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Samstag, 11. Februar 2012

Alina Oancea „Die Heimkehr ist ein weisses Blatt“II Rumäniendeutsche Literatur am Beispiel von Dieter Schlesaks Prosawerk: Teil I


   Alina Oancea

„Die Heimkehr ist ein weisses Blatt“ II

Rumäniendeutsche Literatur
am Beispiel von Dieter Schlesaks Prosawerk



Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit

Erst in den letzten Jahrzehnten von der westlichen Öffentlichkeit entdeckt, gehört die rumäniendeutsche Literatur seit den 80er Jahren als fester Bestandteil zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Kennzeichnend für diese Literatur ist bis in die 90er Jahre die vorwiegende Auseinandersetzung der deutschsprachigen Schriftsteller aus Siebenbürgen, dem Banat und der Bukowina mit dem Thema der Ausreise und der Migrationserfahrung.
Einer der berühmtesten Vertreter der ersten „Schriftsteller-Emigrantengeneration“ am Ende der 60er Jahre ist Dieter Schlesak, dessen gesamtes Werk durch die dominierende Beschäftigung mit dem Thema des Exils, der erhofften Heimkehr und der verlorenen Heimat gekennzeichnet ist. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, diese Themen anhand des Prosawerks des Schriftstellers zu analysieren.
Fast programmatisch weist schon die Überschrift der Arbeit, die übrigens dem Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens entliehen wurde, einerseits auf die nach langjähriger Exil- und Heimkehrerfahrung erkannte und angewandte Lebensphilosophie des Schriftstellers hin, andererseits auf die Struktur der Analyse: die Zweiteilung in „Die Heimkehr“ und „Das weiße Blatt“.
Für ein besseres Verständnis der folgenden Analyse wird einleitend ein Überblick über die Entwicklung der rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur geboten, mit besonderem Bezug auf die Abhängigkeit der deutschsprachigen Wirklichkeit von den sozialpolitischen Verhältnissen in Rumänien, gefolgt von einigen biobibliographischen Angaben zum Schriftsteller und seinem Werk.
Im ersten Teil der Arbeit wird versucht, durch eine Art Querschnitt durch Schlesaks Prosatexte und anhand zahlreicher Zitate, die Auseinandersetzung des Autors mit der eigenen Auswanderung, dem Leben im Westen, dem schmerzlichen Gefühl der Fremdheit und Heimatlosigkeit zu untersuchen, aber auch die Bewältigung der enttäuschten Erwartung der ersten und dann wiederholte Male unternommenen Heimkehr und die damit verbundene Suche nach einer neuen Heimat. In vier Kapiteln wird der Wandlungsprozess des Schriftstellers zu einem „Zwischenschaftler“ nachvollzogen.
Im Zentrum des zweiten Teils steht die Rolle der Sprache und der Schrift als Lebensspender und –ersatz, als Lebenssinn und –gefahr aber auch als Heimkehrmethode des Schriftstellers. Obwohl aus Siebenbürgen kommend und oft mit dialektalen Wendungen geschmückt, ist Schlesaks Sprache keine Minderheitensprache mehr. Durch ihre Ausdruckskraft und Poesie, ihre Sensibilität und Treffsicherheit im Umgang mit der Geschichte der vergangenen Jahrzehnte stellt diese Sprache nicht nur für die rumäniendeutsche sondern auch für die westdeutsche Literatur eine Neuheit und Bereicherung dar. Im letzten Kapitel wird auf den konkreten künstlerische Spracheinsatz, die innovative Technik des Tagebuchs, sowie die originelle Personenkonstellation in den Prosatexten näher eingegangen.
Zum Quellenmaterial der Arbeit gehören in erster Reihe Dieter Schlesaks Bücher: die Romane Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (1986), Der Verweser (2002) und Romans Netz (2004, die angegebenen Zitate wurden jedoch dem Typoskript entnommen), die Essays und Essaysammlungen: Visa. Ost West Lektionen (1970), Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991) Stehendes Ich in laufender Zeit (1994) und So nah, so fremd. Heimatlegenden (1995) sowie die Reisebücher: Geschäfte mit Odysseus. Zwischen Tourismus und engagiertem Reisen (1972) und Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens (2004). Hinzu kommen zahlreiche Interviews, Vorlesungen, Zeitungs-, Zeitschriften- und Internetartikel, Radiosendungen und Briefe, die größtenteils aus dem Privatarchiv des Schriftstellers stammen und freundlicher Weise von ihm selbst als Forschungsmaterial zur Verfügung gestellt wurden, wofür an diesem Ort die Verfasserin dieser Arbeit ihren tiefen Dank ausdrückt.
Exil und Emigration stellen das Hauptthema des gesamten Werks Dieter Schlesaks dar, doch bei weitem nicht die einzige Beschäftigung des Autors. Literatur, Geschichte, Philosophie, Physik, Religion, Parapsychologie sind nur einige der zahlreichen Interessen des Schriftstellers, die in seinen Texten behandelt werden. In dieser Arbeit konnte nur ab und zu auf die große Themenvielfalt hingedeutet werden, trotzdem sollen diese Hinweise als Anregung gelten und zu weiteren Forschungen zu Dieter Schlesaks Werk veranlassen.




Überblick über die rumäniendeutsche Literatur nach 1945


„Die zeitgenössische rumäniendeutsche Literatur ist die Literatur der mitwohnenden deutschen Nationalität in Rumänien“[1] schreibt Peter Motzan 1980. Im Herbst 1989 stellt das Marburger Literaturforum den „Tod“ der rumäniendeutschen Literatur mit einem „Nachruf“ provokant zur Diskussion und bewirkt eine heftige Reaktion der Kritiker und der noch in Rumänien lebenden Autoren.
Heute wird diese Literatur entweder als „fünfte deutsche Literatur“[2] anerkannt, demnach als Nationalliteratur, gleichberechtigt neben den Literaturen der BRD, der DDR, der Schweiz und Österreichs, oder auf das „fünfte Rad am Wagen“[3] herabgesetzt, wobei die „kleine deutschsprachige Randliteratur“ auf eine „Handvoll deutschsprachiger Autoren der jüngsten Generation rumäniendeutscher Literatur“[4] reduziert wird. Bei näherer Betrachtung kann man unter vier rumäniendeutschen Literaturen unterscheiden: „traditionelle Literatur, Heimatliteratur, Losungsliteratur – braun und rot, denn die rumäniendeutsche Literatur mußte unter zwei Diktaturen leben – und Widerstandsliteratur.“[5]
Was bedeutet aber „rumäniendeutsche Literatur“, welche reelle Stelle nimmt sie innerhalb der „großen“ deutschen Literatur ein und wie entwickelt sich im Laufe der Jahrzehnte die rumäniendeutsche Heimatliteratur, die in der vorliegenden Arbeit am Beispiel von Dieter Schlesaks Prosawerk genauer betrachtet werden wird?
Der Begriff setzt sich erst 1964/65 durch und darf berechtigterweise als Bezeichnung der literarischen Produktion der deutschsprachigen Minderheiten (der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Bukowinadeutschen und weiteren kleineren Gruppen) im rumänischen Staat verwendet werden, die nach 1918 entstand, nach der Eingliederung in das vereinigte Rumänien der bis dahin der österreichisch-ungarischen Monarchie angehörenden Gebiete.
Ungenau oder nur bedingt könnte demnach der Gebrauch des Begriffs erscheinen, wenn zu rumäniendeutschen Autoren auch Vertreter Bessarabiens und Nordbukowinas (Gebiete, deren Abtretung an die Sowjetische Republik 1944 endgültig vollzogen war) gezählt werden. Und wie darf der Begriff nach 1968 eingesetzt werden, als immer mehr Autoren das westliche Exil suchten, oder Vertreter der jüngeren Generation (siehe Richard Wagner *1952, Werner Söllner *1951, Ernest Wichner *1952) den Begriff für ihre Werke ablehnen: sie würden explizit „anti-rumäniendeutsche“ Literatur schreiben und nur eine Zuordnung zu einer Gruppe von Autoren akzeptieren, „die ihre Wurzeln in Rumänien haben und die über das rein Biographische hinaus durch ähnliche Erfahrungen geprägt sind“.[6]
Begriffe wie „deutschsprachige Literatur Rumäniens“ oder „deutsche Literatur in Rumänien“ werden schon 1970 vom Literaturkritiker Gerhard Csejka abgelehnt. Er spricht ausdrücklich von einer „rumäniendeutschen Literatur“, „weil sie von der Ambition lebte, in die deutsche Literaturgeschichte einzusteigen“.[7] Auch René Kegelmann bevorzugt in seiner Studie den letzteren Begriff, denn darin sei „die Prägung durch die rumäniendeutsche Umgebung und der Bezug zur deutschen Literatur und Sprache enthalten“, gleichzeitig ließe er sich „als einziger der diskutierten Bezeichnungen auch auf die in der BRD entstandenen Literatur anwenden“.[8]
Vielleicht findet Wolfgang Schlott einen gemeinsamen Nenner in seinen Anmerkungen zur „rumäniendeutschen Kulturlandschaft“, „die seit fast 800 Jahren […] einen bedeutenden zivilisatorischen Beitrag zur europäischen Geschichte geleistet hat“ und die er als „eine regionale Variante der deutschen Literaturgeschichte“[9] bezeichnet.
„Moderne rumäniendeutsche Literatur – ein Phänomen im luftleeren Raum, begann mit dem Ende, mit dem Grauen der Lager, des Krieges, dann dem Bruch 1944/45, der Bodenlosigkeit, dem Terror, der Sprachangst im roten Polizeistaat“ schreibt Dieter Schlesak (*1934) in seinen „Notizen zu einer Tagung“.[10]
Das Kriegsende und die neue Politik der jungen Volksrepublik bedeuten für die Deutschen Rumäniens eine doppelte Niederlage: büßen müssen sie nicht nur für ihren relativen Wohlstand, sondern als Mitläufer Hitlers auch für die großdeutschen Ambitionen.
Für die rumäniendeutsche Literatur wirkt der 1948 eingeführte Sozialistische Realismus besonders hemmend: Künstler müssen die Staats- und Volksinteressen berücksichtigen, eigene Traditionen werden unterbunden, „bourgeoise Elemente“ und „nazistisch Verseuchte“[11], repräsentative Schriftsteller, sowie zahlreiche Vertreter internationaler Literatur werden verboten und ihre Ausdrucksformen als dekadent, wirklichkeitsfremd und elitär denunziert.
Für die radikale Erneuerung, die von den Kommunisten propagiert wird, fehlen demnach die Voraussetzungen.
Das Verdienst, die Kontinuität der rumäniendeutschen Literatur bewahrt zu haben, kommt größtenteils den jüdisch-deutschen Bukowiner Schriftstellern und Intellektuellen zu, die sich während des Krieges und danach in Bukarest niederlassen und als „ziemlich unverdächtig nazionalsozialistisch infiziert zu sein“[12] gelten. Als „böses Paradebeispiel“ wird Alfred Margul-Sperber genannt, der am eifrigsten den neuen Regeln folgt und sogar seine frühen Gedichte nach dem „sozialistisch-realistischen“ Kanon umschreibt. Erst nach und nach dürfen auch andere, nicht so anpassungsbereite Autoren veröffentlichen: Otto Fritz Jickeli (1888-1960), Wolf von Aichelburg (1912-1994), Andreas Birkner (1911-1998), Erwin Wittstock (1899-1962).
In der Lyrik setzen sich herkömmliche Darstellungsformen durch, während in der Epik historische Stoffe in den Vordergrund treten, wobei die Geschichte in monumentalen Romanen zweckdienlich zurechtgestutzt wird.
Das Problem der „Sprachinselsituation“ bleibt aber weiterhin bestehen. Bei vielen Minderheitenautoren entsteht der Eindruck, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein und die Realität sprachlich nur ungenügend bewältigen zu können. Das Ergebnis ist ein starkes Minderwertigkeitsgefühl, literarische „Verzerrungen und Leerläufe […] – rumäniendeutsche Varianten der Experimetalliteratur“.[13]
Mit dem Auftreten neuer Schriftsteller wie Georg Scherg (*1917), Hans Bergel (*1925), Oskar Pastior (*1927), Paul Schuster (*1930) oder Claus Stephani (*1938) beginnt das Literaturgeschehen eine Eigendynamik zu entwickeln, durchbricht in manchen Fällen die Rahmenvorschriften und kehrt sich sogar polemisch gegen diese (siehe Hans Bergel Fürst und Lautenschläger, 1957 oder Georg Scherg Die Erzählungen des Peter Merthes, 1957).
Schon Mitte der fünfziger Jahre zeichnet sich die „Polarisierung in ‘Dogmatiker’ und ‘Ästheten’“[14] immer deutlicher ab: die ersten verteidigen den Vorrang der revolutionären Botschaft, während die zweiten bestrebt sind, die Ausdrucksmöglichkeiten zu erneuern und zu erweitern. Das Misstrauen, auf das sie dabei stoßen, erklärt auch, wieso 1959 ein „Prozess der deutschen Schriftstellergruppe“ stattfinden konnte, in dem Andreas Birkner, Wolf von Aichelburg, Georg Scherg, Hans Bergel und Harald Siegmund (*1930) von einem Militärgericht zu Haft und Zwangsarbeit „wegen des Verbrechens der Aufwiegelung gegen die soziale Ordnung durch Agitation“[15] verurteilt werden.
Das Jahr 1965 stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Minderheiten in Rumänien dar: die neue Regierung gibt Fehler in der Minderheitenpolitik nach dem Kriegsende zu, erkennt den Minderheiten mehr Rechte an und legt dadurch die Basis für eine kulturpolitische Liberalisierungsperiode, allgemein als „Tauwetterperiode“ bekannt, die bis in die siebziger Jahre dauern sollte.
Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Wende ist die Aufhebung des Sozialistischen Realismus als leitendes Dogma für die Literatur. Verdrängte Geschichte wird rehabilitiert, jüngste Vergangenheit darf als Epoche des Dogmatismus und der tragischen Irrtümer kritisiert werden, die Rezeption bisher verbotener oder verpönter Literatur – der Moderne, der experimentellen Literatur – ist erlaubt und weckt Experimentierlust und Nachholbedürfnis.
Peter Motzan weist in seiner Analyse der siebenbürgisch-deutschen Literatur in Rumänien (1919-1989) auf zwei „gegenläufige, doch auch einander überschneidende Bewegungen“: „Anknüpfung an die literarische Vorkriegstraditionen“, bzw. „Anschluss an die Formensprache der Moderne“.[16]
Hauptsächlich die Heimatliteratur ist inhaltlich den ´Vorkriegstraditionen` verpflichtet geblieben: dem zwingenden Glauben an den Volkscharakter der sächsischen Gemeinschaft, der Vorstellung des ´repräsentativen` und realistischen sächsischen ´positiven` Geschichtsromans: „Heile Welt trotz all der Zusammenbrüche und Katastrophen: Man denkt da an einen idyllischen Realismus, der auch dem unsäglichen sozialistischen Realismus und dessen zensiertem Heile-Welt-Bild nicht widersprach, sondern (von ganz andern Voraussetzungen und einem völlig entgegengesetzten Weltbild ausgehend) doch ähnlich die Abgründe vertuschen wollte: Optimismus, ´das Schöne` um jeden Preis“.[17]
Nur mit einzelnen Ausnahmen wagt man sich an bislang tabuisierte Themen heran: das Schuldgefühl und die Last der deutschen Volkszugehörigkeit in den fünfziger Jahren (Arnold Hauser Der fragwürdige Bericht Jakob Bühlmanns, 1968) oder das durch Wahn, Angst und Schuld geläuterte zurück gefundene Verantwortungsbewusstsein der Siebenbürger Sachsen (Erwin Wittstock Das jüngste Gericht in Altbirk, 1971).
„Für die progressiven Literaten und Journalisten entstand nach 1965 eine paradoxale Zweifrontenstellung, einerseits gegen die isolierende Kolonisten- und Besitzbürgermentalität der Leser, andererseits gegen die stalinistischen Altfunktionäre. Der Versuch, in geduldiger und mühevoller, oft gefährlicher Kleinarbeit den Zeitungs- und Literaturbetrieb der Rumäniendeutschen (Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Monatsschriften, zwei Verlagssektionen, Rundfunk- und Fernsehabteilung) in Gang zu halten und möglichst viel Information und gute Literatur unter die Leute zu bringen, vorsichtig aufzulockern, verhärtete Dogmen und Tabus abbauen zu helfen, Texte durch die Zensur und durch die Meinungskontrolle der harten ‘Klassenkämpfer’ zu bringen etc. etc., diese Arbeit wurde von einer neuen Generation unternommen.“[18] Redakteuren (vor allem der deutschsprachigen Zeitschrift des Rumänischen Schriftstellerverbandes Neue Literatur) wie Dieter Schlesak und Paul Schuster, oder jungen Literaturkritikern wie Gerhard Csejka, Bernd Kolf oder Emmerich Reichrath verdankt man nicht nur die Reintegration totgeschwiegener Autoren, sondern vor allem die Veröffentlichung junger Autoren und die Auseinandersetzung mit tiefgreifenden Problemen der rumäniendeutschen Literatur. Grundlegend für diese und die kommenden Generationen ist der faktische Zusammenbruch der Illusion, das einzige Ziel der rumäniendeutschen Literatur sei die Aufbewahrung der Geschichte der Deutschen in Rumänien.
Die sechziger Jahre geben aber auch den Auftakt zu einem „Migrationsprozess“, der nicht mehr aufgehalten werden sollte: 1966 übersiedelt Andreas Birkner in die BRD, 1968 Oskar Pastior und Hans Bergel, 1969 Dieter Schlesak, 1971 Paul Schuster.
Im Land wird man immer aufmerksamer auf die konkreten Gegebenheiten und Zustände, immer deutlicher spürt man die Abhängigkeit der literarischen Produktion und erkennt die Grenzen der erhofften Freiheit.
Die siebziger Jahre der rumäniendeutschen Literatur beschreibt Peter Motzan wie folgt: „Die literarische Entwicklung verlief weiterhin im Zeichen eines erstaunlichen Formenpluralismus, dokumentierte eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf kleinem Raum – von Modellen der Jahrhundertwende bis zur Textkombinatorik der konkreten Poesie, von naturmagischen Beschwörungen zum lakonischen Kurzgedicht, von schlichten und anekdotischen Erzählweisen zu parabolischen Strategien, vom Dokumentarstil zur grotesken Phantastik von ungebrochenem Neoprovinzialismus zu erneuter banatschwäbischer Mundartlyrik. Schreibtechniken fielen kaum noch dem Verdikt der Zensur zum Opfer, und dem real existierenden Sozialismus made in Romania begegnete man in gedruckten Texten auf verschiedenartigste Weise: Befürwortung, Verweigerung, ‘konstruktive’ Kritik und unmißverständliche Opposition.“[19]
Autoren wie Franz Storch (1927-1982), Arnold Hauser (1929-1988), Hans Liebhardt (*1934), Franz Heinz (*1929) oder Joachim Wittstock (*1939) bevorzugen die Kurzprosa, die erzählende und betrachtende Prosa oder die doppelbödige Parabel, während sich die neue Lyrikergeneration als „Wegbereiter eines neuen sozialen und ästhetischen Bewußtseins“ von den Schreibmustern ihrer Vorgänger distanziert und „innerhalb des gegebenen Kommunikationsrahmens den offenen Dialog mit der Gesellschaft“[20] sucht. Es sind Franz Hodjak (*1944), Frieder Schuller (*1942), Günther Schulz (*1946), Anemone Latzina (1942-1993), aber auch Johann Lippet (*1951), Werner Söllner, William Totok (*1961), Richard Wagner, Rolf Bossert (1952-1986), Klaus Hensel (*1954) und Ernest Wichner, junge Autoren, die 1972 in Temeswar die „Aktionsgruppe Banat“ gründen. Ein literarischer Zirkel (bald in „Universitas-Literaturkreis“ umgenannt), dessen Auftritte unter konstanter Kontrolle des Geheimdienstes stehen und der schon 1975 brutal und repressiv aufgelöst wird.
Ziel der „Aktionsgruppe“ ist, „durch poetische Texte zu agieren, […] mit ihren ‘Übungen für Gleichgültige’ eben diese aufrütteln und zum Denken und Handeln bewegen“[21]. Thematisch distanzieren sie sich von ihren Vorläufern, indem sie die nationalistische Mentalität der älteren Generationen zu überwinden versuchen und sich mit dem immer brisanteren Problem der Auswanderung konfrontieren. Ihre Heimatliteratur muss deshalb im Sinne des Verschwindens, der Bodenlosigkeit und der Auflösung betrachtet werden.
Aus dem gefährlichen Erlebnisraum, der Dimension des erlebten Terrors und der Sprachangst, aus der sprachlichen Sondersituation, in der die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mit ´traditionellen Mitteln` bewältigt werden kann, entwickelt sich eine außerordentliche Sprachsensibilität. Immer häufiger wird der „Klartext“ durch einen „uneigentlichen Stil“ ersetzt, während „scheinbar nur private Alltagserfahrungen“ und „sprachliche Klischees“[22] scharfe gesellschaftskritische Aussagen verstecken.
„Texte waren kein schönes Spiel, sondern lebensbedrohend angesichts einer Art Geheimdienstästhetik“, bemerkt Dieter Schlesak, „diese Erfahrung prägt das Sprachverhalten fürs Leben. […] die Irrealität der Lebenslage treibt in der Sprache, in der literarischen Struktur, in ihren Spannungen, eine ganz eigne Form hervor, die mit Druck geladen ist.“[23]
Die jüngere Epoche der rumäniendeutschen Literatur ist nicht nur ihr künstlerischer Höhepunkt, mit den ersten wichtigen Anerkennungen in der BRD, sondern zugleich ihr Endpunkt. Vom repressiven rumänischen System immer mehr an den Rand gedrängt reift bei diesen Autoren der Gedanke des „unaufschiebbaren, erzwungenen Abschieds“, der schließlich von fast allen als „der noch einzig mögliche Schritt“[24] empfunden wird.
Nur wenige Jahre später sollte ein massenfluchtartiger Exodus einsetzen, der die in Rumänien verbliebenen Deutschen um mehr als die Hälfte ihres Bestandes von 1989 reduziert. Von den Vertretern der rumäniendeutschen Literatur der siebziger und achtziger Jahre verbleiben in Rumänien vielleicht noch ein Zehntel: Ursula Bedners (*1920), Anemone Latzina, Klaus Kessler (*1925), Ricarda Terschak (*1929), Hans Liebhardt, Joachim Wittstock, Franz Hodjak, Wolfgang Koch, Balthasar Waitz (*1950), Hella Bara, Helmut Britz, Juliana Modoi, Marius Koity u.a.
Für diese Autoren hat die Wende bedeutende Veränderungen der Bedingungen und Möglichkeiten ihres literarischen Schaffens gebracht: einen intensiven Dialog und gegenseitigen Austausch mit dem Westen, vor allem aber neue Publikationsmöglichkeiten.
„Über rumäniendeutsche Prosa und Lyrik zu sprechen, bedeutet bis in die neunziger Jahre hinein, sich mit dem Thema Ausreise und Ankuft auseinandersetzen zu müssen“[25] behauptet Oliver Sill. Tatsächlich verarbeiten die meisten ausgewanderten Schriftsteller in ihren Werken die Erfahrungen der Migration, des Weltwechsels und Heimatverlustes, sowie die sprachliche Bewältigung dieser Erfahrungen. Die Texte sind oft Ausdruck der Absage an die kommunistische  Diktatur und an die rumäniendeutsche Minderheit mit ihrer Tradition und Kultur. Noch öfter aber wird versucht, durch den Text eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität zu finden.
Besonders interessant ist das Auftreten von Schriftstellern der jüngsten Autorengeneration, für die Deutsch erst Zweit- oder Fremdsprache ist: Carmen Puchianu (*1956), Ioana Craciun (*1958), Marius P. Weber oder Vasile Poenaru. Obwohl sehr unterschiedlichen Traditionen verpflichtet, verbindet diese Autoren die Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der Diktatur und der immer stärkeren Individualisierung und Vereinzelung innerhalb der rumänischen Gesellschaft.
Schlussfolgernd kann den treffenden Bemerkungen Dieter Schlesaks zur rumäniendeutschen Literatur beigestimmt werden: „Aus Bruch-Erfahrungen verdichten sich in dieser kleinen Literatur epochale Wahrheiten: Illusionen des Raumes, der Zeit, Illusionen der Sprachlogik werden entlarvt. Dieser Bewußtseinszustand ist für westliche Leser schwer nachvollziehbar, doch er betrifft den Endzustand  Westen genau so; und bedingt eine neue Ästhetik paradoxer Logik. Diese Erfahrung ist seit 1989 nicht mehr exotisch, abschiebbar, sie gehört in das vereinigte Deutschland; unsere Erfahrung ist radikaler als die ostdeutsche, doch mit ihr verwandt.“[26]
Vom Rand ist die rumäniendeutsche Literatur mit ihrem „Abschiedspathos“ und „Schwanengesang nach dem geschichtlichen Ende“[27] in die Mitte der deutschen Literatur gerückt. Trotzdem ist dieser Rand „keine Garantie“, betont Georg Aescht, „und seine Verlockung besteht in der Unzuverlässigkeit seiner Konturen […]. So sollte es sein. Literatur, als Rand des Wirklichen“.[28]


