein, danke nicht jetzt! Ich hätte gern erst mein Abendessen zu mir genommen und die Kinder sicher auch!
Das brachte den Todesträumer wieder zu sich.
Läßt sich diese verantwortungslose Kindlichkeit verteidigen? Zumindest erklären?
"Der Abstand, der uns von allen Spuren der Zivilisation trennte, das Meer zu unseren Füßen, sein unaufhörliches Murmeln oder Tosen, all dies wirkte auf unser Gemüt ein und ließ uns über seltsamen Gedanken brüten, hob unser Denken über das alltägliche Leben hinaus in die Sphäre des Unwirklichen." So schrieb Mary in ihrem Tagebuch.
Und es war ja kein Zufall, dass sie hier lebten: Shelley hasste die banale und unlogische bürgerliche Welt, die Obrigkeit, die ihn aus dem Land gejagt hatte. Und - sein Denken war vom Phi-losophen Berkley geprägt: " ... dass nichts existiert außerhalb dessen, wie es perzipiert wird."( Also nur wir erschaffen die Dinge, es ist der Schöpfungsakt des unerklärlichen abgründigen Moments. Das Gegenteil der täglichen Gefangenschaft in einer trivialen Dingwelt. Der Tod aber ist der Schock, der da hinein-ragt, sie aufbricht. Und die Schönheit sein Partner. Die Waffe der Ohnmächtigen. Romantische Gründe und Abgründe, die le-bensgefährlich werden können.)
In seinem großen Essay "Defence of Poetry", an dem er in je-nen Tagen arbeitete, beschrieb er, ähnlich wie sein Freund, der Dichter Keats, die "negative Fähigkeit", sich selbst zu vergessen, sich hinzugeben mit allen Sinnen, wie eine Harfe, ein Rohr im Wind, alles bewegt aufnehmend, sensibel wie eine Mimose, die völlig ausgeliefert ist. Es war seine Schwäche und Stärke zugleich; eine Eigenschaft, die in der Krassheit und Stumpfheit der bürgerlichen Welt mit ihrem tierischen E-goismus völlig aus dem Rahmen fiel. Poesie aber schien die einzige Rettung, um nicht selbst vergiftet zu werden. Hier in der freien Natur meinte er sie zu finden. Denn die Mimose gedeiht nur in Gegenwart belebender Gefühle, Liebe, zusammenfassend gesagt. Denn "Sie essen, trinken und schlafen, und zwischen diesen Verrichtungen, die von den lächerlichsten Zeremenonien begleitet werden, kriechen und lügen sie. Ihre Hoffnungen und Ängste sind von der beschränktesten Art ... Sie betrachten jeglichen Verkehr mit ihrer Gattung nur als Mittel, niemals als Zweck, und zwar als ein Mittel zur Erlangung des niedrigsten persönlichen Vorteils. Dichtung kann erfüllen, was Religion nur vortäuscht."

Der "Entfesselte Prometheus" - Shelleys bekanntestes Drama, erlöst das Prinzip Möglichkeit vom Wirklichen und der Fesselung durch die Dingwelt. So sagt nämlich die ERDE in diesem großen Lesedrama, und er rezitierte in den Wind:
" ... Du bist unsterblich; diese Sprache kennen
Nur Tote, die mit keinem Zeichen wechseln.
Nur Klänge sind Boten
Wohin, o wohin?
Ins Dunkle, ins Vergangene, zu den Toten."

Kann der Tod denn Erlösung sein? Der Tod, so glaubte es noch Shelley: erlöst aus dem Banalen. Durch eine Reihe sprach-licher Anordnungen führt Shelley das Aktuelle auf sich selbst zurück, es entsteht eine reine Möglichkeitswelt, die Keime des Niedergangs werden gehemmt, und ein Umsturz des Aktuellen tritt am Ende ein, eine poetische Vorwegnahme der uns erwar-tenden wirklichen Weltkatastrophe jedes Ich, wenn es stirbt.
"Ein Gott auf schwebendem Kometenthrone
rief ihnen zu: Seid nicht! ... "
Nur Augenblicke dauert die Inspiration, gereinigt in dieser Einsamkeit am Meer, im Heulen des Windes, in jenem äoli-schen Klang ist der Mensch noch zur Berührung fähig; und die "glühende Kohle" Shelleys wird angefacht ... "Die Poesie ist nicht wie das logische Denken, eine Kraft, deren Gebrauch den Befehlen des Willens gehorcht, so dachte auch er damals: Nur momentweise aus der andern Seite der Welt des Ungeschehenen taucht Geist im schöpferischen Akt auf, verglimmende Kohle, die eine unsichtbare Macht wie ein unbeständiger Wind zu ver-gänglicher Glut anfacht. So hatte er damals gedacht, Shelley, den eigentlich die Poesie getötet hatte, im Boot, im Sturm, weil sie ihn hinderte, sich gegen die Elemente zu wehren."

"Die Stürme und Böen, welche uns bei unserer ersten An-kunft begrüßten, säumten die Bucht mit Schaum", wie Mary in ihrem Tagebuch schrieb: "Der Wind heulte um unser unge-schütztes Haus, dass wir fast auf einem Schiff zu sein glaubten."
Shelleys letzte Dichtungen sind davon bestimmt. Erste An-zeichen von TBC machten sich bemerkbar. Und niemand weiß,
ob seine gefährliche Seglermanie nicht zu seinem Todestrieb gehörte. Wir wissen schon: Im Hafen von Livorno unter engli-schen Kuttern, amerikanischen Klippern, genuesischen Feluken, einer neapolitanischen Brigg und holländischen Ga-leoten war die Idee entstanden, ein eignes Segelboot zu kaufen. Wir wissen, Käptn Trelawny gab den Auftrag an seinen Kollegen Roberts nach Genua weiter, einen kleinen zweimastigen Schoner ohne Deck für Shelley und einen großen Schoner für Byron zu bauen. Im Mai 1822 war die "Don Juan", wie das Boot nach einem Drama Byrons genannt wurde, da: Ein gewisser Herr Heslop und zwei englische Seeleute führten es ... Shelley und Williams fuhren nach Lerici und machten in einigem Abstand von der Küste eine Probefahrt, Shelley fand, es entspreche allen Erwartungen.
Doch Shelleys, etwa 9 Meter langes Boot, zwar festgefügt und mit Torbay-Takelage, war zu leicht, zwei Tonnen Eisenbalast mußten es auf die Ladelini
e bringen, auch war es gefährlich unstabil und rank, und die zwei Vollmatrosen, die es überführten, rieten zur Vorsicht, er-zählten Trelawy, sie hätten eine rauhe Nacht erlebt, die "Don Juan" habe zwar gute Fahrt gemacht, aber nur zwei tüchtige Seeleute könnten mit ihr umgehn.
Shelley und Williams, die es übernahmen, schickten in ihrer Naivität die Seeleute am gleichen Tage heim, behielten nur den Schiffsjungen Charles Vivian. Sie gingen kaum noch von Bord, redeten vom Mittelmeer wie von einem kleinen stillen Teich, auf dem ihr Boot leider seine Seetüchtigkeit nicht beweisen könnte, träumten davon, über den Atlantik zu segeln.
Byrons "Bolivar", bemannt mit fünf Matrosen, war bedeutend sicherer; doch Byron betrat das Schiff kaum, ließ sich auch zu keiner Kreuzfahrt überreden.
Dagegen waren Williams und Shelley wie Kinder. Trelawny ging mal mit ihnen an Bord, um ihr nautisches Können zu prü-fen, Williams war flink und geschickt, kannte sich mit Segelbooten aus, aber er war übereilig, auch fehlte ihm jede Übung und Praxis, die einen in einem Sturm instinktiv das Richtige tun läßt. Shelley dagegen war nicht nur unbedarft, furchtbar ungeschickt, sondern einzig darauf bedacht, vom ewigen Wechselspiel des Meeres und des Himmels Bilder einzufangen; um das Boot kümmerte er sich nicht. Er war nur von den nautischen Fachausdrücken angeregt, die seine Phantasie spielen ließen, glücklich, und kreischte manchmal lachend bei seinen neuen Wortfügungen, die ihn beflügelten. Die dilettantischen Manöver, die sogar Williams entsetzten, störten ihn nicht. "Anluven", rief Williams, doch Shelley, der behauptet hatte, gleichzeitig lesen und steuern zu können, legte die Ruderpinne verkehrt herum. "Anluven", schrie Williams, als das Boot gierte: "Shelley, Sie können nicht steuern, Sie haben das Boot direkt vor dem Wind." Williams nahm das Steuer. "Kümmern Sie sich um die Großschot. Fertig zum Wenden! Ruder in Lee - fieren Sie die Fockschot. Fieren Sie die Großschot; Junge, zieh, die Klüverschot nach achtern!" Doch die Großschot saß fest, das Boot lag fest im Wind, war nicht zu steuern. Shelleys Hut ging über Bord, er wollte wie ein Schlafwandler gleich nachspringen, dass er nicht schwimmen konnte, kümmerte ihn nicht.
Immer wieder regte sich Shelleys Todestrieb, an Trelawny schrieb er, nachdem er seine Begeisterung über die "Don Juan" geäußert hatte, seine Bitte, ihm Blausäure oder Bittermandel in Livorno zu besorgen, dies entspringe dem Verlangen, "unnötiges Leiden zu vermeiden."
"Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich gegenwärtig nicht an Selbstmord denke, aber ich gestehe, dass es mir ein Trost wä-re, diesen goldnen Schlüssel zur Kammer der ewigen Ruhe zu besitzen."
Shelley nahm stets sein Schreibzeug mit an Bord; und er schaffte es, während der Fahrten zu schreiben, auch vor Anker, wenn das Boot im Golf schaukelte oder wenn sie bei unfreundlichem Wetter mit der Änderung der Takelung und mit dem Bau eines kleinen leichten Bootes aus Segeltuch und Rohr beschäftigt waren, das sie für Landungen in seichtem Wasser mit an Bord nehmen wollten, verlängerte sich die unmittelbare Tätigkeit seiner Hände an den Segeln, am Steuer, seine Blicke, die die Wellen kommen sahen, die Geräusche, das Schlagen der Wellen in innere Bilder, als wäre alles ein einziges Kraftfeld, erlösbar im Bewußtsein zum Wort.
Er steht breitbeinig da am Mast, in einer Hand das Schreib-gerät, und sieht dies Kommen und Gehen der Wellen, Bewußt-sein, denkt er, ist genau so oder wie verglühende Kohle, "fading coal", unser Leben verglüht, kommt mit den Augen-Blicken, vergeht wasserfarbenhell. Dichtung ist Geist im Entstehungszustand, das sich selbst enthüllende Bild. Und er hält sich am Mast fest, um nicht zu kippen, oder an den Wanten, ein Bild, das sich so herausbildet, wie sein Bewußtsein, ver-knüpft den Zustand, der zerfällt, und hält so ein Ich aufrecht, instabil, sieh, die Welle am Boot, wie sie klingt, und die Luft singt äolisch am Segel. Die Klänge, die silberklar und scharf das Ohr durchdringen und dann in der Seele leben, so wie der Sterne klare Strahlen brechen durch die krystallne Winterluft und schauen dann auf sich selber in des Meeres Spiegel. Oh, "Ariel", Boot, als wärst du mein Ich, schirmst mich ab vom Meer, dass ich nicht ertrinke. Vehikel des Ich das BOOT, bringt auch das Gedicht in Bewegung, wohin? Einmal dachte er, es genüge, zu schreiben, es schirmt ab, um nicht vom umfassenden Geist überwältigt zu werden; im Schiffbruch und Untergang gehts darin auf, erlöst von jeder Tyrannei der Phänomene.
Es war sein letzter Sommer, Juni 1822. Er hatte vor kurzem seinen "Entfesselten Prometheus" beendet und veröffentlicht. Freiheit war für ihn Revolution UND Metaphysik. Er hatte By-ron, der aus Griechenland, wo er am Freiheitskampf teilgenom-men hatte, zurückgekehrt war, in Ravenna besucht. Nahm Anteil an der italienischen Befreiungsbewegung der Carbonari, haßte das reaktionäre Europa Metternichs. Schrieb seit Byrons Rückkehr an einem revolutionären Stück "Hellas", ein britischer Hölderlin. Byron war ebenfalls nach Pisa übersiedelt, wo sie gemeinsam eine freiheitliche literarische Gesellschaft gründen wollten, die einwirken sollte auf die Reform. "The Liberal" sollte die Zeitschrift heißen, geleitet von ihrem Freund, dem Verleger Leigh Hunts.

"Mitte Juni setzte die Hitze ein", schrieb Mary Shelley in ih-rem Tagebuch, "die Tage wurden übermäßig heiß. Zur Mittags-zeit jedoch kühlte die Seebrise die Luft, und übermäßige Hitze versetzte Shelley immer in gehobene Stimmung. Der Hitze war eine lange Trockenheit vorausgegangen, in den Kirchen wurde um Regen gebetet, und in jeder Stadt fanden Bittprozessionen mit Reliquien statt. Zu dieser Zeit bekamen wir Briefe, die uns die Ankunft Leigh Hunts in Genua anzeigten. Shelley konnte es kaum erwarten ihn zu treffen. Ich war durch ernstes Kranksein an mein Zimmer gefesselt und konnte mich nicht bewegen. Es wurde beschlosen, dass Shelley und Williams mit dem Boot nach Livorno fahren sollten."

1. Juli 1822, gegen Mittag ein günstiger Wind; Landwind über seidenblau hüpfenden Miniaturwellen. Die Küste entlang von San Terenzo zur Punta Bianca, Magra. Williams an der Pinne, Shelley auf dem Vorschiff am Mast, schrieb am "Triumph of live". Rauschen am Bug: Williams hat recht, dachte Shelley, die Welle bewegt sich nicht vorwärts, nur eine Energie geht weiter durchs Wasser. Die Welle ist ihr Vor-Schein. Als wäre unser Auge daran gefesselt wie Prometheus an den Stein.
Nach einer Stunde nordöstlich die Marmorbrüche von Carra-ra, auf grünen Hängen schneeweiße Wunden an Backbord. Der Körper eine Last. Jetzt die Berge wie Feenblicke, weißgraue Wolken. Fast wehmütig, Shelley, als wäre er ein anderer gewe-sen, als er sie besungen hatte, lachend sein feines Gesicht, sie nannten ihn "Ariel" : "Poesie weckt und weitet den Geist selbst, indem sie ihn zum Gefäß Tausender nicht gekannter Ge-dankenverbindungen macht. Die Poesie hebt den Schleier von der verborgenen Schönheit der Welt und läßt vertraute Gegens-tände so erscheinen, als ob sie fremd wären; und die in ihr elysisches Licht gekleideten Verkörperungen stehen im Geist jener, die sie erkennend geschaut haben, hinfort als Denksteine jenes edlen und erhabenen Wesens, das sich über alle Gedanken und Handlungen ausbreitet, mit denen zusammen es existiert. Das große Geheimnis der Moral ist die Liebe oder ein Heraustreten aus unserer eignen Natur und ein Einswerden unseres Ich mit dem Schönen in fremden Gedanken, Handlungen oder Menschen. Um in hohem Maß gut zu sein, muß ein Mensch tief und reich empfinden; die Leiden und Freuden seiner Gattung müssen zu seinen eignen werden. Das große Instrument des sittlich Guten ist die Imagination; und die Poesie dient der Wirkung, indem sie auf die Ursache einwirkt ... " Fast mußte er lachen, als wache er aus einem Traum auf ... Keine Harmonie, kein Schwingen ist auf die Dauer möglich, diabellein, der Teufel schlägt alles in Fetzen, nein, nur wie jetzt kurze "moments of delight" sind uns vergönnt, wie jetzt das Zischen, das Rauschen, der Klang am Boot, diese Musik. Ja. Wer sie übersetzen könnte ins Bild: Wind, Wasser, die Farben, das Blau jetzt, dies Weiß, das Singen in der Takelage, ARIEL, Sinnbilder für das unbenennbare Grenzenlose, das berührt! In seiner "Defence of poetry" hatte er es geschrieben. "Aber diese ungeheure Menge von Leid? ... Die Hülle der Geistesflamme zerfällt zu Asche, sobald man sie anblickt."
Was war geschehen? Warum konnte der dreißigjährige Shel-ley nicht mehr naiv an sein Dichten glauben? War es der Mißer-folg seines "Prometheus"? Der Tod seines Kindes? Oder: Als wäre sie nun zu nah, Harriet, der Selbstmord Harriets, seiner ersten Frau. Oder: dass die Gerichte ihm seine Kinder ab-gesprochen hatten? Rache der Lords? Das Blutbad von Manchester, ließ ihn nicht mehr los, Kavallerie hatte mit blankem Säbel blindwütig auf Frauen und Kinder eingehauen. In die Schreie hinein ... Kleine Köpfe platzten. "Prometheus unbound"? Haha "Mondboot"? Reise, die die feste Welt und Gewesenes auflöst? Nein, Dichtung ist keine Rettung mehr!

Sie liefen gegen halb acht in Livorno ein, legten im Hafen an. In der Nähe der "Bolivar", Byrons Boot, begrüßten sie Hunt und seine Frau. Sonnenuntergang; wegen Pestgefahr Verbot des Landgangs, sie liehen sich Kissen und schliefen an Bord. Schiffslaternen leuchteten zu fahlem Mondlicht. Schwüle Nacht. Möwengekreisch wie von Raubvögeln.
Shelleys strahlende Laune; erst kürzlich hatte er zu Mary gesagt, das einzige, woran er noch glaube, sei das sichere Eintreten eines Unglücks, und das, wenn er sich besonders fröhlich fühle.
Vorgefühle, Zeit ist gegenwärtig, nicht trennbar, das Kommende schon anwesend, wer sich hineingestimmt hat, lebt mitten im Sog; Öffnung wie bei ihm, einer "Sensitive Plant"; aber die Schönheit dieser Gegend war unirdisch in ihrem Über-maß, löste Schuldgefühle aus.
Williams blieb in Livorno, man veranstaltete zum Spaß eine Regatta, während Shelley mit den Hunts nach Pisa fuhr, sie in Byrons Palast einquartierte. Mit Byron, dem Dandy und Snob, stritt Shelley heftig wegen der Zeitschrift, der Anpasser und Angsthase Byron befürchtete mit dieser "Carbonari"- Publikation in England sein Gesicht zu verlieren, Ruhm und Reichtum aufs Spiel setzend. Die Tage waren nicht günstig, alle nervös, Hunts Frau krank.
In einem Brief schrieb Shelley von Pisa aus an Mary, er könne sich nicht freimachen, Williams käme allein mit dem Boot nach Lerici zurück. Doch am 7. Juli machte er sich dann frei. Wo saß er, in der Villa? Im Palazzo Lanfranchi? Oder ging er, wie er schrieb, zum Camposanto am Dom, sah die Sarkophage, etruskische und römische an, und vor allem jene Urne, die der griechischen seines toten Freundes Keats ähnelte. Pan war da zu sehn, der lüsterne Erdgott der Mittagsstunde, wenn alles sirrte und flimmerte, heiße Luft, wie eine Grenze des Lichts, das sich in Wohlgefallen aufzulösen schien ... Einsame Gedanken, die sich dem Begriff entziehn, Grenzen des Himmels, nackt bleibt dabei und öde das Hirn. Hier war das Meer Eins mit der Urne, die Form, Firmament, das sich in den Wellen spiegelt, dies ist das Element, das er mag, das dazwischenliegt. Er, ein unbekanntes Wesen, das hier erkennbar wird in der langsamsten Zeit, zögert dort am Dom in der Mittagsglut, dass es fast stehenbleibt.
Von hier schrieb er an Mary einen Brief, den er aber nie ab-geschickt hat; denn er schrieb ihn an niemanden; und er wußte schon, dass noch nichts ist, bevor wir es nicht schreibend wirk-lich gesehen haben, denn Vorgänge werden erst zur Geschichte und erkennbar im sekundären Akt der Wahrnehmung. Und die Augenblicke lassen sich in den Ablauf der Gedanken nicht ein-bringen, entweder du lebst oder du schreibst. Eines aber, so sagte er oft, ist möglich: das Boot, als wäre es das Gefäß der individuellen Gedanken, in der Steuermannskunst aber bist du eins mit den Elementen, See und Wind, die Bewegung des Steuers steht im Zusammenhang mit den elementaren Bewegungen des Gefühls. Es sei die alte Steuermannskunst, von der schon Platon gesprochen hatte, höchste Form der Selbstbewegung. (Ich sehe einen Wagen gleich dem Boot/ Das sichelschmal des Mondes Vater trägt.) Waren sie deshalb erst nachmittags aus Livorno abgesegelt, um nachts anzukommen. Die Pausen sind dann äolisch gefüllt mit Zwischentönen. Und so war es auch am 8. Juli: Berge und Wälder waren am Ufer zu sehen, durch jenen luftigen Schleier erschienen sie wie im Spiegel eines Zauberers. Wolken sind seine Räder, blau und golden, wie jene, die die Geister des Gewitters auf des erleuchteten Meeres Fläche türmten: Such as the genii of the thunderstorm, schrieb er: Wenn Sonne in sie fährt; sie rollen und bewegen sich, als wäre ein Wind in ihnen; darin sitzt ein geflügeltes Kind, das Antlitz wie die Weiße allerhellsten Schnees, die Federn wie sonnige Frost-Kristalle. Es ist wie das Unbetretene, die Reinheit, die sonst nur besudelt wird, herabgezogen in den Dreck von dem Mob und den Reichen. Im Gewitter aber geschieht die Transformation, der Grund wird er-kennbar. Der Vorschein wird durchstoßen, und durch den Körper fließen Licht und Musik - wie durch leeren Raum: Zehntausend Kreise wie Atome ineinander in sich selbst verschlungen, Sphäre in Sphäre; jeden ZWISCHENRAUM bevölkern unvorstellbare Gestalten, durchsichtig füreinander, wie sie Geister in dunklen Tiefen träumen; und sie wirbeln auf tausend unsichtbaren Achsen kreisend in tausenderlei Bewegung durcheinander; mit Gewalt mörderischer Schnelligkeit gemessen, langsam kraftvoll, drehn sie sich entzündend mit vielfach gemischten Tönen,

wilde Musik und verständliche Worte ... im Innern der Kreise ist einer, der sprüht, der spricht im Traum des rasenden innern Lichts von einer fernen Liebe, die erscheint, wenn alles, was nur Vorschein war, uns täuscht, gelöscht ist und verschwunden im Weiß der Schnelligkeit, du absinkst erst im Hirn bewußtlos, dann im Schlaf der Erde eine Lücke findest, um hinüber zu der Wirklichkeit des Potentiellen zu kommen, in einen Raum, wo du das bist, was kurz im Blitzen deines Gedankens glückt als "fading coal"; der Körper aber trennt, grenzt nie an die Berührung der Imagination. Man spürt sie in dem weißen Kind des Sturmes, der Bogen seiner Bahn ist die Stirn, dort blitzen blaue Feuer, die den Abgrund füllen. Und dann der Gott, der rief: Seid nicht! Und sie so nicht mehr waren, wie meine Worte.
Shelley kam aber in düsterer Stimmung zurück nach Livorno. Er behob noch einen Leinenbeutel voller toskanischer Kronen-stücke bei seiner Bank. Es war der 8. Juli 1822. Ein Uhr Mit-tag. Trelawny wollte ihm mit der "Bolivar", Shelleys Boot be-gleiten, doch er hatte keine Auslaufgenehmigung, die Hafenwa-che enterte das Schiff, drohte mit Quarantäne. Die "Don Juan" fuhr allein. Es gab wenig Wind. Der Käptn beobachtete durch sein Fernglas, wie das Boot am Horizont verschwand; besorgt beobachtete er mit seinem Maat den aufkommenden Südwest, die schwarzen Striche am Himmel, aus denen Wolkenklumpen heraushingen. Drückende Schwüle, kein Hauch, und feiner Ne-bel wie Rauch über dem Wasser. Immer mehr heftige Böen.
Eine schwarze kleine Wolke war in Richtung West-Südwest aufgetaucht, kam schnell näher, mit zwanzig Knoten Wind, und das Boot krängte stark, Schreiben war unmöglich im heftigen Wellengang, ein irreales unheimliches Licht lag wie eine düstere Haube über der Landschaft, nur der Altissimo, Michelangelos Berg, war, wie meist bei Sturm, in ein helles Licht getaucht, und wie herausgehoben; in der Ferne Wetterleuchten und um sie das Wasser flaschengrün; der Wind unregelmäßig, kam mehr und mehr in Böen aus West, sogar aus Nordwest, dann aber sehr steif aus Südwest. Williams hatte längst das Großsegel gerefft, die kleine Fock gesetzt, das Steuer aber war schwer zu halten, dauernd mußte er den Kurs ändern, um den unbeständigen Wind in den Segeln zu halten ...

Nur noch die Toten als Zeuge, es kann sein, so war er, Shel-ley, mitten in den Elementen, hätte er vor Entzücken schreien mögen; und schrie, Shelley, in den ich mich hineindenke, er, der meine Vorstellung besetzt, und sehe ins Meer, das ich hier be-schreibe, auf dem Boot, das jagt vielleicht schon mit 7 Knoten über die Gischt ... Wir Lebenden, vertreten die Toten, sie haben in unserer Phantasie eine Stimme ...

Halb sieben brach das Gewitter los, es herrschte fast völlige Dunkelheit. Das Meer wie Blei. Und keine Poesie, sondern alles zu wirklich. Das Boot, weit draußen, segelte mit den langen gleichmäßigen Seen um die Wette; feierlich donnernde Brecher kamen von achtern auf, holten sie leewärts ein, Gischt kochte in Schanzkleidhöhe wild auf, zog brüllend und brausend weiter. Schwindel und Angst, wenn du in die See siehst, wenn der Klüverbaum in den überstürzenden Schaum eintaucht, dann in einer gläsernen Höhlung weiter, das Boot im tiefen Tal zwischen zwei Wellenbergen, nach vorn und achtern die Sicht versperrt.
Nach fünf Stunden Kampf war es finster. Der Kurs nicht mehr zu halten, die Sinne aufgeregt und müde im Gebrüll dieser schwarzweißen Welt. Wir wissen es, die "Don Juan" kenterte nicht; jener Augenblick, den nur die Toten wissen, blieb für sie stehn, und als wäre eingelöst, was bisher nur Dichtung war, mit dem Tode bezahlt, doch war: im Getöse die Stille ... In Schaum und Gischt die Blasen, wenn sie platzten waren Geister drin. Nun Schlucken wie im Ersticken. Die Zwischenräume bevölkert. Mit seltsamen Gestalten, wie sie die Geister träumen in der Nacht der unerleuchteten, entsteigen sie in ihrer Transparenz ... selbstzerstörend, in Geschwindigkeiten, in der sich die Welt selbst verzehrt ... Im Wirbel dieses Sphärenknäuels ist alles in blaue Nebel aufgelöst - so dünn. Und leicht wie Licht und Luft ... Gestalten wunderbar, die in das Grau nun der Vernichtung gehüllt sind.

Drei Tage später wurden in Viareggio ein Stakkahn, ein Was-serfaß und etliche Flaschen an den Strand gespült. Erst zwei Wochen später zwei Leichen, die eine in Viareggio, die Hände, das Gesicht und andere ungeschützte Teile des Körpers ohne Fleisch, von Fischen angefressen. Eine hochgewachsene, schmächtige Gestalt trug in der Jackentasche einen Band Aischylos, in der andern Gedichte von Keats, beide Bücher über den Rücken aufgeschlagen, als wäre der Band hastig weggesteckt, der Mann beim Lesen ertappt worden. Von der dritten Leiche, dem Schiffsjungen, fand man drei Wochen später nur noch das Skelett. Alle wurden sofort am Strand begraben, in die Grube gegen Infektionen Ätzkalk geworfen. Dawkin, Gesandter in Florenz, verständigte Trelawny: wegen Infektionsgefahr und Quarantäne mußten die Körper eingeäschert werden; eine Korporalschaft Soldaten, Schmiedezangen mit langen Hebelgriffen, Kneif- und Beißzangen, Stangen mit eisernen Haken und Dornen, um die Berührung zu vermeiden, an der Grube, bezeichnet mit vier weißen Stäben, unweit der ins Meer hinausführenden Grenze zwischen der Republik Lucca und dem Großfürstentum Toskana. Zahlreiche Zuschauer, unter ihnen prächtig gekleidete Damen. Draußen die Inseln: Capraia, Gorgona; klares Wetter. Sand. Leere, damals badete hier niemand. Sie wollten alle das Loch sehn. Hatte er seine Uhr in der Tasche? Stehngeblieben, wer zog sie noch auf, ins Loch sehn, das Auge im Sand vergra-ben. Byron und Hunt waren dabei. Der Apennin, davor Wach-türme, zinnengeschmückt. Byron in Schaftstiefeln, den Zylinder in der Hand, weiß flatterte sein Schal im Wind, unbeschriebener Hauch. Da, ein hohler Laut, Eisen stieß auf Etwas, der Bogen des Stirnbeins getroffen, bald nackt der Körper ans Licht gezerrt, noch einmal wirklich, nicht? Unheimlich die dunkle Indigofärbung, halb verwest. Byron wollte den Schädel als Trinkgefäß. Er bekam ihn nicht. Hell das Feuer, die letzten Funken, Wein auf den Toten, Öl, Salz war genug in ihm, ein Knistern, und Hitze, so öffnete sich der Leib, und bloß lag ein Herz. Das getroffene Stirnbein fiel ab, der Hinterkopf auf dem rotglühenden Rost, eine Schale, darin kochte das Hirn, warf Blasen. Asche dann. Nichts, nur Knochenreste, die Kinnlade, als hielte sie ein Satz. Byron ertrug es nicht mehr, warf die Kleider ab, schwamm hinaus zur "Bolivar", die ankerte vor diesem Ufer. Er sah nicht, was Trelawny staunend sah, das erhaltene Herz in der Weißglut; es hatte sich beim Ertrinken mit Blut gefüllt, brannte nun an der Luft nicht. Trelawny verbrannte sich die Finger, als er es mit bloßen Händen aus der Asche nehmen wollte.

Ich bin das Kind von Wasser und Wind
Ziehtochter von Himmel und Licht.
... mich wandelnd sterbe ich nicht.

Shelleys Boot wurde in nur 10 Faden Tiefe gefunden, geho-ben, beauftragt waren zwei Kapitäne zweier Feluken, mit An-kern und Tauen wurde es gehoben, das gesamte Zubehör noch unversehrt, und daraus wäre zu schließen, dass es nicht gekentert, sondern durch schwere See vollgeschlagen war. Zwei Koffer mit Geld, mit Kleidern, Shelleys Koffer mit Büchern und Kleidern, der Rumpf aber voll mit blauem Ton des Grundes, sie fischten daraus das Fernrohr, Bücher, einen Korb Wein, der aber war verdorben, der Korken halb aus der Flsche gedrückt durch den Druck des kalten Meereswasser, so berichtet der Kapitän Dan Roberts aus Pisa. Die Masten kurz über dem Deck abgebrochen, der Bugsprit knapp am Bug, der Schandeckel war eingedrückt, und bei näherer Untersuchung ließ sich erkennen: Auf der Steuerbordseite war ein Großteil des Spantenwerks zerbrochen, anzunehmen ist, dass das Schiff während des Unwetters von einer Feluke in den Grund gebohrt worden war!
Viel Papier wurde vom Grund gehoben, Shelleys zwei Notiz-bücher, darin seine Schrift wie verlassen, nun ziemlich allein, die Gedichte. Williams Tagebuch bis zum 4. Juli 1822 ... und nie mehr weiter. Die gedruckten Bücher zusammengeklebt, unlesbar wie Geheimnisse, die Seiten nicht mehr voneinander zu trennen, wer schneidet diese Rückseite des Schweigens denn auf, so verschlossen vom glitschigen Schlick, Roberts hat es ohne Erfolg versucht, die Seiten, bis in die Zeilen hinein zu waschen, als ginge das, wie die Welt manchmal durch sie.

Und L. wollte mein Gedicht zu Shelleys Untergang wiederlesen:


SHELLEYS SINKENDES
Segelboot auf dem Weg nach Livorno;
das englische Fernweh jedoch dazu:
weit bis in die Kolonien,
kam hier schöner zu Wort (und das Meer war rein)
als der Dichter
ersoff in allzuviel
Ewigkeit (das waren noch Zeiten!)

(„Was ist die Lust der Welt?
Blitz, der die Nacht erhellt,
Zuckt und zerfällt.“
„What is this world´s delight?
Lightning that mocks the night,
Brief even as bright.“)
Nicht nur das Gras
auch die Gründe dieser Strandgut Landschaft
und dahinter
du,
müssen auseinander geschrieben werden von Herztautologen
mit allen Differenzen.
Vorläufig (das Warten auf Revolution hat sich längst
überholt in der Endgültigkeit eines
überholten Zustandes)
mach eine Querflöte aus meinem rechten Ellenbogen
(und die Finger der Faust spar dir auf: denn -
das neue Paradigma ist alt und noch immer
unsichtbar.)
Versuche durch Reisen Abstand zu gewinnen -
Arrangements der Reisebüros?
Nur noch Flug
über uns hinweg per TAROM, LUFTHANSA
ALITALIA - Vaterländer mit Hochgefühlen
und Schwindel der Entfernungsmesser?
Ich habe zurückgefragt. Der Rest ist Ironie.
Am Strand gab´s noch einen
der warf die Angst
bei tuckerndem Motor ins Wasser - und
auch mein Auge und Ohr standen beim
Schlag ins Wasser ihm bei;
ich aber schwor mir, so zu leben, wie ich schreibend
Sein kann, mich dagegen zu wehren:

„Aber in den Zeiträumen zwischen den Inspirationen ... wird der Dichter zu einem Menschen und ist der plötzlichen Rückflut der Einflüsse preisgegeben, unter denen andere immer leben“ (Shelley, Verteidigung der Poesie): preisgegeben also - dem Downer¬programm.
Kurz danach nämlich sind wir inaktiv
wieder allein,
die Sekunden vergehen wie Lichtblitze
rasend schnell auch in den schmalen Fensterschlitzen
eines angeblich schützenden alten Hauses, -
der Kirche
SANTA FELICITÀ
So versuche ich hier
vermessen
zu sein - Geschichten
einzurollen,
sonst dauert es zu lang -
Millionen Jahre
und ab jetzt ohne Liebe: immer länger!