Dieter Schlesak  - Biobibliographische Angaben

Es ist nicht einfach, Dieter Schlesaks literarhistorische Position festzulegen: Obwohl vom Alter (1934 in Schäßburg/Rumänien geboren) und vom literarischen Debüt her (1958/59 die ersten „ernsthaften“ Gedichte) der Generation rumäniendeutscher Schriftsteller der sechziger Jahre angehörig, eilt er dieser voraus und ordnet sich durch seine ästhetische aber auch politische Einstellung in die Moderne der siebziger Jahre ein.
Nach Abschluss des Germanistikstudiums in Bukarest arbeitet der Autor 10 Jahre lang für die deutsche Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ als Redakteur für Lyrik.
Er übersetzt aus der rumänischen Literatur und veröffentlicht: Francisc Munteanu, Der Himmel beginnt beim dritten Stockwerk (1964), Nichita Stănescu, 11 elegien (1969), Fische und Vögel, Junge rumänische Lyrik herausgegeben mit Wolf Peter Schnetz (1969) und später Gefährliche Serpentinen. Rumänische Lyrik der Gegenwart, mit einem Nachwort (1998).
Als Herausgeber publiziert er in diesen Jahren: Michael Albert. Ausgewählte Schriften besorgt und eingeleitet (1966), Schiller. Gedichte Auswahl und Vorwort (1967), Imperiul demonilor. Proză austriacă modernă (1968), Rainer Maria Rilke. Gedichte Vorwort und Auswahl (1969).
1968 erscheint Grenzstreifen, der erste Gedichtband: brisante Verse und eine Lyriksprache als „explosive Mischung aus Sprachkomplexen des Minderheitendeutschs und des geschärften Sprachsinns in der Diktatur.“[29]
Zwei Jahre später erscheint auch das erste Prosabuch: Visa. Ost-West-Lektionen. Essays (1970), in dem der Autor die auf seiner ersten West-Reise gesammelten Eindrücke, Erfahrungen und Reflexionen festhält.
1969 wandert Dieter Schlesak nach Deutschland aus, lebt in Frankfurt und bei Köln, arbeitet als Journalist und für den Rundfunk und schildert in einem zweiten Essay-Band: Geschäfte mit Odysseus – Zwischen Tourismus und engagiertem Reisen (1972) die in Europa und Amerika gesammelten Reiseeindrücke.
Enttäuschend ist für den Autor das vom Krieg und Nachkrieg zerstörte Deutschland, aber auch die neue Künstlichkeit und Konsumwut, so dass er zusammen mit seiner Lebensgefährtin einen neuen Weltwechsel wagt. Seit 1973 lebt nun der Autor in Agliano bei Camaiore in der Toskana, und in Deutschland, schreibt Essays über Literatur, Grenzphänomene und Religion für Fachzeitschriften und für den Funk und veröffentlicht Lyrik und Prosa: Briefe über die Grenze (1978, zusammen mit Magdalena Constantinescu) und Weiße Gegend (1981), sowie den ersten Roman: Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (1986), einem „Roman des Trainings in Abschiedsfähigkeit“[30], (in rumänischer Übersetzung Zile acasă, 1995).
Es folgen: Das neue Licht Michelangelos. Bildmeditationen, in 3 Bänden (1989-1991), eine Kunstdruckdokumentation der renovierten Sixtinischen Kapelle, und Aufbäumen. Gedichte und ein Essay (1990).
1990 kehrt der Autor nach sechzehn Jahren Exil wieder zu den Orten seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen zurück. Das Resultat dieser neuen Begegnung mit dem verlorenen Boden sind drei Bücher, die zusammen eine Art Trilogie bilden: Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991; in italienischer Übersetzung Bandiere bucate, 1997, und in rumänischer Übersetzung Revolta morţilor, 1998), Stehendes Ich in laufender Zeit (1994) und So nah, so fremd (1995), in denen sich Schlesak zum 1989 in Rumänien erfolgten Umsturz äußert und den eigenen Exilzustand als endgültig erkennt.
Neue Gedichtbände folgen: Landsehn (1997), Tunneleffekt. Gedichte mit einem Essay: Fragment zu einer posthumen Poetik (2000), Lippe Lust (2000) und die Neuauflage Weiße Gegend (2000). 2002 erscheinen LOS. Reisegedichte und der Roman Der Verweser, der schon 1989 in einer ersten Fassung vorliegt und seit einigen Jahren in überarbeiteter Form als Internetausgabe vorhanden ist. Es handelt sich um einen Geisterroman, der im Lucca und im Siebenbürgen des sechzehnten Jahrhunderts spielt. Dieses Jahr sind zwei weitere Prosabücher erschienen: Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens und der Roman Romans Netz, die Chat- und Liebesgeschichte eines Schriftstellers im Internet.
Abgeschlossen und für die Veröffentlichung bereit sind zwei weitere Bücher: ein „Dracula“-Roman, als Internetausgabe schon zu finden, und ein Band Profile Lauter letzte Tage, tödliche Wendepunkte im Leben großer Persönlichkeiten (Johannes Kepler, Hölderlin, Althusser, Jean Améry, Paul Celan). In der Werkstatt befindet sich zurzeit ein weiteres Prosabuch, Arbeitstitel Terplan oder die Kunst der Heimkehr, eine Fortsetzung der Vaterlandstage, sowie ein Überlebenstagebuch, Aufzeichnungen der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod.
Für sein literarisches Werk wird Dieter Schlesak mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet: 1980 erhält er den Förderpreis des Andreas-Gryphius-Preises der Künstlergilde, zweimal das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds (1982 und 1987), den Schubart-Literaturpreis (1987) und das Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst von Baden-Württemberg (1988) für Vaterlandstage und Der Verweser, das Förderstipendium der Akadmie Schloss Solitude Stuttgart (1991), den Nikolaus-Lenau-Preis (1993) für die Lyrik, den Hauptpreis des Ostdeutschen Kulturrates (1994) für die Prosa und die Ehrengabe der Schillerstiftung (2001).
Der Autor ist Mitglied des Deutschen P.E.N. Zentrums, des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (London), der Mindener „Kigge“ und anderer Schriftstellerverbände.





Das Exil


Der Duden definiert das Exil als „der langfristige Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, das aufgrund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat oder unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde.“[31] Allgemein treffend, doch im Fall zahlreicher im Exil lebenden Kulturmenschen bleibt die Definition noch recht oberflächlich. Inwiefern sie erweitert und vertieft werden könnte, ist auch am Leben und Werk des Schriftstellers Dieter Schlesak beispielhaft ersichtlich.
Einen ersten Ansatz bietet der Autor selbst, indem er zwischen zwei Exilen unterscheidet: „das kleine Exil“, das nach 1989 gefallene, und „das große Exil“, das auch nach der politischen Wandlung weiterbesteht und in dem „wir wieder zwischen Glauben und Zweifel leben, schreiben, denken“[32] müssen.
Betrachtet man das gesamte Prosawerk Dieter Schlesaks aus diesem Blickwinkel, kann man drei weitere Exiltypen erkennen:
1. ein äußeres Exil, politischer Natur: geerbt durch die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, selbst gewählt durch die Ausreise, später aufgezwungen durch die Ausweisung;
2. ein inneres Exil der Zensur und Selbstzensur, der inneren Emigration und der Ost-West-Erfahrungen;
3.                 ein transzendentales Exil des menschlichen Zustands, der Suche nach dem „Letzten Ort“[33] und der Befreiung im Tod.
Auf diese Dreiteilung wird im weiteren näher eingegangen.