Und ich, fragte L. Zurück.
Denk an Korsika, denk an unser Cucuruzzu, die heisse Steinzeit:






Auch Rilke war hier:

1903 Ende März bis Ende April schreibt Rilke den dritten Teil vom "Stundenbuch" in Viareggio. Und man spürt , wie sehr er von den Marmorbergen beeindruckt ist und vom Meer. Vor allem von der Ein-smakeit, das Gegenteil hier der grossen Städte..

Drittes Buch
Das Buch von der Armut und vom Tode
(1903)

Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,
und alle Nähe wurde Stein.

Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, –
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.




Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen, –
Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
und Träger jener Tale der Zyklamen,
aus denen aller Duft der Erde geht;
du, aller Berge Mund und Minaret
(von dem noch nie der Abendruf erschallte):

Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall?
Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,
und deine Härte fühl ich überall.

Oder ist das die Angst, in der ich bin?
die tiefe Angst der übergroßen Städte,
in die du mich gestellt hast bis ans Kinn?


O daß dir einer recht geredet hätte
von ihres Wesens Wahn und Abersinn.
Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn,
und triebest sie wie Hülsen vor dir hin ...

Und willst du jetzt von mir: so rede recht, –
so bin ich nicht mehr Herr in meinem Munde,
der nichts als zugehn will wie eine Wunde;
und meine Hände halten sich wie Hunde
an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht.

Du zwingst mich, Herr, zu einer fremden Stunde.



Mach mich zum Wächter deiner Weiten,
mach mich zum Horchenden am Stein,
gib mir die Augen auszubreiten
auf deiner Meere Einsamsein;
laß mich der Flüsse Gang begleiten
aus dem Geschrei zu beiden Seiten
weit in den Klang der Nacht hinein.

Schick mich in deine leeren Länder,
durch die die weiten Winde gehn,
wo große Klöster wie Gewänder
um ungelebte Leben stehn.
Dort will ich mich zu Pilgern halten,
von ihren Stimmen und Gestalten
durch keinen Trug mehr abgetrennt,
und hinter einem blinden Alten
des Weges gehn, den keiner kennt.



Denn Herr, die großen Städte sind
Verlorene und Aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen,
die immer in demselben Schatten sind,
und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen
zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, –
und müssen Kind sein und sind traurig Kind.

Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten
und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh;
das aber ist nicht da, wofür sie brannten,
und zitternd schließen sie sich wieder zu.
Und haben in verhüllten Hinterzimmern
die Tage der enttäuschten Mutterschaft,
der langen Nächte willenloses Wimmern

und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft.
Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten,
und langsam sehnen sie sich dazu hin;
und sterben lange, sterben wie in Ketten
und gehen aus wie eine Bettlerin.




Da leben Menschen, weißerblühte, blasse,
und sterben staunend an der schweren Welt.
Und keiner sieht die klaffende Grimasse,
zu der das Lächeln einer zarten Rasse
in namenlosen Nächten sich entstellt.

Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh,
sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen,
und ihre Kleider werden welk an ihnen,
und ihre schönen Hände altern früh.

Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen,
obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, –
nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen,
gehn ihnen leise eine Weile nach.

Sie sind gegeben unter hundert Quäler,
und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,
kreisen sie einsam um die Hospitäler
und warten angstvoll auf den Einlaßtag.

Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße
sie in der Kindheit wundersam gestreift, –
der kleine Tod, wie man ihn dort begreift;
ihr eigener hängt grün und ohne Süße
wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.




O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,
das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.




Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Um ihretwillen heben Mädchen an
und kommen wie ein Baum aus einer Laute,
und Knaben sehnen sich um sie zum Mann;
[87]und Frauen sind den Wachsenden Vertraute
für Ängste, die sonst niemand nehmen kann.
Um ihretwillen bleibt das Angeschaute
wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, –
und jeder, welcher bildete und baute,
ward Welt um diese Frucht und fror und taute
und windete ihr zu und schien sie an.
In sie ist eingegangen alle Wärme,
der Herzen und der Hirne weißes Glühn –:
Doch deine Engel ziehn wie Vogelschwärme,
und sie erfanden alle Früchte grün.



HERR: wir sind ärmer denn die armen Tiere,
die ihres Todes enden, wenn auch blind,
weil wir noch alle ungestorben sind.
Den gib uns, der die Wissenschaft gewinnt,
das Leben aufzubinden in Spaliere,
um welche zeitiger der Mai beginnt.

Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer,
daß es nicht unser Tod ist; einer, der
uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen;
drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen.

Wir stehn in deinem Garten Jahr und Jahr
und sind die Bäume, süßen Tod zu tragen;
aber wir altern in den Erntetagen,
und so wie Frauen, welche du geschlagen,
sind wir verschlossen, schlecht und unfruchtbar.

Oder ist meine Hoffart ungerecht:
sind Bäume besser? Sind wir nur Geschlecht
und Schoß von Frauen, welche viel gewähren? –
Wir haben mit der Ewigkeit gehurt,
und wenn das Kreißbett da ist, so gebären
wir unsres Todes tote Fehlgeburt;
den krummen, kummervollen Embryo,
der sich (als ob ihn Schreckliches erschreckte)
die Augenkeime mit den Händen deckte
und dem schon auf der ausgebauten Stirne
die Angst von allem steht, was er nicht litt, –
und alle schließen so wie eine Dirne
in Kindbettkrämpfen und am Kaiserschnitt.



Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß,
bau seinem Leben einen schönen Schoß,
und seine Scham errichte wie ein Tor
in einem blonden Wald von jungen Haaren,
und ziehe durch das Glied des Unsagbaren
den Reisigen den weißen Heeresscharen,
den tausend Samen, die sich sammeln, vor.

Und eine Nacht gib, daß der Mensch empfinge,
was keines Menschen Tiefen noch betrat;
gib eine Nacht: da blühen alle Dinge,
und mach sie duftender als die Syringe
und wiegender denn deines Windes Schwinge
und jubelnder als Josaphat.

Und gib ihm eines langen Tragens Zeit
und mach ihn weit in wachsenden Gewändern,
und schenk ihm eines Sternes Einsamkeit,
daß keines Auges Staunen ihn beschreit,
wenn seine Züge schmelzend sich verändern.

Erneue ihn mit einer reinen Speise,
mit Tau, mit ungetötetem Gericht,
[89]mit jenem Leben, das wie Andacht leise
und warm wie Atem aus den Feldern bricht.

Mach, daß er seine Kindheit wieder weiß;
das Unbewußte und das Wunderbare
und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre
unendlich dunkelreichen Sagenkreis.

Und also heiß ihn seiner Stunde warten,
da er den Tod gebären wird, den Herrn:
allein und rauschend wie ein großer Garten
und ein Versammelter aus fern.



Das letzte Zeichen laß an uns geschehen,
erscheine in der Krone deiner Kraft,
und gib uns jetzt (nach aller Weiber Wehen)
des Menschen ernste Mutterschaft.
Erfülle, du gewaltiger Gewährer,
nicht jenen Traum der Gottgebärerin, –
richt auf den Wichtigen: den Tod-Gebärer,
und führ uns mitten durch die Hände derer,
die ihn verfolgen werden, zu ihm hin.
Denn sieh, ich sehe seine Widersacher,
und sie sind mehr als Lügen in der Zeit, –
und er wird aufstehn in dem Land der Lacher
und wird ein Träumer heißen: denn ein Wacher
ist immer Träumer unter Trunkenheit.

Du aber gründe ihn in deine Gnade,
in deinem alten Glanze pflanz ihn ein;
und mich laß Tänzer dieser Bundeslade,
laß mich den Mund der neuen Messiade,
den Tönenden, den Täufer sein.




Ich will ihn preisen. Wie vor einen Heere
die Hörner gehen, will ich gehn und schrein.
Mein Blut soll lauter rauschen denn die Meere,
mein Wort soll süß sein, daß man sein begehre,
und doch nicht irremachen wie der Wein.

Und in den Frühlingsnächten, wenn nicht viele
geblieben sind um meine Lagerstatt,
dann will ich blühn in meinem Saitenspiele
so leise wie die nördlichen Aprile,
die spät und ängstlich sind um jedes Blatt.

Denn meine Stimme wuchs nach zweien Seiten
und ist ein Duften worden und ein Schrein:
die eine will den Fernen vorbereiten,
die andere muß meiner Einsamkeiten
Gesicht und Seligkeit und Engel sein.


Und gib, daß beide Stimmen mich begleiten,
streust du mich wieder aus in Stadt und Angst.
Mit ihnen will ich sein im Zorn der Zeiten
und dir aus meinem Klang ein Bett bereiten
an jeder Stelle, wo du es verlangst.


Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen
den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind;
ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen
und mit den Dingen, welche willig sind.

Nichts von dem weiten wirklichen Geschehen,
das sich um dich, du Werdender, bewegt,
geschieht in ihnen. Deiner Winde Wehen
[91]fällt in die Gassen, die es anders drehen,
ihr Rauschen wird im Hin- und Widergehen
verwirrt, gereizt und aufgeregt.

Sie kommen auch zu Beeten und Alleen –:



Denn Gärten sind, – von Königen gebaut,
die eine kleine Zeit sich drin vergnügten
mit jungen Frauen, welche Blumen fügten
zu ihres Lachens wunderlichem Laut.
Sie hielten diese müden Parke wach;
sie flüsterten wie Lüfte in den Büschen,
sie leuchteten in Pelzen und in Plüschen,
und ihrer Morgenkleider Seidenrüschen
erklangen auf dem Kiesweg wie ein Bach.

Jetzt gehen ihnen alle Gärten nach –
und fügen still und ohne Augenmerk
sich in des fremden Frühlings helle Gammen
und brennen langsam mit des Herbstes Flammen
auf ihrer Äste großem Rost zusammen,
der kunstvoll wie aus tausend Monogrammen
geschmiedet scheint zu schwarzem Gitterwerk.

Und durch die Gärten blendet der Palast
(wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte),
in seiner Säle welke Bilderlast
versunken wie in innere Gesichte,
fremd jedem Feste, willig zum Verzichte
und schweigsam und geduldig wie ein Gast.



Dann sah ich auch Paläste, welche leben;
sie brüsten sich den schönen Vögeln gleich,
die eine schlechte Stimme von sich geben.
Viele sind reich und wollen sich erheben, –
aber die Reichen sind nicht reich.

Nicht wie die Herren deiner Hirtenvölker,
der klaren, grünen Ebenen Bewölker,
wenn sie mit schummerigem Schafgewimmel
darüber zogen wie ein Morgenhimmel.
Und wenn sie lagerten und die Befehle
verklungen waren in der neuen Nacht,
dann wars, als sei jetzt eine andre Seele
in ihrem flachen Wanderland erwacht –:
Die dunklen Höhenzüge der Kamele
umgaben es mit der Gebirge Pracht.

Und der Geruch der Rinderherden lag
dem Zuge nach bis in den zehnten Tag,
war warm und schwer und wich dem Wind nicht aus.
Und wie in einem hellen Hochzeitshaus
die ganze Nacht die reichen Weine rinnen:
so kam die Milch aus ihren Eselinnen.

Und nicht wie jene Scheichs der Wüstenstämme,
die nächtens auf verwelktem Teppich ruhten,
aber Rubinen ihren Lieblingsstuten
einsetzen ließen in die Silberkämme.

Und nicht wie jene Fürsten, die des Golds
nicht achteten, das keinen Duft erfand,
und deren stolzes Leben sich verband
mit Ambra, Mandelöl und Sandelholz.

Nicht wie des Ostens weißer Gossudar,
dem Reiche eines Gottes Recht erwiesen;
[93]er aber lag mit abgehärmtem Haar,
die alte Stirne auf des Fußes Fliesen,
und weinte, – weil aus allen Paradiesen
nicht eine Stunde seine war.

Nicht wie die Ersten alter Handelshäfen,
die sorgten, wie sie ihre Wirklichkeit
mit Bildern ohnegleichen überträfen
und ihre Bilder wieder mit der Zeit;
und die in ihres goldnen Mantels Stadt
zusammgefaltet waren wie ein Blatt,
nur leise atmend mit den weißen Schläfen ...

Das waren Reiche, die das Leben zwangen
unendlich weit zu sein und schwer und warm.
Aber der Reichen Tage sind vergangen,
und keiner wird sie dir zurückverlangen,
nur mach die Armen endlich wieder arm.




Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen,
die ohne Willen sind und ohne Welt;
gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen
und überall entblättert und entstellt.

Zu ihnen drängt sich aller Staub der Städte,
und aller Unrat hängt sich an sie an.
Sie sind verrufen wie ein Blatternbette,
wie Scherben fortgeworfen, wie Skelette,
wie ein Kalender, dessen Jahr verrann, –
und doch: wenn deine Erde Nöte hätte:
sie reihte sie an eine Rosenkette
und trüge sie wie einen Talisman.

Denn sie sind reiner als die reinen Steine
und wie das blinde Tier, das erst beginnt,
und voller Einfalt und unendlich deine
und wollen nichts und brauchen nur das eine:

so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind.



Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ...




Du bist der Arme, du der Mittellose,
du bist der Stein, der keine Stätte hat,
du bist der fortgeworfene Leprose,
der mit der Klapper umgeht vor der Stadt.

Denn dein ist nichts, so wenig wie des Windes,
und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm;
das Alltagskleidchen eines Waisenkindes
ist herrlicher und wie ein Eigentum.

Du bist so arm wie eines Keimes Kraft
in einem Mädchen, das es gern verbürge
und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge
das erste Atmen ihrer Schwangerschaft.

Und du bist arm: so wie der Frühlingsregen,
der selig auf der Städte Dächer fällt,
und wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen
in einer Zelle, ewig ohne Welt.
Und wie die Kranken, die sich anders legen
und glücklich sind; wie Blumen in Geleisen
so traurig arm im irren Wind der Reisen;
und wie die Hand, in die man weint, so arm ...

Und was sind Vögel gegen dich, die frieren,
was ist ein Hund, der tagelang nicht fraß,
und was ist gegen dich das Sichverlieren,
das stille lange Traurigsein von Tieren,
die man als Eingefangene vergaß?

Und alle Armen in den Nachtasylen,
was sind sie gegen dich und deine Not?
Sie sind nur kleine Steine, keine Mühlen,
aber sie mahlen doch ein wenig Brot.

Du aber bist der tiefste Mittellose,
der Bettler mit verborgenem Gesicht;
du bist der Armut große Rose,
die ewige Metamorphose
des Goldes in das Sonnenlicht.

Du bist der leise Heimatlose,
der nicht mehr einging in die Welt:
zu groß und schwer zu jeglichem Bedarfe.
Du heulst im Sturm. Du bist wie eine Harfe,
an welcher jeder Spielende zerschellt.




Du, der du weißt und dessen weites Wissen
aus Armut ist und Armutsüberfluß:
Mach, daß die Armen nicht mehr fortgeschmissen
und eingetreten werden in Verdruß.
Die andern Menschen sind wie ausgerissen;
sie aber stehn wie eine Blumenart
aus Wurzeln auf und duften wie Melissen,
und ihre Blätter sind gezackt und zart.




Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche:
sie rühren sich wie in den Wind gestellt
und ruhen aus wie etwas, was man hält.
In ihren Augen ist das feierliche
Verdunkeltwerden lichter Wiesenstriche,
auf die ein rascher Sommerregen fällt.




Sie sind so still; fast gleichen sie den Dingen.
Und wenn man sich sie in die Stube lädt,
sind sie wie Freunde, die sich wiederbringen,
und gehn verloren unter dem Geringen
und dunkeln wie ein ruhiges Gerät.

Sie sind wie Wächter bei verhängten Schätzen,
die sie bewahren, aber selbst nicht sahn, –
getragen von den Tiefen wie ein Kahn,
und wie das Leinen auf den Bleicheplätzen
so ausgebreitet und so aufgetan.




Und sieh, wie ihrer Füße Leben geht:
wie das der Tiere, hundertfach verschlungen
mit jedem Wege; voll Erinnerungen
an Stein und Schnee und an die leichten, jungen,
gekühlten Wiesen, über die es weht.

Sie haben Leid von jenem großen Leide,
aus dem der Mensch zu kleinem Kummer fiel;
des Grases Balsam und der Steine Schneide
ist ihnen Schicksal, – und sie lieben beide
und gehen wie auf deiner Augen Weide
und so wie Hände gehn im Saitenspiel.



Und ihre Hände sind wie die von Frauen
und irgendeiner Mutterschaft gemäß;
so heiter wie die Vögel, wenn sie bauen, –
im Fassen warm und ruhig im Vertrauen,
und anzufühlen wie ein Trinkgefäß.

Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste,
der nie erklang und atmete und küßte
und doch aus einem Leben, das verging,
das alles, weise eingeformt, empfing,
und sich nun wölbt, als ob er alles wüßte –
und doch nur Gleichnis ist und Stein und Ding ...



Und ihre Stimme kommt von ferneher
und ist vor Sonnenaufgang aufgebrochen
und war in großen Wäldern, geht seit Wochen
und hat im Schlaf mit Daniel gesprochen
und hat das Meer gesehn und sagt vom Meer.




Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles
zurückgegeben, was sie leise leiht,
und weit verteilt wie Brot in Hungersnöten
an Mitternächte und an Morgenröten
und sind wie Regen voll des Niederfalles
in eines Dunkels junge Fruchtbarkeit.

Dann bleibt nicht eine Narbe ihres Namens
auf ihrem Leib zurück, der keimbereit
sich bettet wie der Samen jenes Samens,
aus dem du stammen wirst von Ewigkeit.




Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam
und fließt im Liegen hin gleich einem Bache
und lebt so schön wie eine schöne Sache,
so leidenschaftlich und so wundersam.
In seiner Schlankheit sammelt sich das Schwache,
das Bange, das aus vielen Frauen kam;
doch sein Geschlecht ist stark und wie ein Drache
und wartet schlafend in dem Tal der Scham.




Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.




Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld,
wo ihnen alles Zorn ist und verworren
und wo sie in den Tagen aus Tumult
verdorren mit verwundeter Geduld.

Hat denn für sie die Erde keinen Raum?
Wen sucht der Wind? Wer trinkt des Baches Helle?
Ist in der Teiche tiefem Ufertraum
kein Spiegelbild mehr frei für Tür und Schwelle?
Sie brauchen ja nur eine kleine Stelle,
auf der sie alles haben wie ein Baum.




Alma Mahler-Werfel

Dann Mahler und Alma. Ich kann mirs nicht verbeissen, ihren ersten Akt aus Almas Tagebuch zu zitieren: Silvester 1901: Sie schlafen erstmals miteinander. »Er gab mir seinen Leib zur Verfügung – u. ich ließ seine Hand gewähren. Steif und in aller Pracht stand sein Leben. Er brachte mich zum Sopha, legte mich liebreich hin und schwang sich über mich. Da – im Moment, wo ich ihn eingehen fühlte, verlor er alle Kraft. Erschlagen lag er an meinem Herzen – er weinte fast vor Scham.« (Tagebucheintrag) – Erst an den folgenden Tagen jubelt Alma: »Wonne über Wonne«.

Viel später freilich, als sie Werfel angehörte, Sommer 1935: Alma und Franz Werfel reisen mit Anna nach Italien und treffen sich in Viareg-gio mit dem österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg. Der nimmt sie auf Ausflügen in einer von Mussolini zur Verfügung gestellten Staatskarosse mit – und hat eine kurze Affäre mit Anna. Dass seine Ehefrau Herma am 13. Juli 1935 bei einem Autounfall ums Leben kommt, fasst er laut Elias Canetti als Strafe dafür auf.
Also auch hier etwas „Mario und der Zauberer“. Di Mussolini-Zeit


Sommer in Forte dei Marmi
Wo Thomas Mann Urlaub machte
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbrachten Künstler, Adelige und In-tellektuelle aus ganz Europa hier ihren Sommer. In Forte dei Marmi, genauer im historischen Café Versilia im Stadtzentrum, trafen sich in-tellektuelle Berühmtheiten.

Dazu zählten Aldous Huxley, Gabriele D'Annunzio und Thomas Mann. Letzterer soll hier sogar das Vorbild für den Zauberer Cipolla seiner Novelle "Mario und der Zauberer" gefunden haben.
In der Novelle „Mario und der Zauberer, ein tragisches Reiseerlebnis“ geht es um einen Ferienaufenthalt im fiktiven italienischen Ort Torre di Venere (als Vorbild hat Thomas Mann Forte dei Marmi gedient), den der Erzähler mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern von Au-gust bis September im faschistischen Italien verbringt und rück-schauend schildert. Die Familie plante ursprünglich einen ruhigen Aufenthalt, doch der Urlaubsort zog vor allem die Mittelklasse an und die Familie bekommt zu spüren, dass sie nicht willkommen ist.
Im Grand-Hotel wird ihr verwehrt, auf der bunt beleuchteten Veranda zu speisen, da sie als Fremde angesehen werden. Der Hoteldirektor bittet den Erzähler zu allem Überfluss um einen Umzug, da sich eine Dame aus dem italienischen Hochadel über den Keuchhusten des Sohns beschwert hat. Die Familie beschließt, in die Pension Eleonora zu ziehen, die von Signora Angiolieri betrieben wird. Doch obwohl in der neuen Pension alles zur Zufriedenheit ist, kommt keine richtige Ferienstimmung auf.
Es folgt eine weitere Diskriminierungen der Familie durch nationalis-tisch eingestellte Italiener; am Strand wäscht die achtjährige Tochter der Familie ihren Badeanzug, wobei sie zwangsläufig für kurze Zeit nackt ist. Dies widerspricht der öffentlichen Moralvorstellung und verursacht einen Tumult am Strand. Der Familie wird ein polizeiamt-liches Bußgeld auferlegt. Der Erzähler bereut im Nachhinein, nicht so-fort abgereist zu sein, aber die Nachsaison setzt ein und es wird ruhi-ger, weil viele Urlaubsgäste den Ort bereits verlassen haben.
Als sich der Zauberkünstler und Taschenspieler Cavaliere Cipolla im Ferienort ankündigt, sind die Kinder begeistert und möchten die Zau-bervorstellung sehen. Diese findet spätabends statt, und obwohl es el-terliche Bedenken wegen der späten Aufführungszeit gibt, werden vier Eintrittskarten in Erwartung eines Urlaubshöhepunktes erworben. Auf den Stehplätzen haben sich Fischer, der Bootsvermieter und auch Mario, der Kellner vom „Esquisito“, eingefunden. Cavaliere Cipolla betritt mit erheblicher Verspätung die Bühne.
Cipolla ist ein alter Mann, er zeigt sich dem Publikum in klassischer Zaubererkluft mit weißem Schal und Zylinder. Der Zauberer hat eine Reitgerte bei sich. Auf der Bühne befindet sich ein kleiner runder Tisch, auf dem eine Kognakflasche und ein Glas stehen.
Sehr schnell wird dem Erzähler und seiner Gattin klar, dass Cipolla kein Zauberkünstler, sondern ein hervorragender Hypnotiseur ist. Ei-nem vorlauten jungen Burschen befiehlt er, „angestrengt-überlang“ die Zunge herauszustrecken. Es folgen arithmetische Kunststücke und Kartentricks. Während eines solchen kommt es zu einem kleinen Wil-lensduell, das der Hypnotiseur souverän für sich entscheidet. Im Pub-likum wird eine spürbare Antipathie gegen ihn deutlich, doch die „Anerkennung einer Berufstüchtigkeit, die niemand leugnete“, erlaubt keinen offenen Ausbruch des Unmuts. Es folgen Kunststücke wie Gedankenübertragung und Cold Reading; Cipolla veranlasst Zus-chauer, bestimmte Handlungen auszuführen und findet Gegenstände, die sie versteckt haben.
In der nachfolgenden Pause erwachen die Kinder aus ei-nem Kurzschlaf. Die Eltern finden nicht die Kraft, die Vorstellung zu verlassen – auch wegen des Bittens der Kinder, bleiben zu dürfen; der Erzähler gibt als weiteren Grund für das Bleiben den Reiz des Merk-würdigen an, der schon auf der gesamten Reise („im Großen“) spürbar war und nun auch in dieser Vorstellung („im Kleinen“) seine Wirkung ausübt.
Im folgenden zweiten Teil der Veranstaltung wird ein junger Mensch zur Sitzbank, eine ältere Dame erzählt im Hypnoseschlaf von Reise-eindrücken aus Indien, ein militärisch wirkender Herr kann den Arm nicht mehr heben, und schließlich folgt Frau Angiolieri dem Cavaliere Cipolla in willenlosem Zustand. Junge Menschen aus dem Publikum beginnen auf seinen Befehl hin zu tanzen, und das gesamte Publikum fällt in den Tanz ein. Die Kinder amüsieren sich in ihrer kindlichen Unschuld köstlich, und der Erzähler drückt nochmal sein Bedauern darüber aus, mit seiner Familie geblieben zu sein.
Auf dem Höhepunkt der Veranstaltung befiehlt der Gaukler dem Kellner Mario, zu ihm zu kommen, und spricht ihn auf das Mädchen Silvestra an. Mario äußert Liebeskummer ihretwegen. Nun wird ihm in Trance suggeriert, die Geliebte stünde vor ihm, worauf er „sie“ - tat-sächlich aber Cipolla - auf die Wange küsst. Als Mario zu sich kommt und mit entsetztem Ekel feststellt, in welcher Lage er sich befindet, flüchtet er von der Bühne, dreht sich allerdings im Laufen um und er-schießt den Gaukler mit einer mitgeführten „kaum pistolenförmige[n] Maschinerie“.
Die Familie verlässt die Vorstellung im losbrechenden Aufruhr; das fatale Ende wird vom Erzähler aber zugleich als höchst befreiend empfunden. Klaus Maria Brandauer hat die Novelle verfilmt. (Aus Wikipedia)
DATEN
Heute gilt das verschlafene Seebad am Ligurischen Meer als Geheim-tipp der italienischen High Society. Das Städtchen steht für gepflegten Luxus unter leinenen Sonnenschirmen am kilometerlangen Sandstrand, für Wasser-, Rad- und Bergsport, Edelboutiquen und kulturelles Nebenprogramm.

Der Strand der toskanischen "Perle am Meer", wie der mondäne See-ort von Liebhabern genannt wird, erstreckt sich über fünf Kilometer zwischen den Flüsschen Fiumetto im Süden und Cinquale im Norden. "Forte dei Marmi" heißt wörtlich "Festung der Marmorsteine". Die ersten Siedlungen in dieser einst sumpfigen Gegend gehen auf den Marmorhandel zurück.

Buonarotti zeichnete Straßen-Projekt

Das Renaissance-Allroundgenie Michelangelo Buonarotti wurde im 16. Jahrhundert von Papst Leopold X. beauftragt, das Projekt für eine Straße von den Marmorbrüchen bei Massa und Carrara in den Apuani-schen Alpen bis ans Meer zu zeichnen. Der Künstler waltete seines Amtes und es entstanden sowohl die Straße als auch der heute noch vorhandene 300 Meter ins Meer ragende Steg, von dem damals der begehrte Stein auf Schiffe verladen wurde. Heute bewundern dort Einheimische und Besucher den Sonnenuntergang.

Im 17. Jahrhundert kamen dann Fischer, Bauern und Arbeiter aus den Steinbrüchen. 1788 wurde unter der Ägide des Großherzogs Leopoldo I. das Wahrzeichen der Stadt, "Il Fortino", "die kleine Festung", im Stadtzentrum errichtet. Den wahren Aufschwung erlebte Forte dei Marmi allerdings erst mit dem Tourismus nach dem Zweiten Welt-krieg, als der Ort von italienischen Industriellen zum Sommerparadies für "VIPs" erklärt wurde.

Kulturelle Abwechslung

Das "Fortino" beherbergt heute das Museum für Satire und Karikatur. Interessierte können sich dort eine ständige Ausstellung mit Expona-ten von der Antike bis zur Gegenwart anschauen. Wem das nicht reicht, dem steht eine Fachbibliothek mit Multimedia-Archiv zum Thema zur Verfügung. Auch darüber hinaus bietet das etwa 8500 Einwohner zählende Städtchen - von Insidern nur "Forte" genannt - kulturelle Abwechslung. Es gibt zahlreiche kleine Galerien, die vor al-lem in den Sommermonaten wechselnde Ausstellungen zeigen. Au-ßerdem liegt Forte ganz in der Nähe der wichtigsten Kulturstädte der Toskana: Nach Lucca, Florenz und Pisa ist es selbst mit den regionalen Bummelzügen nur ein Katzensprung.

Im Zentrum haben Besucher zahlreiche Bars und Cafés zur Auswahl, allen voran das historische "Café Versilia" an der Piazza Garibaldi. Was das Wohnen angeht, so reiht sich an der Strandpromenade ein Vier-Sterne-Hotel ans andere - schön versteckt hinter Oleandern und Palmen. Wer Einfacheres sucht, findet auch billigere Pensionen im Ortsinneren.

Sportliche Urlauber können in den nahe gelegenen Apuanischen Alpen wandern oder klettern. Auf dem Meer tummeln sich Wind- und Kitesurfer. Nicht verzichten sollten Besucher auf ein Fahrrad. Denn das Städtchen ist - für Italien eine Seltenheit - vollständig mit Fahr-radpisten ausgestattet.
Katie Kahle, dpa


Luni

An der Grenze zwischen Ligurien und der Toskana, in der Gemeinde von Ortonovo (SP), an den Ufern des Flusses Magra, liegt Luni. Die alte italienische Stadt, von der heutzutage nur die Ruinen geblieben sind. Die Zone war bewohnt seit dem Paläolithikum, aber die Stadt wurde schon Anfang des Zweite Jahrhundert v. Chr. gegründet und sie war in römischer Zeit berühmt für seinen Hafen, von dem beladene Schiffe mit Marmor aus den Apuanischen Alpen abtransportiert wur-de. Im Hochmittelalter hatte Luni eine Wohlstands-Periode unter die Führung der Bischof-Grafen, insbesondere im X Jahrhundert. Nach der Malaria und vor allem nach der progressiven Versandung des Ha-fens kam das Ende für die Stadt. 1058 zog die ganze Bevölkerung nach Sarzana um. Die archäologischen Grabungen in den letzten Jah-ren konnten aber die wichtigsten städtebaulichen Phasen der Stadt klären.

In der Zeit Dantes spielten die Bischöfe von Luni noch eine Rolle. Aber am bekannesten ist die Legende des Schwarzen Christus von Lucca, der aus dem Heiligen Land hier in einem Fischerboot angekommen sein soll, er habe den Wunsch geäussert, nach Lucca transportiert zu werden und es habe eine wilde Jagt gegeben, er, verfolgt von den Fischern von Luni, die ihn für ihre Stadt haben wopllten, ergab er sich erst, als ihm versprochen wurde, dass man ihn nach Lucca bringen würde.





Dante


7. August 06: Dantefahrt. Und Dante in meinen Dankesbriefen :

Ich hab eine Dante-tour gemacht, er war ja "im Exil" in dieser gegend hier, in der Luningiana,und hab erlebt und geschrieben, einen zyklus gedichte und mich spirituell aufgeladen, geflogen!!! Er ist der grösste aller dichter, und das: weil im zentrum immer diese all-einheit und die liebe und das licht stehen!
Und ich ´bin froh, dass ich all das an meinem geburtstag geschenkt bekommen hatte!!

Wir fuhren wie selten Richtung Massa, Dann die kurvige Strasse nach Fosdinovo zum Castello Malaspina. Im Kopf hatte ich wohl Mulazzo mit Dantes Schlafzimmer und Blick hinab in eine Schlucht, das war vor 20 Jahren mit Jürgen Manthey gewesen. Gast war der Exilant Dante bei Mulazzo Malaspina 1306/07, daher ja auch das Dantejahr jetzt. Und suche das Tagebuch von 1974-76 heraus… Ist es aufge-zeichnet, was überschneidet sich? Damals…

Nein, es ist nichts aufgeschrieben, nur: Ich will an disem Tag allein sein.

Doch in Fosdinovo jetzt zum erstenmal das Castello. Mit der Mu-seumsführerin und dem heutigen Besitzer eine Diskussion über Bio-energie und Geister. Ja, Dante war da, es gibt sogar ein Dante-Zimmer. Und der Wunderblick auf die Alpi Apuane und das Meer. Im XX. Gesang der Hölle beschreibt Dante diesen Blick (V46). Aber nicht Dante, auch nicht die Herren hier, sondern die Tochter von Gia-como Malaspina, Bianca Maria Aloisa, die sich in einen Stallburschen verliebt hatte, sich auch durch Folter (in der Folterkammer, die gezeigt wird mit grässlichen Werkzeugen) , von der Liebe nicht abbringen liess, und 1636 lebendig begraben, eingemauert wurde in einer Zelle zusammen mit einem Hund (Treue) und einem Wildschwein. Vor kur-zem fand man ihre Knochen. Und die anwesenden Frauen erzählten, dass dort andauernd Geräusche zu hören seien, und eine weissver-schleierte Frau am Fnster eines der Säle öfter erscheine, von einem Parapsychologen auch fotografiert worden sei.

Die Kraft der Liebe ist stärker als jede Heldentat im Krieg.
Fosdinovo. Dante,Castello Malaspina
Maria Bianca Aloisa Tochter von Giacomo Malaspina
Verliebte sich in einen Stallburschen
28. Sechzehnhundertsechunddreissig und überlebte
29. Bis heute durch starke Gefühle und Lebenskraft
30. Alle Taten der Malaspina an die keiner mehr denkt
31. Sie aber bewegt immer noch alle
32. Eingemauert mit einem Hund und einem Wildschwein
33. Zur Strafe nach der Tortur die sie nicht brach
34. Man fand ihre und der Tiere Knochen nicht nur
35. Nein als Weisse Frau
36. Kehrt sie bis heute Nacht für Nacht zurück
37. Liebe zu verlangen - ihr Recht
38. Denn Liebe ist Leben für immer.


Gezeigt wird aber in der Camera del Trabochetto im südlichen Turm, „torre die tormenti“ ein rundes Loch, eine Falltüre, wo der Verurteilte hinabfiel in aufgerichtete Messer.
Doch soll auch die Cristina Palavicini ähnlich wie die Lucrezia in Lucca (vgl. Der Verweser),
die überwacht wurde, denn sie sollte einen Erben gebären (curatores ad ventrem), es war schon einer zum Unterschieben ausgewählt wor-den für Ippolito Malaspina, um die Erbfolge nicht an den Rivalen fal-len zu lassen. Doch sie gebar den Carlo Augustini.
Sie soll ein geiles und grausames Weib gewesen sein, in ihrer Camera hatte sie ebenfalls solch eine Falltür , wo sie ihre Lüstlinge reinfallen liesss. (1671 die Geburt).

Damals waren die Malaspina allmächtiug, konnten sogar die Todes-strafe verhängen.
Im Verweser hab ich die Lucida-Taten so beschrieben:

Und dann assen wir in einer kleinen Gastwirtschaft, tranken lokalen Wein und wunderten uns, dass die bergige Luningiana Wein hat.
Und dire Bedienerin sah mich komisch an, eine pikante Frau, so als wäre sie die wiedergekehrte Binavca Maria. Lüstern sah sie mich an. Ein Rundgang durch die engen Gassen bis zum Kirchplatz, von wo man weit, bis zu unserem Portovenere sehen konnte, eringeschlossen von Bergen, schien es wie an einem See zu liegen.
Ich ärgerte mich, dass ich weder Filmapparat noch Foto mitgebracht hatte.

Wir wollten noch nach Castel Nouvo Magra, wo der Frieden „Pace di Castel Castelnuovo“ 1306 zwischen den Marchesi die Malaspina und dem Bischof von Luni durch Dantes Vermittlung in Castelnuovo und Sarzana besiegelt worden war.

Es war eine Fahrt durch die Luningiana. Der VII. Gesang des Läute-rungsberges aus der „Divina comedia“ ist der Luningiana gewidmet: (und erinnert an die Seligpreisungen) „Hier musst du, Leser, deine Augen schärfen / Weil jetzt der Schleier schon so fein geworden, / Dass man gewiss ihn leicht durchdringen könnte, / Und alsdann hab ich jene edlen Seelen / Schweigend den Blick nach oben richten sehen / wie in Erwartung bleich und voller Demut (19-45).

Dann fuhren wir über die Magra ins Monastero S. Croce del Corvo. Wunderten uns über dieses weite nautische Gebiet mit den vielen Booten und der grünen Magra, licht, hell, in der Ferne auch die Höhen des Apennin: die Pania de la Croce. Und das arme Kloster ist nur durch den Garten eines riesigen Kitschbaues / Hotel 5 Sterne zu errei-chen, gebaut um 1900, doch das Backsteingebäude des Klosters wirkt strahlt noch immer mit viel Zeit in den Mauern, und ein Ausruhen im Klosterhof der Barfüssler, Karmeliter ist wie ein seelisches Auftan-ken. Und die Kapelle mit dem Schwarzen Christus, mit ähnlicher Le-gende wie der Schwarze Christus von Lucca, gehört zu diesem Aura-gefühl hier.
Es gibt einen Brief vom Frate Ilario (um 1315) an den ghibellinischen Condottiere Uguccione dela Faggiuola, wo der Frate erzählt, Dante sei dagewesen und habe ihm das Manuskript des Inferno anvertraut. Doch es wurde nie gefunden. Freilich: Boccaccio hat den Brief in seinem Trattatello in laude di Dante benutzt.

Der Direktor der Centro Luningiana di Studi Danteschi, eine Filiale auch in Corvo, doch das Zentrum ist in Mulazzo, ist auch dieser Mei-nung, dass das Mnuskript hier in Ameglia war.

Dann fuhren wir wieder zurück und nicht vorbei an dem Landhaus von Hans D. und Luisa, unseren Freunden. Ein langes Gesporäch, und die Urne von Hans in der Hand, sprachen wir über den Todesfestakt für unseren Freund Hans, der edann auch im September 2007 an der Costa Bianca Magra Blick nach Palmaia und Tino und auf die Mar-morberge stattfand:





Letzter Freundes Ritus
Für Hans Deichmann

Verzweifelt antworten
was sich zuträgt/ in der Stube am Tisch
dem Bett wo du lagst mit dem Tod im Gesicht
dem stummen Mund

Deine Frau blieb
Sie spricht / täglich
Die Urne über ihrem Kopf
Sie / allein

An dem Capo Bianco
Sollst du
Zu deinem Hundersten
Endlich ins Meer
Versenkt / von unserem Boot
Aus / in die zögernd Ewigkeit


Und dann die Heimfahrt durch das unendliche Gewusel der Ferienleu-te am Strand, auf der Promenade, in Carrara, Massa, Lido di Pietrasanta, die Camaiore:

Wie viele Köpfe
Habe ich heute gesehn
Wie viele Beine Arme
Ein Milliardstel Teil dieser Erde

Was lässt mich da mehr sein
Als sterblich / mit all diesen Milliarden Köpfen
Armen Beinen / im Ich-Sein
Ephemer wie eine schöne tanzende Mücke
Im schnellen Lichtzwang.



Meer am 7. August
Und das Meer / Gewusel der „Prole“ und
Die verkleideten Schönen mit Haut / überall da.
Massa der Ichs / wie ich eines bin /mit dem Tode verschwägert
Ahnungslos lebend / das Meer die grosse Träne / sie alle
wartend im Grün / im Blau – als wären es nicht
Umgekehrte Silben von Gras

Was mich aus macht
Gewusel schöner / aber
Verkleideter haariger Früchte
Ich fahre vorbei / das köstliche Leben
Nicht greifbar

Unbegreiflich im Vielen
Unbeschreiblich/ unfähiges Glück

Halte still / leb / und beb
Such nicht im sterilen Hirn dem Web
Schirme versprechen wachsen
In der verkehrten Silbe von
Gras


DAS VERGESSEN IST GROSS
Jetzt mein Dante-Tag
Nach achthundert Jahren IST
Bald vergessen

Und Ägypten vor fünftausend Jahren
Ich habe es gesehen
Tal der Könige Pyramiden
Das leere Grab Chephrens

Und alles wieder vergessen
Es schwindet mehr und mehr
Wie die Zeit löscht mit mir
Jahrhundete / Aus
Jahrtausende Nichts / es
Geht alles wie ein kleines Geräusch /vorbei






Heute am 9. kam auch eine Geburtstagskarte von Hella mit Unend-lichkeitszeichen und 7/8. im spiel und „Wiesenglück im Gewitter“.

Zu Hans und Maya Moltke
Widerstandsgeschichte




VOR JAHREN WAREN WIR MAL DA
Nach Jahren werden wir einmal hier gewesen sein
werden

Woran sind wir DA zu er-messen?
Am Augen-Schein, Augenschwein, das arme Tier
Doch die Formen sind schön / diese Jahrmillionenmuschel die
Ich betaste und die Schärfe der Felskruste lavattreu immer noch
Risse foppen denn schliesslich ists Eines / kompakt durchdrungen
Von versteinter Erinnerung
Sprachzeit ist messbar
An dem Augen-Blick
Vergangen ist hier nichts
Als unser Leben.

DIE STUNDE RIESELT,
und wie kühlende Milch fließt
der weiße Sommerschatten über mein Haar.
Greifbares Immer sengender Pappelfeuer,
mein Leib, die Lichtschuppe im Sand..

Und L. weinte fast, als wir diesen Ort an der Festung Longone, wir sagen die Bucht des Gefängnisses, Porto Azzuro, wieder einmal ver-liessen.

Gedicht
Was aber heisst, etwas mit seinem
„ganzen Sein erfassen“?
Augen-Block wort los
Kopf leeren lehren: JETZT
Wie die Frühlingslampe schwingt
Im Glöckners Moor einmal als Kind
Mit frischgewaschenen Sinnen
Und Tränen:

GLÖCKNERS MOOR IM VORFRÜHLING
Die Erde wächst.
In der Schilfflöte zittert der Wind.
Hier glüht noch immer
die Frühlingslampe, mein Herz,
es zerbricht im Zink der Kokel das Eis,
unter der Weide springt in die Stille
der Weißfisch.
Auf der Sandbank knirscht schon
sommerdurstig die Vogelspur.
Im Kuckuck ruft vergangen die Zeit.

Ein Kinderhaiku?

Gibt es dennoch wirkliche Möglichkeiten, uns anzunähern, die Grenze zu überschreiten: Auferstehung bliebe so nicht nur der Bibel vorbehal-ten,






VIII
DAS MEER


Lichter oben in Pedona sind aus Agliano abends wie eine Verheissung zu sehen. Die ganze Nacht über. Zwingt Zum Dasein: Andere müssen jetzt aufstehn, der Wecker klingelt, um “zur Arbeit “ zu gehen, das weckt in mir diese Härte (ich denke an unsere Ausflüge mit Koni und anderen Klassenkameraden ans Meer).
Mich bemühen, alle Verletzungen (auch Hannah) nicht heftig abzu-reagieren, sondern im Nachdenken an jene Gemeinsamkeit, nur einmal als Mensch da zu sein, das Leben SO anzuerkennen. (Ein Rückholen der Rückbindung, der re-ligio?) Gut- Sein, nicht einfach nur Ver-achtung fürs Dasein mit den anderen zu empfinden?

Und diese Spannung? Janus bestimmt bei den Griechen das Ge-schlecht der noch Ungeborenhen.



PORTOVENEE /LE GRAZIE



POTOVENERE. DIE UNSCHULD DER LANDSCHAFT UND WIR.
WIESO BIN ICH EIGENTLICH HIER?


Der Himmel ist blau. In der Ferne das Meer, ein Strich. In allen Din-gen diese Unmög¬lichkeit, es stimmt nicht, dass Dinge hier auf der Er-de ganz sein können, wenn wir es nicht sind, das ist eine Lüge. Sie sind nicht mehr heil. In jedem Baum inzwischen, jedem Grashalm die-se Un¬glaubwürdigkeit, an der wir mittragen, weil wir in jeder Sekunde dazu beitragen, dass etwas nicht stimmt - wir zu ohn¬mächtig sind, et-was daran zu ändern, und doch meinen, es ändern zu können. Unnöti-ge Schuld?


Ich erinnerte mich an diese Zustände im vergangenen Sommer, und als hinge alles, was hier wie überall in der Welt geschehen war, mit diesen Zuständen und mit der Auflösung der Wirklichkeit zusammen:
"Ja, ich hatte furchtbare Angst, dass es wiederkommt, das stimmt. Und dann kam es ausgerechnet im schönsten Sommer wieder, Urlaub, nennt man es: ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen: Das alte Seeräubernest mit der steilen engen und vielfarbigen Häuserfront am kleinen Hafen, hier lagen wir nachts mit dem Boot. Und so habe ich es in Erinnerung: Es ist alles so friedlich. Schön. Aber die Gegend ist voller Grauen, auf Schritt und Tritt Grauen: Am Tag waren wir in San Terenzo gewesen, Shelley hat hier gewohnt, mit Mary Shelley, seiner Frau, die Frankenstein geschrieben hat; Shelley ist von hier nach Livorno gesegelt und vor Viareggio im Sturm mit seinem Boot untergegangen.

Alpi Apuane. Die „Linia gotica“ und die Partisanen

Zuerst fahren wir, als müßten wir die Gründe und Hintergründe dieser Zustände und aller Auflösung aufsuchen: nach Bardino, wo Reders Deutsche zwanzig Männer erschossen hatten. In San Terenzo die PzAA 16., sie wütete in Valla das Dorf war verwüstet worden, an der Mauer Kinder, erschrockene große Augen, Frauen mit schreienden Säuglingen im Arm, stehen starr vor Schreck da, einige ringen die Hände, bitten, flehen, doch brutal mit dem Gewehrkolben werden zwei jungen Müttern die Köpfe eingeschlagen, dass sie in ihrem Blut liegen bleiben, die Säuglinge daneben, eine andere Mutter hebt das schreiende blutverschmierte Kleine auf, nimmt es zum eigenen, hält zwei im Arm, arme Körperchen, noch nicht zum Bewußtsein erwacht, Gottseidank? Und jetzt stehen sie alle da, stumm, nur der Wind ist zu hören und aus der Ferne Schafsglocken. Einige Vögel zwitschern in den Bäumen. Dann das regelmäßige und gnadenlose Knattern, das Mähen der Maschinengewehre und MPs, die Wände in Valla geben es wieder, wenn man die Augen schließt, ich habe es gehört, auch in Bardino, wo dreiundfünfzig Menschen oben an den Bäumen hingen, sich langsam mit dem Wind drehten, die Gesichter verzerrt, ich habe es gehört auch oben am Ende eines engen Tales unter dem schroffen Gipfel des Pizzo d´ Ucello: Vinca, das zu Fivizano gehört, und muß es in deutscher Sprache sagen, schäme mich für jedes Und, jedes Oder, jedes Komma, und dann kommen wir vorbei. Und wir kamen auch an dem Viehgatter vorbei, wo die 29 Frauen und Säuglinge gefunden worden waren, mit aufgeschlitzten Leibern, bestialisch zugerichtet, zum Teil noch im Tode vergewaltigt. Das jüngste Kind war gerade zwei Tage alt, im Bauch einer Mutter ein Ungeborenes, das vor der Geburt sterben mußte. Und am 26. August 1944, dem dritten Tag des Gemetzels von Vinca, notieren die Ic und Ia der 14. Armee stolz in ih-ren Tgesmeldungen, natürlich in deutscher Sprache: „Bandenunter-nehmen im Raum 143/50-51-52-64 abgeschlossen. Bisher 1480 Ban-denangehörige, Bandenhelfer und Bandenverdächtige erfaßt. 332 Banditen im Kampf niedergemacht. 600 Einzelgehöfte und Bandenunterkünfte sowie 17 Ortschaften im Raum Monte Sagro, dabei Hauptlager Vinca, vernichtet.“
Als wir unseren Wein in der Certosa von Farneta holten, erzählten uns die Padres vom Massaker in ihrem Kloster. Wenn wir zu Michelange-los Steinbrüchen fuhren, kamen wir zum Dorf Bérgiola Foscalina, wo die Dörfler in der Schule bei lebendigem Leib mit Flammenwerfern verbrannt wurden. Von Fucécchio, von Pontremoli, vom Cisa ganz zu schweigen....


Portovenere
In der Nacht dann Portovenere, ich lag halbnackt in der Kabine ne-ben Hannah, da hatte ich wieder die Zwangsvorstellung, nicht aus meinem Körper herauszukönnen, in ihm eingesperrt zu sein, wie jeder Baum, wie die Erschossenen an der Mauer, die Gehenkten, aber auch wie wir alle, wie Hannah, wie unser kleiner schwarzer Hund; es ist je-desmal entsetzlich, als stehe eine Hinrichtung bevor. Ein Bekannter aus Pistoia leidet darunter, dass er im Körper festsitzt, und hat mich schon vor Jahren auf diesen tödlichen Gedanken gebracht; seither werde ich ihn nicht mehr los. Was ist schlimmer, diese Fleischzelle oder der Tod: - als Befreiung? Doch niemals hinab, eingezwängt ins Erdloch. Nein frei, frei zu Asche und Rauch verstreut in die Luft, ins Gras zwischen die Bäume, die weiter in die Ferne und aufs Meer se-hen, im Chlorophyl belichtet. Die Angst lebendig begraben zu werden oder in einem engen Schacht, einer Betonkammer oder einem Rohr, einem Brunnenschacht zu ersticken, hat mit dieser alten verdrängten Körperangst zu tun. Wir könnten nicht leben, würden wir dieses Be-wußtsein, im Fleisch unentrinnbar eingemauert zu sein, nicht dauernd vergessen. Ich holte den kleinen Hund in die Koje, preßte sein zottiges Fell an meine glatte Haut, als ließe sich diese aufreißen und als könnte ich so verschmelzen mit etwas das draußen ist; ich ließ den Gedanken in mir kreisen, dass doch alles aus den gleichen Elektronen besteht, der Körper nur ein Sieb ist, die feste kompakte Körpergestalt nur eine Täuschung, ein Phantom; doch auch diese Übung beruhigte mich nicht, es war ja gerade der Gedanke, das Bewußtsein bis hin zur Übel-keit und zum Schwindel, die mir zusetzten. Es war ein Bewußtsein, das freilich erst einsetzt, wenn sich die gewohnte Vorstellung auflöst, dass ein Körper ein Körper, ein Hund ein Hund, eine Frau eine Frau ist, wenn Namen nicht mehr schützen, alles über¬real ist, namenlos Haut und Knochen. Ein vergessenes Wissen, dass wir ins Fleisch ge-fallen sind, anderswohin gehören, und dass solche Angstzustände uns näher ans Erwachen bringen.

(In uns flüstern die Phantome
alle Toten die vergingen
wir sind jetzt die armen Söhne
ihre Zeit, die sie nicht lebten
Ihn vor allen Dingen.)



Und überlege hier, wie so der Zufall spielt. Wie hängt eigentlich Mee-resurlaub, Verbrechen und Wahnsinn zusammen. Wie kann er zu-sammenhängen, Und erinnere mich an unseren Merresausflug an die Adriaküste:


MALI LOSINJ

Der Ältliche da liest, er liegt zwischen lauter verschlossenen Spalten, unter Schirmen und Illustrierten, verschmiert mit Nivea und Bronzol, geschlechtslos der Brusthof, die Warzen liegend. Und der Ältliche liest, der sonnengebräunte Schwanz – eine Seltenheit hier auf der pa-radiesischen Konsumwiese – reckt sich der untergehenden Sonne ent-gegen. Ich bin ziemlich erstaunt (denn mir war die Lust beim Lesen dieser Literatur vergangen), wie der Mann, Mensch selbstvergessen mit der linken Hand nachfasst am Glied, als nun der gefesselte spani-sche Pater von Simone, die den Rock abgelegt, den seidigen Schlüp-fer, die Hose genüsslich abgestreift, traktiert wurde auf nacktem Hin-tern. Selbstschuss für den geilen Pfarrer, seine Pistole reckte sich, als sie ihm die Kehle anfing zu drücken, da soll er aus Sauerstoffmangel im halben Ersticken halluziniert haben wie Erhängte; das ganze Leben, ein Film überflutet vom pisernden stauchenden Krampf des Orgasmus. Der Autor, dieser Kryptofaschist, ich höre, er kam nachher doch in den Widerstand, erschrocken wohl, wie die Phantasie hemmungslos die Wirklichkeit zerstören kann.

FKK hingegen passend zur milchigen Mattscheibe, wie ein Kunstflug aseptisch über der schönsten Gegend. Fast lob ich mir da Bataille, Salò, den natürlichen Ekel. Hier wurde er überholt, hier hat man ihn integriert.
Ein Graukopf neben mir liest, ich schiele hinüber, er liest die Augen-geschichte: Simone, die in Sevilla Fellatio treibt mit der glänzenden Eichel des lustbrüllenden Paters; wie sie in den Taufkelch pisst und der trinkt. Die schreckliche Sehnsucht nach den stärksten Gerüchen, dem fadesten Geschmack, sich der Existenz versichern durch Hinfas-sen, Lutschen an Worten, Lecken an der Nomina, Fressgier des tieri-schen Auges. Ekstase des Schweinischen, gröbstes Hiersein: in dieser versunkenen Umnachtung saugen zwischen den Beinen am Scham-haar, Eingang, wo wir diese Welt betreten, die Zunge an zarterer Lippe und springendem Saft, trinken das feine Stöhnen, das aus dem dufti-gen Atem des Mädchens von da oben herab kommt.

Weit überschwemmt, am Meer, am Meer –
die Freiheit siecht dahin im heißen Sand.
Die Kinder nur und jene kleine schwarze Katze,
sie sind noch hier.

Mein Blick geht außen um
und fängt die Gier sich ein,
das schwarze Dreieck,
dieser Ein- und Ausgang aller Menschenkinder,
den man als Ton und Sprung erfahren kann,
ruht hier nun träg als reine Spiegelung
im ausgedörrten Hirn
als wärs ein schweres Ding.

Nahm den Schwanz, nachdem ein Leben den nackten Paterkörper er-schüttert, durchzuckt hatte, steckte die Rute in Simones nassen Spalt, die würgte weiter die Kehle, der Atem blieb weg, der Steife in der gei-len Vulva, der dunklen Höhle, aus der er gekommen war, auch er, die Kreatur. Und Simone spürt nun den Samen des Sterbenden, einen Er-guss in ihr, Erguss für die Lustmörderin. Und der Lesende auf der FKK-Wiese röchelt leise und schmatzt mit den dünnen Lippen, wa-ckelt mit dem Graukopf, kann sich nicht halten. Jetzt kommt das mit dem Auge, dem toten Glaskörper, dem ehemals durstigen und im Turm (trink oh Auge, oh, und die Wimper, und die Tränen, was sie schön hält, die Wimper, Häute! herausgerissen nun im schweinischen Buch von Bataille natürlich, gelesen von diesem alten Arschloch, der den Pimmel kaum halten kann und ins Meer rennt, um sich zu kühlen. Und ich sagte noch: Darf ich? Er japst: bitte! Das Priesterauge wurde zwischen Simone und den Autor getan, das rollte auf ihrem nackten Bauch wie im Akt, und dann verstaute sie das blassblaue Auge tief in ihre behaarten Vulva, Same des Autors ergoss sich darüber; das üppige Schamhaar dampfte; mir scheint, hier riecht’s nach Fäulnis und Fisch.

Ein Braunschweiger war’s stellte sich heraus am gemeinsamen Tisch im großen Abspeiserestaurant von Val Alta, in der Nähe von Rovinj, Istrien, wo herangeführt wurden auf kleinen Servierwägen die von den Deutschen gewünschten Speisen. Kraut durfte nicht fehlen und Bier nicht. Brav saß man da bei Tuborg und Kaffee, Nudelsuppe und Hackbraten. Manchmal, nicht oft, serbische Gerichte. Nein, in den Fe-rien nichts anderes als zu Hause, familiär, die gleiche gewohnte Um-gebung, wenn auch auf FKK-Weise.
Der kühle Norddeutsche ist gar nicht kühl, ein wenig förmlich. Kleine Verneigung, bevor er am Tisch Platz nimmt. Ich bin anfangs schock-iert, als ich ihn angezogen wieder erkenne. Der Hängende fest in der hellen Sommerhose (mit Bügelfalten), der Kopf grau, aber mit sehr frischem Ausdruck, grünlichblau die Augen, der Mann da, immer noch sprühend vor Energie und von einschüchternder praktischer Helligkeit im Kopf, vollgestopft mit technischen Details, dass ich Komplexe be-komme und auch nicht mitreden kann bei so vielen praktischen Bei-spielen. Im Augenblick aufgehen, davon war dieser Mann ganz und gar ausgefüllt.
Der ehemalige Panzeroffizier ist, darauf ist er sehr stolz, aufgestiegen aus einer braven Tischlerfamilie zum Versicherungsrechtsberater. Er kennt sich aus. Er muss nicht in jedem Urlaub Orte aufsuchen, wo er im Krieg war, um zu sagen: Sieh, Mutti, hier bin ich damals Chef ge-wesen. Er weiß zu erzählen von Braunschweiger Originalen. Ich fühlte mich an Kaiseraschern erinnert und an Kaiserlautern, US Army, Dirnen im Jägerhof. Doch geht es nun um das verstorbene Braunschweiger Original, den Rechen-August, der einmal, so der Graukopf, als eine Art Computer bei der Braunschweiger Bank eingesetzt worden war. Er bekam alles raus, der Rechen-August, jeden Fehler, aber sonst, na ja, war er ein völliger Idiot, dumpf wie ein Tier. Doch lang hielt’s den Panzeroffizier nicht bei dem Thema. Jugenderinnerungen schlugen durch: Das waren noch Zeiten: Nulluhrdreißig ist die beste Zeit zum Abmarsch, auch für Autobahnreisen; auch wir sind aus der Kaiser Wilhelmstrasse zu Hause Richtung Süd zu dieser Stunde aufgebro-chen. Unser Spaziergang nach Paris im Jahre vierzig begann ebenfalls um Nulluhrdreißig. Und Gleiwitz? Auch, ja. Nur der Angriff war selbstverständlich später: Vieruhrfünfundvierzig. Ich bin kein Natio-nalsozialist, das sollen Sie nun nicht glauben, war’s auch nie. Trotz-dem: die Feinde haben die Kriegspropaganda über das Kriegsende hi-naus und bis heute durchgehalten. Das Bild von Deutschland, von Führer und Reich, haben sie diktiert und diktieren es bis heute. Wer denn sonst als Hitler hat dem deutschen Arbeiter Brot und Arbeit ge-geben, damals, als die Scheiß-Demokratie versagte, das Parlamenta-riergeschwätz, das sich bis heute wiederholt… aber lassen wir das. Den Krieg haben wir ja doch noch gewonnen, mein Herr, mit unserer starken Wirtschaft und harten D-Mark. Durch Kriegswirtschaft hatte Hitler das Reich gerettet…
L. verwies wütend auf die Fosse ardeatine in Rom, ereiferte sich über den Tisch, verschüttete vor Aufregung den Rotwein, pardon, der Nachbar hilfsbereit und höflich, winkt energisch den Kellner herbei, und im Spaß: Sofort, he, weg, dann ein paar russische Brocken, dro-hend im Spaß, immer mit zwei erhobenen Fingern, Tatatata…

Kriegsrecht, Haager Landrecht, sagt der quicke Graukopf aus Braun-schweig in Val Alta, ist doch klar. Keine regulären Soldaten, die ge-fährden doch alle, diese Banden. Sie gefährden Zivilbevölkerung und Heer, sie dürfen deshalb abgeurteilt werden, auf höheren Befehl: 1:10 wars bei Kappler, gut – aber die Italiener in Albanien, 1:200, galt für die nicht das Recht?.

Der Feldwebel und fünf Soldaten legen die Bretter auf den zugefrore-nen Strom, müssen mit der Axt ein großes Eisloch schlagen, dann erst werden die Verurteilten gebracht, zweiunddreißig Grad unter Null ist es in jenem Winter 1943. Die Frauen stehen da, blaugefroren. Die Schweine da machen sich noch einen Spaß mit den jungen Frauen, reißen ihnen auch noch das Hemd vom Leibe, so stehen sie wie nackt-glänzende Madonnen in dem unendlichen Weiß und zittern und schluchzen. Manche wissen noch gar nicht, was sie erwartet. Der Feldwebel und zwei Männer greifen nach dem schmalen Brett, da schwebt ein Mädchen auf sie zu, sie fassen hart nach ihr, es ist ja das letzte Mal, die Schwarzuniformierten grinsen, tapsen den warmen Körper an, der letzte Mann legt Hand an: He, du Aas, du eisige Braut, und fassen zu, Partisanin oder Partisanenfrau, am Hintern, pressen die Brüste und Schenkel, ein letzter Schrei, langsam verschwindet der Frauenkopf im Eiswasser, taucht wieder auf, schöpft Atem, einer schlägt mit dem Gewehrkolben zu, und sie taucht unter die Eisdecke der Donau… die Nächste…





IRRE

Alexander hatten wir in Klosterneuburg, jener kleinen Stadt bei Wien besucht, von wo aus man den Weissen Berg sieht, die Schlacht liest du dann nach.
In einem Wiener Privatzimmer geschlafen. Dr. Navratil., der Psychia-ter, empfing uns nach einer unruhigen Nacht (Verkehr vor dem Fenster, zu dicke Federbetten), empfing uns in seinem Zimmer, vor dem drängelten sich die Patienten wie vor den Himmelspforten die Ver-dammten. Keine Einlassung, sondern Entlassung, flüsterte mir einer ganz plötzlich ins Ohr, dass die Stimme in der Muschel kitzelte und tiefen Eingang fand.
Als wir dann Alexander kennen lernten und auch seinen Mitpatienten O.T. (der einst Funker bei Generalfeldmarschall Paulus gewesen war) – jetzt im Irrenarzt-Zimmer, da dachte ich, die haben sich selbst im Kessel zurückgelassen. Die Schlacht war anders. Und das kann selbst-verständlich dem Verstand reichen.
Alexander saß vor uns mit vorgeschobenem Unterkiefer, er sah wie ein abgetauchtes Fischmaul aus. Oder wie ein uraltes Kind mit einem zu großen Kopf, in dem die ganze vergangene Welt drin liegen geblieben ist und freilich auch das Ende . So stand er nun vor uns und sagte etwas, das mich sehr anging:
In der Schule war ich froh
In der Klasse war ich immer so
Gelernt habe ich sehr viel
Zuhause und in zivil.*

War das nicht wie mein eignes Damalsstehengebliebensein, das auch Alexander in dauernde Trauer versetzt? Wie ein Elternhaus, das lange, das für immer verlassen wird, Spinnweben überziehn es wie die Jahr-zehnte, ein ganzes Leben in der Anstalt! Alles nun so alt und wie ver-steinert!
Im Park vor dem grünen Männerpavillon saßen wir (ziemlich verlegen) mit diesem kleinen Mann, der seine Linke so hielt, als stütze er sich andauernd auf einen unsichtbaren Spazierstock. Ein Teich vor uns, darauf Enten, die manchmal (für uns völlig unmotiviert) aufflogen, ein Leichenwagen, der sich im Wasser spiegelt und, wie ich meinte, das Wasser schwärzer kräuselte. Patienten in Anstaltskleidung kehrten die Wege, die alle hier zusammenzutreffen schienen, wo wir saßen, nein, wo wir mühsam an Sätzen bauten, denn ich meinte, so stumm zu werden wie er.
Waren Sie auch einmal Patient? Fragte er überraschend. Und ich: Nein, aber ich habe Angst, Patient zu werden. Er: Keine Ursache. Die Dinge und Menschen sind leider nur sächlich. Früher, da wurden sie schön gelöst: von Kunst und Gebet.
Ich merkte, dass er jenen unsichtbaren Halt, den ich für einen Spazier-stock gehalten hatte, wirklich besaß; er meinte später, es hänge mit seiner innern Frau zusammen, die sitze in der linken Brustgegend. Je-der habe eine innere Frau, mit der müsse sich jeder Mensch verständi-gen und vereinigen, dann erst sei Gott vorhanden, jederzeit: Gott hat gesagt, seid einst einig, seid Einverständnis zeigend, dass die Liebe erwacht… und was Adam in sich trägt und vorhat, den Geist erweckt, zu sagen: vielleicht habe ich den Mut, vielleicht auch nicht, Gott zu gehorchen, und einen Sohn, eine Tochter zu malen, aufzuschreiben, so wie es damals war!
Ich schob alles auf den Kessel, in dem er einmal gewesen war, ein Kreisen, eine Spirale, ein Dröhnen muss es gewesen sein. Vom Jüng-sten Gericht aber redete er nie. Er machte uns nur darauf aufmerksam, dass die Vögel im Park, z.B. Amseln, reden könnten. Sehr mitteilsam manchmal, sagte er: Amseln pfeifen heer im Wind. Alles sei Klang. Wichtig sei es, dies im Wissen zu hören. Die Vögel singen fast ohne Bewusstsein, sagte er. Es singe einfach aus ihnen heraus. Und so wür-den sie sich wundern über die STIMME, die sie zwar fühlen, aber nicht verstehen könnten. Auch wir müssten uns darüber wundern. Wir aber tun so, als wüssten wir Bescheid. Daraus entstehe der Krieg. Und die Sprache sperre die Seele in ihre Käfige, wie es auch mit den armen Vögeln geschehe, die nicht nur Patienten seien. Buchstaben aber: ver-trocknete Tränen. Wissen Sie das? Er sah mich durchdringend an: Je-des Ding ist nur ein zweideutiges Etwas… diese Leichtigkeit des Din-ges, ein anderes Wort dafür einzusetzen. Ich: Die feste Welt… Und er:… durch Kauf, ja. Und dass der Mann draußen sozusagen die Wahrheit stempelt und beiseite schiebt, die Wahrheit, die Ware wird, weil sie ja nicht mehr ist, sie wird aufgehoben durch die Währung und die Kraft des Geldes.
Und leise, fast unverständlich, was am Ausgesprochenen (ich nahm’s auf mit dem Magnetohr) zu entdecken und entziffern war:

Ich bin da,
aber/ ich weiß nicht
wann
ich kommen werde.
Das Denken der Ungewissheit
habe ich
wie mein Bruder.
Für die Ewigkeit besteht
das Licht
meines und seines.

Zögernd nur dürfen wirs
Hören, sehen
Nicht.
Der Klang allein ist in die
Wege geleitetes Zentrum.








Palmaria, die Insel Platens


Einladung nach der Insel Palmaria
[541] An den Freiherrn von Rumohr

1828.