1. Das äußere Exil

„… wir waren ja auch zu Hause im Exil“,[34] behauptet der Schriftsteller in einem Interview und bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf die Securitate-Zeit, sondern allgemein auf die komplizierte Situation der nationalen Minderheiten in Rumänien, die kontroverse Lage der Rumäniendeutschen, Lage die schon 1867 mit der Aufhebung des Privilegs des Königsbodens begonnen hatte und während der zwei Diktaturen (der braunen und der roten) ihren Tiefpunkt erfuhr.
Nicht nur der nationale Herkunftsstolz sondern vielmehr das „Schutzsystem der Abschottung von der Realitä“ veranlasst die Minderheit dazu, sich von der Mehrheit abzusondern und „ein geschlossenes, minisoziales ethnozentrisches System, das schon nach Gesetzen der Entropie dem Untergang geweiht ist“[35] aufzustellen. Dieses „Schutzsystem“ lernt der Ich-Erzähler der Romane und Essays schon als Kind kennen, durch die autoritär-deutsche Erziehung im Elternhaus  wie auch durch die aufgezwungene bewahrende Bewusstseinshaltung seiner Herkunftsgruppe:
„… da wurde an uns herumgebastelt, an den Kindern. Wußte nicht, keiner wußte, was mit ihm geschah, wußte nicht, daß etwas Phantastisches, etwas dem Bewußtsein und der Liebe Entzogenes hergestellt werden sollte, eine merkwürdige GESITTUNGSGEMEINSCHAFT, wie das hieß, und betroffen liest man es, glaubt den Augen nicht zu trauen, reibt sie, meint zu träumen, ja, es ist wirklich so, jenes <>: Blutgemeinschaft, Blutwert, treuer, redlicher Deutscher, Siebenbürger Sachs gar, ich sags mit Stolz, deiner Sprache, deiner Sitte, deinem Volke bleibe treu.“ [36]
Inwiefern diese Erziehung zu bedingungsloser Unterordnung und unbedingtem Gehorsam die Anders-Artigkeit der jungen Deutschen fördert und zur Isolation führt, wird an der Beschreibung der Militärdiensterfahrung Michael T.`s, dem alter ego des Ich-Erzählers, deutlich:
„… Wie wars bei unserem Militärdienst in der Walachei gewesen, da gabs doch keine Ordnung und Disziplin, wir hätten so recht schmallippig gern Disziplin reingebracht, Sauhaufen! Und waren doch so kraftlos und schwach, wo es allzu frei zuging, beim Spotten und Witzeerzählen: […] und jeder Rumäne versuchte sich zu drücken – wir natürlich nicht; unser Stolz war das Zähnezusammenbeißen […]. Die anderen flunkerten, drückten sich, nützten jede freie Minute ihres Lebens, wir kamen beim Marschieren groß raus, machten nie schlapp, Mut und Willen beweisen […]. Während die anderen leger, ja, gemeinsam mit Offizieren und Unteroffizieren in ungeordnetem Haufen und unvorschriftsmäßig und völlig unmilitärisch dahinspazierten [...], marschierten wir, wir: nur drei Deutsche im ganzen Bataillon [...], und der Spott folgte uns nach. Half nichts, daß wirs Marschieren als Erleichterung und Streckenüberwindungstrick ausgaben.“ [37]
Das Deutsche, das Sächsische überzeugt und prägt tief – so auch Michael T., der stolz an die zwei Jahre zurückdenkt, die er als Dorfschullehrer in Denndorf bei Schäßburg verbracht hatte:
„Dorfapostel in alter Tradition sozusagen: drinstehend, noch nichts gebrochen, Gefühle fast heil […]. War hochgeehrt; wenn ich die Staub-Hauptstraße neben Büffeln und Hühnern durchs Dorf schritt, erhoben sich die Leute von ihren Bänken und boten Guten Abend oder Guten Morgen wünschen wir dem Herrn Räktr, je nach Tageszeit, den Gruß nach Vergangenheitsmaß entboten; denn hier war alles stehngeblieben vor einigen hundert Jahren, trotz Krieg und.“[38]
Aus diesem Exil der siebenbürgisch-deutschen Glaubens- und Gesittungsgemeinschaft unternimmt das Ich seinen ersten Fluchtversuch, indem es als Zwanzigjähriger zum Studium nach Bukarest und damit in die rumänische Wirklichkeit umzieht:
„… es war August, sehr heiß, der Asphalt schmolz unter der glühenden Bărăgansonne […], du warst dünn wie ein Finger, ein Spirifinkel, bettelarm, du lebtest von Brot, Wasser und Tomaten. Roşii. Alles rot. Auch die vielen Fahnen zum dreiundzwanzigsten August, Tag der Befreiung vom faschistischen Joch. Alles rot, auch dein Gesicht vor lauter Schüchternheit und Prüfungsangst und Verwirrung hier – alles ein Irrweg und ein Angstlabyrinth unter einer großen rauchigen Glaskugel des blendenden Augusthimmels…“[39]
Kennzeichnend für die 50er Jahre ist, dass vor allem die jüngere Generation aus Opposition gegen Elternhaus oder bürgerliche Konventionen in die „geschickt ausgeworfenen Netze stalinistischer Funktionäre“ gerät:
„Die jüngere Generation schloß sich entweder von der sich nun bildenden Wirklichkeit ab, organisierte sogar absurden nationalen Protest und eine Art Wandervogel-Opposition gegen das Regime; einige der jungen Intellektuellen aber gingen zu den neuen Fang-Utopien über und wurden aus einem Generationsreflex gegen das >>Alte<<, gegen die verbrauchte bürgerliche deutsche Kolonistengesellschaft mit vorsintflutlichen Idealen und Ansprüchen (die aktiv mit Hitlerdeutschland paktiert hatten) zu Stalinisten.“[40]
Auch Michael T. steht zwischen zwei Fronten: Auf der einen Seite die deutsche Minderheit, von der er, wie alle anderen zu den Roten „Übergelaufenen“, als Verräter betrachtet wird („[…] Bolschewikenschwein und Judenknecht Herr T. das sind sie Volksverräter und bis in alle Ewigkeit bleibende Sünde wider die Welt-Ordnung übergelaufen bist du zu Pöbel und Mob…“[41] – so beschimpft ihn der Vater seines Jugendfreundes Christian), auf der anderen Seite lernt er nun in den Jahren, in denen er als Redakteur der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“ arbeitet, den Staat und dessen Sicherheitsdienst, die Geheimpolizei und Zensur kennen:
„Überwachung, Aushorchen, wühlen in der Intimität der Leute und in ihren Schubladen, ihren Beziehungen, ihren Liebschaften. Alles wollen SIE wissen, wie früher der Herrgott, sein dreieckiges Auge über dem Altar“[42]
Viel wichtiger ist für das Ich jedoch aus dem sprachlich-kulturellen Exil auszubrechen: „Ich war vierunddreißig, war noch nie in Deutschland gewesen, schreib deutsch, las deutsch; fühlte mich zur deutschen Literatur gehörig“[43] Erst nach dem Eintritt 1968 in die Partei wird dem somit „Vertrauenswürdigen“ die erste Ausreise genehmigt: mit Dienstpass, in Begleitung zweier Kollegen zu einem internationalen Schriftstellertreffen nach Mondorf in Luxemburg.
Es ist eine Reise zu den über Jahre aufgebauten Wunschvorstellungen und Phantasien, die aber in der konkreten Wirklichkeit keine Bestätigung finden werden, „nur eine Zerstörung von Illusionen, Mystifikationen. Eine Therapie.“[44]
Für diese Erkenntnis bedarf das stark verunsicherte Ich jedoch Monate, Zeit in der es ihm nur viel zu langsam gelingt, einen Kontakt zu der Wirklichkeit herzustellen, von der es durch eine aus Traumbildern selbst gebastelte ‘Isolierschicht’ getrennt wird. Die Ablehnung der inzwischen erkannten westlichen „Konsum- und Kulturideologie“, die allgemeine Kritik am kapitalistischen Westen erklärt Oliver Sill „…auch aus der Kollision von Wunsch und Wirklichkeit, der Enttäuschung darüber, daß die Realität jenem Bild nicht standzuhalten vermag, das Schlesak in Rumänien vom Westen entworfen hatte.“[45] Aus derselben Sicht motiviert Sill auch das Heimweh, das sich bald einstellt, die Sehnsucht nach Bukarest: „Solch idealisierende Erinnerung ist die Kehrseite, besser noch: das logische Äquivalent des fortschreitenden Verlustes aller Illusionen über den Westen.“[46]
Dem Essayband „Visa. Ost West Lektionen“ ist ein „Kleiner geographischer Kalender“ vorangestellt:
„5. Oktober 1968 – 25. März 1969:
Bukarest / Brüssel / Paris / Frankfurt / Leipzig / Wien / Bratislava / Budapest / Bukarest;
25. März – 24. November 1969: Bukarest;
24. November 1969 – 30. März 1970: Frankfurt.“[47]
Aufgelistet sind nicht nur die Daten und Etappen des Westaufenthalts des erzählenden Ich, sondern auch die der Heimkehr und der zweiten, endgültigen Ausreise aus Rumänien. Während seines achtmonatigen Aufenthalts in der Heimat hat das Ich die Möglichkeit, die rumänische Ost-Realität vor dem Hintergrund der Westerfahrung neu zu beobachten und zu deuten. Unter dem im Westen eingeübten wachsam-kritischen Blick erscheint die Heimat erst fremd, doch „das tägliche aufreibende Geschäft des Sich-Sträuben-Müssens macht schlaff, läßt resignieren. Im sozialistischen Alltagstrott ist man dann nach einigen Monaten wieder ganz eingewöhnt.“[48]
Auch die systemvergleichende Analyse von Ost und West führt zu keiner positiven Schlussfolgerung. Entmutigenden ist die Erkenntnis, dass:
„In beiden Systemen das jeweils Negative verschwiegen [wird]: im spätkapitalistischen Westen der dringend nötige sozialistische Produktionstrend, der im eingeschränkt sozialistischen Osten grundsätzlich (aber verschüttet) da ist – und im Osten die fehlende Rechts- und Sicherheitsgarantie der Person, die bis zu einem gewissen Grad in westlichen Gesellschaftssystemen realisiert ist.“[49]
Und da dem Ich beide Systeme „als komplementäre Formen einer in Ost und West gespaltenen Welt“ erscheinen, „die hüben wie drüben individuelle Freiheit und Autonomie verhindert“[50], entscheidet es sich für die endgültige Ausreise, denn „der westliche Gesellschaftsstatus ist nicht das vielgerühmte ‘kleinere Übel’, das zur Beruhigung seiner Bürger und Ideologen erfunden wurde, sondern einfach ein anderes Übel.“[51]
Die Enttäuschungen bleiben dem mit großen Erwartungen nach Deutschland emigrierten Ich auch weiterhin nicht erspart, denn schon nach kurzer Zeit fühlt es die westliche Kälte und Gleichgültigkeit und erkennt die Kommunikationsunfähigkeit und die noch viel größere Konsumwut und Geldgier der Westmenschen; es erlebt die schmerzvolle Auswirkung von Wahrnehmungsverlust und Isolation und leidet an der unvermeidlichen Konfrontation mit der Vergangenheit der eigenen siebenbürgisch-deutschen Herkunft und an der Schuld des Verrats an der eigenen Tradition. Der einzig mögliche Ausweg aus dieser Sackgasse ist deshalb eine neue Emigration – in die „Zwischenschaft“, „zwischen all diesen Systemen, Ideologien, Sozialisationen.“[52] Die Wahl fällt auf Italien: „nur oberflächlich“ wegen seiner Schönheit, „tieferer Grund war die Natürlichkeit jenes Landes“[53], die fremdsprachliche Umgebung und die Chance, „auch weiter ein Exilant sein zu dürfen“[54].
Das noch selbst gewählte westliche Exil soll aber bald in ein politisch aufgezwungenes Exil umarten, da 1975 in Rumänien ein Gesetz erlassen wird, nach dem alle rumänischen Staatsbürger, die mit Dienstpass im Ausland weggeblieben sind, von einem Militärgericht zu sieben Jahren Haft verurteilt werden.
In jahrelanger Schreibtherapie versucht der Schriftsteller den Landverweis, das Ausgewiesen-Sein und alle damit verbundenen Folgen zu exorzieren, indem er sie im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens verarbeitet und Michael T., „die Erfindung seines zweiten Ich, des Schriftstellers, der nicht heimkehren darf“[55] stellvertretend ins Heimatland fahren lässt. Schlesaks Heimkehr-Erfahrungen (1969 die erste, 1973/74 die zweite, mit deutschem Pass) und die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht und der Securitate werden von Michael T. nacherlebt: wie vorausgesehen wird er verhaftet, in die „bekannte Gegend der Angst“[56] gebracht und verhört. Die deutsche Staatsbürgerschaft kann ihn vor der Anklage „Dezertor în vecii vecilor“ nicht schützen: „Verräter! […] Abgehauen bist du, abgehauen, und vergessen… du wieder zu kommen. Abgehauen  du, mit Dienstpaß, mit Dienstpaß, porcule!“ und auf die Begründung, „er sei doch nur dieses brennenden Heimwehs wegen zurückgekehrt“[57], reagiert der Sicherheitsdienst mit höhnischem Lachen, denn das Urteil steht fest:
„Dem Vorgeführten im Amtszimmer wurde dann in dürren Worten mitgeteilt, daß er des Landes verwiesen sei für immer, fügte der Oberst hinzu. Stand da also ein Mensch vor ihm, zum LEEREN ORT verurteilt. Und der tröstete sich sofort, wie das seine Art ist, der Verurteilte, darin hatte er Übung: Na und? Im Leeren erst kann Neues beginnen, und draußen. In vecii vecilor, betonte der Oberst nochmals. Hat doch einen guten Klang, dies Immerdar.“[58]