Wo Spezias siebenbusiger Golf nach Westen hin
Sich öffnet gegen Korsika,
Stand ehedem ein Venustempel, jetzo ragt
Am Ufer eine kleine Stadt.
Ihr dehnt ein Eiland gegenüber lang sich aus,
Der Schiffer nennt's Palmaria:
Nur wenige Hütten zählt es, hier und dort verstreut,
Bewohner zählt es wenige;
Ölbäume stehn am minderschroffen Bergeshang,
Die meergewohnte Myrte blüht
Nach allen Seiten, Rebe gedeiht und Feigenbaum,
Den Gipfel krönen Pinien.
In einer Bucht am Ufer aber locke dich
Die kleine Villa halbversteckt.
Für diesen Sommer ist sie mein, und jeden Tag
Erquicken hier des Morgenwinds,
Der reinen Luft, des salzigen Bades Kühlungen,
Und ungestörte Muße mich.
Carraras Marmorberge steigen fern empor,
Zu ihren Füßen Lerici,
(Wo jenes Dichters Freund ertrank, und dann von ihm
Bestattet ward im Aschenkrug.)
Mit kahler Stirne ragen dort des Apennins
Bergrücken, während wohlgemut

Vorüber leichte Schiffe ziehn, um hier und dort
Kaufmännisch aufzustapeln, was
An Pomeranzen senden mag Sizilien,
An fremden Weinen Genua.
Doch, wenn du dich einbürgern wolltest hier vielleicht,
So sollst du wissen, was gebricht:
Nichts fehlt zu dieses Aufenthalts Behaglichkeit
Als folgerechtere Küchenkunst;
Ein rauher Seemann waltet mir am Herde jetzt,
Der stets von Porto Venere
Des Morgens holt zu Schiffe meinen Hausbedarf,
Als Koch und als Matrose dient.
Da dies Bekenntnis im voraus ich abgelegt,
So darf ich immer sagen: Komm!
Wofern die Schatten deines florentinischen
Landhauses je du missen kannst,
Das oft als Gastfreund liebend mich und gern empfing,
Zu wohlbestelltem Tische lud;
Wofern in einem Himmelsstrich du leben magst,
Der keinen Raffael gebar;
(Doch zeugten diese Küsten auch Unsterbliche,
Kolumbus und Napoleon!)
Wofern du, dem so teuer ist toskanischer,
Vibrierter Konsonantenhauch,
An Genuesersprache dich, an gallische
Verweichlichung gewöhnen kannst:
So komm! Wo nicht, so lebe wohl! An jedem Ort
Bleibt stets ja doch dein Eigentum
Der edle Scharfblick, welcher mißt der Künste Reich,
Und eine Seele voll von Huld!
Doch eilst du dieser Insel zu, so male dir
Nicht Capri vor und nicht Sorrent,
Wo ewige Wollust flötet, als Sirene lauscht,
Und flötet ihren Klageton!
Torheit und Unruh waren's, deren falsche Hast
Mich nach dem Norden angespornt;
Doch folgte baldige Reue nach, und leise tritt
Sehnsucht in ihr poetisch Recht.
Sobald ich Mailands alten Dom und jene Stadt,
Die auf dem Meere steht, gesehn,
Sobald Ariosts und Dantes Grab ich fromm besucht,
Um deren edle Schläfe nie

[543] Lorbeern genug aufhäufen kann Bewunderung:
Verdoppelt eile dann der Schritt
Dem Süden wieder zugewendet pfeilgeschwind,
Anconas hohen Strand vorbei,
Und Rom sogar und Konradins Schlachtfeld vorbei,
Zurück in mein gelobtes Land,
Bis mich zuletzt absondere vom Gewühl des Tags
Der stillste Pomeranzenhain.

Die Insel Tino bei Palmaria
Myrtengebüsch, Steineichen, in Trümmer zerfallenes Klos-ter,
Leuchtturm, felsige Bucht, liebliche Welle des Meers.



Und lege meines dazu:


Heute im Juli und August 2009
Sotto Palmaria ( und ich denke an Platen)

Die Sonne flimmert nach
mittäglich Wasser glitzert
silbern vor Frasquita dem Boot
zwischen Mast und Segel
das Seeräubernest Portovenere
im alten Blick: und meine Finger
auf dem winzigen Laptop
klopfen die armen liegengelassenen
Verse / fünfundreissig
Jahre im Dunkeln, jetzt erst
wie eine Schrift Archäologie
meines Lebens / entdeckt,
sieht mein Blick euch wieder
weckt diese schlafenden Wesen
von den Buchstaben-Toten auf.





Cinque Terre
Der Zauber der über das Meer sich vorbeugenden Hügel, eine pracht-volle Choreographie, die von einem romantischen Maler gezeichnet worden ist, der ein Bild voll empfindlichen Intensität gemacht hat. Seit jeher sind die Fünf Länder Stolz von La Spezia und Reiseziel für internationalen Touristen. Häuser und Wege stellen einen einzigartigen Naturanblick dar, der noch unbefleckt und den Seeüberlieferungen treu geblieben ist. Die Reise nach den prachtvollen Ortschaften der Fünf Länder beginnt von der Ausfahrt aus der Autobahn Brugnatos. Dann nach Borghetto Vara, Pignone erreicht man Monterosso, das ers-te unter den fünf kleinen Dörfen. Die charakteristische Übereinstim-mung des Gebietes, das aus dem Felsen gewonnen worden ist, macht die Ankunft bezaubernd. Der Tourist wird von der Statue des Rieses aufgenommen. Es handelt von einem Neptun, der auf das Felsenriff gestütz ist, um das Meer zu bewahren. Dann Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore. Diese Ortschaften werden von der be-rühmten "Weg der Liebe" verbunden: der Weg, der über das Meer ist, ist das romantischste und bedeutendeste Bild eines Naturfreskos voll Zauber. Außerdem gibt es für die Kenner des Schmackhaften Weins eine einzigartige Spezialität: der Wein namens Sciacchetrà, der von den dichten Weingeländen gewonnen wird, die diese Zone charakteri-siert. Dieser Weißwein wird von echten Kenner in begrenzten Menge Die Straße der Wallfahrtsorte


Tellaro

alte und eindrucksvolle Ortschaft, wahrscheinlich von Etruskischem Ursprung, am Meeresufer positioniert und nur 3 Km von Lerici ent-fernt Das Dorf ist charakterisiert von einer „piazzetta“ (Hauptplatz), die der Treffpunkt von den Einheimischen und den Touristen ist, und auf dem sich verschiedene Geschäfte erheben. Kleine enge Gässchen wie in einen Labyrinth, ein buntes Haus dicht ans andere gebaut
Die Häuser erheben sich auch um die kleine Kirche herum, die auf ei-nem Riff wenige Meter vom Meer entfernt errichtet ist
In Tellaro befinden sich viele verschiedene Restaurants und Cafes mit blick aufs Meer und auch kleine Badeanstalten die sich auf den Strän-den, „Spiaggioni“ genannt, befinden

Le Grazie
Die Erste dieser Buchten nach Portovenere gelegen, wird “Cala dell’oliva” genannt, es folgt eine andere die den Namen von einem adeligen Kloster von Mönchen hat, “Nostra Signore delle Grazie”.
Die Bucht ist eine Meile lang, hier ist das Wasser immer sehr ruhig, ein idealer Platz um sich auszuruhen, entspannen oder zum Angeln
Die Römische Villa des Varignano, im ländlichen Stil, ist in der Bucht der Anmut (Insenatura delle Grazie) gelegen, im Gebiet von der Ge-meinde von Porto Venere, an den Abhängen des Hügels Muzzerone, in eine Landschaft von spannender Schönheit.




4. März Cinque Terre. 5 Terre. Riomaggiore. Manarola. Via del amo-re.

Trennungsgespräche.

LEBENSZEITJAHRE
Cinque Terre
(Und ins Wasser gefallen, das Meer)
Steinweiß nach einer dunklen
Schlaflosigkeit
Nacht der Trennung

wie übt das schreiende Herz
wenn die Jahre vergehen
jetzt die Weite aus
wund

weil das Meer nicht trennbar ist
nur in den Köpfen
wie die Gewohnheit
gefangen

Der Blick unter Agaven
die Wärme die Füße
aber fast schon im Wasser
lesend

Und oben auf der Terrasse
lieben sich zwei unter dem Pelz
wir: als wir jung waren

Horizontweit der Blick
erinnert den Sommer im Boot
und Vernazzas Turm die Sehnsucht
im Hafen du hebst die Erinnerung vom Grund
das alte Herz ist der Anker.

Schicksalsoffen zu sein und tun
was geschieht
neu wissend da
alles was ist dein Bild hält
das du erzwingst aus Gewohnheit

Doch unbefangen bleibt

Geh sanft mit dir um
ruhig und zärtlich hinter dem Bild
das du viel zu laut vor dir siehst
schreiend nur redest

Unendlich bist du
ohne dass du es willst
Übe die Langsamkeit immer
und langsam kommt deine Zeit
von innen und die Menschen
strömen hinter dein Bild
dir zu

Für die meisten ist kein Heil
weil ihr Gesicht verzerrt ist.
Durchbrich jede Planung
sei ohne Zukunft Hier!
3/96





CINQUE TERRE.. Rapallo. PORTOFINO


1. September 1974
San Fruttoso

Sicher , es läßt sich heute nicht schreiben
mit Daktylen und Wahlkämpfen
doch das Meer bleibt außer dem Wort/ -
Spiel und all den Genauigkeiten
aus Metaphern Alltagsmittel.

Es bleibt das Zahnfleisch rot
nicht nur weil der Skorbut auch hier bei den Ex-Fischern
von San Fruttoso abgeschafft wurde ,
die Stimmung am 1. September,
wenn der Himmel bewölkt ist und
das Meer schwarzblau bewegt ist fast die gleiche wie vor hundert Jahren. Ich
Schliesse die Augen
höre die vielen Phantome der Ars Buchstaben kaum
ein Motorbootverkehr wie mittags bder Berufsbverkehr in Rom ich höre mir das das ganz konkrete Wasser schlagen und rauschen.

Der Schatten der die Felsen zudeckt, der täglich gefürchtte, der uns mordende Tod, der einfach
und so dass ich der Sonne nicht mehr verkuppelt bin, die Haut ab-kühlt und der Kopf lässt mich wieder erkennen was Mäll und kühler die Sonne verdecken

Neben mir drei Sonntagstaucher wie Urtiere aus Kunststoff kriechen sie ins verseuchte Meer
Taucher zum Unterwasseejesus und die Taucher zurück in die Gründe mit hochgereckten Armen
Für die Seetoten stehen bitten, dass die Stricke nicht reissen mögen, dass die Netze nicht nachgeben.


Nichts andres als einige befriedigende Seiten, die genau in mich hi-neimnhören und das wiedergeben, was mich immer am meisten be-wegt hat. (Würde da nicht M. genügn?) d.h. den Horizont so weit hi-naufgehen, bis jeder dabei ist, und das heisst nicht in die Ferne, nichts ins Aussen, Sosiologische, sondern an den Punkt kommen, wo dieser Satz stimmt: “ Wi fühlt ihr es nicht? Ein Unsinniger, der glaubt, dass ich nicht du bin.” (Victor Hugo).


ELBA

Schiff nach Elba 13 August 1974. Die Sommer geht über den Apennin aufs Schiff leuchtend Nebelformen. Der Arno rechts wie die Kokel. Und ich denke an das Telefongespräch von gestern. Der letzte Som-mer der Biografie 1974. Da ich “unten” gewesen wa, da jetzt Ly und Michael hiersind? Letzter Winter der amnarchie, er ist vorbei. Was noch bleibt ist der Tod als Ausweg. Und die detaillierte Prosa, über-haupt das Detail. Das auseinanderfällt.
Das was ich immer schon hasste, die schöne und vielfältige Banalität, das Diabellein.
Es bleibt tatsächlich weiter nur die Hoffnung, dass eine Tür offen bleibt auch zu diesen De-tails, dass ich schreibend wenigstens der Sinnlosigkeit Herr werde. Dass ich JETZT etwa die-se toskanische Küste sam Tirrenia und Livorno, diesen Weiberbauch vor mir, der inter dem modisch langen Grossmutterkleid üppigen und aufregende Konturen erkennen ässt, vor allem den Nabel und die Möse, also alles, was da ist, verborgen, also auch nicht da ist. 13. August 1974. Auf dem Schiff :Fahrt nach Elba. Die Sommerzeit über dm Apennin schafft leuchtende Nebelformen. Der Arno rechts wie die Kokel, Gedanken an das gestrige Telefon-gespräch - Vaters Drachen.
Tutzi wurde gesagt, es sei sehr gut, dass ich in Italien leben werde, mich aber in Rumänien nicht blicken lasse. Besser so. Sie hat mir auf meinen Brief nie geantwortet. (Das war des Ei-senburgers Bitte!) Zensur über die Grenze in meinem Kopf. Auch die Biografie wird ver-saut. Es ist wirklich ein Punkt in meinem Bewusstsein. (weiter abschreiben.)
Küste jetzt, Tirrenia oder Livorno. Ich aber sehe diesen Mutterbauch vor mir, der unter dem modisch langen Großmutterkleid üppige und aufregende Konturen erkennen lässt (vor allem der Nabel und die Möse in Scheiben aufschneiden kann, also alles , was da ist, nicht da ist.
Und doch genau dies, dies unter den Kleidern zu Erratende, dies, genau dies, hier nun sehr erregend Dahinter sehen und in diese Frauenkörper Hineinzusehen versuchen, macht das letz-te sinnlose Moment (als S)

1. September 1974
San Fruttuoso

Sicher, es lässt sich heute nicht schreiben
mit Daktylen und Wahlkämpfen
doch das Meer bleibt außer dem Wort/ -
Spiel und all den Genauigkeiten
aus Metaphern Alltagsmittel.
Es bleibt das Zahnfleisch rot
nicht nur weil der Skorbut auch hier bei den Ex-Fischern
von San Fruttuoso abgeschafft wurde ,
die Stimmung am 1. September,
wenn der Himmel bewölkt ist und
das Meer schwarzblau bewegt ist fast die gleiche wie vor hundert Jahren. Ich
Schließe die Augen
höre die vielen Phantome der Ars Buchstaben kaum
ein Motorbootverkehr wie mittags oder Berufsverkehr in Rom ich höre mir das das ganz konkrete Wasser schlagen und rauschen.
Der Schatten der die Felsen zudeckt, der täglich gefürchtet, der uns mordende Tod, der ein-fach
und so dass ich der Sonne nicht mehr verkuppelt bin, die Haut abkühlt und der Kopf lässt mich wieder erkennen was Müll und kühler die Sonne verdecken
Neben mir drei Sonntagstaucher wie Urtiere aus Kunststoff kriechen sie ins verseuchte Meer
Taucher zum Unterwasserjesus und die Taucher zurück in die Gründe mit hochgereckten Armen
Für die Seetoten stehen bitten, dass die Stricke nicht reissen mögen, dass die Netze nicht nachgeben.
Nichts andres als einige befriedigende Seiten, die genau in mich hineimnhören und das wie-dergeben, was mich immer am meisten bewegt hat. (Würde da nicht M. genügn?) d.h. den Horizont so weit hinaufgehen, bis jeder dabei ist, und das heisst nicht in die Ferne, nichts ins Außen, Soziologische, sondern an den Punkt kommen, wo dieser Satz stimmt: “ Wi fühlt ihr es nicht? Ein Unsinniger, der glaubt, dass ich nicht du bin.” (Victor Hugo).



11. September 6h.
Durch das Hier-leben (anscheinend out) ... (Noch abzuschreiben S. 120.


(Dazu 2009: Maria Irod, Melancholie:
Vlad Dracul, der Vampir, wird nämlich am besten durch sein leeres Grab und seine verschwundene Leiche symbolisiert. Diese Leere deu-tet Schlesak als Zeit des Umbruchs und des Paradigmenwechsels, eine Art „Leerstelle“, wo alles möglich ist, und die Vlads Epoche ebenos gut wie unser Zeitalter auszeichnet. Dass diese gefährliche Zwischen-zeit mit gefühllosem Verstand und Beherrschungswillen zusammen-hängt, wird von Schlesak in der Entstehungsgeschichte seines Ro-mans explizit behauptet. Er spricht vom „Einbruch einer neuen Me-chanik der Leere, des Überhandnehmens der Quantität (...) gegenüber der Qualität“ (S. 154). Damit meint er, wie mir scheint, außer den be-kannten Mechanismen der modernen Gesellschaft, die den Menschen nicht mehr physisch, jedoch auf sämtlichen Ebenen seines Daseins zergliedern und instrumentalisieren, vor allem das Aufschwingen der Schrift zum Mittel der Machtausübung. Vlad selbst steht im Span-nungsfeld der negativen (Bürokratie, Propaganda und Medien-Betrug) und der positiven (Ausbildung der modernen Subjektivität) Folgen dieser historischen Entwicklung. Überdies scheint der Vampir ein Symbol des modernen von der Ratio geleiteten Menschen zu sein:
Mich berührt die Vampirseele des modernen Intellektuellen wie ein Selbstporträt. Solch ein Un-Toter könnte etwa so sprechen: Wie immer wenn ich nach dem Leben griff, blieb nichts in meiner Hand. Ich wollte Flamme sein und Asche werden und hatte doch noch nie ge-brannt. Ich wollte hoch und höher steigen, und sank doch immer tiefer ins Nichtlebenkönnen! (S. 155)
Hier artikuliert sich ein Bild der Melancholie, das zugleich wichtige Themen der Schlesak’schen Literatur zusammenfasst. Ein „Mann aus lauter Wörtern“ – wie der Ich-Erzähler im Verweser einmal von seiner Frau genannt wird (S. 128) – der nicht leben und lieben kann und im-mer zum Schreiben greifen muss, um seinen Erlebnissen überhaupt Sinn zu verleihen – das ist ein der kontemplativen Schwermut ergebe-ner Geist, für den jede Bindung an den Alltag der materiellen Welt ir-real geworden ist. Sein Blick richtet sich auf den Tod als eine ersehnte Flucht aus der geschlossenen Immanenz und den Bedingungen der Leiblichkeit, während ein anderer Teil in ihm noch in „unstillbare[r] Gier“ (Vlad, S. 155) nach Erfüllung im Diesseits sich verzehrt. Seine Lage lässt sich weder durch irgendeine Melancholielehre noch durch eine rein religiöse Dialektik des Todes als Heimkehr der Seele und somit Überwindung der Melancholie ausreichend erklären. „

13. August 1974
Lichter oben in Pedona brennen. Zwingt Zum Dasein: Andere müssen jetzt aufstehn, der Wecker klingelt, um “zur Arbeit “ zu gehen, das weckt in mir diese Härte (ich denke an unse-re Ausflüge mit Koni und anderen Klassenkameraden ans Meer).
Mich bemühen, alle Verletzungen (auch L.) nicht heftig abzureagieren, sondern im Nachden-ken an jene Gemeinsamkeit, nur einmal als Mensch da zu sein, das Leben SO anzuerkennen. (Ein Rückholen der Rückbindung, der re-ligio?) Gut- Sein, nicht einfach nur Verachtung fürs Dasein mit den anderen zu empfinden?
Und diese Spannung? Janus bestimmt bei den Griechen das Geschlecht der noch Ungebore-nen.

Schiff nach Elba 13 August 1974. Die Sommer geht über den Apennin aufs Schiff leuchtend Nebelformen. Der Arno rechts wie die Kokel. Und ich denke an das Telefongespräch von ge-stern. Der letzte Sommer der Biografie 1974. Da ich “unten” gewesen wa, da jetzt Ly und Michael hier sind? Letzter Winter der Anarchie, er ist vorbei. Was noch bleibt ist der Tod als Ausweg. Und die detaillierte Prosa, überhaupt das Detail. Das auseinanderfällt.
Das was ich immerschön hasste, die schöne und vielfältige Banalität, das Diabellein.
Es bleibt tatsächlich weiter nur die Hoffnung, dass eine Tür offen bleibt auch zu diesen De-tails, dass ich schreibend wenigstens der Sinnlosigkeit Herr werde. Dass ich JETZT etwa die-se toskanische Küste sam Tirrenia und Livorno, diesen Weiberbauh vor mir, der inter dem modisch langen Grossmutterkleid üppigen und aufregende Konturen erkennen lässt, vor al-lem den Nabel und die Möse, also alles, was da ist, verborgen, also auch nicht da ist. Und doch genau dieses Verborgene, das hier aufregend ist, dieses Hinter die Dinge kommen, dies Dahintersehen und in diesen Frauenkörper hineinsehen, macht diesen letzten sinnlosen Mo-ment (als Schlussfolgerung) weniger konsquent, dass alles nur banal sei. Klar weshalb alle Jenseitsjünger mich aufmerksam darauf machen, wie ein Mädchen mit “kolonialem Gesicht”, ihren Reißverschluss vorne weit aufmachte und ihrem Gefährten, beide in blauenen verwschenen Jeans, zeigte, was sie für ein wucherndes Wesen da in der Hose hatte, ich konnte es auch sehen, ja, so war es, die Augenwiese... Und beide schienen dann dieses “Phänomen” zu erörtern, wie groß, wie haarig, welche Farbe, vor allem aber zeigte sie dann mit Unterarm und Fingern, wie der dazu passende beschaffen sein müsse, und beide lachten laut.
Alles so plastisch, man kann sich alles, bis in ihre Gedanken gut vorstellen, sie verzog dabei das Gesicht ganz entsprechend in gespieltem Schmerz und Ekstase und begleitete die De-monstration mit schlingernden Bewegungen des bauchtanzenden Körpers-. Die Sonne schaute meerig heiss auf die Szene. Zwei deutsche Oberlehrer aber unterhielten sich dabei laut dabei Napoleons Exil auf Elba. Ihre Haut durchsichtig und blass vor Keuschheit und verlegenem Interesse an der Szene.

17. August 1974. . An diesem Tag nahe an Feragosto dieser Wahnsinn des Feuers. L. ging mit einem ande¬ren ins Bett. (Feuer regt auf) Seither bin ich nicht mehr so gleichgültig, sondern sehe mit einem inneren Ziehen und Schmerzgedanken ihre kapitale schwarze Möse. Bis in den Traum.
Und weiss , dass ich unfrei bin.
Meine Wutausbrüche in Portoferraio(ähnlich wie auf Kreta) “Du Deutsche”!Todesfahrt dann nach Hause mit dem Auto, fuhr wie ein Verrückter.

Bericht aus Elba
für L.
Muss ich bescheiden werden
mich aufgeben zugestehen
dass ich unfähig bin
mit diesem Feuer vom “ordino nuovo”
also Fascisten gelegtes Feur von Elba zu leben
wenn du nun mit einem
anderen ins Bett gehst,
dass ich nie sehen werde genau
wie ich nie erfahren werde
was dort geschah
Hat er dir die Kleider vom Leib gerissen
bis er an dein spektakuläres Loch kam
und du dann ächzend ihm entgegenstrebtest
oder ging es deutsch zivilisiert zu
ihr legtet beide eure Kleider
säuberlich auf eine Stuhl
und dann euch auf das Bett
nackt lag er neben dir
und begann dich langsam zu streicheln
kam immer tiefer
zögernd die Schenkel hinab
und fuhr mit einem Finger über
deinen schwarzen Behang
der sich buschug unter dem schönen
weiberbauch wölbte



Das war noch bevor wir ein Segelboot hatten. Doch als wir dann 1981 das erste erwearben, wurden die Meeresausflüge immer ausgedehnter. Wir kamen bis Sardinien. Die erste grössere Fahrt aber galt Elba


Die etruskische Küste

Die etruskische Küste hinab bis Populonia. Hier sah ich die ersten Münzen der Gegend im Golf von Baratti in der etruskischen Nekropo-le: Drachmen. Und im Bergnest Populonia das Museum mit dem Trä-nenkrüglein und dem phallischen Grabstein, das Ei dazu der Frau: Tod und Leben. Und der Totenkopf eines Zwölfjährigen. Langher. Lang-her? Beim Herabsteigen in den Golf, Rundblick bis nach Elba: da sehe ich Kinder, die mit Wildschweinen spielen! Und dann die Abfahrt.
Das Reale ist hart/ fordernd, das Schiff unter dir, jede Sekunde Zei-teneinheit spürbar der Mühe, über deinen Kopf hinweg; das Meer schäumt, dazu etwas Fades, Langeweile, Enge des Körpers, den du gegen die Elemente verteidigst. Die Gedanken wie festgebunden an Ankerketten, Tauwerk und manchmal ans Ruder. Hart war die Arbeit früher. Es bleibt das Meer. Die starke Welle der Zukunft. Die kreist/ stark ist die See in uns. Und grausam. Der Geruch von Teer. Das Schlagen des Falls/ verdeutlicht die Sekunde der Angst. Keine Zeit bleibt zum Atemholen.


Golf von Baratti. Etruskisch
Hinter dem Vorgebirge
Baratti/ der Golf der Etrusker
wo die Eisenzeit/ unsere begann.
Für sie war das Leben nicht hell
und eine dunkle Hur
Blut dort am Grund
mächtig im Körper eingesperrt
bis der Puls platzt die Ader das Herz.
Den Nekropolen ein Haus
unter dem Boden
der die Jenseitigen mit Wurzeln
ernährt
die Sphärenleiber wie Gummi
und Geist
Da wohnt man fein
und geht auch nicht unter
Der Genius: Penis und Kopf
rot die Farbe die unbeschwert
blitzt/ und schöpft und geht
aufs Ganze/ ein Lachen
Hochzeiten Essen vor allem
ganz fröhlich sein/ da der Tod
auch den Tod überwindet.
Befreit der Funke
wenn die Schalen fallen
in Eisenwaffen Dolchen Speeren
in heiligen Bäumen am Grunde des Wassers
wer ein Auge hat erkennt ihn schon gut
Da sitzen sie und beten
etruskisch liber linteus
SEHEN wie Apulu der Inspirierte
jenseits der Linie des Himmels
vor Rot ist -
Zehn Grad von unendlich
Wandlung und Himmelsrichtung
die disciplina etrusca
heilige Fläche
zum Lesen der Schriften des Himmels
geeignet
Alles Leben ein Zeichen
der Stunde die einfällt
und uns kreuzt
mitten im Wirbel
Spirale der Zwei
am Grunde der Welten
Bilder/ Funktionen
Des Kosmos Mathematik
ist acht mal acht
wie beim Königsspiel Schach
64 Felder des Schicksals
bewegt ist dein Leben/ darauf
Orakel will sehen
Apulu/ Uni und Tin
In jeder Sekunde
die Kreuzung/ der Blitz
anwesend in dir ist das Umfeld
ein Götterkollegium
du mitten drin
im Urknall der Welt.





ELBA
Rio Marina
Aethalia. Die tausend Feuer
Unter den Eisenbergen von Elba
Rio Marina abwesend über der See
So sammle ich mich ein: rechts der Kompaß
vor mir/ im Westen aber der Stundturm
wie ein Schiff/ es schneidet mit dem Bug
in Richtung 12 Uhr/ auf mich zu
den Himmel durch

Capo d´Enfola. Marciana Marina.
Bisher war viel Geduld an kleinen Dingen, am Detail, an der Nuance da gewesen, und ich wußte, daß auch meine meerige Sonne, dieses Glitzern des Sonnennetzes im Wasser unerträglich ist, wenn es nicht durch die tiefe Spur eines Satzes gezogen wird; jetzt hat diese Unert-räglichkeit so zugenommen, hat aber auch das Schreiben erreicht; die Droge scheint wie verbraucht. So bin ich mehr und mehr dem, was ohne Worte vor mir liegt, mich anfällt, ausgeliefert, und sogar der Tod verbindet sich manchmal damit, erscheint nur mineralisch und ohne jeden Sinn, nur brutal. Wie ich das auch bei Montaigne gespürt habe; doch sein heroisches Aufbäumen in natürlicher Gleichgültigkeit faszi-nierte mich.
Un ich musste mir ein Beispiel an seiner Tapferkeit nehmen.
Gestern in Portoferraio und auch sonst im Streß des Bootes und des unmittelbaren Bewußtseins mit den Leuten und auch mit L. ist das Licht winzig, das mein Leben ausmacht und beleuhtet, eine Art Funzel der Alltagsverrichtung, und dann, wie gestern Abend solche tiefsinni-gen Gedanken, als ich zu L. über die Leute, die an Hafen vorbeigin-gen, sagte: Sieh, lauter Skelette gehen da. Und sie: Aber sie haben noch Sex, Liebesfähigkeit und einige Jahre Leben...

Ich müßte mir sagen, daß es doch eine Verpflichtung gibt, jene Mutlosigkeit, die mich lähmt, zu überwinden, und das ist ja dieses Buch, das auch eine Verpflichtung gegenüber jenen Lesern ist, die da-bei die gleichen Glücksgefühle empfinden, wie ich sie früher noch empfunden habe; und vielleicht hatte ich in jenem Abgrund am meis-ten Fortschritte gemacht, der als Vorbereitung für einen neuen Zustand nötig wäre, um jenes täglich sich Einrichten in einem sogenannten "Leben" unmöglich macht.
Doch gab es hier nicht auch noch anderes?


MARCIANA
Der nach innen genommene Blick
führt ins Futur, weg aus dem, was eben vergeht:
Damals wars Napoleon hier in Madonna del Monte, hier
bei Marciana, mit der schönen Gräfin Maria Walewska:
Jetzt, hörst du die Sommerzikaden: da Schein und nie
anders war als Jetzt im veränderten Blickwinkel,
Wir, unsere Erde am 20. August 1814. Oh, schnell
vergeht alles, und der Korse winkt mir jetzt unsichtbar
an einer Stein Eiche finster zu: ein
Gescheiterter, der sich auf die Erde beschränken wollte: zu
bescheiden in seiner Wut, Flüsse von Blut, die wir
immer noch auszubaden haben:
Was falsch gedacht ist, Macht
in alle Länder getragen: Wahnsinn Revolution,
sich hier in diesem Augenblick,
Als wär es wahr: schön einzurichten:
die Zukunft machbar schon
nach einem dummen Bild.





Marciana Marina, Capo D´Enfola


Portoazzuro
Aber wir saßen an diesem Tag in winzigen plätschernden Wellen, es schien in ihrer Sanftheit so, als wollten sie aufhören. Vor dem Sturm ist es meist ungeheuer sanft das Wasser, kleine Seespinnen rennen dann über die glatte Fläche. Netz. Denk du an ... Arachne vielleicht. Über uns ein altes Gefängnis. - Ich las in einer gescheiten Untersu-chung über den Tod, fand mich in der Beschreibung dieses Kreisens an den Rändern des Bewußtseins, das bald explodieren muß, wieder.
Liebe und Tod und die Revolte durchbrechen ein aufgezwungenes künstliches Ich, machen sprachlos. Widerstand gegen die Vaterspra-che, die abendländische. Und die Muttersprache der Gefühle, des All-tags? Und ihr mit offnen Sinnen wahrnehmbares Geheimnis? Dafür sind nicht einmal unsere Sprache, unsere Sinnkonstruktionen geeig-net.Oder doch? Am Abend schrieb ich es so auf, und fand so meine Ruhe:

PORTO AZZURO
Die Hölle des Vergessens:
ein schöner Strand am Mittelmeer, Hotel
mit Bougainvillea und Oleander,
unter hohen Palmen ein fühllos Gestrandeter
erinnert sich plötzlich, daß es eine Sibylle war,
die ihre Orakel auf Palmblätter schrieb. Darauf war
zu lesen:
„Nur hier auf der Zeile kommt deine Palme zu sich
und es lebt ihre Zukunft wirklich
mit den Engeln auf.“
Die Engel sind abgeflogen,
doch hält sie der Gedanke hier -
schreibt sie ins Blatt, das ungelesen weiß vergeht:
„Hüte dein Buch, es behütet dich.“

Was war das nur für ein Effekt? War es eine Flucht? Meine Reiselust, ja, Reisewut nahm nicht ab. In diesem Sommer waren wir ja noch in Sardinien gewesen, und dann in Korsika. Ich genoß, je weiter ich vom Zuhause war, die Landschaft, die Menschen, L. und mich selbst mit einer gesteigerten Intensität, die nur das Bewußtsein des Abschieds geben kann. Und alles schien ich manchmal wie zum erstenmal als Kind aufzunehmen, mit den alten Kinderfragen, die nie gelöst, immer nur übergangen und vergessen werden, zu stellen:. Wasser, was ist Wasser? das Meer rauscht, was rauscht? Wir sind von unheimlichen Dingen, die wir nicht sehen können, umgeben. Schon Newton hatte in seiner "Optik" von zwei Arten von Licht gesprochen, überlegte ich: vom "phänomenalen Licht" und vom "potentiellen Licht" des Numen in uns, das unser Bewußtsein trägt. Die Schwerkraft aller Dinge in un-serem Herzen, und die Photonen sind die "Hände", die jedes Ding sichtbar formen? Der Geist hat Lichtsubstanz. Urlicht? In der Sixtina macht erst das Altarlicht die Gestalten an der Decke sichtbar.
Ich saß am morgenkühlen Strand, die Sonne war noch nicht aufgegan-gen, der Himmel erhellte sich allmählich. "Ich mag diese krude Frühe, Jungfrau des Tages", hatte ich zu L. beim Frühstück im Cockpit ge-sagt, die hatte im Halbschlaf gebrummelt, als ich versuchte, lautlos die Kabine zu verlassen. "Ich", ha. "Ich“ seh die gewesene Höhle von ge-stern, die Höhle draußen, die Höhle unser Ort der noch Ungeborenen, die Höhle in der Stirnbahn, die alte Höhle Platons; jeder Tag ein Aben-teuer, doch ich kann von meinem Körper am Tag nie weggehen, meine Vorstellung ist die des Körpers, mein Körper geht vor mir her wie eine Laterne, der Kopf oben, daß ich nicht falle, darf ich diesen Turm nicht denken, der von der Erde entfernt ist, seit ich dies weiß, blende ich euch alle. Gibst den Geist nicht auf beim Ablegen deines Körpers, der bleibt nur mehr und mehr liegen mit dem Älterwerden... Grenzlinie zum kommenden Zustand, weiß und rauschend. Sag nicht Seele, sag Äon: es löst sich etwas vom Körper, das innere Leben verselbständigt sich im Alter, die Wahrnehmungen werden schwächer, man lebt drin-nen, und langsam verschwindet die Außenwelt. Dabei strahlt alles durch in alle Zeiten und ist transparent, jene, die sie die Toten nennen, leben doch immer und gleichzeitig mit den Lebenden, mit uns, und wir freilich auch schon mit ihnen. Du weißt, ich habe mehrere Schiff-brüche erlebt. Und die Ahnung von jener Welt ist da, wenn wir in Ge-fahr und dem Tode nahe sind, dann sind alle Zeiten zugleich da. Du versinkst, du ertrinkst, gehst wirklich auf Grund, und bist froh, ja, glücklich."
Viele Kollegen, Autoren haben daran geglaubt, nicht zuletzt Shelley, sagte ich zu L. Und gab ihr zu lesen, was ich geschrieben hatte, es bet-raf sie ja auch.


Und im Tagebuch wieder einhe Rückblende in die bootslose Zeit:

17. August 1974. . An diesem Tag nahe an Feragosto dieser Wahnsinn des Feuers. Hannah ging mit einem ande¬ren ins Bett. (Feuer regt auf) Seither bin ich nicht mehr so gleichgültig, sondern sehe mit einem inneren Ziehen und Schmerzgedanken ihre kapitaler schwarze Möse. Bis in den Traum.
Und weiss , dass ich unfrei bin.
Meine Wutausbrüche in Portoferraio(ähnlich wie auf Kreta) “Du Deutsche”!Todesfahrt dann nach Hause mit dem Auto, fuhr wie ein Verrückter.

Bericht aus Elba
für Hannah

Muss ich bescheiden werden
mich aufgeben zugestehen
dass ich unfähig bin
mit diesem Feuer vom “ordino nuovo”
also Fascisten gelegtes Feur von Elba zu leben
wenn du nun mit einem
anderen ins Bett gehst,
dass ich nie sehen werde genau
wie ich nie erfahren werde
was dort geschah

Hat er dir die Kleider vom Leib gerissen
bis er an dein spektakuläres Loch kam
und du dann ächzend ihm entgegenstrebtest
oder ging es deutsch zivilisiert zu
ihr legtet beide eure Kleider
säuberlich auf eine Stuhl
und dann euch auf das Bett
nackt lag er neben dir
und begann dich langsam zu streicheln
kam immer tiefer
zögernd die Schenkel hinab
und fuhr mit einem Finger über
deinen schwarzen Behang
der sich buschig unter dem schönen
weiberbauch wölbte






“Nichts zählt als die Inständigkeit der
Zuneigung.” (H. Pound).

Und erlaube mir / an die Kristallisation des
Herzens zu denken / bei Stendhal / auf Monte
Christo / er war ja dort gewesen.
Ich mit Hannah und dem Anderen / diesen Sommer
zählte sie da / diese Inständigkeit / oder werde ich später
so beschenkt / von zwei Frauen / oder beschenke ich sie
denn nichts zählt mehr als Himmelsgeschenk: Erfüllung/
diesen tiefen Grund auch
des Meeres zu erleben, tauchend sehn / 40 Meter tief
sahen wir seine Wunder
Gottes Liebe der zärtliche Blick / alles klingend
angenommen / Banales wird heilig / dass der Kustode uns
nicht landen ließ / ein scharfer Wind blies später / als wären
es Aeolos Windsäcke / und waren doch ein Geschenk
von mir, dem Eifersüchtigen geöffnet worden /
dachte, er betrügt mich, der Bärtige,
und so wurden wir wieder weit hinausgetrieben / Heimat
irgendwo? / Dass ich nicht lache!









IX
REISETAGEBUCH (Und Exil-Stimmungsbild des Autors aus den Achtziger Jahren. Abgründige Melancholöie in der schönsten Gegend)





24.3./24.3. 85 Abend mit der Bildhauerin und Nachbarin Fiore und ih-rer Freundin Anti. Vereisung durch die zugemauerte Transzendenz. Aber in Gesellschaft bin ich seit kurzem stumm. Der Zustand ist nicht gut.

Reisen: Günter Metken, Reisen als schöne Kunst betrachtet, insel 639, 1983.

Warum reise ich? Weil ich unbeschwert nirgends sein will.

Das Ankommen ist beschwerlich, das sieht man vor allem beim Ein-laufen von Segelbooten hier im Hafen von Viareggio.

Nie ankommen müssen!

Reisen als Symbol: Ulysses, der schönste Name.

Flucht bei einer Reise, vor sich selbst, vor der Katastrophe, unglück-lichste Form künstlichen Daseins.

Gute Reise! Man sagt es wie "Grüß Gott, das Unbekannte schleift sich ab! Edmond Jabés: Elargir les horizonts du mot!

26.3. Ein Gedicht für Moro (Moses Rosenkranz, den ich im März be-sucht hatte! Er erzählte von seiner sowjetischen Haftzeit: 10 Jahre Po-larkreis)

Hast im Verborgenen lahmgelegt die Welt
bist du/ als wäre dies Jahrhundert
längst aus dieser der Zeit gefallen, zurückgekehrt
tief in die Erde?

Du bist das, was ich niemals sah.
Ein Baum, den sie zum Menschen
machen wollten, und brannten ihn
zersägten seinen Stamm/ die Blätter
trug der Wind - da lag ein letztes Blatt,
da stand die Vorschrift für
den ganzen Baum, ein Weltenbaum,
der durch das Nichts die Achse schlug.

Dort drehn wir uns im Kreis
und warten auf den Herrn.

26./27.3. Gestern mit Christina Weiß (Tina) und Hannes Schmitt. Was diese Traurigkeit bringt ... dass wir kein Zentrum haben, keine Gefahr, der Todesengel, jener der Sieger, steht da und wartet; alles wird muf-fig und alt, kein Schnitt, keine Befreiung. Man kann nicht mehr atmen.
(Brief an Klaus Hensel Titel: Stilgefäß. Es blitzt einhellig in unseren Köpfen, alles stimmte!).

30.3. 85 . Sadvipra, die Yogafreundin ist in Pisa wieder da. Ich hatte meinen Namen vergessen, so wollte sie mich nicht lieben. Sie sagte ihn mir: Du heißt Dasharath, Beherrscher der zehn Vayus, der subtilen Kanäle deines zweiten Körpers! Mit ihnen kannst du lieben und Wun-der tun.

31. 3. Buch-Fest in Fiesole/ Settignagno. Die autistischen Kinder, die alles zurückweisen, was "wird", sich in der Zeit entlang entwickelt, al-so da ist. Weise kleine Buddhas sind sie, sagt Dr. K, der Arzt.

Anemonen wachsen wild zwischen Olivenbäumen, aber auch mich be-rührt nichts mehr; solch eine Blume empfindet ähnlich wie die kranken Kinder von Dr.K.

Das Elend der polnischen Pianistin, die im gleichen Haus wohnt und die nicht mehr nach Hause darf, an der Grenze zurückgeschickt wird.

In Stuttgart wollen sie meinen Namen nicht an den Briefkästen haben. Und auch hier kennen die Leute meinen Namen nicht, sprechen ihn nie aus. Mehr noch, alle sehen wie durch ein Gespenst durch mich durch, als wäre ich aus Glas. Es gibt mich nicht. Vielleicht bin ich tot und habs nicht bemerkt? Oder es gibt mich nur im Traum, geträumt von wer weiß wem?

2.-4.4. Borchardt-Tagung in Pisa/ Lucca, Grosseto. Mein Vortrag.
Unser kleiner schwarzer Hund bellt zustimmend bei einigen, nicht bei allen Vorträgen. Alle warten nur noch auf sein Bellen und amüsieren sich.
Hatte meine Lage mit seiner verglichen.

Und ein Gedicht dazu:

- Rückkehr über Massa Marittima und Volterra.

5.4. Doktor Schiwago-Film. Kitsch und doch: der Osten öffnet mich wieder. Ein Weh überkommt mich, die alte Verletzung. Das Wort kommt nie, Gefühle, wenn sie zu nah sind, bleiben stumm.

Regen/ das Dach ist kalt, ich glühe. Nur ein Knäuel von Wehmut, un-gebraucht, liegt unten. Hat ja mein Herz berührt, sonst ist es stumm. Und ich weine wieder, so rein und so dumm.

Gefühl biegt sich in mich / und weiß sich nicht zu helfen
hält da am Bahnhof im Schnee / weißt du noch / es lag
und blieb / als wir doch weiter gingen
riefs / wir blieben nicht stehen.

Jetzt erst seh ichs
so wie es war / und steht dort immer noch.

Kalt folgten mir die Jahre.

Das Schwermut-Syndrom ist nur ganz allgemein der Rahmen. Es lähmt ja. Es ist eher eine Vereisung. Exil als Krankheit. Schon bei Dante. Leben und Erkenntnisekel in seiner besonderen Form. (Es ge-hört in die Sparte Depression. Melancholie als Erstarrung! Vgl. mein Gedicht über die "Achtuhrschmerzen". "Zeitmale" wie bei Word-sworth "The Prelude".

Konturlos nur / was unten liegt / Als läg ich da / Vom ungefaßten Rohstoff des Gefühls getroffen!

Im Zentrum das Bild Marias. / Was alles versäumt war, was alles nicht war / nach rückwärts geht die Hoffnung. / Was kommt ist tot und starr.

(Was weh tut ist / wenn sich die Narbe schließt. Und alles wird schal.)

Pascal starb mit 39, Kafka mit 41, Christus mit 33. Und ich lebe noch immer. Und es wird so nie enden. Alles schon sauer, ohne je dagewe-sen zu sein! Wenn es ein Genie der Kleinheit gibt, bin ich eines!

10. April 85. Träume von den Jungen. Sie wissen nicht, was sie tun. Alles ist verbrackt. Mit Hannah sprach ich über diesen Effekt. Acedia! Sie ziehn sich schon fast militärisch an. Keiner spricht den eigentlichen Todfeind an! Melancholie, denn man verbündet sich mit den Siegern. Zersplitterung. So wird uns die moralische Grundlage zum Weiterleben entzogen, der Impetus, warum wir überhaupt so leben und warum wir überhaupt so schreiben! Daher fällt schreiben immer schwerer. Der RAF-Book aber sitzt im Hochsicherheitstrakt (für uns alle?) die gegen die Väter und ihre Verbrechen angetreten sind? 3x le-benslänglich!

15.4. Traum von Heissenbüttel. Saß in einer Bibliothek mit einer Bib-liothekarin. 13 Jahre lang hat er durch / und mit seiner Frau gelitten. Furchtbar. Sein Schwiegersohn hat seine Werke herausgegeben. Ich nehme sie in mein Vorwort. Dann bin ich mit H. in einem Hotel. Auch seine Geliebte ist da. Irgendein Kongreß. Wir sitzen an einem Tisch mit andern Kollegen. Ich sage, wir hätten endlich 2 Monate frei. Frei-lich schreibend. Er lädt mich auch zu sich in den Himmel ein. Und sagt: Saarland. Wir nehmen dazu ein anderes Hotel. Es scheint aber nicht Berlin zu sein.

16.4. Ideal wäre es, ein Beziehungsnetz herzustellen! Beginnend mit Alltäglichkeiten: Lebensbaum Körper. Atem. Mund, Zähne, Stirn, Kopf. Glieder. Dann Werkzeuge: Gabel., Messer, Scher und Licht. Stift. Schreibmaschine. Haus. Tür, Fenster. Tisch. Garten usw.
Sprachreiz. Sprachbewegungen aus einem Zentrum. Alles gierig auf-greifen. Der Leser soll mitmachen. Wie ich jetzt mit Bekker, da ein-tauchen, so wie Jahweh aus den Konsonanten besteht.
Luise Rinser über Verwandlungen.

17.4. Gott ist der Tod. Hegel. De Messias, wie bei Joseph Roth.

19. 20.4. Traum: Lecke in einer öffentlichen Toilette aus der Muschel Wein auf. Entsetzt stelle ich es fest. Laufe in eine Apotheke, um ein scharfes Desingfektionsmittel zu kaufen. Der Apotheker macht zuerst eine Analyse des Vergiftungsgrades.

2. Mai. Vorbereitung einer Lesung. 1. Beispiel Borchhardt. Apriori-sche Einmischung. Frage von Form/ Sprache. Der Einfall, die Form steht am Anfang. Keine Ego-Kontrolle. Heidegger: Frage nach dem Ding! 2. Acedia. Walter Benjamin. 3. Schock als Pause.

5./6.Mai. Mit Elfi als junger Frau geschlafen. Am nächsten Tag wieder von ihr geträumt.

9.10.5. Wieder Prüfungstraum. Werde beim "Klutzen" erwischt. Han-nah ist dabei. Dann mit Studentinnen im Bad. nackt unter der Dusche. Der Schwanz schreibt mit Samen auf den Bauch eines Mädchens: Schweig.

13.5. Traum. Wieder auf dem Bahnhof mit zwei Mädchen. Dann Ver-irrt im Labyrinth einer Stadt.

22.5. Lesung bei einem Yogatreffen in Pisa.

4./5. Juni. Wut wegen der Boots-Plattheit der Tage, das "Praktische", wo es keine Zusammenhänge gibt, nur Details und Einzelhandlungen.

Suche Höhepunkte in diesem so kurzen Leben, suche also eine Frau,
die im Phantasieaustausch und in Livetreffen den Körper als schwin-gendes Instrument einzusetzen weiss, um gemeinsam Intensität auf Niveau zu erleben! Ich bin Autor und weiß die Liebeserregung, das Entflammen zu schätzen, zu geben, zu nehmen: die Sehnsucht!

8.12. 85. Was geschah eben an diesem Tag? Die Deutsche Welle sagt, Rumänien habe die Meistbegünstigungsklausel verloren. Im Vatikan geht eine Bischofssitzung zu Ende. Und noch rauscht in mir die Auto-bahn. Von Rom kamen wir her, Bocca della Verita. Und du küßtest mich wirklich auf den Mund. Ich hatte mich rasiert und mir die Haare gewaschen, das tue ich morgens fast nie ...

... dieses Heft, lange nach dem Krieg geschrieben, "hätte gut nieman-des Heft sein können: so tief unterhalb menschlicher Wege und Reisen liegt der Sinn eines Menschenlebens verborgen ..." (René Char).

Zeitschnitte

1972. In Sorrent fragte ich damals nach dem Preis des Hotels "Syre-ne". "Damals" wars/ hoch über dem Steilufer / Palmengarten/ schöne Räume der "Villa Pompejana"/ zu teuer / vor drei Tagen war sie ge-schlossen. Zimtgeruch und wie ein Wunder / die alten Lampen über uns. Sägen und ein Geräusch wie aus der Kindheit in Transsylvanien (Herr Nagel und mein Kopf!) / Und der wahnsinnige Tasso kam mir entgegen. Langher.

Auch unser Leben ist langher gewesen: 1972, damals Dezember: "Orangen reif und leuchtend über dem Meer. Kein Tourist." Es war auf der Rückfahrt von Amalfi und Positano: "Bei Nacht noch schöner der Golf. Drüben liegt Neapel und der Vesuv." Lang her, gewesen

Begegnete dem Dichter Andres in Positano / und las dazu Tassos Ge-rusalemme, samt irren Briefen an seine Schwester. Langher./ Und Par-sifal aus dem Radio (eine Kassette im verzauberten Garten (des Kling-sor. Der kam aus Siebenbürgen) / War er müde und erschöpft / kein nervum rerum?/ sah Herbst und Reif / kam die Sonne wie auf der Mo-le von Amalfi / die Liebe überwinden und mit den Sinnen wie im Tod ganz hinübersein / das Mantra am Morgen: diese Ruhe im Hotel "Magna Graecia" und um 6 aufgestanden / sah Eleas Unbewegtheit vor mir.
In Sorrent aber Tasso / von Stimmen umgeben: So fühlte er die Angst vor der Inquisition: / Einer war da, sagte ich zu Hannah auf dem Spa-ziergang zur Marina Piccola / durch tiefe Tuffschichten: / Einer war da in Tasso / der glaubte- / der andere aber/ die Skepsis / spaltete ihm das Hirn./ Es zeigte ihn an jener der glaubte...

Die Steilwand in Positano / als rutschte man von ganz oben ab von der riesigen Höhe / wie im Traum / und dort hat Er vielleicht zu Tassos Zeit / noch einen Blick herab geworfen / jetzt sind wir geteilt / bald völlig getrennt / Wolken seh ich / und wir gingen zu Fuß die lange Treppe hinab / das Auto stand auf dem Hauptplatz / wo die Genies der Muße saßen und redeten / der Wirt unseren kleinen Hund vertrieb.

Terrassen auch auf Capri / mein Gott von 1957 / wann war das: 1943! / "Leben am Rande der Ereignisse/ hier versteckte sich damals Anders. Auch er schon längst tot! / Erzählte es deutschen Kriegsgefangenen: "Fatamorganen in der Wüste der Echolosigkeit"./ Das kleine Buch "Positano" aber blieb, wie dieses Echo hier!

Welcher Krieg tobt in meinem Innern / 40 Jahre danach / und gestern
waren wir in Montecassino / Ursprung aller Klöster / und drei Tage vorher in Positano und Amalfi / die kleine Stadt mit Klingsors verwil-dertem Garten / Blicke von der in den Felsen gehauenen Straße / von Sorrent am Kap / aus der "Villa Maria" neben einem Ospedale / blau der Himmel, nein, azur wie bei Campana:/ "göttliche Küste also / frei der Tag / nur das Herz wund / allen Ernstes. Und könnten die Zeit so brauchen - zurückgestellt und verflossen die Uhr!




Capraia. 5.6. Juli 1985

MEGALITH; MEER. Wo das Sausen Null zum Tönen bringt.
Langer Atem, woher er kam, was mich betrifft, Stil ist der Mensch, woher gelenkt, Sphären-klänge auch in mir, da denkst du an „Akroasis“. Oasen der Töne, Dichte in uns, woher meine Leere, Armut, kein Integral.
Gottes Kreatur mit erschöpften Kräften. Rund um meine Stunde, die abnimmt

*

Die Funken, die mich vergessen haben/ das Meer macht müde, hat einen Stein im Maul, ge-genüber die Steilwand.

Die Notiz hält mich nicht mehr wie früher, Zeit Note. Unsinnig geschrieben zu sein, ohne DIE SCHRIFT.

Im Ort das alte Gefängnis, Colonia agricola. Gefängniszone und wir mit unsern Ferien/ auf Segelbooten/ mit Staub überdeckt das Gemäuer. Capraia.

Wunder sind/ die uns umgeben/ durchziehen auch das Wort/ meines, deines/ trägt uns zurück bis zu uns selbst/ Stonehenge oder zu den Menhiren/ die uns ihr Gesicht, tonnenschwer hoch-gehoben/ mit Gedanken/ sie aufhob: die Schwerkraft.

Felsen. Pinien. Sommerhauch. Rauschen des Meeres/ das sind Worte/ doch ein Zustand/ in mir schwingt mit/ ist JA unbeschreiblich.

Es muss wieder/ aufgenommen werden. Dann wäre ich wieder da/ über den Tod hinaus.

Aufmerken. Das ist Fehlendes/ das schlägt mit Missmut. Wenn Abwarten beginnt/ gestern im Dorf: Alimentari/ ein Hund/ mein Hund/ Brotkauf/ ein Mädchen an der Kasse/ alles hing zu-sammen/ und ihre Frische/ da war noch Hoffnung/ Zeit, die sie noch vor sich hatte./ Ich stand nur dabei/ schon abwesend/ müde einmal zum Narren/ geliebt vor viel zu viel blinder Kraft.

Saint Florent, Montag 8.7.1985
Was sich zusammenfassen lässt/ hier am Strand eines Besitzers/ Campo di Fiore/ und du denkst an Rom/ Giordano Bruno/ ein Morgen/ blitzendes Feuer/ wie die Sonne. Ich aber ge-hen zurück/ alte Zeilen/ als ich Rom noch nicht kannte/ nicht Giordano Bruno nicht die Etrus-ker/ nun bin ich ein Einwohner Etruriens/ Ein Traum in Lucca/ Ritt in der Via dei Fossi / an der Madonna vorbei/ und an der Steilwand der Insel gestern/ steinerne Gespenster/ Gesichter/ auch meines/ und das meines Vaters/ Köpfe , Stein-Kultur/ Hirne winden/ Spiralen bis hinab zur Naht/ die reißt/ Eukalyptus am Ufer/ greifen/ die Hände sind Pinien, rot und weiß, wie die Schechina der Oleander ins Auge getönt./ Fern Windstärke drei von Nord/ alles hier ein topos/ versammelt/ Bücher greifen in mich ein wie Zahnräder/ unendliche Mehrzahl keiner Gramma-tik/ Technik um dichte exakte Gegenwart fehlt/ nur das Radio VHF bringt lebensnotwendige Wetternachrichten./ Unendlich aber soll es strömen durch mein Hirn/ wie der Golf/ nicht die Sackgasse/ stehend schon sumpfig das Ende./ In die Steine hinein will ich hoffen/ dass mich die Atome noch mögen/ das Licht/ kreisend in meinen Neuronen.

*
Hier bin ich im Paradies/ zart gezeichnet die korsischen Berge aus Dunst/ weiß die Kontur/ und darunter Masten/ kleine schwankende Finger/ die sich selbst, den Himmel anzeigen/ ge-stohlene Lust/ Zikaden und Krähen zum Plätschern des Golfes/ Sommerglut blinkt/ und der Stift schreibt ab/ was ich zu sehen meine/ mich.

Dies die Musik. Ich höre sie mit den Wolken/ noch zwei Schiffe vom Mistral in Streifen ge-schnitten/ über dem rötlichen Berg. Hier aber anstatt der Musik/ eine Null/ die an mich grenzt/ Nur manchmal Erschrecken/ dass ich das bin.

*

Der Augenblick hat mich wieder/ im Ohr trinkt er die Sonne aus/ gieriges Insekt von jenseits/ kommt hier an/ man weiß: alles ist eine/ unberechenbare Welle/ von weither/ ich in ihren Spi-ralen gefangen/ ohne Organe/ wie die Leute hier/ die ihre schweren Menhire hoben/ kraft des Vertrauens.

*

Mut sorgt nie aus/ der Schädel aber/ eine hohle Schale/ gefüllt auf Zeit/ die sinkt und ab-nimmt/ die Last/ Mut zu haben/ hier/ begreifen zu wollen/ was ist.

*

Feen sorgen federweiß für die Schönheit hier/ Berge schweben/ und es ist wie Sonntag. Ja/ Frieden/ Kinder stehen in mir auf und singen/ ernste Lieder/ fröhlich, als wär’s sogar Ostern/ und ein Licht blendet/ aus ihren Augen/ als gäbe es wieder die alte Sonne/ obenauf.

*

Erregt sehe ich um mich/ ein einziger Atem/ zieht durch den Satz/ über die Augen verlängert/ zu mir/ wo die alte Acedia/ saß und Essig austrank zur Neige/ die Öffnung hinüber ersoffen in Gift und Galle/ die Kinder betäubt und hinausgeworfen/ bizarr/ kein Märchen. Spleen von Pa-ris/ als alles anfing/ sich so aufzuschreiben. Dankbar zu wissen/ nicht allein zu sein.

*

Stöße. Ein ganzes Biest aus Stößen. Auch Kreta erfand den Stier. Hebräisch die Zeugung der Welt. Atem. Pneuma und Moll. Trotz dagegen/ das Labyrinth des Daedalus.

*

Sprung ins Lesen/ und weiter: wie ein körperloses Schweben. Das Alter hat mich längst. Aber der Blitz, wenn sich die zwei Ideen berühren, bringt die Kontur, das Schreiben. Wer diktiert? Singt wie Musik/ ich selbst ganz ohne Widerstand/ unendliches Gebet/ und tönt/ reißt alle mit/ die dachten/ solang ich da bin/ hat der Fuß gefasst/ der sich enthüllt/ als einer im Diktat/ die Sprache springt/ die Meile der Geschichte ab: so kam sie weit/ und geht die Stufen hinab/ un-ten tönt’s/ als wär Er wirklich hier: Palenque einmal so aufgefahren/ in die Idee/ als Flug ge-meint/ der erste Mensch: Kam aus dem Alphabet zum Labyrinth zurück/ Spirale einst/ tief in die Zelle schießt das Wissen in die Formen ein./ So sahst du rot/ von Anfang an/ der Stier hat mir den Kopf gezeugt/ was war/ das ist ein Riesen/ Genital/ ein Ei der Welt/ das sie gewogen hat/ im Keim als Er zur Welt sich brachte/ da wusste Er auch dich.

*

Was flach erzählt/ als wäre es all-gemein/ gut dar-gestellt/ nimmt als Erschöpfung/ des An-fangs zu/ als wäre es nie geschehen/ wir nur selbstverständlich DA/ als wär’s nur Augenschein/ kein Wider und nie Wieder/kehr nur flach, was wir uns nachgezählt/ erzählt. So angepasst/ dies „wirklich“ scheint/ als hätten wir Ihn ausgetrickst. Erzähl nur Nichts/ als Bitte um Gesundung.

Als wär ich abgeschafft, so strömt es wieder, tönt/ auch ziemlich stark durch mich/ was meine Uhr/ am Armband gar nicht meint/ und tickt/ mein Pass am Herzen.

*

Je weiter entfernt vom/ Inhalt, sag es: so genannt/ sieh mich dann an: nun so feiner diese Nä-he/ frei benannt zu jenem, was sich zeigen kann, sogar an dir/ und mir „zerstreute Gewissheit/ als eure Begründung/ isoliertes Geschick“ sagt einer (er heißt Char)/ wo ich noch stehen kann/ mit Mut/ wär ich gerettet: ich, abgelegt: meine unbekannte Hoffnung.

*



*

Saint Florent, 9.7.1985
Atrophie

Doch durch mich geht es wie Nebel/ wie Wasser und beiße hinein/ voller Trotz/ weiß/ wie es mich nicht gibt/ dagegen mich auflehnen/ die Dummheit.
Starr/ von Jahr zu Jahr/weniger Bildpunkte und Verbindungen im Geflecht der Beziehungen (Welt)/ und alles: wie groß das Vergessen
Wer soll was/ von mir hier/ später erinnern.

*
Im Noch-Nicht-Geschehenen, ein weises Kind/ des Wachseins wird/ auch ohne mich/ wirft seine Schatten voraus/ bestimmt/ was ich bin/ alles andere ist längst/ oder augen-blicklich ge-wesen.
In der Physik rechnen sie nur noch damit/ wir im Grab/ liegen da: etwas was war.

*
Die Freiheit/ zu denken, dass noch nichts war/ leise dies Tönen des Ungewordenen/ das mich haben könnte/ anstatt der Zange/ die beißt hart zu: jeden Tag.

Die Freiheit/ größer zu sein/ als schreiben/ als wäre dieser Moment völlig „rein“,
unbeschwert von der Angst/ nicht zu überleben/ und dem Plunder, der am Bein sich sammelt/ es stellt/ Schwein gehabt/ hieße weder zu stehen noch mit zu wachsen/ also Sein.
Namenlos unabhängig vom Begriff Sein.

*
Dazu die sich nicht Ernst nehmende Nation/ die freier ist/ heiligt fast, gereinigt von der muti-gen Verzweiflung: In Cioran „Lacrimi şi sfinţi“/ S.22/ 23/ 24 /25/ 34: Fragmente und Apho-rismen./ Das Kreisen um Glaubensfähigkeit/ Etrusker kannten den Ton schon.

*

Einer der ersten römischen Könige/ ein Grieche/ unter Etruskern aufgewachsen/ Frau Sama-quil/ also der nicht-anerkannte Kolonist/ war aber versucht/ den Druck nicht als Geschenk an-zugeben/ sondern als libi/ verfehlt…

*
Die Bücher suchen uns/ wir kommen selten dazuverfehlen alles, was xdcer Augenblick zu bieten hätte/ lesend nicht da/ lesend nur da/ unaufgefordert/ lesend verlieren wir immer/ die Zeit/ sie läuft uns nicht nach/ geht nach /wie wir/ ihre zerbrochene Uhr.

Lesend/ im Zwischenrau,m

Ernst bleibt/ Morgenfrühe wir früher fischende Indianerväter aus einem Kinderbuch/ am Fluss, den es mal gab/ und jetzt die Frühe hier/ Nebel über den Wassern/ Krähen./ Ich in der Kabine/ drüben eine Seemeile entfernt/ der grauweiße Turm/ Saint Florent/ Korsika/ der Leuchtturm Richtung Nordwest schließt eben sein grünes Auge/ und ich lese dazu Rilkes Zehnte Elegie./ Auch war Duino im Turm von sechzig Jahren: „Dass von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens/ keiner versage an weichen zweifelnden oder/ reißenden Saiten. Dass mich mein strömendes Antlitz glänzender mache…“ Vergehen der Schmerzen?

*

Kommt eine Hälfte deiner Gedanken aus Schlaflosigkeiten
Und ist doch SIE/Anima vielleicht/diese Nacht



Saint Florent, 9.7.1985
Atrophie

Doch durch mich geht es wie Nebel/ wie Wasser und beiße hinein/ voller Trotz/ weiß/ wie es mich nicht gibt/ dagegen mich auflehnen/ die Dummheit.
Starr/ von Jahr zu Jahr/weniger Bildpunkte und Verbindungen im Geflecht der Beziehungen (Welt)/ und alles: wie groß das Vergessen
Wer soll was/ von mir hier/ später erinnern.

*
Im Noch-Nicht-Geschehenen, ein weises Kind/ des Wachseins wird/ auch ohne mich/ wirft seine Schatten voraus/ bestimmt/ was ich bin/ alles andere ist längst/ oder augen-blicklich ge-wesen.
In der Physik rechnen sie nur noch damit/ wir im Grab/ liegen da: etwas was war.

*
Die Freiheit/ zu denken, dass noch nichts war/ leise dies Tönen des Ungewordenen/ das mich haben könnte/ anstatt der Zange/ die beißt hart zu: jeden Tag.

Die Freiheit/ größer zu sein/ als schreiben/ als wäre dieser Moment völlig „rein“,
unbeschwert von der Angst/ nicht zu überleben/ und dem Plunder, der am Bein sich sammelt/ es stellt/ Schwein gehabt/ hieße weder zu stehen noch mit zu wachsen/ also Sein.
Namenlos unabhängig vom Begriff Sein.

*
Dazu die sich nicht Ernst nehmende Nation/ die freier ist/ heiligt fast, gereinigt von der muti-gen Verzweiflung: In Cioran „Lacrimi şi sfinţi“/ S.22/ 23/ 24 /25/ 34: Fragmente und Apho-rismen./ Das Kreisen um Glaubensfähigkeit/ Etrusker kannten den Ton schon.

*

Einer der ersten römischen Könige/ ein Grieche/ unter Etruskern aufgewachsen/ Frau Sama-quil/ also der nicht-anerkannte Kolonist/ war aber versucht/ den Druck nicht als Geschenk an-zugeben/ sondern als Alibi/ verfehlt…

*
Die Bücher suchen uns/ wir kommen selten dazu/ verfehlen alles, was der Augenblick zu bie-ten hätte/ lesend nicht da/ lesend nur da/ unaufgefordert/ lesend verlieren wir immer/ die Zeit/ sie läuft uns nicht nach/ geht nach /wie wir/ ihre zerbrochene Uhr.

Lesend/ im Zwischenrau fremder Gedankemn, di mich eintönen/ singen in mir/ wer – weiß ich wieder/ ein Gefäß/ gestern aber die Wut/ nicht mehr mit ihnen zu sein/ von allen guten/ von allen bösen Geistern verlassen/ in mir nur ein Fleischberg im Boot/ ich ihm sinnlos zu Diensten.

Ernst bleibt/ Morgenfrühe wie früher fischende Indianerväter aus einem Kinderbuch/ am Fluss, den es mal gab/ und jetzt die Frühe hier/ Nebel über den Wassern/ Krähen./ Ich in der Kabine/ drüben eine Seemeile entfernt/ der grauweiße Turm/ Saint Florents/ Korsika/ der Leuchtturm Richtung Nordwest schließt eben sein grünes Auge/ und ich lese dazu Rilkes Zehnte Elegie./ Auch war Duino im Turm von sechzig Jahren: „Dass von den klar geschlage-nen Hämmern des Herzens/ keiner versage an weichen zweifelnden oder/ reißenden Saiten. Dass mich mein strömendes Antlitz glänzender mache…“ Vergehen der Schmerzen?

*

Kommt eine Hälfte deiner Gedanken aus Schlaflosigkeiten
Und ist doch SIE/ Anima vielleicht/ diese Nacht
Und du deckst sie auf/ deine Hälfte ihres Gesichts
Eure rote Blütenform/ essen ihre Wasserscheide aus Fleisch
Denn gestern schliefen wir in einer Megalith-Höhle
Von Figari/ dort, wo die Schwerkraft/ letztes Geheimnis
Der Wissenschaft/ anders hebt als in den Jetztzeit
Topografien: Und sie führte mich ein/ ihr Herz die
Schönste Zeitmaschine der Wünsche nach einem größeren Jahr
Wie ein Scheunentor des Himmels/ alles was war
Und noch da ist: als wäre SIE ein Delta
Der Traum in ihr. wo ich lag/ war viel größer
Und die Miniaturzahl dieser Zeile wie
Zu grob/ ich habe alles vergessen/ nur die Sekunde
Tickt langsam wie eine Krankheit
In neues Vergessen/ nachher und jetzt/ nur ein
Kleiner Blitz/ alter Draht zur Wetterstation
Schlägt abgerissen/ im Mast/ es schaukelt die
Dünung vom offenen Meer/ unser Haus im Seegras
Verankert: ein winziges Boot Der Anker aber/ ähnlich
Einer Pflugschar/ die im Zug des Windes
Zur Seite/ klappt: wie einer/ der schon in dieser
Sekunde/ an den Tod grenzt/ schon hinüber gegangen
Noch da. Wie SIE. Hat mich nicht
Ins Leblose der Tage vergessen/ wie Mineral das
In mir schon wartet/ die Entropien der
Arbeit/ gewissen Los und genau.