2. Das innere Exil

„Wir sprechen eine andere, die früher verteufelte deutsche Sprache. Und – wir waren für etwas anderes, nämlich autoritär-deutsch erzogen worden, erzogen für eine Lebensform, die es nicht mehr gab. Und diametral entgegengesetzt war der neuen realsozialistischen Existenzform, an die man eine Zeitlang geglaubt hatte, auch an jene ‘Bewußtseinswandlung’,  einen radikalen Umbau der Person, die ich erst nach meiner Emigration voller Entsetzen genauer, auch an mir selbst, als das, was es war, nämlich einfache Gehirnwäsche, erkannte.“[59]
Diesen diametralen Gegensatz zwischen der in der Elterngeneration tief verankerten Traditionsverbundenheit und den „Marx- und Engelszungen, denen sich viele unserer orientierungslosen Generation […] verschrieben [haben]“[60], stellt der Schriftsteller im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens nicht als vergangene Wirklichkeit dar, nicht als Bewusstseinsprozess des erzählten Ich, sondern aus der Sichtweise des erzählenden, erinnernden, reflektierenden Ich, das nun, aus zeitlicher Distanz, über die marxistische Wende des Studenten Michael T. besser zu wissen glaubt.
Eine „elternlose Generation“ nennt Schlesak die seine, „da die Väter nichts mehr weiterzugeben hatten“[61], und erklärt im Prosaessay Wenn die Dinge aus dem Namen fallen die Empfänglichkeit vieler seiner Altersgenossen für den Marxismus nicht nur als kritische Haltung gegen die eigene Herkunft und als Provokation, sondern auch als Schutz:
„Wir, die Nachgeborenen, waren völlig isoliert, hätte ich den jungen Kollegen hier sagen sollen: unsere Generation wuchs unter unnormalen Bedingungen auf, weltlos sozusagen, es war eine Generation ohne Eltern. Wir hatten das Vertrauen in das <> Elternhaus und in die Tradition verloren, die Schuld am Kriege, am Faschismus gewesen war, und suchten uns neue Väter, rote, um auf die andere Seite der Front zu kommen. Eine unglückliche Generation zwischen Elternhaus und Staat in einem Niemandsland der Kultur und der Gesellschaft.“[62]
Der Zusammenbruch der historischen und sozialen Existenz, der Bruch mit allen bisherigen Normen, der Verlust des Privatbesitzes und des Sozialprestiges führt dazu, dass alles, was die ältere Generation den Jüngeren gegenüber sonst mächtig erscheinen lässt, verloren geht und es zur Abwendung letzterer von der christlich-konservativen Tradition der Siebenbürger Sachsen kommt:
„Treue und anderes. Pflicht und anderes. Darüber hatten wir immer die heftigsten Auseinandersetzungen. Obwohl T. wußte, wie seinen Vater dies reizte, fing er immer wieder davon an: <Entgiftung bin ich zur Gegenseite gekommen, zur hoffnungsvoll roten.>>“[63]
„Ich wollte meinen Ödipuskomplex auf diese Weise abreagieren und stärker als mein Vater sein. Ich wurde also Marxist, da man als junger Mensch ein Ideal braucht“,[64] so erklärt heute der Schriftsteller den radikalen Bruch mit der eigenen Herkunft, seine erste Heimatlosigkeit und die damit verbundene Suche nach einer neuen ideologischen Heimat. Wegweiser sind dem Student Michael T. dabei „die dünnen abgerissenen Heftchen. Rote“, bei deren Lektüre er sich gut fühlte, „weil befreit. Da hast du die ganze diffuse Welt, hast die Welt im Griff, ohne sie zu haben; Buch-Stabhochsprung.“[65]
Der Bibliothekar Adam K., den Michael T. in der Universitätsbibliothek kennenlernt, „ein Freund, der jenen WIRBEL erlebt hatte, der an jenem ORT gewesen war, Anus mundi[66] reagiert zwar mit Abwehr, doch verständnisvoll auf die schnelle Begeisterung für den Marxismus:
„Deine Begeisterung im Jugendalter, ganz klar, ich verstehe sie. Mit diesem neuen blitzblanken Instrument wird die Welt winzig und du der Größte. Und kannst die Menschen, vor allem deinen Vater aus bester Vogelperspektive beäugen. Und der Minotaurus schlägt nicht mehr zu; hast den Roten Faden. Oder?“[67]
Der Freund Adam, dem gegenüber sich das erzählte Ich nicht verschließt, bestärkt T. im Bruch mit der christlichen Tradition, verweist aber auch auf das Trügerische des zur Ersatzreligion stilisierten Marxismus: „Such dir einen lebenden Gott und nicht einen toten, wie SIE ihn dir hier anbieten!“[68]
Zur Abstandnahme von der eigenen Herkunftsgruppe, ja sogar von der eigenen Familie führt hauptsächlich „die Scham wegen der braunen Verbrechen […], bei denen meine Herkunftsgruppe aus unkritischer Reichsverhimmlung und Naivität unschuldig-schuldig Opfer und Täter zugleich geworden war“[69] erklärt Schlesak. Verständnis und Akzeptanz gibt es für die „deutschen Bürgers- und Bauernsöhne“ keine, weder von den Funktionären, den „alten Antifa-Aktivisten“, die sie als Überläufer mit Misstrauen betrachten und überwachen, noch von den Landsleuten, die sie als Kollaborateure ablehnen: „[…] bewußt oder unbewußt standen wir, nun eine Art ‘Waisenkinder des Klassenkampfes’ zwischen Hammer und Amboß, zwischen Partei und Herkunftsgruppe.“[70]
Es sind die fünfziger Jahre - die Übergangsperiode von der Stalinzeit zu der Ceauşescu-Zeit - in denen die Generation des Schriftstellers, die Künstler und Literaten in erster Reihe, unter ausgeprägten diktatorischen Verhältnissen eine immer stärkere Isolation und das innere Exil erfahren. Der Staat ist dabei, einen ‘neuen Menschen’ zu schaffen, „eine Schablone [wird] zusammengebastelt […] an jedes und jeden angelegt, an jedes Buch, an jeden Gedanken, an jedes Verhalten.“[71] Die neue Lebensform heißt Misstrauen, Schweigen wird zum Lebensstil und die einzige Überlebenschance besteht im Nichthandeln. „In Rumänien waren am Schluß nicht einmal mehr Hochzeiten erlaubt“ erinnert das erzählende Ich in der Prosa- und Essaysammlung So nah, so fremd:
„Mehr als drei Leute durften nicht zusammenstehen, zusammenkommen, jeder war alleingelassen, überwacht, von Spitzeln umgeben, selbst aufgefordert, Spitzel zu sein, die Mutter, den Bruder, den besten Freund zu verraten, ein gehetztes Tier, nichts mehr als ein keuchendes Wesen, das langsam seine menschlichen Eigenschaften verlor; Moral? Würde? Ha, ein Lacher. Der Nihilismus und Zynismus, der Hohn in Witzform waren noch einzig mögliche Verteidigungsmittel, für den, der noch dazu die Kraft hatte.“[72]
Deshalb bewundert Michael T. seinen Freund Chris und dessen `Anpassungskunst´: der „<> […] anstatt der bittern Pille, also aus Marx Murx nicht sogleich, eher zuerst vielleicht Mark oder Murkel, was ja Kosenamen sind, Murx war schon gefährlicher“; der große Nietzscheschnurrbart, die Bibel unter dem Arm – das Seltsame als Paravent und der feste Entschluss: „Nicht aufgeben, das sei alles, auch Clownmittel seien erlaubt.“[73]
Standzuhalten versucht auch Michael T. oder das erzählte Ich, doch je mehr er sich bemüht, desto stärker wird das Gefühl der Bewusstseinsspaltung, des lügenhaften Doppelllebens, der ‘inneren Zensur im Kopf‘ und der damit verbundenen Angst.
Und Angst lernt das Ich schon recht früh kennen – noch als Dorfschullehrer, am 5. März 1953, Stalins Todestag, da es zum ersten Mal abgeführt wird:
„Die behaupteten damals ja, ich sei der Organisator einer Revolte, wurde dafür an-gesehen und deshalb verhaftet, ich, der neamt, der Deutsche: Namen, Adressen, Komplicen! Radio gehört? Ja, Radio, du Schwein, porcule.“[74]
Der naive Idealismus soll Michael T. in Bukarest schon nach einem Jahr, in dem er als Redakteur bei der „Neuen Literatur“ arbeitet, durch das erste Verhör beim Geheimdienst gebrochen werden:
„Wir hatten Angst vor den Blauen. Zeno war schon verhaftet worden, und mich beschatteten sie seit einem Jahr. Mein Schatten hieß JORDAN; mein Schatten, der lud mich ein, bis zweimal wöchentlich zu einem FREUNDSCHAFTLICHEN TREFFEN. Wenn das Telefon läutete, fuhr ich jedesmal hoch, fuhr mir der Schreck in die Glieder. Sie holten mich nicht, ich mußte freiwillig gehn. Wenn Maria es merkte, fuhr sie mir nach. So, als hätte sie Angst, ich könnte verschwinden. Spurlos. Das gabs. Und das wußte sie. “[75]
Die Zensur hält die Angst vor der Sprache wach, vor einer zum Zweck der Propaganda zugerichteten Sprache, und auch vor der Schrift, die der Kunstdoktrin eines sozialistischen Realismus verordnet wird. Sogar der während der Verhöre wiederholte Male geschriebene Lebenslauf kann gefährlich werden. Das Leben eines jeden Einzelnen wird auf Papier reduziert: „Stapel Papier, das ist die Welt wohl. Aktenschränke. Und Gift. Dort ist das Leben verwahrt; weißt nicht, wer du bist. SIE wissen es besser.“[76] Das Überwachungssystem ist ein „unfaßbares Wesen“, das alle Leben gefangen hält und wie ein künstliches Schicksal bestimmt, doch nicht beeinflusst werden kann, „es sei denn durch Mitmache, Verbrechen, um, so dachte man, jenes ‘Wesen’ gut und günstig zu stimmen. Viele, fast alle haben irgendwie mitgemacht, Schuld auf sich geladen.“[77]
Im Westen hat das Ich zum Teil diese Angst verlernt und auch das Geheimnis um das Dossier verdrängt, in dem es zu Hause sein Leben verschlüsselt geglaubt hat. Während der Bukarester Zeit ist die Beschäftigung mit dem Rätsel der „jahrzehntelangen Illusion“, wie sie jetzt beim Schreiben, im  Zeitabstand von fast 30 Jahren genannt wird, noch lebenswichtig: „…ich, ‘Ausbeutersohn’ und ‘Waisenkind des Klassenkampfes’, entwurzelt, anonymisiert, sozial kontur- und schiksalslos, konnte durch diese Akte endlich über mich Bescheid wissen.“[78] Ob der Geheimdienst tatsächlich besser über Michael T. informiert ist, oder ob das erzählende Ich es heute nur so glauben möchte ist unklar, fest steht aber, dass der Schriftsteller seinen `Schatten´ Jordan die Anklage aussprechen lässt, die ihn fortan überall begleiten wird:
„Wir wissen es, sagt Jordan, wir wissen genau, daß du einer von denen bist, einer, der den Verrat in sich trägt wie eine Krankheit, für immer und ewig bist du, wirst du dies sein: ein mieser Deserteur vor der Weltrevolution, angekreidet wird dieses dir.“[79]
Das beklemmende Angstgefühl, das Michael T. auf seiner Heimreise und während seiner geträumten Verhaftung wie eine Krankheit zermürbt, begleitet das Ich auch nach 1989 auf seine wiederholten Transsylvanien Reisen:
„Jedesmal, wenn ich mich dieser totalitären Zone der Geheimdienstunterwelt nähere, überlagern sich die Erinnerungen an meine Bukarester Zeit mit erschreckenden nichtverbalisierbaren Angst- und Schamgefühlen und Bildern, die an eine Domäne der Alpträume reichen, Traum- und Erinnerungsfetzen steigen aus dem Unbewußten hoch, Angst vor Wahnsinn packt mich, löst Übelkeit aus, und ich muß die Beschäftigung mit dem Thema abbrechen.“[80]
Dem totalitären Machtsystem kann sich das Ich erst entziehen, indem es sich aus dessen Wirkungsbereich entfernt. Die erste Auslandreise löst ein bisher unbekanntes Freiheitsgefühl aus, „das Gefühl, es fällt plötzlich ein inneres Gefängnis von mir ab und es ist alles offen.“[81] Und die Erwartungen des Ich sind groß, die Traumbilder, denn der Westen soll „eine Art Verheißung, ein verwirklichtes Paradies“ sein, „wo der tägliche Druck der Angst und der politischen Selbstkontrolle abfallen würde: als freier Mann durch eine großartige Welt gehen […]. Solch bombastische Vorstellungen hatte auch ich mir von meinem ersten Kontakt mit der >>Freien Erde<< gemacht; und dazu: mich auf sie werfen, wenn einmal die verhaßte Grenze überschritten sein würde, und: schreien, brüllen, jubilieren.“[82]
 An solche Vorstellungen sind Städtenamen gebunden wie New York, London, Frankfurt, Paris und Brüssel – Effekt des Wunderglaubens und der jahrelang unterdrückten Sehnsucht nach Öffnung – und die Vorstellung, im Westen ein Anderer werden zu können.
In einem „relativ angenehmen Schreckzustand“[83] erlebt das erzählende Ich anfangs den Westen: als erfahrungs-, erinnerungs- und sogar wortlose „Babys dieses ungewohnten Planeten (West)“ tappt das Ich zusammen mit seinen zwei Schriftstellerkollegen „unsichtbar an den Händen gefaßt“[84] durch die neuen Gegend, und „noch vorsichtiger durch uns selbst“, denn zeitweilig verschwindet sogar die jahrelang geübte innere Zensur: „[…] wir hatten begonnen, Dinge zu denken und auszusprechen, die wir bisher nie gewagt hatten, zu denken und gar auszusprechen, als wäre es Sünde. Keinen Augenblick ließen wir uns gegenseitig allein, empfanden fast eine Art <> für den andern, alter Impuls zur Kontrolle. Und jedem kam wohl mehrfach der Gedanke, doch aus dieser Gemeinsamkeit auszubrechen, um mit dem Zauber endlich ganz allein sein zu können.“[85] Obwohl enttäuscht über die eigenen Reaktionen kann das Ich die Unwirklichkeit seines Zustandes nicht durchbrechen, alles bleibt weiterhin ein „Zauber“ und irreal. Ein Fremdkörper, der sich „wie auf Eiern“ bewegt und Angst hat, „etwas zu zertreten, etwas zu zerbrechen, vielleicht meine eigenen Vorstellungen von dieser Welt, die sich nun als Realität anbot, zu der es aber für mich unmöglich war hinzukommen, mein eignes Bild von ihr stand wie eine Isolierschicht dazwischen. Die Immagination von dieser Stadt und ihre Wirklichkeit klafften weit auseinander.“[86]
Aus Angst vor Konfrontation und Enttäuschungen fährt das Ich auf seiner ersten Auslandreise auf Umwegen nach Deutschland: über Brüssel und Paris! Es sollte sich demnach schon einigermaßen dem Westleben angepasst haben, der Schock West-Deutschland ist trotzdem groß. Die hässliche Architektur des „Wirtschaftwunders“, die Neubauten mit glitzernden, aus Glas, Chrom und Kunststoff gefertigten Fassaden in Stuttgart findet Michael T. als besonders abstoßend – ein architektonisches Äquivalent kommerzieller Interessen.
Noch schmerzlicher wird die westliche Sensations- und Kauflust empfunden, von der sich das Ich, so gut es geht, abzugrenzen versucht. Diese Wut Michael T.’s auf die Konsumgier im Westen wie im Osten führt Oliver Sill in seiner Analyse auf zwei Quellen zurück: zum einen sei es „die eigene Anfälligkeit des Ichs für den Glanz der Warenwelt in der ersten Zeit im Westen“[87]:
„Sie hatte T. anfangs auch angemacht, diese Kauf- und Freßlust, dieser billigste Kitt der Welt: Selbstbedienung, Karren vollpacken […]. SO GUT HATTEN WIR ES NOCH NIE![…] alte Gier, vorsintflutliche, als man noch nicht kalorienbewußt lebte, wie wir hier […]. Mager alles, alles schmeckt wie Heu und wie Stroh, glänzendes Nichts, am schönsten und wertvollsten die Verpackung, alles fürs Auge und für den Griff in den Beutel, sonst nichts, mit der zu Hause langersehnten Westsinnlichkeit […], wie mir das im Osten vorkam, hatte es nix zu tun […], mein Gott, wie wirkte das doch prickelnd damals auf uns arme Säue im armen Land.“[88]
Zum anderen seien es die „Minderwertigkeitskomplexe des kommerziell nicht erfolgreichen, in materiell ungesicherter Position lebenden Schriftstellers“, die besonders bei Familientreffen mit der gutverdienenden, wohlsituierten Familie Janns, T.’s Lebensgefährtin, befördert werden. Sills Meinung nach würde der Schriftsteller dabei „die eigenen Selbstzweifel in eine Kette imaginierter (Selbst-) Denunziationen kleiden, die allerdings den anderen in den Mund geschoben werden“[89]:
„Kommst da also mit diesem T. an. So ein Reingeschmeckter. Fremdkörper. Nicht zugehörig. Wirds nie.“[90]
„Du, T., bist […] der Letzte. Schwächling. Volksschädling. […] reiner Versager”[91];
„Und dabei auch noch ‘zersetzend’! Und sich nur störend und mäkelnd ins gesunde Leben einzumischen, ohne selbst daran teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. […] Ausmerzen muß man solche Asphaltliteraten und Asphalttreter, die jede gesunde Volksgemeinschaft mit ihrem verspritzten Gift schädigen. Volksschädlinge heißen sie. Und Aufknüpfen!… Klar. Und Augen rechts…“[92]
Die schlimmste Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West ist für das Ich jedoch „das grauenhafte Gefühl, eine lebende Leiche zu sein.“[93] Eingeschüchtert ist das Ich nicht so sehr duch die politische oder soziale Wirklichkeit, wie durch die Künstlichkeit, die „Mattscheibenwelt“, das „Glasphänomen“ – die Angst davor, „ mit in die Glaskabinen gesperrt [zu] werden, in denen die Leute schon saßen, […] wie die andern jene gläsernen Augen [zu bekommen], die zwar mehr oder weniger gut sahen, aber das Gesehene nicht mehr <>, nicht wirklich wahrnahmen, nur registrierten, was da auf die eigene Mattscheibe kam.“[94]
In dieser Traumrealität kann das Ich wie bei einer Kinovorstellung weder riechen noch schmecken. Wahrnehmungsverlust und „Amputation der Sinne“[95] nennt der Schriftsteller das Phänomen. Hinzu kommen Zeitmangel, ständige Hetze, menschliche Kälte – und der Vergleich mit dem östlichen „Zuhause“, wo die Menschen „einfach dasitzen können, Kaffee trinken; reden, reden, Zeit <>. […] hier hat niemand Zeit […]. Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast […]. Das Unbehagen am Leben ist hier stärker, obwohl ich ‘frei’ bin.“[96]
Für das Ich, das von zu Hause gewohnt ist, über gefährliche Dinge zu reden, „in einer phantastischen innern Solidarität wider einen Staat, wider den Druck der Geheimpolizei und der Zensur“, mit dem Gefühl, „zwar eingesperrt zu sein, doch Geschichte zu erleben“, sind die Menschen im Westen „zwar informiert, jedoch so ins Private entblassen, schrecklich naiv, ihre Interessen winzig und langweilig […]. Autos und Preise, Hunde und Häuser, Urlaubsreisen […] eine Normalität des ‘alles ist so wie es ist’, utopielos, trostlos und geistlos.“[97] Und mit Schrecken stellt das Ich fest, selbst zum ‘Westler’, ein ´Angepasster` geworden zu sein: während ein Bekannter, der aus Pinochets Chile kommt, über die dortigen Verhältnisse erzählt, beschäftigt das Ich die dringend nötige Anschaffung einer Badeleiter für das eigene Boot. Doch inwiefern die Anpassung vorangeschritten ist, erfährt Roman T., Hauptgestalt des Chat-Romans „Romans Netz“, ein weiteres alter ego des Autors, der von dem „Anderen“, dem „OstProvinzler“[98] und inneren Stimme, als „Westschwein“[99] denunziert wird, mit dem Vorwurf, „freiwillig und lustvoll“ mitzumachen:
„Hast dich also umsonst jahrzehntelang mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, gegen die westlichen ‘Spießer’ und ihr System revoltiert, angeschrieben gegen diese amoralische Geld- Lust- und Erlebnisgesellschaft, bist doch ganz schön ihr Bürger geworden […]? Alle Prinzipien, all diese Lebensopfer umsonst?“[100]
Schon auf der ersten Westreise und dann nach der endgültigen Ausreise 1969, muss das Ich einen „schmerzhaften Umbau der Psyche und eine neue Sozialisation“[101] mitmachen, eine neue Integration, die zum Teil gelingt, denn ein Ostmensch ist das Ich inzwischen nicht mehr – es sind Bekannte, Freunde und Familienangehörige, die es daran erinnern, wie es früher war; in Romans Fall ist es die Mutter mit ihrem fröhlichen, ausgelassenen und kindischen Temperament, die ihn an sich selbst zurückdenken lässt: „[…] ich war ja anfangs auch so gewesen, überlaut, überschäumend, ein wenig verwildert, stark, selbstbewußt und ungehemmt, wohl für diese geschniegelten überzivilisierten Seelen unerträglich oder auch faszinierend, je nach Typ, für jene, die in ihrer seelischen Kargheit keinen lauten Ton vertragen konnten, sicher eine Zumutung.“[102] Es ist aber der „Andere“, der ihn davon abhält, „definitiv ein distanzloser Westler zu werden, was mich von allen […] unterschied und mir den schmerzlich klaren Blick bewahrte, der mich mir selbst als Fremden erhielt.“[103]
Überhaupt könnte das Ich kein „Westler“ werden, eben weil es, zum Unterschied von den anderen, ein Leben hinzu hat: das Leben im Osten, verkörpert im „Anderen“, dem Doppelgänger, der in der transsylvanischen Heimat Roman selbst gewesen ist.
Den an sich selbst erfahrenen Umbau erkennt das Ich nach der politischen Wende 1989 an ganzen Völkern im Osten wieder: gleichviel ob es sich um Ostdeutschland oder Rumänien handelt, die Menschen sind nicht mehr zur Emigration gezwungen, „sie werden im eigenen Haus enteignet und zu Fremden gemacht.“[104] Moral, Gewissen, „Innerlichkeit“, all das, was „Staatsfeind Nr. 1 des Systems“ und „nie funktionslos“ war, ersetzt nun die westliche Seelenlage, und zu den „totalitären Charakter-Verbiegungen“, dem Identitätsverlust, gesellen sich „materielle Misere und Zukunftsangst“[105] hinzu. Aus der Erfahrung beider Systeme kann Schlesak demnach behaupten, „daß das gescheiterte östliche Experiment eher ein westlicher Bastard (Marx), ein Versuch am falschen Ort ist, Resultat der Aufklärung: die Technik, die Staaten und Mächte, Geschichte zum Gott machen zu wollen wider die Natur und menschliche Natur, totale Wissbarkeit und Veränderbarkeit zu proklamieren und mit Gewalt durchzusetzen.“[106] Und seine Gesellschaftskritik betrifft verallgemeinernd West und Ost:
„Wir sprechen darüber, daß heute nichts mehr >>wirklich<< ist, alles nur Vorführung, Theater, die Welt ein Gespensterwerk. So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die Topoi der  SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berührten, damit auch Fülle. Heute stellt die arme Künstlichkeit auch die Alltagswelt her: Verkehr, im Wohnzimmer elektronische Haustiere, im Büro der Computer, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvorgänge, in der Liebe Aids. >>Draußen<< AKW, Raketenkriege, Satelliten. Aber in der Familie, in der Politik, im sozialen Leben, in der Wirtschaft und im Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so gehandelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.“[107]
Auch als deutscher Staatsbürger wird das Ich mit dem aus der Heimat schon bekannten Problem der verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Als eine „ausgezeichnete Methode des Ausklammerns und Verschweigens“[108] bezeichnet der Schriftsteller die geschickte Weise, auf der das (deutsche) Schuldgefühl umgangen wird. Diese Methode möchte aber das Ich für sich nicht in Anspruch nehmen; im Gegenteil: je stärker die eigenen Mit-Schuldgefühle werden, desto intensiver ist die Beschäftigung mit der siebenbürgisch-deutschen Herkunft. Fast lebenswichtig wird das Wissen um die Beteiligung der Siebenbürger Sachsen, der eigenen Verwandten und Familienfreunde, an den Nazi-Verbrechen. Ebenso die Auseinandersetzung mit dem Schuldgefühl des Verrats an der eigenen Tradition und dem Verlust des Heimatortes Siebenbürgen.
Gründe dafür, das Ich zu einer Flucht aus der dreijährigen westdeutschen Beengung zu veranlassen, gibt es inzwischen genug, ausschlaggebend sind jedoch die „Achtuhrschmerzen“, der tägliche innere Druck, „der sich zur Uhrzeit der ‘Tagesschau‘ ins Unerträgliche steigerte.“[109] Und die Rettung wird an einem „fernen und neutralen Ort, einem vom ‘Mutterland’ Deutschland und südöstlichen ‘Vaterland’ Siebenbürgen/Rumänien entfernten Ort“ gesucht, „ein Ort, der Sehnsuchtsort ist, der Süden, Italien nämlich.“[110] Hier in der „rasenden Ruhe“[111] der toskanischen Bergsiedlung Agliano bei C. versucht das Ich zusammen mit seiner Lebensgefährtin den eigenen Sinnen gemäß zu leben, die Einsamkeit als Lebenskonzept durchzusetzen und auf diese Weise weiteren Brüchen auszuweichen. Wenn bloß „der Andere“ nicht sticheln würde: „[…] er gibt Roman auch nach Jahren keine Ruhe. Wenn er da ist, verblaßt diese schöne Gegend, fremd, fremd, als würde Roman hier sein Leben verlieren, immer nur im Wartestand.“[112]


3. Das transzendentale Exil

„Vor einem Jahr war der bisherige Status des Exils für mich aufgehoben“, schreibt der Autor 1991, „aber es gab nun ein neues, ein viel weitreichenderes Exil.“[113]
Doch diese Art Exil ist nicht neu – nach 1990 nur etwas stärker spürbar, da von anderen Exil-Typen geläutert – sie ist schon in der Bukarester Zeit präsent, wenn sich der Autor als „Achtundsechziger“ im Widerstand versteht „gegen das, was die Leute für ‘Realität’, gar soziale Realität halten und hielten“[114], und wird im Westen fortgesetzt, wo Dieter Schlesak neue Anregungen und Aktionsgebiete findet: die Bewegung der italienischen ´Antiinstitutionellen` für die Öffnung der Heilanstalten; ein neues Psychiatriemodell, das er auch in der BRD bekanntmachen möchte (dazu Radiosendungen: Praxis einer neuen Psychiatrie. Die offene Heilanstalt von Arezzo, SFB 1975 und Psychiatrie und Gesellschaft, SFB/RB 1975), eine langjährige Beschäftigung mit der Psychiatrie (darüber das Buch Sozialisation der Ausgeschlossenen, Rowohlt 1975), mit der Kunstpsychiatrie (Radiosendung: Der Umstand selbst ist dieses Lied, Gespräche in der Heilanstalt - mit dichtenden und malenden Patienten, WDR 1980), mit Meditationsgruppen und neuen therapeutischen Möglichkeiten (Radiosendung: Umgang mit sich selbst. Über Erfahrungen mit Meditation und neuen Gemeinschaften, SDR 1978).
Woher kommt dieses Interesse für die menschliche Psyche, die Suche nach einer Wirklichkeit jenseits der scheinbaren Realität, die Öffnung für das, was nicht nur Schein ist?
Einerseits könnte es als Resultat des Totalitären (alt und neu) betrachtet werden, das „durch ‘wissenschaftliche‘ Beweise und falsche Theorien“ jeden davon überzeugen wollte, „daß es weder Engel noch ein Leben nach dem Tode gibt, daß es überhaupt keine unsichtbaren Kräfte gibt, das nichts gilt als das Sichtbare, das im eingebildeten Augenraum Unsichtbare – Seele, Gott und auch Traumbilder Unsinn seien.“[115]
Andererseits ist es die „Irreligiosität“[116], die „Rationalität“, die „siebenbürgische Nüchternheit, die alles Mystische ablehnt, als wäre es unheimlich“[117], gegen die sich der Schriftsteller auflehnt und seine Landsleute, verallgemeinernd alle Deutschen für ihre Verschlossenheit, ihre Vorurteile und ihre Flucht vor der Wahrheit kritisiert:
„Vielleicht ist ihr (und aller Deutscher) technischer Tick, ihr praktischer und rationaler Ordnungs-Tick nichts als Kompensation eines Minderwertigkeitskomplexes, einer Schwäche, nicht natürlich sein zu können. Und der Rassenhaß, die Verachtung des ‘Andern’ ein Bild für jenes Ganz Andere. Judenhaß vor allem. Das Okkulte, das Geheime, Unheimliche, Verborgene, bis hin zum Sexuellen – alles belegt mit moralischen Zeigefingerkategorien: ‘unsauber’, ‘liederlich’, unordentlich’, ‘unsittlich’, ‘ekelhaft’ – eine Angstabwehr.“[118]
Doch eben von dieser Transzendenz des Ostens, von seiner Weite und Natürlichkeit fühlt sich das Ich angesprochen. Von Marias Volk, das so „peinlich nah und doch mild, ganz aufgelöst“ ist, wird Michael T. angezogen, der sich vornimmt, „sein erstarrtes Bewußtsein zu öffnen“, sich aber „trotz großer Anstrengung […] eher rückwärts entwickelte.“[119] Die Rumänen, die Zigeuner vor allem werden von T.’s Leuten als „abergläubisch“ und „unheimlich“ voller Misstrauen beäugt – „die Toten ansprechen, besprechen. <> So sagtet ihr es, Maria. Wir aber waren dagegen wie Heiden. Die Barbaren aus dem Norden.“[120]
Typisch siebenbürgisch-deutsch ist auch die Angst vor Geistern, vor Gespenstern, denen das Ich zum ersten Mal als Kind in einer Todeshalluzination begegnet:
„Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als ‘Pelzkugel auf der Zunge’, aber der Kopf dick, wächst wie eine Wasserkugel […]. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel, den die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen hat, langsam herein, die Tür knarrt, der Mann will mich erwürgen, es ist ein Gespenst mit knotigen Fingern. Und Leute, die blendeten, sie hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da – hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, als wenn jemand Schubladen auf- und zumachen würde. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Unmöglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren natürlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, anderthalb Meter groß, die hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis, einem Lichtkegel, der sich durch die Türe auf mich zu bewegte, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie.“[121]
Es sind Erscheinungen, die das Ich aber auch in seinem neuen Zuhause in C. aufsuchen:
„Eine Ecke ist da in meinem Zimmer, wo es hoch hergeht […] da die Unsichtbaren dort ‘wohnen’, ganz nah am Fenster zum Wald, sind hoch und nie zu greifen, aber da. Mondsgefrieser, könnt ich meinen. Und wenn es Nacht wird, reichen sie herein, und rühren mich von hinten an. Da steh ich auf, dreh die Deckenlampe an, dann erst knipse ich die Schreibtischlampe aus und geh mit dem Gesicht der Tür zu, Rücken ihnen zugewandt und rückwärts, schnell, so schnell es nur geht, zur Tür hinaus zum Schlafen, zum Treffen mit ihnen im Traum, wo sie eher hingehören als in den Blick, der mich trifft und erschreckt, denn im Traum bin ich ja ganz bei ihnen, einer der ihrigen.“[122]
Die allgegenwärtig beobachtende Funktion, die SIE (die Securitate) in Rumänien erfüllte, wird in der neuen Heimat auf >>sie<< übertragen, „Anwesenheiten“, „die ich in großer Anzahl […] und wie einen starken Druck oder tausend Blicke hinter meinem Rücken verspüre.“[123] Als „glaubensmäßig nicht diszipliniert“[124] wird das Ich von seiner Lebensgefährtin Jann ausgelacht, doch als Roman lernt das alter ego des Autors die „neuen Gespenster“ kennen: „die neuen Chatfreunde […] und vor allem die vielen Chatfreundinnen.“ Diese „kamen nun nicht mehr nur wie beim bisherigen Schreiben aus der Phantasie, sondern ganz schön wirklich aus der Telefonleitung und leuchtend als FREMDE SCHRIFT, Chat und Email-Brief, manchmal auch als ein gescanntes Foto – so kamen die neuen wirklichen Gespenster im Raum hier an! Virtuell, wie das heute so heißt!“[125] Wir – die neuen „Internetphantome“ und „Bildschirmgespenster“![126]
Durch die Beschäftigung mit der Psychologie stößt Schlesak auf die wichtigste, die innere Grenze, die innere Zensur, die bei der Sozialisation in jeden hineingesetzt wird; darüber hinaus gibt es aber das, was die Psyche verdrängt, verschweigt, unangetastet lassen möchte und von der Parapsychologie untersucht wird: die Verbindung von Körper und Geist, die Todesangst, das Jenseits… (Einige Arbeiten Dieter Schlesaks zum Thema: Essays: Der historische Grund der Grenzwissenschaft, 1978; Zeuge an der Grenze unserer Vorstellung 1985, Delta T und Kabbala. Thomas Pynchons Versuch, die Zeit einzuholen, 1985, Gibt es ein Leben nach dem Tod? Der Philosoph Immanuel Kant und der Hellseher Emanuel Swedenborg, 1998; Radiosendungen: Weine nicht mehr, hoffe nun. Gibt es ein Leben nach dem Tod?, DeutschlandRadio Köln 1997, Liebe ist Leben für immer. Über die unheimliche Kommunikation zwischen Diesseits und jenseits in der Literatur und Parapsychologie, Radio Bremen 1997)

Zum Untersuchungsbereich der Parapsychologie gehört auch die Körperangst, das erschreckende Bewusstsein, in einer „Fleischzelle“[127] gefangen zu sein, aus der man nur durch den Tod befreit werden kann. Es handelt sich um eine normalerweise „verdrängte Körperangst“, da wir nicht leben könnten, „würden wir dieses Bewußtsein, im Fleisch unentrinnbar eingemauert zu sein, nicht dauernd vergessen.“[128] Für das Ich ist die Zwangsvorstellung des Körpergefängnisses aber nicht selten („Im Halbschlaf spürte ich die Haut wie eine elastische Mauer, die sich enger und enger um mich schloß“[129]), und der Ekel vor „dem eigenen Fleischbalg in dem ich stecke. Widerlich diese Kreatürlichkeit, zum Verfall bestimmt, ein Balg, der alle unsere Erfahrungen trägt – und dann mit einem einzigen Schlag vernichtet wird. Ist das nicht absurd? völlig unverständlich: wozu dann überhaupt soviel Mühe und Anstrengung.“[130]

Eine Metapher für den Körper ist im Roman Der Verweser der Turm, in den Nicolao Granucci lebenslänglich eingesperrt wird. Jürgen Egyptien erklärt die Turm-Metapher als „Gefängnis für eine Wahrnehmung, die auf die materielle Außenwelt beschränkt ist und ihre Grenzen mit denen der Wirklichkeit verwechselt.“[131]
Eine zeitweilige Flucht aus dem Körpergefängnis wird durch den Flug des Astralleibes, des Jenseitskörpers möglich. Nicolao Granucci erlebt diesen Flug zum ersten Mal in Begleitung seiner Geliebten Lucida Lucrezia Mansi, die dazu „die Salbe, das Losungswort und die Handlung“[132] einsetzt; allein macht Granucci die Flugerfahrung im Augenblick seiner Aufhängung:
„Dann dieses Dröhnen, es drehte sich im Hirn, ein Brausen, ein Ziehen im Flug durch den dunklen Raum des Trichters, der Sog und das Licht strahlend…
[…] eine rasche Aufwärtsbewegung – und er, hingezogen, sah nur noch das Verschwommene dieser Aufwärtsbewegung, ungeheuer schnell ging alles, und er fühlte das Rauschen und eine Hand unter dem linken Ellenbogen, hochgehoben, geschoben wurde er von einer unbekannten Kraft. Und dann nach einer endlosen Reise, oder nur eine Sekunde später vielleicht, stand er in einem großen hellen Raum […] Bin ich tot? fragte er sich, und antwortete auch gleich: Ich weiß es nicht? Und bin verwirrt. Dann aber sah er sich an, erwacht aus der Ohnmacht und er befand sich in einem Strahl-Leib, und wie bei den Benandante konnte er fliegen. Und ging zurück durch Felsen und Mauern und durch ganze Berge, den Apennin sah er jetzt von oben, auch Lucca sah er wie im Flug […].“[133]
Michael T. hingegen erlebt den Flug im Schlaf: „ich sah mich im Schlaf von oben, schwebte über mir und sah den T.: Lag da im Bett wie tot“[134], oder während seines Aufenthalts bei den Nahuatl-Indios, wenn er mit Hilfe der Dona Cecilia, einer der besten „curanderos“, seinem verstorbenen Vater begegnen darf:
„Ich fühle mich ganz leicht. Und schwebe einen Hang hinauf, es dämmert schon, und ich denke: Das sieht hier aber sehr nach Karpaten aus […]. Am Steinhaufen da stand Vater und sah mich erstaunt an […]. Ich wollte auf Vater zulaufen, ihn umarmen, doch er machte eine stumme, abwehrende Geste […]; hätte gerne gejubelt, weil ich hier ihn und alles Verlorene wiedergefunden hatte.“[135]
Auf die Astralwanderung, die OOBE (Out-of-body-experiences) weist der Autor auch durch die Beschreibung von Michelangelos Deckenbild der Sixtina, dem „Flug der kleinen Taube“ hin: „über die ganze Decke bis hin zu Jonah fliegt diese weiße Taube, und Jonah heißt auf hebräisch Taube: Flug des befreiten >Heiligen Geistes<, der in unserem Körper eingesperrt ist, der Astralleib, der uns einmal in den Himmel führen wird.“[136]
Die Faszination des „Todesdenkens“ ist einer der Gründe für Schlesaks Interesse am Werk und an der Biographie von Schriftstellern und Philosophen wie E. M. Cioran, B. Fondane oder F. Kafka, „Heilige der absoluten Negation“, die das Leben „wie eine Hinrichtung im Sekundentakt, wie  eine endlos hingezogene Exekution [empfanden]. Der Tod als Erlösung, als Freund, und als die einzige Gewißheit, in der man frei ist.“[137] Auch bei Kant entdeckt der Schriftsteller die große Anziehungskraft des Jenseits, und des Todes, der vom Philosoph als „Übergang, Steigerung, Hoffnung […], Wachstum, Fortsetzung geistiger Entwicklung“ interpretiert wird; und die Erde als „pädagogische Provinz, Erfahrungsbereicherung, die nach dem Tode ‘hinüber’ genommen wird.“[138]
Der Tod stellt demnach ein Tor dar, zu einer höheren Bewusstseinsstufe, zu einer neuen Daseinsform, die wir mit unseren antiquierten Sinnen nicht erfassen können, von der wir aber durch die Toten selbst Nachricht bekommen. Die Transkommunikation – vom Mainzer Physiker Prof. Ernst Senkowski in seinem Buch „Instrumentelle Transkommunikation“ (1996) beschrieben und durch Experimente belegt – bietet die Möglichkeit, Seins- und Bewusstseinsbereiche, zu denen der Zugang im Normalbewusstsein gesperrt ist, medial mit elektronischen Geräten zu erreichen. Beispielhaft ist die Aufnahme von Totenstimmen auf Tonband, vom Autor selbst nach ’79 (dem Todesjahr seines Vaters) durchgeführt:
„Sie sind wirklich zu hören, diese Stimmen; die Deutungen gehen auseinander, manche meinen, es seien Stimmen unseres eigenen Unterbewußtseins. Vielleicht aber ist unser Unbewußtes einfach nur ein Tor, und es gibt keine Trennung der angeblich getrennten Sphären; daher die Angst, weil wir jene andere Welt vergessen, um überhaupt im Körper und im Alltag existieren und uns anpassen zu können an eine eigentlich nicht existierende ‘feste Welt’.“[139]
Durch die Kontaktaufnahme der Toten, die eigentlich leben, zu den Lebenden, die schon längst tot sind, soll nicht nur das Vergessen aufgehoben werden, sie „löschen auch die Barriere der Verdrängung, heilen das Grundübel dieser Zivilisation, ermöglichen einen neuen Kontakt mit der Natur, heben sozusagen Adams Fall auf.“[140] Kriegstote und Opfer geben Auskunft über den ersten und zweiten Weltkrieg und mahnen; das Ich erlebt es immer wieder im Schlaf, sieht sogar „de[n] große[n] rote[n] Ball, das ungeheure Licht am Himmel, jeder Zeit möglich“[141] – die Atombombe. Das uns Menschen umgebende Grauen, das als Erinnerung aus der Vergangenheit aufkommt und sogar in der größten Trauerleistung nicht abgetragen werden kann, entschlüsselt der Autor als Erhellung und Zeichen dafür, dass sich die Menschheit auf den 8. Tag zubewegt, der in der Kabbala den Übergang zu einem anderen Zustand darstellt, wo die Körper aufgelöst werden in Licht.
Totenkontakt aber auch Déjà-vu und Traum bedeuten Zeitüberbrückung, Durchbruch durch die Zeit, Auflösung der Zeit, eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieses versucht Schlesak im Roman Der Verweser anhand des Gestaltenpaares Erzähler - Nicolao Romano Granucci zu verdeutlichen. Während Granucci, der Schriftsteller aus dem 16. Jahrhundert, den Erzähler als eigenes, in die Zukunft projiziertes alter ego betrachtet, erkennt das erzählende Ich durch Traum, Visionen und Déjà-vu-Erlebnissen, dass Nicolao sein Gespenst ist und er selbst Granuccis Widergänger. Und im Zeitstillstand kommt es sogar zu ‘blick-nahen‘ Begegnungen:
„Das Unterbrechen der Sinne. […] Das Unterbrechen der Zeit, hinter sie zu treten, zurückzukehren! Ich übte nun auch das, konzentrierte mich im Spiegel: Anschauen, sah mir selbst in die grünen Augen, fixierte meine Pupillen und es war mir, als steige von dort eine Form der Kraft strömend in mich ein, der eigene Blick traf mich scharf und das Bild erfüllte mich ganz, es veränderte sich, und plötzlich war er es, war es Nicolao Romano Granucci, der im eigenen Blick in mich einstieg, und wir fixierten uns, so schien es, als ginge mein Bewusstsein zwischen ihm und mir, zwischen Spiegelbild und Blick hin und her, und dann sah ich auch die vielfarbige Aura des Gesichtes, das von Flammen umgeben war. […] Und es gelang mir gut, auch das Gesicht von Nicolao in mir aufzubauen, und ihn sogar zu beeinflussen, so dass er protestierte, weil ich ihm meinen Willen aufzwingen wollte. Was ist das, murrte er, du, mein eigenes Geschöpf, lehnst dich auf, willst stärker sein als ich?“[142]
Dabei wird dem Erzähler immer deutlicher bewusst, „dass ein Gedächtnis das andere überlagere, eines vielleicht aus einem anderen Leben, >>und der Augenblick hier ist jener Blick, der mich anschaut, und das Jetzt ist ein Immer, das große Rätsel, das niemand durchschaut!<<“[143]
Um Raum- und Zeitüberbrückung handelt es sich auch im Roman Terplan und die Kunst der Heimkehr  und um die Verstrickung von Ich-Er-Erzähler-Michael Terplan:
„…ich, der Michael Terplan – wie immer zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, das im nächsten Moment gewesen sein wird, andauernd im Zweifel, ob es mich überhaupt gibt: gibt es nicht vielleicht nur ihn…“[144]
„Und dann sagte mir Terplan, es sei schon so, ich solle nicht erschrecken, er sei ja ich, wenn er da sei, aber es sehe ihn niemand, nur ich, nun ja, er sei einfach ein Gespenst meiner Erinnerung… mein wichtigstes Gespenst… aus der Zeit als es mich noch gab.“ (111)
Ähnlich wie sein ´Vorgänger` Michael T. wird auch Terplan – der Geist des toten erzählten Ich, der simultan Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart erleben kann – nachdem er von einem Medium in seinen alten Körper (der „längst ‘hinüber’ und schon tot“ ist) gelockt wurde, vom Erzähler nach Hause geschickt, denn „da ist er am Leben…“[145]
Die Notwendigkeit einer radikalen Bewusstseinsänderung, schon in der Eschatologie in der Bergpredigt angedeutet („Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist DA“ – Matthäusevanghelium Kap. 5-7)[146], wird heute von der modernen Physik hervorgehoben, welche den überholten Begriff “lineare Zeit” durch den aktuelleren Begriff „natürliche Ereignis-Zeit“ ersetzt. In dieser Hinsicht teilt Schlesak die Auffassung des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker von einer neuen Logik der Zeit, die das „JETZT“ neu interpretieren soll: nicht mehr an formale Wahrheiten gebunden, die das Jetzt verstellen, muss „die Struktur des Jetzt […] offen und somit rätselhaft bleiben […], unheimlich werden, um wahr zu sein; das heißt, der Zugang zu ihr muß jenes Moment des Nicht-Wissens beinhalten, das offene Zeit als ungedeutetes Jetzt voraussetzt.“[147]
Wie unterschiedlich die Erfahrung des Zeitstillstandes ausfallen kann, stellt der Autor im Roman Vaterlandstage dar:
·         wie im Traum für die siebenbürger Landsleute bei der Kriegswende: „Ein hohes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aussetzen der Zeit. Als wärs – plötzlich eine hastige Ewigkeit.“ (S. 111)
·         irreal bei der ersten Verhaftung Michael T.`s in Denndorf: „Nur noch Gespenster im Denndorf, kein Muckser. Da stand, aus dem Stand, Zeit aus. Still. Soooo still. Nix mehr bewegt, oben vom Turm traute sich die Glocke. Bingpang ping.“ (S. 408)
·         unbeschreiblich grauenhaft  für die Verurteilten in den KZ: „Und plötzlich reißt dann die Zeit ab. Die Menschen können nicht mehr gehn. Sie brauchen ihre Schuhe, ihre Hemden nicht mehr. Ein hoher schriller Summton bleibt, viel schrecklicher noch als bei einer Verhaftung, bei einem Unglück.“ (S. 113)
·         als eine uns ständig auflauernde Gefahr nach dem zweiten Weltkrieg und dem Fall der Atombombe: „Seither bewegt sich die Zeit im Kreis, ist kreisrund, ist wie ein großes Loch, in dem wir langsam verschwinden; lautlos, vielleicht spurlos.“ (S. 262)
·         einzig während der Kindheit paradiesisch: „Geschütztsein, Verstecktsein. Die Kostbarkeiten einer Kindersehnsucht; als gäbs kein Ende. Die Zeit ist aufgehoben. Und wir können fliegen.“ (S. 113)
Auf den Effekt der Zeitaufhebung stützt sich auch der narrative Aufbau des Romans: nach der Verhaftung träumt Michael T. in der Zelle seine eigene Hinrichtung, doch die Zeit wird angehalten, „der Vogel steht in der Luft, der Regentropfen auf seinem Gesicht“ und die Kugeln des Erschießungskommandos „drehn sich vor seinem Gesicht, kommen nicht an…“ (S. 102). So entsteht der Rahmen für den zweiten Traum, dem Traum im Traum, in dem T. sein ganzes Leben wie ein Gericht wieder erlebt und sich die eigentliche Handlung des Romans abspielt.
Zeitstillstand, Auflösung der Zeit ist das „Delta t, die Hölderlinie zwischen null und Eins, unendlich dichter Punkt“[148] und Vorbereitung auf das Licht des 8. Tages: „Licht nahe der Null, t, das dich auslöscht, das dich mitnimmt, Mitgenommener“, erklärt Adam K., denn das Ursprüngliche, t, […] erscheint nur, wenn unser Lebenslicht schwach ist; wenn dieses Zeichen, das wir sind, solange der Körper es zeigt, und als 1 gilt, nun durch die Zeit als 0 gesetzt wird, kann ER durchscheinen.“[149]
Die Quantenphysik bestätigt die Tatsache, dass Intuition, Revolutionserlebnis oder Zeitstillstand Durchbruchsformen des „Ganzen“ in uns sind: es handle sich um ein „universales Zusammenhangssystem“, ein „einheitliches Informations-Gewebe“, das die „Weltseele“ bildet und an der auch jeder einzelne von uns angeschlossen ist:
„’Einbrüche’ aus jener andern Zone der kosmischen ‘Information’ stehen am Ursprung der Kultur. Einfälle, Inspirationen, Träume. Aus ihnen entstand unsere ‘wirkliche’ Menschenwelt, sie besteht aus Geister-Apparaten, vom Computer bis zur Bombe; Einfälle, notiert in Formeln, werden technisch umgesetzt: Geschichte ist Vor-Schein, Projektion des geronnenen Geistes im Gerät.“[150]

Und dasselbe gelte auch für den Künstler! So dass sogar der Begriff ´Utopie` neu definiert werden könnte:

„UTOPIE wäre dann der Umgang mit dem MÖGLICHEN, dem Überraschenden, dem, was ist, dem, was Wirklichkeit erst begründet und unsichtbar bestimmt, überraschend nur, weil es alles Gewohnte und Vorgewußte überschreitet und zerstört.“[151]
So wäre dann auch die Schlussfolgerung möglich: Öffnung, Umkehr zu Längst-Gewusstem, Bewusstseinsänderung als Weg aus dem Exil.