Sie aber führte mich weiter/ mit komm jetzt darüber
Hinweg/ schreibend und voll im Betrug/ das
Summen des kranken Augenblick überhol ich
Mit Ihr in Fahrt. Sagt sie: an den Ort des
Königs hier/ Fantasie als ich bei dir wahr/ du
Gespaltener/ der Schwäche eingeheimst/
Sonst nur ein Trottel/ gehörst doch mir.
Dies Schwanken ist kein myein/ leerer
Dein Kopf/ die Spirale anfüllst mit
Schmutzigen Strömen/ Gegenmusik/
Was nicht schwingt/ ist schon fast nicht mehr da.

Auch Mineral ist Kristall/ erste Botschaft
Des Wissens/ wo das Gesetz erst herein treten kann/ wenn
Zueinander die Liebe sich Anzahl schafft und
Verhältnis der Eigenart/ Form wie sie lachend dem
Chaotischen widersteht/ der Vernichtung in allem/
Null, die hinübergeht/ und die Spannung/ die
Deine Qual nicht erkennt/ nur in Trotz und Störung
Verliert/ sich dann aufhebt. Denn Gesetze sind
Endlos im Licht/ du aber willst nur noch schlafen
Im endlosen Nein.

*
Sie aber zog mich auf wie Beatrice/ die Stimme
Wie eine Leiter/ gleichmäßig zerstäubt Milliarden
Bit Auf Schluss/ in Kammern/ Pyramiden
Gespeichert/ ein Teil/ Magna Mater vielleicht
Schechinah/ die Hühle in der wir schlafend
Der Größe zu: Träumen und eingeschlossen/ Seine
Einwohnung/ Blütenblatt/ Same + Frucht
In der Lichtwelt/ schneidet durch den Raum/
Sonde der Ewigkeit/ Heil- Anstalt Gottes nah.



Zu AGLIANO

39. November 1985. Mittwoch.

Mit dem Blick des Abschieds fällt mir plötzlich Lucca ein.
Und ich habe Sehnsucht nach Lucca ...
Damals, wann? 1974? 1973?
Und der Spaziergang zur Wiese, wann? 1977?
als mir einfiel der Beginn
eines Essays über / “Diesseits der Gegenwart”.
Was ich vorausgedacht, das ich abwesend bin
du noch da warst, hier lebtest, mich mitzogst,
dass wir Abwesende sind nun beide, hier
ohne Liebes Gefühl , das uns irgendwo im Tessin
an einen bärtigen Kopf hängt, der mir ähnlich
sieht, aber der ich nicht bin.

Und ein Vierteljahrhundert später, jetzt
dieses Heute das wir sind
ist der Bärtige wieder da / drohender
unfühlbarer auch nicht mit Schmerzen
ertragbar / als Preis / unwiederbringlicher bist du
der täglich das Leben schwächende
mit allen Schatten /wahrnehmungslos fast ohne Gefühl
der Alte / der Älteste! DU bist es
geheimster Liebhaber aller Gedanken
Freund Tod.

Wie ein Kinderspiel wars, damals:
“Wir fahren sie ab / unsere Gegenden / wund
wir gehen und leben / sind wieder
in Bagni di Lucca gewesen / in Granaoila / wo Montaigne
die Höhe hinauf geritten ist zum Friedhof / welche Tote
von damals sind noch kenntlich? / und er?
Wir sind die Lima entlang gegangen / milchiges
Wasser / gelbe Kastanienblätter, das Sonnennetz
unter der Brücke / Montale hat es gemalt /
auch er tot / doch spürt er es nicht mehr / wie das
langsame Sterben ist. / Wir sind
an jenem Ort gewesen / Barga / die romanische Kirche steht
noch / der Christophorus mit dem Kind /
die engen Gassen / die Mauern mit den Gittern
und Einschüssen / die Bar vor dem Stadttor /
doch immer war jener Dritte dabei / und die Hand die
ich nehmen wollte / fiel ab / Worte fielen
herab / erreichten dich nicht mehr / deine Lippen
zusammengekniffen ...






28.11. 1985 Donnerstag

Das Datum / das vergangene zu Mal
Ist wie ein Todeszeichen ganz real
Zeigt es Vergehen an / und deine dir
Verbleibende Zeit noch hier
Dein Leben dir bewusst zu leben: ja lies es
Laut vermischt mit Todesängsten
Du liest hier so / als wär es Nichts.
Der Name deines Henkers.



DRUCK und Morbus. Sind seine Bilder an der
Wand /die Todesbilder. Vom Abschied hier gerundet
Mein Leben / wird alles noch mal
Wild / und jung / tut weh.
Dies ist es und es gibt / kein anderes.
Und was im Buch nur steht / hat es zerstört.


Vielleicht lieb ich in dir nur / was er sieht
Das Andere was mir unerreichbar ist
Weil ich nicht bin / nicht sein kann
Was ich doch erahne
Ist hier zerstört / ein Leben lang
Nur Ungeduld mit dem was aufscheint jeden Augenblick
Und auftaucht ansatzweise nur / in jedem Ding
Und Blick / Langweile geht / hier nur nach außen um
Und innen brennts / als wäre dieser Abschied
Der uns tötet / viel zu langsam.



Als gäbe es Orpheus wieder

(XIII) Sei allem Abschied voran...
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei - und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen (Rilke aus: Die Sonette an Orpheus

1
Auch bin ich aufgewacht, und weiß,
Und bin nun schlaflos jede Nacht,
Der Vogel singt / ich bin ganz im Gehör
Am Baum der diesen Winter uns erfror
Und weiß, dass ich wie dich auch ihn
Zu wenig hier umgeben und geschützt.

Es kommt nun einer, der den Baum nicht kennt
Doch der den armen Platz nun für sich selber nützt

Und dieses Blatt das nicht mehr ist
Doch brennt
MEIN Vogel der aus deinem wehen Herzen singt
Der das Vergangene Leben wieder bringt
Als wärt er allem Abschied voran
Als es uns gab / nun in mir selber klingt.


2
Und dann frage ich dich / mein Gott wie
Alt / sind unsere Gefühle / doch
Und wie neu / diese Welt - wo wir
Hineingestellt sind / Atome in uns
Wie in anderen Dingen Tieren und Pflanzen hier
Elementen auch wir
Und Schluss ach Schluss
Trotz Radar
Und trotz Trotz: haben wir uns?



3
Erweckung

Orphus und Eurydike / so erweckt
An wem / an was
An einen bärtigen Ulyss?

Auch er Atom, na und wohin
Mein Freund / tauch tief in dein
Inferno / wo die Schatten blühn.

Und alles ist
Nichts als Kontur.




UND fragen, ob du hier nicht bestehn musst
Ihr Gesicht / das abfällt / und sich einem Dritten
Zu neigt

Und du warst ja so weit
Und stehst nun vor ihr wie ein Schatten / wie ihrer
Der einmal auch vor dir stand.
Schattengleich. Schattenzeichen. Nun bist du bei ihr
Und einer ist in dir / der weint / bitter ein Kind
Das noch viel Zukunft hat, hier
Du aber weißt / und spaltest dich so
Und gehst / lässt sie los
Bist erst so / für immer mit ihr.


28./ 29.

Traum von einer Schwarzhaarigen
In einem Amt. Annäherung. Küsse., Rendez-vous.
Um acht Uhr abends. Da kommt MR Ranizki zu Besuch.
Ein großes Bett / meine Bücher liegen auf der Decke.
Er sieht sie flüchtig an: Sie beschäftigen sich wohl mit
Joyce? Ich sage ja. Aber nur in Maßen. Versuche
Innere Monologe. Habe dabei Angst
Die Frau zu versäumen. Es ist halb acht.



Wenn ich nun ans Allgemeine binden will / was uns
Geschieht, ist es die Auflösung der Zeit,
Der wir (mit Überdruss nur) sicher waren.
Denn das Leben / schien nicht mehr weiter / zu wollen.
Jetzt wenn die dir unsere Freuden
Also die erregenden Utopien / wohin reisen wir,
die Ausflüge in die Berge, Boots-Reisen /
was machen wir noch / wie wird’s uns ergehen?
Jetzt wenn die Utopien sich als Trug erweisen?


16h. Dann der Ort ein Topos / Schnitte in der
Mauer / blutrotes Ereignis in den Wolken über Pedona /
Widerschein in den Fenstern / darin spiegelt sich der
Garten / die Bäume / wir, unsere Jahre. / Als wäre alles
Unsere Geschichte / der Küchenschrank / hier gekauft,
Von dir “restauriert” / 82 im Februar, als der Selbst-Mörder
Fotograf kommen sollte / mich aufnehmen für Serkes Buch.
Oder Widerschein im Zinngeschirr / auf einem antiken
Eckschrank / ja wann war das / Amsterdam 1972
Grachten / Trödlermarkt / und dem Lupenschleifer
Baruch / der de Monaden kannte / in uns allen.
Ein glühend roter Lichtstrahl / fällt fast horizontal ein /
ein Abschied neigt sich der Erde zu / wie ein sehr langer
großer Schatten / wie der Tod / vorstellbar / fäll
auf die Hopi Kashinas hier / 1979 im Juli / im Jahr
Als mein Vater starb / alles hier in ein jung gebliebenes Jetzt

Topos, Schnitte “combinazioni dei fondi”, so sagte er / ich suche
im Herzen Schichtontologien /
Schnitte, alte Tage Bücher und Nacht Bücher
und eben brachtest du von den Fischers
aus Pieve eine Buch Kassette Wölfli / wann war das: 76?
Bei Elka Spoerri in ihrem “Stöckli” bei Bern.
Von der Wiege bis zum Graabe. Oder
Durchsichtig arbeiten und schwitzen, leiden, und Drangsal
betend zum Fluch?

Schnitt. Und musst einsehen / großes Gespinst
Eurydike / und hol sie... Oder die / Unterwelt / Ulyss
lässt die Mutter Blut trinken
um kein Schatten mehr zu sein.


Und wenn wir uns vornehmen / am 6. Dezember
nach Neapel zu fahren / müsste
natürlich Cumae und auch die Sibylle
besucht werden, denkst du an Waste Land
von Eliot? / Und die Ebenen müssen zusammen-
kommen / parallel laufen,
das ist die Rettung.




“Nichts zählt als die Inständigkeit der
Zuneigung.” (H. Pound).

Und erlaube mir / an die Kristallisation des
Herzens zu denken / bei Stendhal / auf Monte
Christo / er war ja dort gewesen.
Ich mit Hannah und dem Anderen / diesen Sommer
zählte sie da / diese Inständigkeit / oder werde ich später
so beschenkt / von zwei Frauen / oder beschenke ich sie
denn nichts zählt mehr als Himmelsgeschenk: Erfüllung/
diesen tiefen Grund auch
des Meeres zu erleben, tauchend sehn / 40 Meter tief
sahen wir seine Wunder
Gottes Liebe der zärtliche Blick / alles klingend
angenommen / Banales wird heilig / dass der Kustode uns
nicht landen ließ / ein scharfer Wind blies später / als wären
es Aeolos Windsäcke / und waren doch ein Geschenk
von mir, dem Eifersüchtigen geöffnet worden /
dachte, er betrügt mich, der Bärtige,
und so wurden wir wieder weit hinausgetrieben / Heimat
irgendwo? / Dass ich nicht lache!

Genialität / heißt es
sei ein gutes Gedächtnis.


Alef: Eins – das Stierhaupt ist zu sehen
denkst du an Knossos / ein Kitschfilm
von gestern Abend oder eignes Knossos-Ich
vor Jahren?
Oder heute der rotglühende Sonnenuntergang Adam
Adom (rot) dam wie ein Damm das Blut vor dem Sterben
Stier / ein rotes Tuch mir spanisch
aber Leben heute....

Beth: zwei: das Haus / wie die Lippenöffnung
einer Frau so oben wie auch unten
und blüht auf / der Atem



DEZEMBERFRAGMENT 85



Florenz, 18./19. 12. 1985
Und Giulianas Ehrentag m „Saal der Elemente“

Vor mir das Vasari Wasser/ Venus/ Muschelgerippe Dreieck/ Mauer
Darunter Musatti/ über Panajotis und Giuliana/ ich seh Gesichter/ Bild und Saal/ die Wand durchdringen Gesichter/ der Druckerin/ sphinxhaft schön/ aus den Augen/ oder die Therapeu-tin Margherita/ das Kindergesicht./ Frauen in Pelzen/ Blicke. L. neben mir im schwarzen Jäckchen.
Auf der Straße/ der lange Rücken.

Der berühmte Psychologe spricht über Kelten und Zwangsjacken
Über die Kranke, die schöne: in der zwei Frauen wohnten/ Exorzismus/ Falle/ und vor mir
Riecht es nach Parfüm.

Fiorino d´Oro der Bürgermeister/ über/ reicht ihn/ und geht./ hier die Nackten
Von Vasari, da wusste ich, was mich erwartet: corpi nudi/ undgeht./ Voller Ironie/
Im dunklen Anzug/ geplaudert.

Schläfrigkeit/ dann kommt/ die Blonde/ langes Haar und ine andere mit Engelsgesicht
Flüstert ihr etwas zu/ berührt das Haar mit der Nase/ stützt jetzt mit aufgeblühten Fingern
Das Kinn auf/ sie lösen/ langsam Erregung wie eine Droge/ Schwingungen
Als würde ich angefüllt mit dem Saal./ Das Marmorinnen zieht mich an wie mein Freund Egidio.

LIONARDOS MENSCHENMODELL mit vier Händen und vier Füßen im Kreis
Aufgeklebte Karte mit seiner genauartistischverschlungenen Schrift. Un/
Nachahmbar kalligraphisch schön.


Il meglio fabbro/ im Garten 1 Meter tiefer Graben für Reben./ Joh. 15./ Mein Leben morgens: diese Lust. Sie stößt durch Buch-Staben./ Doch am Florentiner Dom/ keine Erregung mehr./ Autobus in das Baptisterium/ grauer Alltag/ Jungen und Mädchen und Tauben und ein alter Mann./ Zwei Deutsche gehen mit Fototasche ins Innere./ Und wir: Heute immer wieder zu Giuliana/ Argia und M. Panayoti, den Griechen./ Sie sind wirklich „der Tod“. / Blicke/ Durchblicke zum Dom./ Blickhalt. Haltestelle Memoire./ Florenz noch älter geworden./ Bei Santa Croce wohnt Carlo/ Borgo, alter Innenhof./ Das Auge viel zu nahe dran./ Er hat Exis-tenz Sorgen. Der Grieche ist sein Chef/ Institut für autistische Kinder, von P. erfunden./ Ar-gia/Giuliana ist Carlos Analytikerin:/
Lebt alles so wie im Irrenhaus/ 31 ist er/ und geht gebückt wie ein Greis./ Ängste. Obwohl der Vater sehr reich ist (Quelle: wohl Parmegiano!)./ Carlos Frau ist Spross serbischer Partisanen../ Belgraderin. Und stark /
Der Grieche erfand auch/ das „göttliche Syndrom“/ Gott al Krankheit./ Er hat einen einzigen/ infantilen/ Patienten. Und der ist auch schon 21.

Ich denke an die ersten Besuche in Florenz./ Lauter Legenden.. San Miniato. „Deine Zärtlich-keit wird wider auferstehn.“ L. hatte mich untergefasst auf dem Ponte Vecchio/ wimmelte es von Andenkenverkäufern und Gold. Und dort am Rundbogen/ lehmig der Arno/ floss vorbei/ und wir suchten einen Ring/ gegen die Zeit/ ihn beide zu tragen/ dazwischen eine Bindung hier/ auf dem Papier/ nur die drohende Trennung/ dort das Gesicht meines Vaters/ die Mutter Hände/ daneben/ stehen. Sie beide einmal/ auf dieser Brücke/ Blick in die Fließende Zeit./ Ein totes Hochzeitspaar./ Nur der eine Teil lebt noch/ der andere (…) wer weiß (…)/ Und ich küsste sie wieder/ das Brücken Geländer/ der Halt in die Tiefe./ Ja, die Vitrinen: Gold Ringe/ viel zu teuer dieser Halt/ für uns./ Was hatte ich hier/ jedes Mal/ aus der Tradition / heraus gedacht./ Auch, dass wir arm seien./ Und das Zurück ins Jahr 1932. Das mir jetzt nah ist. Fast gleich gültig, als wärs Jetzt/ vergangen. / Gleich gültig wird alles./ Nur Transsvylvanien ist weit/ vielleicht gar nicht vorhanden.
Was gestern geschah, geschieht erst nach träglich/ in mir/ blind strömt viel zu viel/ wie der Verkehr/ Richtung Autobahn abends./ Geschieht erst jetzt: hier. So dass Zeit „das Leben der Seele“ sei.

Wieder zu Hause. Abschleppen/ haarigmosig/ Heizung blubbert und plätschernder die anderen Zeit/ vor. Kommt He, das Fenster, das Hebräische ist nah. Fünf. Sonne. Ich. Radio Kainsmal durch die Wand. Und höre Marianne Fritz mit ihrem Wälzer aus Austria. Fritz nannte man Deutsche. Auch: Aufwiederschaffen (in Triest).
1. Bei Esselunga Fondane Liebes-Gedichte (Obsedat de lumină). Alle Poren durch. Kleine frische Säckchen./ Und damit dann Gaskammern abgebraucht Zyklon/ Fenstern gittern fern/ kein Eis
2. Lösung urmaṣ und Genealogie/ Schwarzerde/ Ciernosom. De Ird. Af deser/ Er-zählerisch be-gabt (Gowen. Bald äs Chrästdach)VGl. SBG. Sächsisches Wörterbuch, Buch Stabe G.
… Femeie, pămánt negru, te vreau ṣi te iubesc…
In care mă aṣteaptă ca íntr´o oglindă chipul.
Das Umständliche/ Ver-stand/ Stand und Nicht-Handliche.
Kind/ Känjd/ copil/ Djermäk/ bambino/ hast du/ host tea/ ai/ singura ṣansă de continuitate?
Frau/ Frucht fructus ventris tui/ Ave Maria grazia plena?
Kein Lust/ ab Dreieck/ mehr als gewesen!
3. De Stadt säcken/ Ekbatana oder/ Schess brich/ in C. schau Fenster stehen offen
Auf der Bank Millionen früherer Frühlinge in mir. Aber Aus Brechen…?
Aus dem Ort Zwei-Wert/ die Nase der Syllogismen verstopft/ ist
Rotztropfengrün/ hier ist aber: Drehen und Wenden Kubus. Ideogrammatisch ver-gehn/ wie der Film. Eine Hand/ liebt Dolch/ Dolch dringt ein.
Geweitetes Auge. Klammer Tischkante. Spritzt. Schrei. Etwas tropft/ Schuhwärts.
Entdeckend. Schnitt.

*


22.12.
Alles hinein zitieren/ Celan/ Wörterbuchverfolgung. Und die Vor-Schrift in mir.

Jeder begegnet seinem „Drachen“ / Wer aber ist hier der Hausdrache/ rettet oder vernichtet/ ganz
Unvorhergesehen. Phallus klebt dann nicht mehr/ allus.

Bisher/ einfach: z.B. 1558 Moment Anna Chendae in Hunnyad. Török war ihr Mann/ ein Ge-neral.
Er ließ sie köpfen./ Weil sie ihn hinter ging. Sie sein Besitz. Er ließ sich stehlen, stahl ihm selbst die Frau.

Ratlos/ den Drachen umarmen?

23. 12. L.s Geburtstag. Kommt im TB aber nicht vor.

24./25. 12.
Was sich als Licht begreifen lässt/ solange wir da sind/ du meine Mutter/ die Zeit Erinnerung/ der Bruch.

Wir wissen es nicht mehr/ was war./ Sicher ist nur – dass es einmal
Gewesen und nicht mehr sein wird. Vorbei.
Und das Licht verschwindet. Stille. Nacht.
Die alten Weihnachtslieder, sie sangen den Duft
Und du warst zu Hause/ einmal in deinem Leib./ Was ist Dankbarkeit – ein Wort.
Wie die Abwesenheit beim Telefonieren/ sich in keinem Augenblick sammeln kann
Was für uns spricht/ und was schön war.

26. 12. 1985
Denken an Mutters Geburtstag (75).

Wenn man die Zeit aufhalten könnte…
Du bist verpflanzt worden, vielleicht versetzt worden. Schmerzen auch
Weil du „unten“ geblieben bist mit deiner Seele.
Mutter, du mein großes Gedächtnis bis weit vor meiner Erinnerung da.
Es lässt sich kaum sagen.
Fest-Ablehnung, Fest-Aufhebung wider die Zeit, die sich oben schließt
Nach unserem Verschwinden!?
Der Kreis, der sich hier zeigt, und nicht nur wir.

Celans Mutter – als Gegenteil. Nicht ausdenkbar. Wo warst du
Als seine Mutter starb./ Wo waren wir?
Es dehnt sich/ und sprachlos fand ich mich/ ohne deine ersten Worte/ aus dem kleinen Kreis des
Nussbaumschatten, schön kühl/ und ein Roten Hauses/ bis die Zeile/ wo der NußKern wieder zu sich fand/ Den wir ahnungslos aßen/ war ich ein Kind und zu Haus….
(Kopiert: 5.Juli 2010)


Es ist die Schwere, die mich zu dir zieht. Du warst der Anfang meiner Erde/ die sich dann bald
Nicht weiterdrehte / in allen deutschen Worten. Es war August. Es hieß: Zusammen Bruch.
Kein Auge blieb trocken.


Und wenn ich es vergleiche: mein Gefühl/ es kommt von dir/ im Abdruck meines Lebens
Mit jenem/ der seine Mutter durch uns/ verlor/ - dann bin ich klein geworden/ und es trägt sich nichts mehr zu/ wenn ich vergleiche/ ist es erstarrt/ und fremd hier wie du.

*

Weißt du wie viel Sternlein stehen/ auf dem blauen Himmels Zelt. Einmal blau/ und hat dein Kleid an/ Lieder, die du sangst. Die mich noch heute sehen. Erstaunt, dass die Mutter/ so spät noch wie die besten Freunde/ im Gedicht die Worte/ bei mir stehen. Als wäre nichts vergan-gen/ und noch alles DA. Und wie Margueriten/ groß ein Blüten Feld, auf dem wir nicht mehr zählen.

Ein Märchen, wenn alles wieder zurückkäme zu uns, als wäre nichts geschehen: Und das Vergangene so nah wie das Unerwartete, das später eintreffen wird, wenn du nicht mehr bist. So naiv drängt es zu etwas. (…) Ach, das Einfache ist zerfallen, „weil es ein Anderer ist, im-mer ein Anderer, der da redet. Und weil der, von dem da die Rede ist, schweigt.“
Was weht tut, ist vielleicht die Nähnadel im Finger, ein Blutstropfen höchstens. Das andere geschieht im Fernsehen.

Und lang schreiben, ohne Unterlass sich davon machen, Wörter als „verfehlte Wirklichkeit“- die andere, die ich nicht erreiche, ist die Große Ohnmacht in allem, was geschieht. Und ich wie ein Fremder daneben. Gast im eigenen Leben. Doch nicht mehr das alte Lied; nur die Schwere wächst. Prägt den abwesenden Mund, die Hände/ in der Luft. Sie greifen nichts mehr, nur noch daneben. Und suchen vor sich her. Das Feld mit dem Geruch dort ist/ leer. Verschwunden. Und das Herz. Schwer.

Was im Bach stand/ wir denken ihn/ kaum noch/ steht er mit uns/ die Brücke?

27.12. Die Schwere. Und dann die Sterbensfahlheit, wenn ich allein bin. L. ist innerlich fort.
28.12. Die Nacht Tingtang Herz. Höllengefühl. Zukunfts- Los. Altern. Und allein. Immer wieder dieses Gesicht des „Dritten“, der sie mir aus gespannt. Dass Jann zwischen ihre Papiere holt, zum Aufschlagen bereit. Diese Scwerkraft des müden Herzens. Bei mir nicht aufzu-nehmen ist oder beschreibbar. Kein Foto. Kein Buch.
Eine Grille, die singt über uns. Ganz schön. Zynisch. Sogar ein Lob/ Boykot der Schlächter Geschichte. Und unserem Eigensinn. Und wüsste nicht, wie es weiter gehen soll. Eng und en-ger die schwarzen Wände. So komm, liebster Wahnsinn. Flach mich ab. Und nur ein Liebs-Wort von Jann… Und ich wäre „erlöst“.

Diffuse Dimension der Träume, die sich als eben Geschehenes ausgaben, als trüge es sich und mir eben zu. Da war ein groß gewachsener Mann, wir sprachen über Meditations-Technik. Und ich sagte, Si zehn Jahren übe ich täglich Tantra. Er sagte: Das ist gefährlich. Doch wußte ich, dass ein Hochschrecken aus dem Traum schon die Commedia schuf. Und die Umkehr zwischen wirklich Zugestoßenem und Gedächtnis, wie in der Analyse/ Schmerz des Nachget-ragenen so deutlich macht/ wie hier im Tage-Buch: Erst dem eben ver-flossenen Tag eine ko-penikanische Wende geben kann, manchmal wie ein Erkenntnis-Schlag, ein Axthieb. Der Tag erst in der Schrift eingebracht. Als wäre nun im Zusammen-Hang/ die Vor-Schrift gelesen und findet so ein Erwachen/ hier auf der Zeile mich Selbst. Das die wieder lesbar macht. Als wäre ich nicht wirklich gewesen; wirklich nur jetzt.

Abschiedsfähigkeit. Zur Lesung 85/86. Ist Herrenalb gemeint? Am 17. Januar. Ein entschei-dender Anstoß, sich des Vergangenen zu erinnern. Ist jetzt eine Art kollektive Inkubatonszeit vergangen?
Aber das Erwachen (aus der Nazizeit der Siebenbürger Sachsen) wurde verzögert. So muss schreibend getan werden, sage ich mir in meiner Arbeit, dass das Traumbild „Heimat“ des Gewesenen nicht weiter mystisch nur verklärt wird!, das ihm wenigstens im Satz die rückge-rufenen Bilder und Zitate zur besseren, härteren Lesbarkeit verhelfen. CITARE heißt ja: nicht nur zitieren, sondern auch vor Gericht laden.
(Vgl. Auch „Dass schnelle Altern der neuesten Literatur. S. 52. N. Boltz).
Weiss: in einer Stunde. Hintergründe des Weissen Blattes. Gedicht dazu. Celans „Sprachgit-ter“. Au Mallarme: Blanc. VGl. Janz S.36. Mein Gedicht dazu: Casa Bianca. Und Hirnsyntax.

31.12.85.
Noch dieses Jahr/ Und Meister Manole stürzt von Haus zu Haus/ weil sie zerfallen werden/ die Mauern stürzen ein. Risse sind überall zu sehen. Und gräbt noch schnell / die Frauen ein.

2.1.86. (Ich frage mich: wo ist der 1. Und wo waren wir Sylvester? Mit den Kantzas?)
Sartre Briefe. Ataraxie: Gelassenheit.
Wirklich/ auch für dich/ nur deine Sprache./ Und der Tag/ wie er dir anvertraut/ durch sie. Schreibend vollzogen/ die Wiederholung der Alltäglichkeit.

Melancholie ist die Darbietung des Selbstmitleides/ Unglücklichen Bewustseins.
Nötig Schluss machen. Leben ändern; Fingerzeige gibt es genug. Endlich das „Bürgerliche“ ablgen.

Darin meine Mikroben.

3.1.86.
Streit. Anmaßung dieses Wirklichkeits Kobolds. Täuschung fliegt auf Täuschung. Komischer Dialog. Auto reinigen. Aber ohne Kommentar, bitte. Und verbietet dir den Mund. Und redet dir drein. Und weiß alles besser. Es ist tragisch mit uns: Ein Leben lebt jeder von uns/ in ganz anderen Welten. Die dumme Selbstsicherheit, das wollen die Leute.

4./5. Januar. 1986
Traum. Nach dem Akt mit Jann. Seit dem 1. Schlaf ich bei ihr/ ein. Auch gestern. Dann Traum: ihr nackter Hintern, prickelnd. Und das Haar. Und schlug darauf/ zum Spaß. Vor Mut-ter und Carmens Augen. Im Dunkeln sogar drin sein.

Beide nackt.
Resignation. Weltschwund. Ursache: die Vorstellung „aus der Konkurrenz raus“ zu sein?

6.1.
Sie verlangen nichts anderes, die beiden Frauen meines Lebens: als das zu tun, was ich bisher tat: einen Namen erschreiben.

11.1. Geburtstag Mutters in Aalen. Vorher Mutlangen.

13. 1. Banales. Müdigkeit.
Nachts Todesgedanken. Am Friedhof Vaters Grab. Mein Gedicht in seiner Rocktasche. Und stelle mir vor: Ob es verfault ist in diesen sechs Jahren seit seinem Tod? Ist der Todesgedanke/ das Beste/ in diesem banalen Leben?

16.1.
Eco spricht von „rhythmischer Harmonie“.(con cinnitas), so das Zusammenfügen von diversen Schnitten im Text. Kontrast im Schnitt. Bei Feature und Hörspiel. Szenenwechsel. Möglichst viele Lesarten.

17.1. Herrenalb.

(Kopiert und Bewusstsein am 6.Juli 2010.)


17.1. Herrenalb.

(Kopiert und Bewusstsein am 6.Juli 2010.)

(Auch Vorbereitung für Sbg. Reise: Transsylvanien, Resignation oder Hoffnung? Thesen zur Zukunft.) – (1986 waren allerdings noch vile Sachsen zu Hause. Erst 1990 kam der große Exodus. So hat eigentlich die Diktatur diese Gemeinschaft wie vieles aus der „alten Zeit“ auch alte verfallene Häuser erhalten. Die Kapitalzeit hat sie dann erledigt und aufgelöst.)

Analyse. (Nicht abgeschrieben. Dazu Entropie. Geschlossenes System. Ebenso Diskussion: A. Möckel. P. Philippi. Weber. Miess, Holzträger. Else Müller. Frieder Schuller.) 2x die Ge-meinschaft durch Deutshland zerstört: 1940 u. 1945. Das drittemal dann 1990 Das konnte man aber damals noch nicht wissen. Philippi: Via antiqua durch Hitler diskreditiert. Via nou-va: Auswnderung? Und der dritte Weg?.


1986

11., 12, Februar In Brackenreuth. Im Institut des Dr. Wiedemann (Bodensee) Autistische Kinder. Heilung durch anthroposophische Therapie.
(Vgl. meine Sendung dazu beim SDR)
Wiedemann: Sequenzen von Erinnerungsbildern aus dem vorgeburtlichen Leben. Mein Er-schrecken, ähnlich wie in Mailand 1975)? Bei der Bekanntschaft mit Ernst Senkowski.
Ihre Gesichter lösten diesen Schock aus dem Unbewussten aus, dass wirre Traumbilder hoch-kamen, und nicht mehr aufhören wollten mit dieser Filmprojektion aus anderen Leben.
12. Februar Abend. Persönliches. Bei meiner Schwester. “Die Lindes sind gekommen!”. Das frustriert. So denken sie also. In allen Familien. Ist das Aussiedlerminderwertigkeitskomp-lex?
Und L. bemüht sich, mich auszustechen. Gibt selbst die Geschenke.
Die kranke Frau mit der ich leben muß ist manisch besessen von “Ordnung”. (Nicht abge-schrieben...)
Nachts kommen wieder die Reinkarnationerinnerungen mit Wiedemann hoch, die ich aber sofort wieder vergesse. Weiss nur, wir saßen an einem langen Tisch, ein Junge war noch dabei. Ich hatte etwas vergessen. Dazu das totenkopfähnliche Gesicht von Wiedemamnn. Er-schrecken bis ins Herz hinein.

14.12. 86. Von neuem die Casa Nouova in Camaiore /Agliano.
Schrieb eine “Hommage für O.P.
Erlebte Essenz-Gedichte oder Acte-Dimge. Rückblicke, ein ferngesteuertes Sprachstrsomwe-sen und Para-Phrasen.
Jetzt erst Worte einstürmen / aus Berlin
(Nicht abgeschrieben. Schlecht.)

25.2., zum 17.2. Rolf Bossert stürzt such aus dem Fenster im Frankfurter Aussiedlerheim. Spiegelnotiz. GESTORBEN. Rolf Bosser, 33.
Im Literarischen Colloqium. Diese Nacht vom 9./10. Februar. Bis halbsechs Uhr Früh rdeten wir in der Küche: Bossert, Guntram Vesper und ich. Mit viel Bier. RB trank fast einen ganzen Kasten leer. Erzählte von Totok. Der sei verrückt, grössenwahnsinnig etc. Kniete dann nieder, um ihn im Unsichtbaren zu umarmen. Wir sagten ihm, er dürfe bei der heutigen Pres-sekonferenz nicht schlecht von den Dortgebliebenen treden. Er wird ausfällig.
Am Wannsee erzählte er vom ermordeten Ursu., Ursu mit dem Loch im Kopf. Den die Secu, um alle andern zu erschrecken, in diesem Zustand der Familie übergeben hatte.
Er las, machte dabei Scherze. Er wirkt berserkerhaft, ein Rübezahl mit rotem Bart. Werner S. sagte, er habe bei seinem Selbstmord für uns alle gehandelt. Eingelöst habe er unser aller ei-genen Tod. Den Leichenzustand.
Mein Gedicht an ihn, handschriftlich mit Korrekturen.

4. März. Dieser Mensch, Maler, der uns das Boot Frasquita “vererbt” hat (JPF) hat unsere gemeinsame Sehnsucht gestört, sich eingemischt.
Mmit L. ist jetzt nichts mehr möglich?

12. März.
Unnütz was ist/ isst du wieder
Sein Essen kein /klein gemacht
Die Sprache spricht wieder
Tage nichts gelesen / wem Gott will
Rechte Gunst / Kunst? Erweisen?
15. März
Andauernd diese Schattengestalt um mich. Täglich dran denken? Wie eine Strafe. . Fühlt sich stark. Vergleicht ständig. Ich muss mich anstrengen.
L. ist verliebt in JPF. ( Ich schreibe ein Riesengedicht in Fugenform, wie eine Kunstkopfsen-dung. Sie hat es sich in ihrem Studio an die Wand gehängt. Müste ich es abschreiben? Es ver-blasst!