Erlebnis Grenze

„Das Grundthema des Schriftstellers Dieter Schlesak ist die Erfahrung der Grenze: in geografischer wie historischer, in weltanschaulich-politischer wie in subjektiv-psychologischer Hinsicht, und zwar in nahezu jedem Bereich menschlicher Existenz; und seine Literatur ist der Versuch, diese Erfahrung zu verarbeiten und zu bewältigen“[152] stellt Werner Söllner einleitend in seinem KLG-Artikel fest. Es handelt sich um notwendige Grenzen, ohne die es weder äußere noch innere oder sogar transzendentale Exile geben würde.
Oft träumt sich das Ich über die in Rumänien aufgezwungene geografisch-politische Grenze hinaus, bis der erste ´Grenz-Übertritt` möglich wird: den Ost-West-Reisenden begleitet ein „schwindelerregende[s] Freiheitsgefühl, Resultat eines angestauten und verdrängten Druckes“; den nach Osten zurückkehrenden ‘Halb-Westler‘ hingegen ein „nicht zu unterdrückende[s] Gefühl des Bedauerns“ und die „Frage: was wird mit mir geschehen? Habe ich etwas falsch gemacht? Wann darf ich wieder reisen?“[153]
Nicht selten unternimmt der Erzähler nach seiner endgültigen Emigration in den Westen Grenzerkundungen: immer wieder mit gemischten Gefühlen, besonders an der innerdeutschen Grenze, der „peinlichsten Grenze Europas“[154]. Und fassungslos steht er 1990 an der auch für ihn nun wieder offenen rumänischen Grenze: „Ich war von den widerstreitenden Gefühlen wie gelähmt. Meine Hände zitterten […]. Der Grenzsoldat lächelte. Doch Uniformen lösten das alte Unbehagen aus.“[155]
Anders als um die sichtbaren Grenzen steht es um die unsichtbaren. Die eigenen inneren Grenzen hat das Ich im Westen während eines schmerzhaften psychischen Umbauprozesses zu handhaben gelernt, in einer ständigen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit sich selbst erkannt, wo Grenzen aufgehoben und wo sie lieber aufrechterhalten werden sollten.
Andere unsichtbare Grenzen hingegen werden mit Hilfe der Wissenschaft und der Kunst überbrückt. So zum Beispiel die Dimensionsgrenze:
„Das Fernsehen hatte die alte Macht der Dinosaurier zerstört, die noch in raum-zeitlichen Kategorien dachte, eine verrottete Utopie des vorigen Jahrhunderts, die mit Gewalt im Sichtbaren durchgesetzt werden sollte […]. Fernsehen, Radio überschreiten die schärfstbewachten Grenzen, die Erde ist durch Kommunikation eine geworden: Information war im Osten Revolution. Raum und Zeit sind im Zeitalter der elektronischen Medien aufgehoben, es gibt keine Distanzen mehr.“[156]
Die Technik hebt sogar zwischenmenschliche Barrieren auf: Telefon, Handy, PC, Internet, Emails und Chat-rooms lassen die Grenzen fließend werden, unsere Wahrnehmungen müssen sich anpassen, ein neues gesellschaftliches Unterbewusstsein entwickelt sich und bildet dabei die Basis für ein neues Gesellschaftsmodell, in dem man „mit allen und jedem verbunden [ist], anders als in der Wirklichkeit, wo jeder sich isoliert, maskiert, konkurriert, zuschlägt. Diese geruchlosen, lärmlosen Gespenster-„Großstädte“, die an Totengespräche und Schattenwelten erinnern, heißen z.B. funcity.de oder geocities.com; gar edencity.de. […] Eine erstaunliche Geisterwelt; die Phantomstädte sind ja tatsächlich mit ihren ´Ministern`, Kirchen, Bibliotheken, mit Liebesaffairen, Heiratsanträgen, Hochzeiten, Taufen, Chattreffen, eine Imagination, die plötzlich wirklicher ist als das Sichtbare?“[157]
Es ist die Welt, die Roman mit seinem „Netz“ zum Teil auffängt und erscahfft, zum Teil sich selbst verfängt.
Inwiefern die raum- und zeitüberschreitenden Medien eine neue Moral und ein neues Bewusstsein erschaffen helfen können, beweist die rumänische Tele-Revolution:
„Es [das Fernsehen] durchbrach mit bisher undenkbaren, unvorstellbaren Bildern die Mauern auch in den Köpfen, es brach jenen Bann, jene mit Zensur und Polizei scharf bewachte Verhexung der Hirne.“[158]
Das gleiche Ereignis. Doch aus entgegengesetztem Blickwinkel betrachtet, verdeutlicht die multimediale Kunst, Wahrheit und Lüge nach Belieben vertauschen zu können, und mit Hilfe des Bildschirmes falsche Tatsachen vorzuspiegeln, denn im Fernsehen läßt es sich „streichen, austauschen, schneiden, montieren, Zeit raffen, Zeitlupe nach Belieben und Intention einsetzen. Eine Erfindung aus Realem kann hergestellt werden.“[159]
Dank der Medien, den „Kopfgeburten, geronnenes Wissen im Gerät“[160], konnte sogar die äußerst schmerzliche, unüberwindbar geglaubte Grenze – der Tod – neu gedeutet werden. Es handelt sich um das schon seit 1959 bekannte Phänomen des Informationsaustausches mit einer ´jenseitigen` (´Trans-`) Welt mit Hilfe technischer Medien, für das der Mainzer Physiker Prof. Ernst Senkowski den Begriff ´instrumentelle Transkommunikation` (ITK) geprägt hat. Es werden wenigstens drei Bereiche des ´Jenseitskontaktes` unterschieden:
·         ´Transaudio` – der Bereich hörbarer Erscheinungen: ´Tonbandstimmen` und Jenseitsdurchgaben per Telefon und Anrufbeantworter;
·         ´Transvideo` – der Bereich sichtbarer Manifestationen: ´Geisterfotos` aber auch Fernseh- und Videobilder;
·         ´Transtext` – oder ´jenseitige` Durchgaben über den Computer.
Obwohl die Erklärung des Phänomens noch umstritten ist, da diese Erscheinungen von vielen als Wahrnehmungsfehler betrachtet werden, die auf ein Wunschdenken zurückgehen, oder als psychokinetisch erzeugte Nachrichten, könnte die Transkommunikation trotzdem eine große Hoffnung bedeuten: „die erste und wirkliche Umkehr und Re-Volution der Menschheitsgeschichte: die Befangenheit im Kerker der eingeschränkten Lebenszeit, die Hetze und Raffen bedingt, fast alle Übel unserer Zeit wären so aufgehoben.“[161]
Nicht selten erwähnt der Autor die eigenen Erfolge des grenzüberschreitenden Informationsaustausches: Aufzeichnungen von „Tonbandstimmen“ (die Stimme des eigenen Vaters, von Onkel Andreas und Onkel Gerd,  oder des Auschwitz-Apothekers Dr. V. Capesius im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens und in den Essaybänden), die Auskunft geben und mahnen: „Jetzt bleibt dir nur noch Eins, den Kontakt mit uns aufzunehmen, damit wir die Lüge der Erbsünde aufdecken und uns begegnen; <> und <> als EINS. Die wirkliche Teilung muß überwunden werden, nicht die lächerliche hier, die sinnenbestimmte.“[162]
Im Roman Der Verweser wird die Methode der Videoaufnahme, der „Herstellung also von einem Bild im Bild im Bild“ beschrieben, mit deren Hilfe „die Grenze des Sehens“ durchbrochen wird:
„Was da im Lichtfenster erschien, sah aus, als wären es Wolkengebilde, geisterhaft, und wie unter Wasser verzittert, länglicher Lichtfleck, der unsere Augen bewegte, als wäre er innen, plötzlich war eine Stirn auf dem Schirm erkennbar, weiß, dann dunkel Augenhöhlen, der Mund, wie sprechend, dunkel die Nasenkonturen, rings umgeben von Lichtreflexen und Punkten, in einer geisterhaften Landschaft, eine Treppe, sogar Bäume waren zu sehen: ein Phantombild… ein Hirnfoto? Spuren eines Gewesenen? […] und hörte ich richtig, da – eine leise Stimme, unglaublich: Seht ihr uns, wir leben! wir sind eure sichtbaren Gedanken…[163]
Und auch mit ´Transtexten` muss sich der Erzähler auseinandersetzen, wenn plötzlich auf seinem PC die Aufzeichnung „Achtung, Störung!“ erscheint, oder ihm der Zugang zu den gespeicherten Daten verweigert wird:
„Es erscheinen auf meinem kleinen Bildschirm die Wörter riga vuota, vuoto, vuoto, Leerzeile und Leere, Leere. Schließlich è arrivato il momento di scrivere i saluti. Der Moment sei gekommen, sich schriftlich zu verabschieden. An wen oder was denn?“[164]
Einleuchtend ist jedoch die Erkenntnis: “der Mensch ist ein zu Tode Verurteilter, der doch immer auf ein Wunder wartet. Also ist dieser Todeskandidat Mensch auch dazu verurteilt, ans ewige Leben zu glauben, und unter Höllenqualen daran zu zweifeln. Es gibt keinen Ausweg; es sei denn, auf das nicht zu warten, was NIE kommt.“[165]


Exil – der Weg in die Freiheit?

„Nun gut, Befreiung ist im Verschwinden, dem Nichtmehrgesehenwerden und Inkognito, dachte N., mit meinem hier sitzenden Unternehmen bin ich ja die Fremde; für Franz K. war’s damals Berlin, für mich ist es dieser Berg hier im Aus-Land, wo ich im Bau verschwinden kann, mein Gegner war ja zu Hause ein Anderer, ein aus der Geschichte Aufgetauchter, der ganz schnell alles umstürzen wollte, sie nannten ihn: Rot, und der das Gegenteil zu sein schien vom eigentlichen Feind; es war eine totale Verwirrung der Gefühle. Er lochte nämlich ein. So gab es für mich zwei Gründe des Verschwindens und Auslöschens, sagte der Erzähler zu sich selbst. Aber das Heimweh blieb über den tiefen Graben hinweg. Dabei sollte ich wegen der zwei Gründe fort auch aus dem, was „Heimat“ hieß, vernichte sie, so lebt sie in dir weiter, sagte ich mir: Abschied, um das Problem hinter sich zu haben.“[166]
Auf seinem „Umweg ins Freie“ muss der Autor „drei Komplexe“ aufarbeiten:
1.      die Nazijahre während der Kindheit und den autoritären Charakter der „völkischen“ Erziehung;
2.      die „Jugendsünden“ der Stalinjahre: den Versuch auf die andere Seite der Front zu kommen, die falsche Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition und Herkunft, sowie die „Hölle des Transzendenzverlustes“;
3.      die Auseinandersetzung mit dem Trauma des Weltwechsels und des Heimatverlustes.
Hinzu kommt laut Schlesak „der Versuch, jener seelischen Auslöschung durch totale Utopielosigkeit des gegenwärtigen ‘Zeitgeistes’ standzuhalten.“[167]
Im Sinne Schlesaks betrachtet Werner Söllner das Exil einerseits als notwendig, als einen „Befreiungsakt“, andererseits aber als „Verrat – gerade wegen der Freiwilligkeit, mit der er sie als einen Akt der Unbotmäßigkeit gegenüber dem Staat, als einen vorweggenommenen Akt jener Freiheit vollzog, für die er die engen Grenzen seines Lebensraums eintauschte. Und zwar als Verrat an zurückgelassenen menschlichen Bindungen und an der unfertigen Hinterlassenschaft an Utopien, Wünschen und Hoffnungen, die in der neuen Umgebung des relativ freien Westens zu wenige teilten oder teilen mochten.“[168]
Nicht selten wird der Ich-Erzähler vom Schuldgefühl gequält, „nicht länger ausgehalten zu haben, und zu Hause geblieben zu sein“, Gefühl, mit dem er bis zur Revolution leben muss: „solange die Diktatur dauerte, fühlte ich mich verantwortlich, an das Land gebunden, wie durch eine lange Krankheit, erst der Dezember 89 machte mich >>frei<<, entließ auch mich…“[169]
Dieses neue Freiheitsgefühl, wird vom Ich nicht ausschließlich als positiv empfunden, das Ende des Exildaseins ist eher „ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können.“ Das Dilemma lautet: „Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte, nichtlebend.“[170]
Das „Freigestelltsein“[171] kann das Ich schon nach wenigen Jahren West-Erfahrung nur schwer ertragen und wählt deshalb den „Zwischenraum“ als „biographische Situation“[172]. Es zieht vor, zwischen allen Systemen, in einem „Grenzraum neuer, objektiver Erkenntnismöglichkeiten“ zu leben, wo Ideologien und Manipulationen leicht ausgemacht werden können, „um nicht allmählich zu erblinden und seine Urteils- und Kritikfähigkeit einzubüßen.“[173]
Ein „Emigrantenlied“ des Autors klärt über den gespaltenen Zustand auf:
„GENAU DIES WEISS ICH NUN NACH SIEBEN JAHREN:
Zuhause kann ich sein
Nur hier – im Flug. Als wär ich damals in der Luft.
Und schwebend zwischen meinen Vaterländern,
Trotz all der Schüsse auf der Grenze stehengeblieben.
Ein Vogel aber bin ich nicht.
Der Grüne Wagen blüht mir. Doch ich wollt ein Haus.
Gern wär ich nur ein Bürger, - bin sein Waisenkind.
Ich liebe die Länder, Orte, Frauen nur,
Wenn ich die Freiheit auch zum Abschied hab;
Nur in der bitteren Flucht und ungeschützt –
Im Freien kann ich Zeit erfahren:
Die Zeit der Zeit, - Vorläufigkeit.
In all den Leuten ist sie heute auf der Flucht –
Den Himmeln schrecklich nah.
Und nicht mehr auf der Erde.“[174]


Identität / Identitäten

Auf der Suche nach sich selbst ist das Ich – gleichviel ob in der Rolle des Autors, der Erzähler- oder der Romanfigur – einem ununterbrochenen Umbauprozess ausgesetzt. Während die Entwicklung vom „blasse[n] scheue[n] Junge[n] mit asketischen Vorstellungen“[175] und „Dorfapostel“[176], zum Marxist und Überläufer und später zum Verräter, Deserteur (oder Emigranten) und „Ausgewiesenen“[177] einer Zeitspanne von 10 Jahren bedarf, muss das Ich im Westen das „Doppelleben“ sofort beginnen: „[…] ich ließ einen Teil meines Wesens im verlassenen Land für immer zurück, ja, ich beging an jenem Menschen, der ich bisher gewesen war, eine Art Selbst-Mord.“[178] Eine Spaltung der Persönlichkeit findet statt:  ER ist der „Andere, jener zu Hause Liegengelassene“, der das Ich nicht verlassen kann, „so, als wäre da ein Untoter, Unbegrabener, ein Phantom zurückgelassen worden“[179]; das ICH hingegen nennt sich selbst „Niemand“, oder im Dialekt „en Nemest[180]: „Niemand, aus Gründen des Abstandes“[181], ein Ich, das sich in der Sprache versteckt und zu seiner eigenen Figur wird.
„Es ist dieser ER in mir: er sieht alles mit dem andern Blick, denn es wird Niemandem, was er schreibt, „diktiert“, die Grenze ist offen; ich darf mich mit meinem Ich nicht einmischen, sonst zerstöre ich den Wahrheitsbeweis: Stil; doch der Niemand ist ganz nah innen, verwandelt, nach außen aber wie ein Wiedergänger; keiner sieht ihn […]. Natürlich ist Er nicht sichtbar, nur Ich bin es. Möglicherweise halluziniert er alles im Traum, und muß wie im Leben in der Schwebe bleiben. Niemand kann entscheiden, was „wirklich“ ist.“[182]
Voraussetzung für das Westleben ist ein gutes Anpassungsvermögen, die Folge jedoch ist die Angst vor einer „falschen Identität“[183], und davor, sogar in der alten Heimat nicht mehr erkannt zu werden.
„Sieht man es mir an, daß ich ein Zwischenschaftler bin?“[184] fragt sich Roman, während sich das Ich allgemein als „Grenzgänger“ bezeichnet, „andauernd zwischen Ost und West […], mein Herz unentschieden“[185], als „Ostwestmensch“[186] und „Deutscher der Dritten Art“.
„Das Zwischen-Sein als Chance? Es gibt Ostdeutsche und Westdeutsche, und es gibt Deutsche der Dritten Art, die beides in sich tragen, Ost und West, vielleicht noch Süd, einen ANDERN, einen vertrauten Fremden in sich tragen. Reflexe, die eine Welt in die andere warf in einem aufreibenden Erkenntnisraum.“[187]
In soziologischer Perspektive vertritt der Autor die Auffassung, Identität entstehe erst über das Ausgeschlossensein und „EXIL wäre das Extreme dieser Exklusion des modernen Menschen, schmerzlich erfahrenen Vakuums, in dem der Einzelne sich selbst finden muß, ohne Stütze und äußere Hilfe, um das, was man sein könnte, aber nicht ist, zu erkennen.“[188] Bekannte ost- und südosteuropäische Autoren fühlt Schlesak als seelenverwandt, und erkennt in ihren „Beschreibungen einer Tiefengrammatik dieser tödlichen Isolation oder Exklusion zwischen den Systemen und Welten“ eigene psychische Zustände wieder, „von Milosz bis Brodsky, Solschenizyn, Reiner Kunze, Paul Goma oder Milan Kundera“, und „auch meine rumäniendeutschen Kollegen haben bemerkenswerte Introspektionen über diese Bodenlosigkeit geschrieben, vor allem Herta Müller und Werner Söllner.“[189] Dieses Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ erlebt der Autor schon recht früh als Trauma: „Schon in Bukarest, bevor ich Deutschland kannte, bevor ich überhaupt die Grenze des Landes überschreiten durfte, wo nur in der Sprache diese Sehnsucht saß, […] wurde ich gefragt, sag mal, was bist du denn eigentlich, ein Rumäne bist du nicht, du bist ja in Siebenbürgen als Siebenbürger Sachse geboren, aber ein Deutscher bist du auch nicht, du warst ja noch nie in Deutschland? Du mußt Jude sein. – Stimmt es etwa nicht?“[190] In diesem Sinne zitiert Schlesak die Behauptung der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa: „Bce poety jidy – alle Dichter sind Juden, d.h., sie bleiben immer Fremde und sie gehen einem Handwerk nach, das, laut Paul Celan, keinen Goldenen Boden, sondern überhaupt keinen Boden hat. Identität gibt es also für diese „Fremden“ nur punktuell, nämlich im Augenblick der inspirierten Selbstherstellung via Schreiben, denn Sprache ist der einzige feste Boden, die stärkste Kraft dieses verhinderten Vogels, der da Mensch heißt, mit dem Vogel freilich im Kopf.“[191]
Die Identitätsbestimmung erfolgt hauptsächlich durch das Schreiben als „Lebens-Mittel, Hoffnung und Einstieg, Flucht aus der Wüste“[192], wobei das Ich auf einen „Mann aus lauter Wörtern[193], „aus lauter Papier“[194] reduziert wird, auf einen „Schreiber, Genie der Absenz, der sein Leben dem Nicht-Leben gewidmet hat“[195], ein „Flucht-Ich, Internet-Ich, Wegwerf-Ich!!!“[196]
Andererseits nimmt das Ich eine vielseitige Funktion an: im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens wird es textimmanenter Erzähler – Ich-Figur, „Nachträger, Nachhergekommener, Sohn und Enkel Neffe Waisenkind oder Nichtvorhandener“[197] – Michael T., „der ausländische Inländer, inländische Ausländer“[198]. Die Rolle des Erzählers und der Romanfigur Nicolao Romano Granucci übernimmt das Ich im Roman Der Verweser, um schließlich Erzähler und Roman, „meine Romanfigur“[199], „meine Kreatur“[200] in Romans Netz zu werden.
„In Pension“[201] nennt sich der Autor nach der rumänischen Grenzöffnung 1989, aber  auch weiterhin „Emigrant“, nach E. M. Ciorans Auffassung, „daß nur Exil dem Menschen entspreche, […] nur Exil ist wirkliches Menschsein, nämlich die Bewußtsein und Denken steigernde Spaltung, die nicht vergessen läßt, daß die tiefste Sehnsucht hier unerfüllbar ist, daß Versprechungen nur Betrug und Täuschung sein können. Jemand, der bewußt im Exil lebt, hat begonnen, sich selbst zu entkommen.“[202]


Heimweh

„Wieso diese große Sehnsucht nach Bukarest? Jahrelange Sehnsucht: aus dem Lande fortzukommen, und nun ist es mir ganz egal, ob sie mich wieder herauslassen oder nicht. Impuls: sich sofort in den Zug setzen und zurück.“[203]
Wo bleiben Verlangen nach westlicher Öffnung und Deutschlandnostalgie? Und ist der „Freiheitsapettit“[204] nach nur wenigen Monaten Westaufenthalt schon verdorben? Das Gefühl, das der Autor „’Wahrnehmungsheimweh‘, Utopieheimweh, Lebensheimweh“, oder auch „Schuldgefühle anderer Art“[205] nennt, interpretiert Oliver Sill als „das logische Äquivalent des fortschreitenden Verlustes aller Illusionen über den Westen.“[206] Sill vertritt die Meinung, dass die Westablehnung des Ich Resultat der enttäuschenden Kollision von Wunsch und Wirklichkeit, von Traumbilder und Realität sei; deshalb auch die Gespaltenheit zwischen dem neuen Freiheitsglück und der Sehnsucht nach „Landschaft, Farben, Gerüche, Bäume, ganz andere[n] Menschen, de[m] Dialekt“[207] und der Entschluss, in das „rote Gespensterreich täglicher Alpträume“[208] zurückzukehren. „Solange ich akutes Heimweh nach Siebenbürgen hatte, das wie eine Krankheit war“, erklärt der Autor, „konnte ich hier nicht ankommen“[209]. Gegen das Heimweh, das alle Sinne an sich bindet und für das abwesende Land einsetzt, so dass sie im Westen fast taub werden, müssen alle alter ego des Autors ihre Abschiedsfähigkeit üben: „Abschied von der verlorenen Heimat, von Illusionen, vielleicht auch von dem alten Ich.“[210] Ein gemeinsames Merkmal ist die Sehnsucht nach der vertrauten Nähe, eine mit Schuldgefühlen gemischte Sehnsucht, mit einem „inneren Druck“, den das Ich anfangs nur im Westen spürt, von dem es sich aber später auch auf den wiederholten Heimreisen nicht mehr befreien kann. Einer der Auslöser von Schuldgefühlen aber auch Sehnsüchten nach „ausgebliebenen Zärtlichkeiten […] nach deinem, nach unserem Altreich, wo du geboren wurdest“[211] ist Maria, Michael T.’s verlassene Ehefrau, und die Erinnerung an die vertraute Zärtlichkeit der rumänischen Sprache: „Diminutive nah an meinem Ohr wie eine Liebkosung: Pâinică, lăptică, puişor. Brötlein, Milchlein, Küken. Noapte bună, puişor… […]. Würgendes Heimweh, klagendes Stimmchen, Kinderweinen aus einem fernen Märchen.“[212]
„Im Osten, sagte ich: aici acasă, hier zu Hause, und meinte dieses Wort dor, dies gibt es nur im Portugiesischen noch, Saudade und im Deutschen: Blaue Blume Sehnsucht, floarea albastră dor, da hatten wir den Ausnahmezustand immer mit uns herumgetragen, l-am purtat cu mine, l-am sperat, ich habe ihn erhofft, hier, und auch in Italien kann ich ohne ihn nicht leben, erst in der Ausnahme für die Ausnahme Mensch lebe ich, daher dieser Ersatz, scrisul meu, Schreiben: und er ist jetzt wirklich da.“[213]
„Heimwehkrank“[214] nennt sich Michael T. während der Begegnung in Schäßburg, seiner Heimatstadt, mit seinem ehemaligen Schulfreund Dima, und bei seiner Festnahme beteuert er „nur dieses brennenden Heimwehs wegen“[215] sei er nach Rumänien zurückgekehrt. „Es ist ein falsches Heimweh“, erklärt der Autor, „das weiß er und kann sich doch davor nicht retten. Er wird wieder ins Aus-Land abgeschoben. Heimweh lässt sich so nie erfüllen. Es verdeckt nur ein anderes.“[216]
Auf mehreren Reisen in die heimatlichen Orte versuchen die alter ego des Autors das Heimweh zu lindern, was jedoch scheitert, scheitern muss, denn vorerst kann „angekommenes“ Heimweh nur „gescheitertes Heimweh“[217] sein.


Heimkehr

„Jetzt: wäre es Zeit, heimzukehren aus einer gescheiterten Ferne. Doch wohin?“[218]
Die vom Autor Dieter Schlesak in allen Prosawerken unternommene Heim-Reise kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: erstens als reale Heimkehr, die in Tagebüchern festgehalten wurde und als Ausgangspunkt und Basis für die zweite, die textgebundene fiktive Heimkehr der Gestalten, alter ego des Autors, dient, um schließlich die Heimkehr als Illusion zu entlarven.

1.)    Reale Heimkehr

„Nach einer Sechsmonatereise, mit 34 die erste überhaupt, wenn man von einer fünftägigen Kreuzfahrt durchs Schwarze Meer absieht – nun der fünf Monate hinausgezögerte Versuch nach Hause zurückzukehren. Kein leichter Entschluß. Schlaflose Nächte, schließlich eine Reise von Station zu Station ostwärts: Frankfurt-Heidelberg (mit schwächlicher Rückkehr nach Frankfurt), ein neuer Versuch: Frankfurt-Regensburg, diesmal mit mehr Erfolg, schließlich: Regensburg-München-Wien. Letzte Station im Westen. Der Entschluß, probeweise nach Bratislava zu fahren, weil von dort aus noch Rückkehr möglich war. Heimkehr als Therapie (gegen die unerträgliche Rumänien-Melancholie) und als Methode: mehr zu erfahren.“[219]
So beschreibt das erzählende Ich seine erste Heimreise 1969, den ersten seiner wiederholten Versuche heimzukehren, der in der Erinnerung besonders fest verankert geblieben ist und in allen Prosawerken als Konstante auftritt.
„Die Heimkehr sollte eine ‘Therapie’, eine Art Exorzismus meines Heimwehs und meiner Schuldgefühle sein, weil ich nachts nicht schlief, hin- und hergerissen war zwischen Heimweh und Angst, Liebe zu Hannah und Liebe zu jenem verdammten Land mit seinen Landschaften und vertrauten Leuten, Freunden und Eltern, die mich bis in die Träume hinein verfolgten, so daß mir das Gewissen schlug, und eine Stimme mir das Wort ‘Verräter’ ins Ohr flüsterte! Ich glaubte ja außerdem, ich hätte dort noch ‘eine Aufgabe’ zu erfüllen und dürfte nicht ‘desertieren’.”[220]
Während aber in Visa Ost West Lektionen die Rückkehr nach Rumänien sowohl als endgültige Heimkehr (aus der Perspektive des zum ersten Mal verreisten Ich) als auch als vorläufige Heimkehr (aus der Perspektive des endgültig emigrierten Ich) beschrieben wird, wird sie in den folgenden Büchern ausschließlich als der Anfang einer langen Reihe gescheiterter Heimkehr-Versuche erinnert.
Einen „neuen ‘Wahnsinn’“ begeht das erzählende Ich 1974, als es wieder nach Bukarest fährt, „allerdings mit deutschem Paß“[221], um seinen 1970 geborenen Sohn und dessen Mutter nach Deutschland zu bringen. Wieder sind es Schuldgefühle, die das Ich dazu veranlassen, „ohne Rücksicht >>hinunter<<“ zu fahren, „die Verhaftung, die Prügel, die Zelle in Kauf nehmend.“[222] Obwohl nur an einer einzigen Stelle und wie nebenbei erwähnt („als T. ein einziges Mal, ja, 1974, hier aus dem Westen zu Besuch gewesen war“[223]) stellt diese Reise den Ausgangspunkt für Michael T.’s Heimkehr im Roman dar. Als Journalist im Auftrag der Frankfurter Rundschau, des Süddeutschen Rundfunks und mit „8000 DM im Brustbeutel […] um den Sohn ‘abzukaufen’“[224] – Einzeilheiten, die im Roman jedoch nicht durchscheinen – kehrt der Autor vorerst zum letzten Mal in die Heimat.
Reale Heimfahrten unternimmt das Ich erst nach 1989 wieder, nach dem historischen Umbruch im Osten: die erste im März 1990, dann 1991, 1993, fast jedes Jahr bis zum heutigen Zeitpunkt. Durch intensives Tagebuchschreiben hält das Ich alle Etappen auf dem „Weg der Desillusionierung“ fest: „von der kurzzeitig gehegten Hoffnung über die Enttäuschung bis in die Resignation“[225] – Eindrücke und Reflexionen, die sehr bald die literarische Form einer Trilogie annehmen: Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991), Stehendes Ich in laufender Zeit (1994) und So nah, so fremd. Heimatlegenden (1995), und auch im Roman Der Verweser (2002) sowie in der 2004 veröffentlichten Essaysammlung Eine Transsylvanische Reise nachklingen.
Die große Enttäuschung der Heimkehr nach 16 Jahren Abwesenheit drückt das Ich vorgreifend schon am Anfang des Essays Wenn die Dinge aus dem Namen fallen aus: „Ich bemerkte erst spät, daß ich das Vorgestern suchte. Als ich mich mit Jann ins Auto setzte – da fuhr ich noch einem Heimwehbild nach. Mein Gott, jetzt, wie alt. Aber ich war neugierig, ich wollte wissen. […] Dieses ist eine Fahrt durch meine eigenen inneren Trümmer; oh Heimat!“[226]
In allen Einzelheiten werden die Vorbereitungen dieser so lang ersehnten Reise beschrieben, die Aufregung und die Vorfreude, und die Angst vor dem neuen „Ausgeliefertsein, nicht gegenüber der Securitate, nein, sondern gegenüber der großen Unbekannten >>ZEIT<<[227]: „Beim mit Erregung geplanten Besuch im März droht ein doppelter Abgrund, die gestockte Zeit und jetzt die fließende werden voraussichtlich mit der Erinnerungszeit zusammenprallen.“[228] Und so empfindet dann das Ich beim Antritt der ersten Reise den Anschluss an die Vergangenheit:
„4. März. JETZT ist es, als käme ich in eine vergrößerte Zeit. Was vor 1944 gewesen war, ist nun mit angeschlossen, meine Geburtszeit nicht mehr von mir getrennt; das Vorgestern, also die dreißiger Jahre und mehr noch Siebenbürgen als K- u.–K.-Land, Großvaters Zeit, gehören wieder zur Gegenwart – wenn auch noch verborgen […].“[229]
Ausschließlich in der Erinnerung überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart, im Jetzt kann keine Kontinuität hergestellt werden, so dass die Wiederbegegnung mit der Kinderlandschaft[230] und die erste Heimkehr allgemein scheitern muss:
„Es geschah auch ohne besondere Emotionen, ohne Fest, fast nebenbei und alltäglich, was man so lange erwartet, erhofft hatte. […] Wie im Märchen mit den drei Wünschen: die Erfüllung ist immer falsch, schließlich möchte man sie gar nicht. […] Der Zustand der Sehnsucht wird gelöscht. Melancholie der Erfüllung.“[231]
Nach dem Schock der ersten Heimreise sind die Erwartungen für die folgenden nicht mehr so groß, ganz im Gegenteil: „mit dem Schrecken dieser Heimkehr im Herzen“[232] denkt das Ich „mit Grausen an eine neue Begegnung mit meiner Fremde zu Hause, mit dem zurückgelassenen Anderen“[233] und beschreibt sich dementsprechend:
„Ich komme als Fremder nach Hause, ich habe mich hier vor einem Vierteljahrhundert zurückgelassen, mich selbst verlassen, und bin eine Anderer, dieser Andere kehrt nun nach Hause zurück, er ist es und er ist es nicht mehr: der Blick hat sich verändert, der Umbau der Person im Westen ist allzugut gelungen. Ich bin ein Anderer geworden, der sich nun von sich selbst getrennt hat. Gespalten. Eine Art Phantom, Mensch der dritten Art.“[234]
Fremd und doch immer vertrauter erscheint das neue Heimatbild in seiner fortschreitenden Verwestlichung: statt bettelnde Kinder und „Valutajäger“ an allen Straßenecken, nun teure Autos, Coca-Cola-Reklame und neu verputzte Häuser, während in den Buchhandlungen das Ceauşescu-Bild und –´Werk` durch Bücher über den Marschall Antonescu und Königsbilder ersetzt wurde.
Besonders stark fällt der Kontrast zwischen dem „mitteleuropäischen Siebenbürgen, einstmals k.- und k.- Provinz“ und dem „Altreich“, dem „Handels- und Händlerparadies Levante“[235] auf: „[…] ich sah mit freiem Auge den Unterschied zwischen den Traditionen, die nun hervordrängen […]. Ich begriff plötzlich, wie jetzt überall neu, viel tiefere Grenzen aufbrechen, überall mitten durch die ehemaligen Ostländer... ."[236]
Die häufigen Heimfahrten unternimmt das Ich nicht nur aus „Nostalgie“ und „Neugierde“[237], sondern auch aus Pflichtgefühl seinen Eltern gegenüber: Es ist Mutters Wunsch, sich um die Gräber und Häuser zu kümmern, dem das Ich Folge leistet und die Rückgabe des „Baumgartenhauses“ und des „Hauses auf dem Holzmarkt“ beantragt: „Das sind wir doch meinem und auch deinem Vater schuldig!!!“[238] Der Vater hingegen fordert im Traum: „Wir sollten den Verwandten und Freunden dort Mut machen, […] Mat mauchen, sellt er ännen“.[239]
„12. März. […] Und kaufe das Sommerhaus ganz sicher nicht, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, dieses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirkliche zu holen. Ins Wirkliche? Dieses Land gehört nur erinnert noch mir, in der Wirklichkeit hat es sich viel weiter von mir entfernt, als ich von ihm.“[240]
Auch Jahre später wird der Erzähler seine Entscheidung nicht ändern und das Sommerhaus nicht kaufen. Anders jedoch steht es um das Geburtshaus, in der Familie „Baruchhaus“ oder „Gassenhaus“ genannt, „das in der Baiergasse liegt und denkmalgeschützt ist, zum ´Weltkulturerbe` gehört“, denn „erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch“[241] und das Vergangene ist wieder nah. In seinen Bemühungen um das Elternhaus sieht der Erzähler aber auch die „Wiedergutmachung der roten Enteignung […], da es ganz persönlich in meine Erinnerungen, in den Lebensbruch durch Krieg und Nazizeit und in die siebenbürgen-deutsche Familiengeschichte hineinrückte.“[242]
Heim geht die Reise jedoch nicht nur nach Siebenbürgen oder Bukarest sondern auch nach C. oder genauer nach Agliano bei Camaiore, nachdem der Autor 1973 Italien zu seinem neuen Zuhause erwählt hatte. Schon auf seiner ersten Italienreise 1968 erkennt der Erzähler, dass ihn etwas Besonderes an dieses Land bindet: in Lucca erlebt das erzählende Ich das „seltsame Gefühl des Wiedererkennens, des Déjà-vu“ beim Anblick eines Hauses, das ihm so vertraut vorkommt, „wie die Häuser und Gegenstände meiner Kindheit […]. Als gäbe es wirklich so etwas wie eine Wiederkehr.“[243] Spätere Nachforschungen und in Lucca gefundene Dokumente erschließen, dass es sich um das Haus des Arztes Nicolao Granucci handelt und bestätigen das Ich in der Vorahnung, „dass es zwischen mir und jenem Haus eine geheime Lebensbindung gab.“[244]
In dieser toskanischen Gegend versucht der Erzähler, eine neue Heimat zu finden, muss aber auch nach jahrelangem „Einsamkeitsmarathon“ auf dem Berg verbittert bemerken: „Na, siehst du, hier ist Kleinseveso, Gestank des Teufels. Ein Pferdefuß dazu. Lächerlich, zehn Stunden zu fahren, um nicht nach Hause zu kommen. […] Hallo, der Gefangene stellt sich freiwillig.“[245] Erst nach wiederholter Konfrontation mit der in ständiger Wandlung begriffenen ´alten` Heimat und dem immer stärkeren Gefühl dort fremd und Gast zu sein, kann der Erzähler (erleichtert?!?) behaupten: „… zum erstenmal bin ich nun froh, von meiner ´Heimkehr` wieder ´nach Hause`, nach Italien zurückfahren zu können.“[246]
Und nachdem auch Schlesaks Eltern nach Deutschland ausgewandert sind, geht die Heimfahrt in eine neue Richtung „in die große Kreisstadt A. auf der Alb“[247], „hinauf in die Triumphstadt“[248], „wo ich Heimat gefunden haben sollte, den Jahren nach hätte ich voll <> sein müssen, den Entwurzelungszuschuß (209 DM) hatte ich ja bezogen.“[249]
Da sich die Aufmerksamkeit des Autors hauptsächlich auf die Heimkehr-Erfahrungen des (erzählenden und erzählten) Ich und seiner alter ego konzentriert, kommen nur selten auch andere Stimmen zum Ausdruck: eine davon ist die Mutter, die von ihrer enttäuschenden „Erinnerungsfahrt ins Leere, in die Stadt der Geister“ berichtet:
„ Es gibt unsere Stadt nicht mehr […]. Niemand kannte und grüßte mich, und ich konnte niemanden mehr erkennen und grüßen, obwohl die Straßen, die Häuser unverändert, wenn auch etwas verfallen da stehen. […] Sie sei dann mit der ehemaligen Stadt im Kopf durch die Gassen, etwa auf der Marktzeile spazieren gegangen, habe dann auf einer Bank sanft und wie verloren geträumt und dann jene Orte besucht, die noch ein wenig wirklich zu sein schienen, die wie kleine Inseln herausragenden wirklichen Stellen berührt; doch alles sei so geisterhaft gewesen.“[250]
Im Roman Der Verweser wird auch Nicolao Granuccis „gefährliche Heimkehr nach Lucca, wo ihn der sichere Tod erwartete“ beschrieben, eine nach jahrelangem transsylvanischen Exil ersehnte Reise zurück zum „Schoß jener Erde, deren Geruch ihn immer verfolgt hatte, und den es sonst nirgends gab. […] Und ritt so über Hermannstadt, das Banat, dann Ungarn, über Agram, Kroatien nach Hause […] und dann verendete ihm auch noch das treue Pferd; und er kam so mit der Postkutsche über Istrien nach Triest, Venedig, Bologna, und über den Apennin nach Prato und Pistoia, er, nun völlig mittellos und mehrfach bestohlen von Räubern und Wegelagerern, selbst erstaunt, noch am Leben zu sein […] war dann nach vierwöchiger Reise endlich in der Nähe von Lucca angelangt! Es klopfte ihm das Herz vor Freude, wieder Boden unter den Füßen zu haben!“[251]


2.)    Fiktive Heimkehr

Während die realen Heimfahrten der Suche nach Wissen dienen (über sich selbst und die Heimat, oder was davon übrig geblieben ist), verarbeiten die imaginären Reisen dieses Wissen, korrigieren, filtern oder bereichern es auf literarischem Weg durch die aufgrund von Recherchen, Erinnerungsarbeit und sogar Traumanalyse und Totengespräch erhaltenen Informationen. Drei Möglichkeiten wählt der Autor für die fiktive Heimkehr: die Heimkehr im Buch, als Erinnerung und im Traum.

a.)    Heimkehr im Buch

Auf fiktive Heimfahrten begeben sich stellvertretend für den Autor oder den Erzähler die Doppelgänger: Michael T. zum Beispiel tritt als Erfindung des textimmanenten Erzählers, eine in Wirklichkeit nie so stattgefundene Heimfahrt an, um die, dem Erzähler/Autor bestimmte, Verhaftung und anschließende Ausweisung zu erleben. An „leere[r] Freiheit und Bindungslosigkeit“ leidet T. in „seinem westlichen Nirgendwo“ und versucht deshalb „in jene östliche Enge, in ein >>Schicksal<<, das er im Westen verloren glaubt, heimzukehren.“[252] Klaus Hensel deutet dieses Schicksal als Annahme der Schuld, „jener kollektiv verdrängten Schuld der Siebenbürger Sachsen […] durch die freiwillige Gefolgschaft, die sie Hitler leisteten.“[253] Aber auch als Annahme der persönlichen Schuld - der Verrat an Land und Landsleute, an politische Ideale und Familie – und der entsprechenden Strafe: die Verhaftung und Verurteilung. Dass aber Michael T. die erhoffte Märtyrer-Rolle nicht vorbehalten ist, wird ihm schon bei seinem Grenzübergang klar:
„Sie haben mich nicht verhaftet. Es schien mir fast, als wäre ich übergangen worden. Eigentlich hätten sie mich bei der Einfahrt doch mit Fußtritten traktieren müssen, abführen.“[254]
Und nach allen Heimat-Erfahrungen muss er letztendlich auch die Hoffnung auf Erlösung aufgeben, denn keines Prozesses und keines Gerichts würdig wird er „mit aller Ironie der Geschichte ins Ausland abgeschoben“[255], so dass einzig die bittere Erkenntnis bleibt: sein „Heimwehtourismus“ war eigentlich nur eine „Verzweiflungstat“ gewesen, „um diesen Prozess, der innen ist, aufzuhalten. SIE allein können ja nichts TUN.“[256]
Trotzdem verkörpert Michael T. mit seiner „Suche nach innerer Behaustheit nach dem Erlebnis absoluter Fremde“[257] die „Stimme der nie versiegenden Hoffnung […] auf eine mögliche Heimkehr durch die Wiederbegegnung mit den Landschaften und Städten der eigenen Kindheit.“[258]
Auch Terplan kehrt als Gespenst der Erinnerung fiktiv und stellvertretend nach Hause, während das Ich als alter Körper in einer Anstalt zurückbleiben muss. Die Reise geht „in meine Stadt, die es wahrscheinlich nicht mehr gibt […] eine Geisterstadt; wohin ich fahre – es ist eine fremde Stadt. Mitten durch eine Abwesenheit: Nach Hause.“[259] Die Landschaften scheinen real und auch die Begegnungen („denn als ich die Silhouette der Burg sah, unverändert alt, war wieder dieser Stich freudigen Erschreckens da, also war ich kein lebender Leichnam, auch der Mitfahrer hatte mich ja angesprochen, gesehen, tatsächlich, ich lebte, war DA!“[260]), „aber eigentlich ists ja die Hirnwand, auf dem diese Bilder hier […] erscheinen.“[261]
Michael T. erhofft sich viel von der Heimreise, muss aber am Ende seinen Irrtum einsehen und der Versuch, das Heimweh zu besiegen, konkretisiert sich in der Niederschrift seiner Geschichte: dem Autor gleich „hatte sich [Michael T.] ja lange genug gereinigt, sechstausendmal zusammen- und auf die andere Seite gelegt.“[262]
Das erzählende Ich hingegen, weiß schon von Anfang an, dass T.’s Heimkehr, die reale Heimkehr allgemein, illusorisch ist - die einzig mögliche Heimkehr kann nur literarische Erinnerungsarbeit sein, die vor dem weißen Blatt beginnt: „DIE HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT“[263]! Deshalb ist auch T.’s Reise aus der Perspektive des erzählenden Ich „eine sprachlich vollzogene Revision […] mit all seinen Segmenten und Sedimenten.“[264]
Oliver Sill erklärt den Unterschied zwischen den beiden Gestalten: „Während das erzählende Ich seine Funktion gewinnt innerhalb eines Textes, der auf Seite 450 beendet ist, bleibt Michael T. gefangen im unendlichen Regreß von Schreiben und Leben, gefangen im nicht endenden Versuch, den durch den Heimatverlust entstandenen Riß schreibend zu überwinden, sich schreibend ‘zu heilen‘ (vgl. 449). Und in diesem Punkt steht Michael T. dem Autor Dieter Schlesak sehr viel näher als das Ich eines Textes, der notwendig an ein Ende gelangen muß.“[265] Ausführlicher soll das Thema des Schreibens als Heimkehrmethode im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit analysiert werden.

b.)   Heimkehr in der Erinnerung

Gleichviel ob die Heimfahrt real oder fiktiv ist, der Erzähler kann keine der beiden antreten, ohne sich auf sein Gedächtnis und seine Erinnerungen zu stützen. Als „zentrales formkonstituierendes  Element“, wie sie von Sill definiert wird, sichert die Erinnerung die „autobiographische Dimension“[266] des Textes. Es sind in die Kindheit und Jugend zurückreichende „Erinnerungsbilder, die in fließendem Übergang in die ‘jetzt’ stattfindende Vergangenheitserkundung Michael T.’s eingebaut werden“[267], Überlagerungen von vergangenen und gegenwärtigen Bildern, „daß es mir schwindlig und übel wurde“[268] und „die Erinnerung […] die frisch ankommenden Augenblicke“ zudeckt:
„Erinnerungsquatsch, den jeder Schritt hier in S. bei mir auslöste. Überall (…) assoziierte ich Vergangenheit, hob ab, kam nicht in der Gegenwart an, die mich nun wie ein schier leerer Ort auch weniger interessierte.“[269]
Erweckt wird die Erinnerung durch noch immer lebendige Empfindungen, Außen- und Innenwahrnehmungen, durch die „Mémoire involontaire, beim Geruch eines Veilchens“[270], des Sommer- oder Weihnachtsduftes, des Rauches von Holzfeuer oder der Gebirgswalderde – Wahrnehmungen, durch die das Ich einen „Erinnerungsschock“ erlebt, „denn nirgends sonst gibt es den mineralisch-harzig-modrigen Geruch dieser Tannen der Karpaten. Eine Wand schien zu fallen, und ein Moment wahrer Empfindung von Wirklichkeit war da – wie ein wiedergefundenes Glück. Die vollerlebte Präsenz, ich fühlte mit allen Sinnen Anwesenheit. Und ich wusste plötzlich, dass Fremde nur ein innerer Zustand der Schwäch ist; Liebe gehört überall als Heimat zu den Glücksmomenten an jeden Ort der Erde, wie ich es jetzt hier vorempfunden hatte, nur hier ist es leichter, die Wand ist viel dünner als etwa in hektischen Großstädten, die Fremde erzeugen und bindungslose ´Freiheit` im Anonymen.“[271] Auch beim Anblick der bekannten Straßen und Gebäude in Schäßburg oder Bukarest werden Erinnerungen wach, wobei die Intensität der Wahrnehmung oft dazu führt, „daß vergangenes (erinnertes) Ich und gegenwärtiges (sich erinnerndes) Ich gleichsam verschmelzen.“[272] Oft jedoch kann die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erinnerung und Wirklichkeit nicht mehr überbrückt werden und das Ich muss enttäuscht feststellen:
„…Einzeldinge, Eindrücke strömen, Zeit noch, bekannt also, doch es bindet sich nichts, fällt aus dem Augenblick, Alltagsgefühl: heute. […] Meine Erinnerung stammt aus einem anderen Jahrhundert, hier, meine Kindheit: Diktaturen hatten den Zeitbruch und die Vernichtung der Wahrnehmung und der Fähigkeit glücklich zu sein durch Wachtürme und Stacheldraht wie in einem Indianerreservat erhalten, die Zeit mit Fahnen und Gewehren umstellt und so angehalten. Jetzt fließt sie wieder und alles verwirrt sich. Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht möglich.“[273]
Zweifel kommen auf, „es gibt viele Zwischenräume […], das schmerzt, reizt aber zur Erfindung“[274] und zur Nachforschung. „Mappen“, „altes stinkendes Papier, Papiermüll der Erinnerung“, „Familienbriefe und Fotos“[275] dienen dazu, weitere Erinnerungsprozesse auszulösen und Gedächtnisinhalte freizugeben, wobei aber dem Ich „das Trügerische eines immer nur lückenhaften Erinnerungsprozesses“[276] ständig bewusst ist.
Die Erinnerung führt zurück in die sechziger Jahre in Bukarest – Studium und Redaktionsarbeit, Marxismus und Geheimdienstüberwachung, Adam, Ioana und Maria sind die wichtigsten Momente der Vergangenheitserkundung – die Sichtweise ist jedoch die des gegenwärtigen, imaginierenden und reflektierenden Ich.
In einem schmerzhaften Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Wissen befindet sich das Ich aber jedesmal wenn Erinnerungsbilder aus der Kindheit, der „Paradieseszeit“[277] wachgerufen werden. Da mit dem Wissen um die Schuld der eigenen Familienmitglieder und –freunde beladen, die während des Zweiten Weltkrieges im Dienst der SS standen, entgeht keines der erinnerten Bilder dem Bestreben des Erzählers, den damals erlebten Schutz, die Ausgelassenheit und Harmonie als im Grunde trügerische Glücksmomente zu entlarven. Dem Leser wird demnach keine idyllisierte sondern eine revidierte Kindheitsdarstellung geboten, wie der Erzähler selbst erklärt:
„In meinem Roman ‘Vaterlandstage’ habe ich so mit dem Erwachsenenwissen meine eigenen, naturgemäß naiven und schönen Kindheitserinnerungen ‘korrigiert’, korrigieren müssen, sie wohl auch schreibend beschädigt, indem ich beide Dinge zusammengebracht habe, zusammenbringen mußte. Denn solch eine Seelenarbeit muß ein Autor, vor allem, wenn sie sonst in seinem Umkreis völlig ausbleibt, auch für andere leisten, das ist ja sein Beruf, schreibend sich selbst, aber auch andere zu befreien zu versuchen.“[278]





c.)    Heimkehr im Traum

Erinnerungen sind oft lückenhaft und trügerisch, und sogar Quellenforschungen können nicht immer die „leeren Zwischenräume“ ausfüllen, so versucht der Erzähler mit Hilfe von Visionen und Träumen den Weg nach Hause zu finden.
Der Traum ist eine Art Denken im Schlaf oder Halbschlaf, auch eine Art Parallelwelt, in der sich unsere Realitäten widerspiegeln und miteinander kommunizieren. Deshalb wird die Auseinandersetzung mit Problemen wie Tod, Zeit aber auch Heimkehr im Traum fortgesetzt. Dabei treten die Ängste, die das Ich im Wachzustand zu überwinden und zu verdrängen versucht, im Traum umso deutlicher auf:
„3. März 1990. In der letzten Nacht vor der Heimfahrt, ich war lange Jahre nicht in meiner siebenbürgischen Heimatstadt gewesen, - Träume; die Stadt hatte sich ja mit Träumen vermischt, als gäbe es sie nicht mehr wirklich; irre Substantive vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanzgraben, Katzenköpfe, Wiesen gelb und Primeln, Frühjahr, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropfte ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Güterzug mit Panzern vorbei. Ein Leichenwagen schien alles einzusammeln. […] Und ich fuhr über die Brücke, das schwarze Auto blieb zurück, konnte nicht folgen. Ein schmaler Weg führte zu einem Haus, die Tür stand offen, ich trat ein. Da war das Vorzimmer meiner Kindheit mit dem Spiegel, ich sah hinein, und sah dort den Bekannten, Niemand; ich war also da. Nicht?“[279]
Trotz vertrauter Landschaften und freudig-fröhlicher Begegnungen erweisen sich die Träume meistens als Angstträume, Vorwegnahme oder Bestätigung der unmöglichen Heimkehr, die, laut Sill als „Allegorie der Vergeblichkeit“[280] gelesen werden können. Beispielhaft ist auch Terplans Traum vor der Heimkehr in seine Heimatstadt:
„Ich hatte geträumt, daß ich nach Hause wollte, das gelbe Türchen war auch offen, sogar das Hoftor hinter dem Roßkastanienbaum, es war auch Licht zu sehn in der Diele, deutlich sah ichs durch den dichtgewachsenen Efeu, Herzblätter; doch als ich klingelte, die Klingel direkt über einem weißen Porzellanschild ‘Transsylvania Versicherung’, da hörte ich das Klingeln drinnen im Vorzimmer und in der Küche, doch niemand öffnete, alles war totenstill. Ich versuchte auf meine Weise ins Haus zu kommen. Wo der Efeu an der Wand hochwächst, an dieser mit scharfkantigem Mörtel verputzten Wand mit ihren tausend kleinen Betonschüsseln drückte ich fest zu, die Handballen wurden dabei blutig, und wollte die Mauer durchdrücken, dabei wurde es kälter und kälter, und langsam, langsam verwandelte sich die Wand in weißen sauberen Schnee. Ich kam immer tiefer in diese Schneewand rein, schrie, als wäre ich von einer Lawine verschüttet worden, und als ich versuchte, wieder herauszukommen, gelang das nicht, […] und auch hinein ins Haus kam ich nicht, langsam fror diese Schnee- und Eismauer zu, drückte mir den Atem ab! Und schreiend erwachte ich in meinem Bukarester Hotelbett…“[281]
Während Michael T. durch wiederholte Angstträume das Scheitern seiner Heimreise vorauszuahnen beginnt, ist der Traum für das erzählende Ich nur eine zusätzliche Bestätigung („keine Heimkehr mehr, Hänschenklein“[282]) und Mahnung („Du mußt zurück, denn die Pflicht ruft!“[283]).
Von der Geheimpolizei verhaftet träumt Michael T. in der Zelle seine eigene Hinrichtung, und im Zeitstillstand zwischen Leben und Tod setzt ein neuer Traum ein: ein Traum im Traum, „eine Art Wachtraum“[284] oder Klartraum in dem T. sein eigenes Leben und damit Heimkehr wieder erlebt. Es ist ein „immer wieder merkwürdiges Erwachen in einen andern Traum, wie in russische Puppen hinein“[285], das ‘Herausfinden‘ aus diesen Träumen erweist sich aber nicht wie gehofft als Erlösung, denn  Michael T. steht nun die Ausweisung bevor. Und der Neuanfang.


3.) Illusion der Heimkehr

Am Ende seiner Reise weiß Michael T., dass die unterbrochene Zeit nicht dort wieder aufgenommen werden kann, wo sie stehengeblieben war, und zwar in der Kindheit:
„Nach einem Zeitbruch, nach dem Krieg, nach der Enteignung, nach der umwälzenden Veränderung (auch unseres Inneren) kann man im alten Haus, im alten Speisezimmer nicht wieder Weihnachten feiern wie früher.“[286]