Montag, 19. März.
Anruf von Beckmann (Benziger) Das Buch, die “Vaterlandtage”, gefällt ihm sehr gut.
(Ich erinnere mich: HJ Schmitt, mein erster Lektor (Fischer, Visa) war da. Es war OsterSams-tag und Beckmann rief begeistert an, wollte das Buch unbedingt machen. Und Schmitt war erstaunt, solch ein Telefonat an einem OsterSamstag...!
Gestern Abend
im Spiegel gegen die Wucherbanken. Und neue Armut. Erleichtert.
In den Akzentn Beckers “Odentliche Küste” (Odental) Nähe Bensberg. Gegen meine Erstar-rung durch äußere Schreibarbeit: Inneres Hörspiel.
Sich öffnen für
Den Hauch
Kaum zu spüren / dann
Ein Sirren im Kopf
Nebengeräusche / Zitate
Kein schöner Land
Heimat hast du / zwischen
Den schwarzen Büschen
Kirschen / ein Flackern
Und weiss
Kilo Hertz zwingt
Die Welt ins Ohr / ein
Dröhnen / bei Gott
Anemonen nach ihm / der Sonne / die Sint Flut
Zu am
Offne Köpfe Frühlicht / violett

(Wiedergeburtsgechichten. Idee Dazu: Nicht abgeschrieben.
Erstaunliche Aussage damals von L. Sie sagte: “Ich kann ohne dich nicht leben. Du bist mein alles.Bruder, Mann,Freund, Vater. Und mein Halt.So bin ich immer wieder zu dir zurückge-kehrt. Du bist genial. Keiner kann dir das Wasser reichen. Grosses Gespräch bis einhalbzwei Uhr.

21. März. Gestern Farneta. Boot. Wein und Meer. Wieder Arezzo. Über Ilse Staff., die unsere Bücher las.
Die Briefe vom “obersten Interesse” diktieren lassen. Ohne Angst. Auch an Pastior.
Was aber ist Hiob?

24.März.
Von De Crescenzo die These: Freiheit (privacy) und Inkognito gegen Liebe (Bindung, Rei-bung, Unfreiheit.)

25. März.
-L. Hinhalten mit JPF.
- Besuch in Lugano.
-Im Mai F. verbieten.
In D. unbedingt Kontakt aufnehmen mit Partnerinnen / leben versuchen neu zu ordnen. “Akti-on” von L. muss ich eine eigene entgegenstellen. Wen einladen? Am besten aber Eifersucht unterdrücken- so tun, als wäre nichts geschehen.
Ihr sagen, im Austausch: Verständnis mit Magdalena.
Abends. Bei Ilse Staff. Alkoholisiert. Wutausbrüche. Schlimme Dämonen wieder.

26. März in Forte.
27. März. Umkehr der Elegien.
URSULA BEDNRS IN DER NL. Regt mich zu einem sehr langen Gedicht an. Nicht alles abgeschrieben. (Zu Schässburg!) Seit 4 Jahren (2005, 11. November) ist sie tot. Und ich weiss, ich war dort, und bin nicht zum Begräbnis gegangen. Sie war nur 85.
Ursula Bedners führt mich mit Texten zu Schässburger Blumen.
Und dass da alles so sein soll wie früher / gar weiter gewachsen der Nussbaum/ Nähe und ich sag aus / was wichtig zu sein schien / den Stiefel, der alles zertrat / so dass die Himmels-schlüsselblumen auf leeren Plätzen zu wachsen scheinen / kaum mehr zu bedenken in fehlen-dem Licht. Anstrengend ist es / sich vorzustellen / wie auch dort das Leben weiter geht / ohne uns / nach der Katastrophe leere Orte / ein Leerklang im Speisezimmer. Und viel zu kurz mein Leben / alle meine gefühlten Bilder / ausdenken zu können. / Und lese vom Maifest in S. / Bis hierher / und auch dem 4.3. / hältst einen Kiesel in der Hand/ in den Fingern / als könnte man hervorzaubern, was längst vergangen ist / einer hieß Brandsch und liegt in Russland begraben, seine Streifenwagen aber, auch sie längst verdorben / die Pferde tot, machten alle unsere Umzüge, „tavern“ hieß das im Dialekt. / Welch ein Henker ist das, die Zeit / nur der Duft von Heu oder Wiesenglockenblumen, weckt die Bilder auf / und dazu Ungarettis “Tutto ho perdu-to dell infanzia / O / Null wie Bedners / Mutters Schülerin / auch am Maifest / und als wären wir nicht da /mein Bruder / liegt auch auf dem Schulberg nicht mehr./ Jandl hat Recht /mehr nicht als Brecht / verfremdet Gedichte nach dem Tod (Klebt hier aber der Phallus noch alles?) - auch trocken?
Reminiszenzen als Bleibart? Wo nirgendsmehr Grau am Haar hängt! Immer ab strakt nie Meer.

Mein W.Butler-Yeats. Byzanz? / Oder Klöster / Oder Lucca. Oder S. als ausgesprochenen Ort/ noch unbetreten? Liebe Sucbild im Rücken. Elegien? Wie Kitsch? Oder “Anders rau-schen die Brunnen / Anders rinnt hier die Zeit?”
Süden als Ort / wo die Zitronen blühn / beschert hast mir das / und sitze hier, das gibt’s / nicht gibs/ da und mehr. / Lass o Welt und so / ein Pfarrer in Schwabn. Und. Mehrere Länder / das Geschenk / nach dem Tode also / Gespenst.
Doch warten / dass die Kluft sich auftut / und mit Sinnen / und wir so tot und vorbereitet / schon Jetzt / die Brücke bauen / und: keine Vor-Geschichten / und Geschichten machen / ES IST.
Ja. Immer unmittelbarer zu Gott - dieser tote Wer.

Woran ich schreibe / nun: an diesem HIER (Jandl, wie niedlich!) Im Inkognito kommt / Er wieder / zu Haus an - Bricht die Stimme / Nähe aus. Wie Fahnen! Was uns irrte. (Wiesen-schaumkraut / Nessel / reine Poesie.
Regressive ist Progressive / alles Eins. Jetzt / Skelette / wir fallen vom Fleisch / Eingetaucht / bis zu den Kashinas der Hopi / Kommt wieder / also der Messias / Oder jüdische Kalender / die Freitag beginnen / Blaue Königin / Schalom.

Sehnst dich, sehnst dich in Einem fort / bis du Tod bist. / Ab nehmen, wer?
Abnehmer beim KirschenLauf! Oder Kirschen essen / mit Wem!
Ungeduld nur noch Zeilen / Weise (Waise) zu bannen! (Erinnert Nie. Bannführer / Ja war Ru-he auch im Krieg. Jetzt ist nichtmal der / die möglich!!
Und Eisbrocken auch beim Hände Geben.
Aber Literaten über Literaten / Kalte Hände - heisses Herz. / Und sangen fort / alles. / 5000 Jahre und mehr drängen vor / Tiere erlöst / und bisher auch Steine / oder der Krokus hat hier das Wort.

Erwachst / und siehst die Augen in den dunklen Höhlen sich drehen wie ein Atomkern / Lichtpuder und wirst in die Höhle reingezogen / Traumfetzen wie irr.
Stehst unten am Stall vor 1000 Jahren / ein Junge dabei / und es ward gestern...
Traum wühlt / Ich und die Meere / oder thalassische Regression.
ERREGUNG: Ritt in Lucca / via delle Fosse / man darf es nur eingehüllter sagen!
Reinkarniertes Bild.

Doch meine Verhüllung / das Fleisch, das bedeckte Zeit stiehlt / so Unlust zu leben. Jeden Morgen Distanz als Stein spüren ?/ doch dort im Aura-Land / so weit. / L. (Hannah) aber hört im Radio: jeden Tag neu. / Und das Einfach: So in der schmutzigen Wäsche / eben reini-gen. / Tolle Tassen im Schrank / Mahlzeiten / Schlaf mythische Gewohnheit zu Alltag machen / das alte Banal.

Immer wieder Entscheidung / von hier an aus - nur noch Zeile! Alles-Eins leben / Traum und regressive Toleranz, wo alles hoch kommend / Worte sprudeln den Jungbrunnen / alt.


28.3.
Morgens / da war ich mir
So ernst und rund / von innen schwingend
Der Yogakopf / und bindet / die Sonne blendet
Ganz neue Wünsche / nichts zu tun
Dies Blenden ruhig trinken / für Einen-Andern
Tun. Neu aufgetischt mein unfertiges Fühlen

Das Insichruhn ist heilend / nach dieser Hölle der Nacht.
Alt- Anwesen / und Umsich zeigt sich heut
Ganz Bildlose / alles Bild.
Die Auralosigkeit bin ich / daran ersticken
Dies Ich ist meine grosse Krankheit.
Und keine Liebe / nie/ so dass sich Zeit
Nicht sammelt / und…
Keine bleibt
Ein Hetzen ists / du alter Danaid..



KORSIKA 1985 und 1986



29.3. 86 Schmitt und Natascha.

Kindernachmittag ( nach Benn)
Kindermittag das Summen / Bach Libellen / und der Hahn. / Der Hang schräg / seine Blume in das Licht, mein Mittag. Der mit Heuduft kitzelt / Und keine Zeit vergeht / in den Gedichen von Albert / in die Kokel getaucht / draussen im Flimmern vom Mühlnham./ Was noch ist / heisser Stein / beim Barfussgehn / als wärs dem Jud schon längst geschehn / und ich in ihm / nur noch den Tod geortet.

Und höre / dass an jenem Tag / in Alisch wir den roten / Ikarus mit Roth in einen Kinderhimmel fliegenh liessen. / Lauro de Boris liess zu gleicher Zeit /vom Himmmel seine Blätter regnen auf Rom. / Und suchte mit seiner Maschine den Tod / einfach durch Schrift. Ewige Stadt / so gegen zwölf Uhr Mittags.

Und Flug um Flug entthront die Wand / und Grenze ruft / die Zeilen fest geschlossen. / Regress ist Freitod / stürz in die Erinnerung / das Heu bin ich / Sein Duft it meine Nase.
Was abe ist die blöde Kunst / die nicht berührt / Herr Benn.
La vita non mi è più / Arrestata in fondo alla golla / Che mia roccia di gridi. / Ungaretti der Luccheser.



Tarahumara von Michaux / von Artaud,. / Und Hin fahreh / wie hin richten / “Wir aber wehn / Agartisch ist die Flut.”
Und Auferstehung hier / morgen ist wieder Ostern : Und gestern Gesu morto / C. hat das Öl im Wasser gezündet / Badia. Und heute ist Nebel.

Wir warten im Assozieren / auf eine lebensverändern / Visison. / Thyrhenisches Meer. Ein frevelhaftes Blau. / Was ist das Horizontale / Gewerbe / und Gewebe im Onienschlingenwald / Torre die Lago / ungotisch, ja. Latein (+ wie Amerika) und gar nicht in der Schule. / Festa und KPI im Tanz und Dröhnen / dort am neuen Hafen / doch Ohr- Pfeifen / weil ich ein Deutcher bin
Und Wasser hebräisch hiesse: MEM, wie würzig.

Meer / Meer noch mehr / und Immer-Meer / Vision am Wasser / waschen / weiß
wie Linnen / Waschblau am Trog / das wars / noch klein / und nach gezogen
der Hof / Erinnerung ans Regenfass / nass der Kindersommen. Als käme er wieder ./ Und immer sei es.

Am 31.0.3. 86 finde ich in meinem Tagebuch: Dichternebel. In Sassi zu Rudolf Borchhardts Hütte. Parks und Häuser mit Balkonen, eine lange gewundene Strasse. Und die zwei Verrückten in einer Bar / Trattoria. Und die Kapelle Ariosts. Doch heute anstatt Dichter / Dichtr Nebel. (Titel: Dichternebel) Und du suchst mir die Praxisfrau / die dir alles abscneidet. Eine sogenannte Blöde Kuh./ Die dich lächerlichmacht und reizt bis ufs Blut./ Auch wenn du mehr weisst, warum wir da sind!

Am 9./10. Mai 1912: Zusammentreffen mit Hugo und Gerty von Hofmannsthal, Ottonie Gräfin Degenfeld und Max Mell in Lucca, ›Albergo Universo‹.
Ende Mai/Juni: Aufenthalt in Sassi oberhalb Castelnuovo/Garfagnana. Übertra-gungen nach Pindar. Hofmannsthals Reisegesellschaft dort am 20. Mai für einen Tag zu Gast.
Ende Juni: Einzug in die Villa Mansi in Monsagrati Alto bei S. Martino in Fredda-na/Lucca.
7./8. Oktober: Besuch Heymels in der Villa Mansi, am Monatsende Bertha und Willy Wiegand… (Borchardt-Archiv).

„Im Sommer 1912 verlässt ein deutscher Dichter in aller Herrgottsfrühe sein Haus in Sassi im Apennin, um Enzian, Aurikeln und Narzissen zu pflücken. Er erwartet Gäste, Hugo von Hofmannsthal, dessen Frau Gerty und die Gräfin Ottonie Degenfeld, und bereitet ihnen einen festlichen Empfang. Der Tisch, wird die Gräfin später notieren, "war über und über mit den schönsten Alpenblumen besät, wie ich es nie vorher und nachher gesehen habe". Rudolf Borchardt hat das inszeniert. Er war nämlich auch ein leidenschaftlicher Liebhaber der Blumen. ( JUTTA STÖSSINGER):

Bei der Rückkehr fuhren wir über Castelnuovo.


Castelnuovo di Garfagnana. Hier war Ariost Gouverneur der d´Este.
Ariost / der sich verstecken wollte / Im Buch / mit der Fiktion / idyllischer Sohn / ti me piace abitar la mia contrada. Questa mi basta. / War in Ferrara in die Garfagnana zu Fuß gekommen / vom Hofe der D´Este. Und Kardinal Hyppolyt. Schrieb den Orlando Furioso zehn Jahre lang von 1531-41



Und korrigierte daran / ein ganzes Leben lang. Ging in Hausschuhen fast bis nach Modena / in Gedanken versunken /eben. Und merkte dieses erst auf halbm Weg. / Mit ihm endet die Renaissance / er wird zum Sancho Pansa. Er ist nicht mhr der Edle Rtter. /Er ist nichts mehr. /Er ist die Indifferenz. / Er ist die innere Zerrissenheit / dann die Wirklichkeit / War zu nichts mehr gut / wie ich / damals auch. / Nur noch die Zeile galt. Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung,07.08.2004
Die "Rettung eines Meisterwerk" erblickt ein völlig begeisterter Karlheinz Stierle in Italo nos Na-cherzählung von Ariosts "Rasendem Roland", einem "humoristischem Weltgedicht", das er in einem Atemzug mit Dantes "Commedia", Petrarcas "Canzoniere" und Boccaccios "Decameron" nennt. Cal-vinos Verdienst ist nach Ansicht Stierles um so höher einzuschätzen, als Ariosts "widerspenstiger Klassiker" - für Friedrich Schlegel der Inbegriff der romantischen Ironie - heute kaum noch gelesen werde. Ausführlich berichtet Stierle vom "heiteren Wahnsinn der Ereignisse" im "Rasenden Roland". Calvinos Nacherzählung versteht er dabei nicht als "überbrückende Inhaltsangabe", sondern als einen "vor Geist und Lebendigkeit sprühender Begleittext, der kunstvoll immer wieder den Rahmen schafft, in dem Ariosts Dichtung selbst in um so leuchtenderen Farben ihre Auftritte hat." Ein großes Lob spricht er dabei dem Übersetzer Burkhard Kröber aus, der Calvinos Bandbreite von "sachlichem Referat, klugem Kommentar, ironisch gebrochener Eindampfung oft Dutzender Ariostscher Oktaven zu wenigen knappen Sätzen und seiner eigenen Erzählerstimme" in ein "modernes, kraftvolles und schnörkelloses Deutsch" bringe. Auch Johannes Grützkes Illustrationen des Bandes lassen das Herz des Rezensenten höher schlagen. Und überhaupt: "Alles ist an diesem liebevoll gemachten Band zu loben", schwärmt Stierle über die Gestaltung des Buches, "alles trägt hier dazu bei, dem Leser und Buchfreund ein Vergnügen zu bereiten, wie es der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen 'Anderen Bibliothek' würdig ist".



Der Hauptort der eigentlichen Garfagnana ist wunderschön am Zusammen-fluß des Serchio und der Turrite Secca gelegen.
Seine Bedeutung verdankt der Ort den Herzögen von Este, die im XV. jahr-hundert hier den Hauptstützpunkt für ihre regionalen Besitzungen gründe-ten. Zwischen 1522 und 1525 hielt sich in der Rocca Ludovico Ariosto auf, den man gegen seinen Willen als Gouverneur in die Garfagnana geschickt hatte. Zu den Hauptwerken des berühmten emilianischen Dichters gehört L 'Orlando Funoso (Der rasende Roland). Der Dom weist Stilformen des 16. Jahrhunderts auf und birgt eine Mana Himmelfahrt von Santi di Tito. Wei-tere Baudenkmäler: das Kapuzinerkloster aus dem 17. jahrhundert und das im 18. Jahrhundert gegründete Notariatsarchiv.
Eine herrliche kurvenreiche Panoramastraße steigt von Castelnuovo zum Radici-Paß bis Pievepelago an. In ihrem Verlauf kommt man nach Pieve Fosciana mit der Pfarrkirche aus dem 14. jahrhundert und weiter nach Cas-tiglione di Garfagnana, einem von Lucca im 14. jahrhundert befestigten Ort mit sehenswerten Sakralbauten.






LUCHESER VILLEN


In meinem Roman “Der Verweser” heisst es:
Als wir dann in Lucca ankamen, es war meine erste Begegnung mit dieser Stadt, schien sie mir fremd; wir sahen zuerst den Dom San Martino an, den Schwarzen Christus, lasen die Reiseführer-kommentare, Heine dazu, gingen dann zum Palazzo Guinigi (der abgesprungene Verputz erinnerte mich an Wien), auf dem hohen Turm war eine Steineiche, über den Büschen im Garten eine Palme - da hatte ich andauernd jenes merkwürdige Gefühl einer Wiederbegegnung, und ich fürchtete jene Übelkeit, jenen Schwindel, wenn Szenen, Bilder, Gesichter aus dem Unbewußten wie aus vergessenen Alpträumen hochsteigen. Als wir dann gegen Mittag durch eine mir bisher völlig unbekannte Straße, die Via del Fosso, kamen, da begannen die Traumfetzen tatsächlich hochzusteigen; Jeder kennt dieses seltsame Gefühl des Wiederer-kennen, des Déjá-vu: ein Haus, vor dem wir standen, ja ... es war genau jenes Haus mit den grünen Fensterläden, wo ich die üppige Frau im Morgenrock gesehen hatte. Ich stand regungslos da und starrte das Haus an, es war mir vertraut wie die Häuser und Ge-genstände der Kindheit; die blonde Frau wandte mir ihr Gesicht zu, es war sehr schön, und sie lächelte mir mit herausforderndem Blick zu.
Damals, als ich diese Stadt wiederfand, sie wie aus einem verges-senen Traum in mir wiederkam, standen mir die Tränen in den Augen: . Als wäre jene Berührung ein Durchbruch durch die Zeit gewesen - zu etwas heftig Ersehntem. Als gäbe es wirklich so et-was wie eine Wiederkehr: Ich sah es doch genau und mit den Händen greifbar vor mir: Die Tür stand einen Spalt offen, ich ging hinein, ich erkannte alles wieder: ein kleiner Vorraum, sogar eine Kommode gab es, rechts die kleine Treppe, eine Tür, links eine andere, eine steile Treppe, ich ging hinauf, als käme ich nach Hause... im Zimmer alte Möbel, starker undefinierbarer Geruch, der sich wie gesprayt in Atmosphäre auflöste, mehr noch, sie war ein wenig gruftig, diese dichte Aura des Abgelebten, verrottet wie in alten luccheser Villen, überall Spuren der Toten, alter Bewohner, von den Sinnen wieder zur Anwesenheit gezwungen.
So war es auch mit dem Bild, ich sah es an der Wand hinter der bräunlichvergilbten Stehlampe, es stellte einen Bärtigen dar, das Haar silbrig, die grünlichen Augen prüfend, die Hand erhoben, warnende Geste mit den drei Fingern, offenbar ein Zeichen, das Todeszeichen... ich erkannte es, ich erschrak. Szenen, die mir da-zu aus dem Unbewußten hochstiegen, wie im Nebel Bilder form-ten, Traumfetzen und Fragmente, herausgewürgt voller Übelkeit, materielle Fragmente einer furchtbaren Vorstellung; Schwindel erfaßte mich, meist wird ein Anfall ausgelöst durch Blickkontakt, das Gesicht eines Unbekannten vor mir, blitzartig die Wahrneh-mung: den kennst du, wo hast du den schon mal gesehen? Ir-gendwo erlebt und gut gekannt; doch ein Loch im Gedächtnis qu-ält, dafür wühlende Emotionen, krankhaft, schmerzhaft. In der luccheser Via del Fosso war das wieder so, Übelkeit und Schwin-del und dann diese Traumfetzen.


Luccheser VILLEN und GÄRTEN

Über 300 historische VILLEN und GÄRTEN weist der Kreis Luc-ca auf.
Da sie sich fast alle in Privatbesitz befinden, können jedoch nur ei-nige
wenige besichtigt werden. Die Saisonöffnungszeiten bewegen sich in der Regel
zwischen Anfang März und Ende Oktober. Die Eintrittspreise lie-gen zwischen
ca. 7000 Lire und 12 000 Lire pro Person.

VILLA TORRIGIANI in CAMIGLIANO
Eine exzellente Einführung in den exklusiven Lebensstil der ver-gangenen
Jahrhunderte: gepflegt, bewahrt und perfekt vorgeführt.
Sowohl das Innere der Villa, als auch der schön angelegte Park können besichtigt
werden. Die oberen Etagen sind weiterhin von den jetzigen Eigen-tümern, der
aristokratischen Familie Colonna, bewohnt: ein Haus mit Seele.

Die VILLA TORRIGIANI

wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichtet und diente der Familie BUONVISI als Sommerresidenz. 1636 erwarb der Mar-chese Nicolao Santini, Botschafter der damaligen Republik Lucca am Hofe des "Sonnenkönigs" in Versailles, das Anwesen und be-gann mit der Umgestaltung des Parkes. Dieser ist bis heute noch weitreichend in seiner Form erhalten. Nach den Plänen von Le Nôtre, des Hofarchitekten König Ludwigs XIV, entstand einer der interessantesten Kunstgärten der Luccheser Villenarchitektur.
Zwei große Wasserbecken, in denen sich die barocke Fassade wiederspiegelt, der Gartenteil "Teatro di Flora" mit seinen Was-serspielen und "Blumenstickereien", Limonenbäumchen, zusam-men mit Baumarten aus aller Welt und einer üppigen Bepflanzung mit Kamelien schaffen ein perfektes Ensemble.


VILLA MANSI in SEGROMIGNO MONTE



"Die Villa Mansi ist mit ihrer eleganten Fassade, ihrem eindrucks-vollen
Salon und dem Garten mit seinen reizenden Statuen und bewegten
Brunnenbecken ein schönes Beispiel für die Integration einer für das
18. Jahrhundert klassischen Ausstattung in die manieristische Architektur
des 17. Jahrhunderts und ein Zeugnis für den sicheren Geschmack der
großen Familien Luccas."
(Villen und Gärten der Toskana, Bajard & Bencini, Terrail, Paris 1992).
Fügen wir hinzu: eine etwas verblassende, im Detail nicht selten marode
Schönheit, sentimental und anachronistisch.
Erbaut wurde die Villa Mansi in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für die Familie Benedetti. Im Auftrag der Gräfin Cenami erweitert um 1635 Muzio Oddi, dem vorher schon die Stadtbefestigung von Lucca anvertraut war, diese Sommerresi-denz. Er fügt ein leicht zurückversetztes Stockwerk auf. 1675 geht die Villa in den Besitz der Familie Mansi über. Diese beauft-ragt 1725 wiederum Filippo Juvarra, damals berühmter Hofarchi-tekt des Königs Viktor Amadeus II von Savoyen, mit der Umges-taltung des italienische Gartens: Pergolen, Brunnen, Spalierobst-gärten und ein Uhrtürmchen werden angelegt. Im 19. Jahrhundert muß dies alles einem englischen Garten weichen, welcher einen freien Blick auf den majestätischen Bau ermöglicht


VILLA REALE in MARLIA



"Ein wahrhaft gottvoller Ort" schrieb Fürst Metternich. Leider kann heute nur der Garten besichtigt werden.
Die Villa Reale entstand durch Umbau eines schon bestehenden Gebäudes im ausgehenden 17. Jahrhundert. Der ganze Landsitz erfuhr wenige Jahrzehnte später eine erneute, grundlegende Än-derung seines Aussehens durch Elisa Baciocchi. Letztere war eine Schwester Napoleons und gleichzeitig Fürstin von Lucca. 1811 zwang sie die Familie Orsetti ihr deren Besitz abzutreten. Bei der Neugestaltung des Parks zur fürstlichen Residenz wurde eine Ra-senfläche nach englischem Vorbild angelegt. Bedeutende Teile des zuvor bestehenden Gartens blieben dennoch erhalten: so das Wasserbecken hinter der Villa, der großzügige Limonengarten mit dem Fischteich, ebenso wie der prächtige Gemüsegarten. Das Szenario des kunstvoll geschnittenen Naturtheaters verweist mu-sikgeschichtlich auf die Konzerte, mit denen der Kammervirtuose Nicolò Paganini sein Publikum hier begeisterte

VILLA GARZONI in COLLODI


Die Gartenanlage der Villa Garzoni verdient ohne Umschweife das Attribut
"außergewöhnlich ": ein dramatisch inszeniertes Ensemble das dem Geist
eines barocken Genies entsprungen scheint.Im 14. Jahrhundert siedelte sich die Familie Garzoni in Collodi an. Zwischen 1633 und 1692 erhält der zur Villa gehörende Garten seine erste Form: über verschiedene Ebenen erstrecken sich ein buntes Blumen-puzzle, kunstvoll geschnitzte Buchsbäume und Wasserbecken. Um 1756 beauftragt Romano Garzoni den luccheser Architekten Ottaviano Diodati mit der Anlage zur hydraulischen Einrichtung für den Betrieb von Wasserspielen. In dieser Form ist dieser Kunstgarten fast ohne Veränderungen an uns überliefert. Er ver-eint sämtliche Elemente toskanischer Gärten: Fontänen, Kaska-den, Beschnittkunst, Blumenstickereien, Labyrinth, Bambuswald, exotische Baumarten, Zitruspflanzen, Freilufttheater,



Und zum Besuch der Villen, mit Mutter waren wir vor allem in der Villa Reale, assoziere ich auch Rudolf Borchhardt sehr.


Rudolf Borchardt


Deutsches Literaturarchiv
Marbach

Und 1978 im Sommer war Cornelius Borchardt, der Sohn hier in unserem Haus zu Gast. Ich hatte ihn bei der Borchardt-Tagung in Grosseto kennen-gelernt. Dort fand mein Vortrag Anklang. Ichtte seine und meine Lebens-form hier in der Luccesia verglichen. Und ich erinnere mich an unsere Bor-chardttagung: 2.-4.4. Borchardt-Tagung in Pisa/ Lucca, Grosseto. Mein Vortrag. Unser kleiner schwarzer Hund bellt zustimmend bei einigen, nicht bei allen Vorträgen. Alle warten nur noch auf sein Bellen und amüsieren sich. Hatte meine Lage mit seiner verglichen.

Und ein Gedicht dazu:

- Rückkehr über Massa Marittima und Volterra.

Und von Cornelius hörte ich, dass die große Borchardtausgabe vorbereitet werde. Und dass Borchardt auch in der Garfagnana gelebt hatte:


Rund zwanzig Villen, im 16. Jahrhundert von reichen Seidenhändlern er-baut, reihen sich im hügeligen Hinterland von Lucca aneinander. Sie sind von weitläufigen Parks mit Wasserbassins, immergrünen Naturtheatern und akkurat gestutzten Buchsbaumhecken umgeben und mehrheitlich für die Öffentlichkeit zugänglich.

Aber das Tor zur "Villa Bernardini", wo Borchardt seine vielleicht glück-lichsten Jahre verbrachte, ist seit langem verschlossen. Nur ein Blick durch das hohe Gitter aus Schmiedeeisen: auf die Medici-Villa mit der Freitreppe und dem Belvedere, den ritzeratzegrünen Rasen, die Kieswege, einen Gar-tenschlauch.

Rudolf Borchardt, 1877 geboren, ließ sich ab 1903 dauerhaft in der Toskana nieder. Wechselnde Häuser zwischen Pistoia und Siena, Pisa und Florenz konnten günstig angemietet werden, schließlich die "Villa Bernardini" in der geliebten Lucchesia. Nach anfänglichem Zögern - war das Anwesen nicht drei Nummern zu groß? - bezog er im März 1931 mit seiner zweiten Frau Marie Luise und den Kindern Corona, Kaspar, Johann Gottfried und Cornelius die Villa.




Seine Übertragung von Dantes "Göttlicher Komödie" in ein kraftvolles, alemannisch gefärbtes Deutsch hatte er abgeschlossen. Hier nun übersetzte er Byron, Shelley, Keats. Von hier aus korrespondierte er mit seinen deut-schen Verlegern, jedenfalls so lange, bis er wegen seiner jüdischen Herkunft nicht mehr gedruckt werden durfte. Und hier schrieb er das Buch "Der leidenschaftliche Gärtner", denn seine Liebe zur Botanik hatte endlich Erfüllung gefunden.

Cornelius Borchardt, Rudolfs jüngster und inzwischen 81-jähriger Sohn, der nach vielen Jahren in Italien jetzt bei München wohnt, berichtet davon. Vom fünften bis zum sechzehnten Lebensjahr, "die besonders empfängliche Zeit", war die "Villa Bernardini" sein Zuhause.

"Also stellen Sie sich vor", beginnt er die Unterhaltung, "gleich rechts hinter der Villa, da war der riesige Steingarten mit alpinen Pflanzen und links der Staudengarten mit Dahlien, Astern, Rittersporn und Phlox. Da haben wir Jungs abends die Gießkannen hingeschleppt, denn der Wasserschlauch gab nichts her, kein Druck."

Eine winterwarme Orangerie schloss sich an, mit Platz für achtzig Zitro-nenbäume, und ein Mimosenhain, "so gelbzart und zauberhaft im Frühjahr", dass einem fast die Sinne schwanden. Dann kamen der Wald, der sich bis ins Pizzorne-Gebirge erstreckte und Solitäre wie den Tulpenbaum und die Araukarie, die Sternmagnolie und die Libanonzeder ins rechte Licht rückte, und dann "ein kleiner Bach. Unser Paradies, unsere Welt."

Sommergäste aus Deutschland quartieren sich ein, blassblonde junge Damen mit Strohhüten, Herren mit Sonnenbrillen und einem Automobil. Das muss eine fidele Gesellschaft gewesen sein. Tagsüber tummelt man sich am barocken Badebecken mit den Göttern aus Stein. Zum Einkauf von Mehl, Wein, Salz und Stockfisch radelt man zwischendurch zum nahen Alimentari für bäuerlichen Bedarf. Nach Einbruch der Dunkelheit trifft man sich zum Essen und Trinken, zu Geplauder und Gelächter unterm südlichen Sternenhimmel, und "die lauen Sommerabende", erinnert sich Cornelius, "senden schwirrende Falter in die Blüten der Nacht".

Spät am Abend kehrte sein Vater noch einmal ins Arbeitszimmer zurück. Aus dicken botanischen Katalogen hat er sich Samen und Knollen seltener Gewächse ausgesucht und bei den wenigen großen Händlern in Berlin, London oder New York bestellt. Fieberhaft erwartete er die Lieferung, mit klopfendem Herzen packte er sie aus. Akribisch wachte er über seine Schützlinge, und akribisch dokumentierte er ihr Wachstum und Wohlerge-hen. Einen Ratgeber hat er gleichwohl nicht geschrieben, eher einen Reise-führer durch die Gärten des Geistes und der Seele.
(( JUTTA STÖSSINGER)



9.4. Tod von Helmuth Hoffmann. (27.28.3.)
Er hat sein Lebenswerk /über Nostradamus bendet/ sollte am 14.2. nach Deutschland fahren, es verlegen. Dann wurde er krank. Das Lebenswerk / blieb liegen / denn am 28. März starb er.
Tuschka / seine
Bremer Frundin aber starb schon 1978.

Was ich da erinnern kann / auch den Kriegsblindebn Freund. In ihrem Garten. Ihre medialen Stimmen / aufgenommen. Viele Kassetten.
Nun sind sie ein halbes Jahrhundert tot.


Seit Schmitts und Nataschas Besuch (März) Immer wieder das neue Projekt Keine Tausendundeine Nacht. Gespräcsrunde wie im Bocaccio.


Frasquita-Reise mit JP. 3. Juli. Abfahrt Livorno-Bastia. Dann Bus bis Porto Vecchio. Muffig. Will gar nich da sein. Wut auf J. Und das Boot gar nicht haben und bezahlen wollen.
4.Juli. Campoloro, Solenzara. Segelnd.
6./7, (. Rondinara.

Rein Kommen wieder. Sanftheit des Stranbdes /rücklüufig die Lagune aus Kufrassspuren / Duft / Ein Kalb das vor Schreck da durchwatet / und Geister schaun zu / Ein Jahr ist vergangen / und ir sind schwächer geworden.

Und komme noicht rein. Kin Funken mehr. So verpufft die Tagesenergei, verpufft der in mir angesammelte sanfte Morgen. Nicjhts in mir.

Plötzlich gepackt von Benn-Lektpre. Als habe er diese Stimmen ganz ordinär lyrisch verarebietet.

Ein Ort / p. Kein durchlöchertes Auge.articipation mystique / aber zu nahe mnicht animistisches Gewisper / sonst bst du un bestimmt / verpasst den Anschluss Iim Reinen Blatt / mer Liebe / und das Smaragd s Wassers nur fad /wie geist-los. / Und die Hitze brenneder Sand / an derFußsohle / im Sand / suchst du vergeblich seinen Sinn./ In dir die Ferne Hand könnte beschädigt sein. / Doch das Boot enthält ihn, jenen / hier gebliebenen niederen Herrebh allein Ziet umrundet dein Leben / musst sie ihm geben / dann kommst du hinein! / Saugst aus der Spröde des Unglaubwürduigen ein / das Lachhafte sogar: in dieser Magina, es tröstet / und Gott blitzt.
Gelbe Blume am Strand / seh es nicht mehr









DAS VERGEHEN, IST SEIN VERGEHEN, VERGEHEN DES HERREN


Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab, kann das Gedicht
sogar Tun /was geschieht, nicht nur hier zu überleben / durstig nach dem Einen / bist du das „Gemeine“ nie, es muss HIERSEIN und klingen / das Netz Indras, König der Götter endlos in alle Richtungen /Fischer Netz Gottes gar / und in jedem Knoten ein funkelnder Edelstein / sich gegenseitig spiegelnd, Meer mehr Meerestropfen Meer unendlich ist ein Ja: Varuna Wassergott. / Jeder Teil des Ganzen ist das Ganze, Leibnizmonade, kosmische Holographie, Inter-Net / durstig und Turstig sags / sich grenzenlos überlagern / interconnected.

Freunde, fangt es mir /im Kunst Netz / als Netzkunst ein. / Wenn wir Glück haben / wird Er dabei sein. Mit Sinn in den Sinnen:

Die grausame Illusion / des Lebens Schimären zu schaffen
Du weisst es im Herbst / dass das Leben / dir am Ende
alles stiehlt / wie ein Betrug


Doch ER wo ist er / er ist in der Liebe
in Uns / ist er / im Wort / das auf dem Blatt
brennt.



Und zurück zum Heute (doch Immer war ja heute!): Agliano, 30. Mai 1992. TRAUM VON ZWEI FRAUEN, die mir das Offene zeigen. An einem dunklen Tor die eine, als wärs ein verkleinertes Branden-burger Tor. Die andere im Flugzeug. Als wäre es vor einem Jahrhun-dert gewesen: vor mir liegt aufgeschlagen mein altes Tagebuch:

Agliano, 23. November 1989. Die Angst der Europäer vor den Deut-schen bricht auf. Ich erlebe es täglich in Italien. Gestern war F. Her-nandez, die Triestiner Bildhauerin hier bei uns zu Gast. Dazu ein Lon-doner, ein Neuseeländer, eine junge englische Bildhauerin mit ih¬rem fran¬zösischen Freund. Wir saßen am Kamin. Wir sprachen über die Er-eig¬¬nis¬se in Deutschland, in Prag, in Budapest. Sie trennten das Ge-schehen in Deutschland von den Umwälzungen im Osten. F. sagte, sie habe Angst vor den Deutschen. Sie erinnere sich an zwei SS-Leute in Triest, die ihr die Pistole in den Nacken gehalten hatten, sie erschießen wollten. Ich beschwatzte sie, in Todesangst, sagte die Bildhauerin. Wie durch ein Wunder kam ich frei, sagte sie. Doch sie waren nicht alle so. In Santa Anna hier in der Nähe, wo das Dorf als Racheakt ge-gen die Partisanen ausgelöscht wurde, da gab es Deutsche, die ließen, wenn sie allein waren, in den Häusern Frauen und Kinder am Leben. Jetzt werden die Deutschen wieder stark, 80 Millionen, sagt der Lon-doner. Sie werden Europa beherrschen wollen. Auch Piero, der Mai-länder Betriebswirt, sagte gestern, sie werden uns mit ihrem Geld alle niederwalzen.
Die DDR schlucken, vorgeben "zu helfen". Das Kapital ist hungrig. Geld und Nationalismus gehören auch historisch zusammen. Aber die sogenannte Wiedervereinigung wird jetzt nicht stattfinden, sagte ich. Da staunten sie. Wieso? Es sind zwei verschiedene Länder mit zwei verschiedenen Entwicklungen und Erfahrungen, sagte ich. Und die Leute, die jetzt auf die Straße gehen, wollen das, was sie in leidvollen 45 Jahren aufgebaut haben, nicht Westdeutschland in den Rachen werfen, sie ha¬ben ihr eignes Land, und arbeiten jetzt an der eigenen Identität, die nie¬mals eine westdeutsche Identität sein kann, es sei denn, sie gäben sich selbst auf!! Wir können nicht alles in einen Topf werfen, auch hier in unserer Diskussion nicht, sagte ich. Und was die Angst vor SS-ähnlichen Entwicklungen betreffe, sei das eine Ver-wechs¬lung: die jungen Deutschen von 1989 sind nicht die von 1933, sagte ich: sie sind genau wie die jungen Leute anders¬wo in Ost und West, vielleicht noch weniger als Italiener, Briten, Franzo¬sen national eingestellt, sie sind eher neutral, Europäer und Weltbürger.

28. November 1989: Das Grün und Weiß auf den Feldern, die blaue Luft¬kugel des Südens über mir, Kirschen blühn, Knospen platzen, überall dicker Samengeruch in der Luft; Weiße, weißer Fleck: das Unbetretene, das nicht besetzt werden darf; alles nur ein Zeichen. Sie feiern auch hier, was zu erwarten war, den längst schon geschehenen Einbruch: Pfingsten; für mich ist es kein Fest mehr, und doch Sonntag. Auf den Feldern Feuer und Rauchgeruch.

Draußen vor dem Fenster ein Ave Maria und Vogel¬gezwitscher; wie einst im Mai. Gefühle zeigen noch einen Weg. Im Auge viel Grün: italienische Kastanien; und die Zeilen hier wie die Reihen der Re¬ben. Ich sage mir, es gilt jetzt zu "Lesen, was nie geschrieben wurde". Denn wahr bleibt, dass nur die Zukunft Entwickler zur Verfügung hat, die stark genug sind, um das, was jetzt geschieht, im Nachhinein sichtbar zu machen, als Röntgenbild und Negativ und keineswegs als schönes Landschafts¬foto des beschränkten Gesichtsfeldes. Und ich lese neugierig geworden von meinem eigenen damaligen Zustand - als wäre es ein anderes Jahrhundert gewesen und ich ein Widergänger:

Seit Mallarmé gibt es dieses Erschrecken, dass die Dinge aus ihrem Namen fallen, das naive Bewusstsein meint, die Dinge durch den Be-griff im Griff zu haben, es ist zerstört; die Natur, die Dinge, ja, die Apparate, vielleicht sogar die bisher eingesperrte Geschichte und ihre Zeit sind gegen uns aufgestanden. Aber dieser lebensgefährliche Un-tergang der gewussten Wahrheit und der alten raumzeitlichen Außen-welt, ihre Ver-Endung heute ist zugleich eine Chance, die Welt so zu sehn, wie sie wirklich ist, im Grunde nicht vom Menschen gemacht, außerhalb und jenseits unserer Er¬fahrung. Es scheint so. Der Abgrund wäre ein Ab-Grund, Epoché - ein Los-Lassen, so kämen wir vielleicht zum Unverfügbaren, die Dinge fielen aus ihrem Namen, mit denen wir sie vergewaltigen, ein neuer Reichtum, eine unerschöpfliche Fülle wäre möglich. Tun, was geschieht?

NACHTS Alpträume. Angst. Das Licht war ja nicht allein, und hatte innen mehr, es kamen Differenzen da raus, Figuren, und jetzt fürchte ich, es wären nur meine eigenen Bilder, die ich aus dem Ereignis machte, um es in seiner Umgebung überhaupt aushalten zu können, und verständlich, nicht: hier! Ausdrückbar ist es ja nicht. Es war viel-leicht ein Fahrzeug, und Leute, die blendeten, hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand meines Zimmers, als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da - hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung, und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, wie wenn jemand Schubla-den auf und zumacht. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Un-möglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren na-türlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, etwa anderthalb Meter groß, sie hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in ei-nem Lichtkreis. Als Kind hatte ich so etwas schon gesehen; in Form eines Lichtkegels, der sich durch die Türe auf mich zubewegte, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Jetzt war es ähnlich, ein vibratorischer Übelkeitszustand, und Gedächt-nisfetzen kamen hoch. Ich war befremdet... Und meinte noch rechtzei-tig aufzuwachen...
Ich spreche mit Hannah wieder davon, dass in der Heilanstalt und im Gespräch mit den schreibenden Patienten das tägliche Zeitparadox ganz nah gerückt sei. Jeder könne dies "Irre" der Zeit chockartig erle-ben, wenn er das, was geschieht, nach innen beobachte, den Bruch zwischen Innen und Außen zuließe. Vor allem in meinem Arbeits-zimmer auf dem Berg in Agliano komme dieses Unheimliche körper-nah auf mich zu ...
Und das Tagebuch liegt aufgeschlagen vor mir:



II

16. Dezember 1989. Begräbnis von Lisa, der Schäferin. Ich erinnere mich an Glücksmomente hier im mulattiere mit ihr, ich war aufge-räumt, ausgelassen, scherzte mit ihr, mit Alfredo, mit der Alten, ihrer Schwester, die jetzt nur noch mit wackelndem Kopf, im Weingarten, im Obstgarten Gras für die Hasen schneidet. Hallen der Steine beim Beten, und das Abendmahl, Transsubstantion, ich dachte beim Schlu-cken der Oblate, tatsächlich daran, dass Fleisch und Brot gleiche Atome haben.


Agliano, 8.Juli 90. Der "Ameisenhelm" um den Kopf, ein Ring der Taub¬heit. Janns Eltern sind hier. Ausflüge zu Michelangelos Mar-morstein¬bruch. Zu Ariost in Castelnuovo/ Garfagnana. Und zum Sassi-Tal, wo Ru¬dolf Borc¬hardt eine Hütte hatte, und wo er ge¬meinsam mit Hofmannsthal Berg- Gras- und Blumen¬räusche im Frühjahr er¬lebte. Ich erzähle von Ariost, der so zer¬streut gewe¬sen war, und immer nur im Kopf existierte, auf die Füße nicht achtend, dass er, so heißt es, einmal in
Hauspantoffeln und zu Fuß nach Modena gegan¬gen sei. Nach Stun-den erst bemerkte er es, und kehrte um.

Agliano, 9. Juli 1990. Tägliche Arbeit an den Bildmeditationen zum dritten Sixtina-Band, eine Dokumentation der Renovierungs¬arbei¬ten. Daran halte ich mich jetzt fest, das Alt-Gesicherte über die Ver¬zweif-lung am Glauben beim Buonarroti springt mir helfend bei. Ich bringe noch die letzten Korrek¬turen am letzten Bild der Sixtina an: Jonah. Und dann bin ich "entlassen" am lee¬ren Schreibtisch. Ich hatte mich an diesen "Sinn" vier Jahre lang geklam¬mert.


(aus: w-akten)

Das Deckengemälde zeigt im Mittelteil Szenen aus der Genesis auf insgesamt 520 m2. Es enthält 115 überlebensgroße Charaktere.
In den dreieckigen Stichkappen (3) werden die Ahnen Jesus dargestellt.

In den äußeren Wandstreifen (4) sieht man die sieben biblischen Propheten und fünf heidnischen Sybillen, die das Kommen Jesus vorhergesagt hatten.

In den viereckigen Mittelfeldern (5) sind neun Episoden aus der Genesis zu se-hen. Drei davon zeigen die Erschaffung der Welt, drei die Geschichte Adams und drei die Geschichte Noahs. Michelangelo begann seine Arbeit übrigens mit Noah.

Die Bilder aus der Genesis werden von den so genannten "Ignudi", den "Nack-ten" (6) unterbrochen. Es sind ideale Menschenfiguren in perspektivisch ans-pruchsvollen Posen. In ihnen findet man praktisch die komplette Bandbreite der von späteren Künstlern benutzten Akt-Posituren.
Das Deckenbild zeigt 115 überlebensgroße Figuren.

Die Stirnwand ist mit dem "Jüngsten Gericht" (7) komplett bemalt. Dieses Werk mit ca. 390 Figuren wurde von Michelangelo in den Jahren von 1536 bis 1541 geschaffen. Auftraggeber war Papst Clemens VII. der aber den Beginn der Arbeiten nicht mehr erlebte.

Michelangelo ließ als erste Maßnahme eine neue Ziegelwand vor die Stirnwand mauern. Diese Mauer ist leicht nach innen geneigt, damit sich nicht so leicht Staub ablagern kann. Dummerweise gingen dabei die alten Fresken aus dem 15. Jhd. verloren, darunter auch die von Michelangelo selbst ausgemalten Lü-netten.

Im Zentrum des "Jüngsten Gerichtes" steht Jesus umgeben von diversen Heili-gen. Links sind die Menschen dargestellt, die am Tag des Jüngsten Gerichtes erlöst werden, rechts diejenigen, die der eigen Verdammnis anheim fallen - das sind die meisten.

Bei den Engeln, die die Posaunen des jüngsten Gerichtes blasen, sind auch zwei, die die Bücher mit den Namen der Seligen (kleines Buch) und den der Verdammten (großes Buch) halten.

1563 empfahl das Konzil von Trient, in geheiligten Räumen nur noch Werke auszustellen, die ein "Decorum" hätten und den heiligen Schriften entsprächen.

Michelangelos Figuren hatten leider kein "Decorum". Daraufhin wurde sein ehemaliger Schüler Daniele da Volterra beauftrag diesen Makel zu beheben. Er bedeckte die Blößen einiger Figuren mit Lendentüchern und anderen peinlichen Zugaben. Diese Arbeit brachte ihm den Spitznamen "Il Braghettone" also "der Unterhösler" ein. Weitere "Abdeckungen" wurden auch in späteren Tagen noch angebracht.

Bei den Restaurierungarbeiten Ende des 20. Jhds. entschied man, einzig die Eingriffe Daniele da Volterras zu belassen und die anderen zu entfernen.

Diese Restaurierungsarbeiten ließen viele Kunsthistoriker in Verzweiflung stür-zen. Man hatte bislang geglaubt, dass Michelangelo seine Arbeiten mit dezen-ten, gedeckten Farben angelegt hatte. Unter dem Ruß und Schmutz von vier Jahrhunderten kamen jetzt aber satte leuchtende Farben zum Vorschein. Eine kleine Ecke wurde ungereinigt belassen, um den Unterschied zu verdeutlichen (8).

Die Sixtinische Kapelle ist wahrscheinlich das größte Gesamtkunstwerk westli-cher Kultur. Interessanterweise betreten die Touristen die Kapelle durch eine Tür, die direkt unter der Stelle im "jüngsten Gericht" liegen, an der die Ver-dammten in die Hölle fahren.



Agliano. 15. Juli 90. Wieder diese schlaflose Nacht, weil ich beim Schreiben nicht weiter weiß. Aber vielleicht war die Ur¬sache für die-sen Zustand auch Hannah´ s Trauer, die sich über¬trug; sie musste Gi-sela,ihre kranke Mutter nach Deutsch¬land ins Krankenhaus bringen.


2. Dezember 89. Fast heulend erwacht, so gegen halb sieben. Ge¬stern die Decke weiß gestrichen, Haussorgen, Hausvaterdinge. In Lucca: Lampen gekauft. Wein in Monte Carlo. Hannah sagte, sie habe wieder optimistische Gefühle. Mitten in den "wirklichen", also den Phan¬tom-dingen? Es ist nicht nur dieser Hirnring, diese Läh¬mung im Kopf, wo weniger Lichtpunkte und Wahrheitszellen in der Ver¬netzung sind, es ist auch die Verführung dieser "Wonnen der Ge¬wöhn¬¬¬¬lichkeit": Es ist die langsame Mineralisierung. Und was ist das So¬¬¬zialleben, Familien-leben, Gesellschaftsleben anders?! Diese un¬säglichen Mittagessen bei der Bildhauerin F. Normalität, Nor¬malität.

Ausflug mit den Freunden nach Castagnori, dort hatte das Vorbild zu einer meiner Romanfiguren, ein Hexenmeister, Zau¬berer, Magier und Verführer aus Lucca, der öffentlich hingerichtet worden war, seine Villa. Vor einem verfallenen Haus in Castagnori lachten wir, ließen wir unsere Phantasien laufen.


1996. ZEITVERGEHEN Lieselotte

12/13. 3. Und was war gestern? Und vorgestern? Anruf Delf, will Althusser in LM bringen. Kürzungen. Briefe, so Motzan, in der ndl über Hodjak, wo er alle aufzählt, mich als ersten, unser Beitrag zur d. Lit.. Eitelkeiten. Marco hier/ sprechen über TK/ die Angst. Er weiß von einem Gerät, das er nachbauen will: Töne, Geräusche, wenn man sich nähert.
dass ich den Vortrag für Sambach gschrieben, dass ich eine neuen Anfang des VW habe. Sonst? Fernseherlebnisse, vorgetsren, Bleierne Zeit und Die Blechtrommel. Getsrebn Biolek, Ordensschwestern. Bei de Filmen Schmerz, sie zeigten mir meine eigen vergangne Zeit: Kriegszeit, siebziger Jahre. Hoffnung, auhc dass man an Veränderung glaubte, an Engagement. Sogar die Jahre in Refrath. Vorher Frankfurt. Und der Anfang hier. Und mein Gedicht stimmt:

ES GEHT ZU ENDE WAS BISHER WAR,
und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,
wir werden uns nie mehr wiedersehn,
wir werden vergessen.

Man siehts an der Luft, an den Augen der Leute,
überall rollen sie die Erinnerungen ein,
heut sah ich Fotos der siebziger Jahre, da waren
wir jung und alles schien offen,
du stiegst in den fahrenden Zug,
der kam nie an,
und fuhr ab nur zum Schein.

Alt sind unsere Gefühle geworden.
Und oft ist es kalt und du spürst nur Gewohnheit,
als wäre über den Augen ein Schleier,
und wir gehen mit Abwesendem um.

In allem spür ich schon das Vergessen,
und die Leute sehn mich gar nicht mehr an;
so denk ich: vielleicht bin ich plötzlich gestorben
und hab`s nicht bemerkt, bin unsichtbar geworden.

Es ist nicht nur die Liebe die jetzt vergeht,
es ist nicht nur Eiszeit der Sinne, es liegt
ein Stillstand um uns in der Luft, der uns Angst macht
und uns den Atem verschlägt.

Denn es geht zu Ende was bisher war,
und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,
wir werden uns nicht mehr wiedersehn,
wir werden vergessen am Leben zu sein.


Heute Gespräch mit Hannah/ die Mutter ist tot/ und faßt es nicht/ nie wieder/ und sie wäre doch so gern/ hierher nach P. gekommen.

Und ich schreibe schreibe/ wer soll das lesen gedacht/ geschrieben/ gedruckt/ Unmengen wie im Internet/ la vita breve/ miulliardenfach.

Vergeht/ vergeht/ Vergehen. Sich merken können/ was wichtig ist/ daher im Kloster die Aufteilung des Tages/ gesänge/ Mattutin? usw.

Gedicht Kirschs/ passt auf Liselottes Weggang/ Abflug/ Aufstieg? Uns gehört der Rest des Fadens, und dass wir dich kannten.
Erinnerungsgedicht, ja: Der Rest des Fadens/ Drachensteigen.Spiel/ Für große Ebenen ohne Baum und wasser. Im Offenen Hioimmel/ Steigt auf/ Der Stern aus Papier, unhaltbar/ Ins Licht gerissen, höher, aus allen Augen/ Und weiter, weiter// Uns gehört der Rest des fadens, und dass wir dich kannten

Gilt ja auch fürs Schreiben, für jeden Augenblick.

Mein Kinderdrachen/ zusammengeklebt aus Packpapier/ im Geschäft des Groß0vaters/ und Kleister aus dem Rest und Stützen für Stoffbal-len/ kleien Leitern aus Hölzchen/ die Schnur war lang im Frühling/ der Himmel hoch mit Vögeln/ es war für immer schon vergangen/ nur wußten wir es nicht.


Mein Kínderdrachen/ zusammengeklebt

Ja, was war gestren/ was geisert durch mein Hirn/ fixier die Spur/ die kehrt nie wieder/ welch Reichtum ist/ Vergessen.

10. März. Montale sozusagen mitgebracht aus 5 T. Und auch Tage-buchtagespoesien wie er.
Müßte wieder aufnehmen meine Tagebuchgedichte

Nun nicht nur Diktat/ beim Frühstück waren wir eins im Schmerz/ ein Tod der reinigte das Gespräch bei Marmelade Kaffe und Butter/ der Anruf des Vaters als Ersatz/ Du mußt Zeit haben/ die Spuren zu legen/ damit nichts vergeht/ im Nichts verschwindet.
Halt dich fest/ hier am Vers/ damit auch du nicht schon tot bist/ ver-gehst/ ohne es zu merken. Furchtbar der Käs/ dieses Leben.
Nachts immer die Ängste/ dass du ein Drahtgeflecht bist/ dass du Od-rad(r)eck bist/ du allein bist schuld du allein leidest an dir läßt deine Liebe neben dir leiden du bist der Verbrecher der nicht umgehen kann mit dem Stoff deines Lebens der dir geschenkt wird du allein bist al-lein/ und betest/ tröstlich allein neben dir eine warme Hundeschnauze die Kreatur die dir das verstörte Gesicht ableckt/ Höllengefühle/ die Angst dass der Engel dich verläßt dass du nichts mehr bist als ein Stück Fleisch dass nichts mehr funkt du nichts mehr denkst nichts mehr "ein-fällt" du nicht mehr angeschlossen bist und das was du er-reichen willst was du warst was du anstrebst dir verschlossen sein wird/ und du wirst nur böse. Eifersucht. Geiz. Und kannst nichts mehr schenken. Und um dich der Reichtum./ Nahmst dir vor/ wieder sanft zu sein/ kalvidan salvidan Brahma. Und ich grüße den Gott in dir.

Am Morgen gab ich Hannah die Mandelblüte. Deckte den Tisch. Mo-zart ein Bogenstrich der Zeit um uns. Und ich sagte/ deine Mutter ist weit/ laß sie ziehen/ ein Nebelstreif/ du mußt ihr einen Platz anweisen/ sag wie als Kind: im Himmel/ und es ist nicht falsch/ es ist richtig und gut. Sie ist nicht unten in einem Loch/ zwei Meter tief erstickt unter der Erde/ sie ist hoch oben und leicht und sei fliegt/ such sie dort, wo du sein wirst.
Die Liebe allein/ sie ist es jetzt/ und läßt dich und mich und sie le-ben.

Und schrieb gleich die Paraphrase zu Mandelstam, passend für uns, dachte ans Alter/ und Philemon, ja, Widmungsgedicht: unser Leben.

"Die stille Freude: atmen dürfen leben/ Wem sei der Dank dafür gegeben?/ Ich soll der Gärtner soll die Blume sein./ Im Kerker Welt bin ich so nie allein./ Das Glas der Ewigkeit - behaucht:/ mein Atem meine Wärme drauf./ Die Zeichnung auf dem Glas die Schrift:/ du liest sie nicht erkennst sie nicht./ Die Trübung mag sie bald vergehn/ es bleibt die zarte Zeichnung stehn."

Ist es nicht schön/ dass diees Gegend die Poeten liebt/ dass sie ver-ewigt einfließt hier ins Wort/ bei mir auch sie/ denk ich an Shelley/ der den Ariel hört im Westwind/ so hört er doch auch Buonarrotis Phanta-sie im Stein/ die Vezza rauschen/ Figur Sonett und Schmerz im Mar-mor weiß versenkt/ und dann herausgehoben./ Und Dante im Exil hoch oben dort im Schloß/ der schöne Name Malaspina/ sah im Tal Inferno. Das ist nict alles: denk an jenen der auf weißem Zelter in For-te runterritt das Ufer/ wo sich schaumig jene Lippe zeigt und für ihn spricht/ für uns./ Die Pietsche knallte dort/ wie Mario mit dem Naphta stritt/ und unterlag. Langher/ als wäre Dante näher/ Montale wars mit seinen Freunden/ in Monterosso schrieb er diesen Vers über die Punta Mesco/ als Kind in ihm noch erinnert/ mit Proust Suche/ kam er jedes HJahr nach Cinqueterre/ und schrieb auf/ was er damals erlebte: So einen Vogel voller Blei der Jäger/ der fiel in ihren garten/ eine Katze ließ nur die Federn/ ein Zeichne/ der Flug ist unvernichtbar/ Passion und Opfer auch für den Vogel/ jaja der Vogel im Kopf.
Und traf sich 1909/ da war er doch dreizehn/ als Mandelstam "Man gab mir einen Körper" schrieb.

Anruf Edith K.. SN auch ihre Meinung schlecht aufgemacht und lektoriert. Bisher 3 neg. Stimmen dazu.
Halbasien eingegangen.
Dann aber sie als "Dinosaurier. Die Schere zwischen Gesit und Ba-nalität immer größer. Ich klage ihr mein Leid damiot. Utopieverlust. 98. Schreibe nur noch darüber. Spießertum nimmt zu. Furchtbarer Streit mit Hannah Ihre Wel hat gesiegt?
Ediths Hybris. Vorpreschen. Position der Schwäche, ähnlich wei bei mir?

11.3. 96 Was ich auch tu/ es ist falsch/ doch erst im Rhythmus und ohne die Härten des Banalen/ ist ein wenig Glück/ ist ein wenig Hoff-nung/ im Alltag ist Rhythmus aber




KOPFTHEATER EINES STERBENDEN

Denk an dein Kopftheater, denk weiter, laß es nicht abreißen,
sonst bist du am Ende in dem du liegst weicher im Bett, und
umhüllt von der weißen nassen Frau, ists die Decke am Ende, warm
über dir,kein Doppelbett, Ehebett, keine Bettgeschichten mehr
vom Aus ist die Rede. Sie hatte das Radio angestellt, um die Zeit
abzukürzen, und da hörte er auch schon die Stimme. "Nein",
sagte sie, es ist doch schon zwölf, ich höre jetzt die Nachrichten.
Er aber hörte deulich etwas anderes, eine sehr tiefe Stimme;
einen schönen Baß: "In dir war niemand. Aber warum beklagst du dich!
Auch hinter deinen Worten war niemand, ein wenig Kälte,
von niemandem geträumt. Und anfangs glaubtest du,
alle Personen seien wie du. Irrtum. Alle waren befremdet,
deine Familie, die wieder ganz laut und ganz warm den Raum
einheizte, durcheinanderredete und die letzten Backrezepte
besprach, als du von dieser Leere reden wolltest."


29. Sept. 96. Wohlgefühl wenn jede Geste entspannt geschieht, und im Insein. Auch mit dem Todesgedanken gekoppelt, also Kurz das Gastsein. Getsren gesegelt, nahchher ruhig, auch beim Autofahren sanft, langsam. Vgl. auch diesen Text: 20. Februar. Auch heute morgen starke Wahrnehmung der Umge¬bung; ein Hahn schon ganz früh wie zu Hause morgens um fünf, und dann der erste Sonnenstreif, der auf die weiße Seite und auf den Tisch hier fiel, die Ahnung des Meeres in der Ferne, und die Vögel, aus denen es her¬aussingt, die Kreaturen, auch die Blumen, unbewußt in der Welt, die Klang ist, ohne, dass es unser Auge begreift; in diesem Alter der Welt ist es gut, sich darum zu bemühen, möglichst unmittelbar nahe die Umgebung aufzunehmen, es ist eine Art Glück; der Morgen scheint so taufrisch jung zu sein, wie das Bar-fußgehen im Gras als Kind, Nähe als Distanz; "Einfühlung" ist wie eine glückliche Fügung des Augenblicks, das Vibrieren mit dieser um-gebenden Duft- und Klang-Aura, schrei¬bend, im Wort wird es wieder frisch, wie gewaschen, was die Sinne blaß ver¬säumen, Aufmerksamkeit als "Gebet der Seele". Es scheint der wichtigste Widerstand des Einzelnen in dieser Spätzeit zu sein, in der Nähe Ferne, ja, Fernweh zu fühlen; das Rätsel da zu sein: Distanz durch verwunderte Sensibilität, und scheues Auftreten angesichts des unfaßbaren Ab¬grundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus bei all den Ent-Täu¬schungen. Erleuchtung der Langsamkeit. Kein bloßes Story-Auf-nehmen der Bücher, kein Überfliegen oder Über¬springen dessen, was im Augenblick da ist. ZEIT als Leben der Seele "treffender Bedachtsamkeit": "Nie, nie schnell werden" (Peter Handke ). Das Verhalten, nicht das Denken, das Erleben jenseits des Begriffes und des "Sinnes", nicht das Nur-Vorstellen, Zeit-Verlieren wäre zu üben: Reisen, Abtasten der Städte und Landschaf¬ten, Abstände in der wirklichen Zeit, anstatt nur Erinnern, Pausen; Zart¬heit, Zärtlichkeit, schon mit den ein-fachsten Dingen des Alltags durch die, wenn wir es merken, etwas Un-denkbares durchscheint; so auch die Leute behandeln, nicht blind, son-dern immer ganz bei der "Sache" zu sein, merkwürdig, dann ist auch im Detail alles im "Lot", also recht, vielleicht sogar gerecht. Und Kräfte strömen, nichts wird abgeblockt. Alles kommt auf jenen zu, der darauf "eingestellt ist"; freilich: je größer die Stadt, die einengende Menschma-schine Betrieb, die Massenbewegung auf der Stra¬ße im Gewusel des Kaufhauses etc., umso mehr Kraft ist nötig, die zeh¬rende Auralosigkeit der Plastikwelt zu überwinden, "frei" zu bleiben - und langsam. Wenn Pausen eingelegt werden, läßt man sie kommen, die Din¬ge auf sich zu-kommen. Freilich: Einsamkeit, Alleinsein ist das All¬heil¬mittel nur für schwächere Naturen. Allein ist es leicht, Streß zu ver¬mei¬den, alles zum Leben, zum Augenblick der wahren Empfindung zu bringen.

Die Stimmung freilich für die Langsamkeit, ja, für "mehr Faulheit, mehr Schlendrian" als Widerstandshaltung nimmt zu, - (Sten Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" (1987) ist zum Schlagwort geworden. In der "Zeit", 42/92, erschien sogar eine Art Manifest der Langsamkeit "Mehr Genuß! Mehr Faul-heit! Mehr Schlendrian"); wird diese Haltung durch Einflüsse aus dem Osten verstärkt werden?

22. Februar. Bin ich noch der alte unverbesserliche Optimist des Nachher? Ich bin es, solange ich vom Text nicht entlassen werde! Er nimmt mir das ganze Leben, braucht es auf, und schenkt es mir wieder: vielleicht aus alter kreatürli-cher Angst, um allem Abschied voran zu sein. Ich immer noch lebe, auf einer nicht mehr existierenden Grenze.


4. Okt. Nachts merkwürdige Bahnträume. Wollt andaurnd eueinem Jungn das Innere, als wäre es mein Boot zeigen. Abfahrtsträume. Aber das Ganze stand. Und es waren noch Familienleute da, die andauernd anders als ich agierten, ich blib immer allein.

Auf dem Weg zum Meer, dies Hineingerede von L. ins Fahren. Die ganze Normandiereise hat sie so vedorben. Oder andeer "Bemutterun-gen". Ich fuhr, und an der Tankstelle sagte mir die Wärterin auch prompt: Grazie Signore.
Ich lebe auch sozial nicht nur isoliert, sondern völlig unten. Trennte ich mich von ihr, könnte ich meinen eignene Lebensstil führen, wäre der Signore.

Im Bad hörte ich andauernd Konstantina Gilaida in mir. Versuchte die Aufnahme, aber es kam nichts. Per Zufall aber eine Aufnahme, die ich fast überspielt hatte, vom 8. Okt. 95. Da verabschiedete ich mich mit Guten Abend, und eine Stimme sagt im Hintergrund auch deutlich: Gutn Abend. Müßte die alten Aufnahmen noch einmal abhören, alles auf ein Experimentierband überspielen.
Sah den Anfang vom Film Olsens: Jürgenson, Brücke zum Jenseits. Beeindruckend seine ruhige Argumentation. Abr auch die ruchige sanft Flüstrstimme von Lena. Berührte mich.

Etwas Optimismus, ahm mir vor viel mehr Paraphrasen zu schreiben. Sogar nach Übersetzungen ginge das. "Mimesis" für Buffonis Testo a Fronte gecshriben. Zwei Gedichte übersetzt. Enigma bei ihm. Todes-gedichte .


Diese Offenheit, dies Optimistische, Schöne am Meer, herrlicher Blick, Man sah Gorgona. Bei der Rückfahrt ließ sie mich in Ruhe. Ich sumte füpr mch alte Lieder. Fühte mih wieder wohl. Müßte diese Lie-der als "Stärkung", als emotionaler Identitätsgeber nützen. Vielelicht auch ein band herstellen.

Beim Morgenlauf heute mit Felix nach Peralla - zu Annette, der ich Namaskar sagte. Und Meldest du dich nicht einmal bei mir auf Band, sagst mir wi es dort in eurer Zone ist. Ihre Urne umstellt mit Blumen.
Blick aufs Meer. Un üer dem Berg sehr nah und groß die Venus. Dierkt über ihr ein kleiner Fixstern. Jede Nacht Mondschein. Das gab es so noch nie. Wache jeden Morgen vier Uhr auf. Meist unnütze Ge-danken, Klinzeug.




AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAPHIE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen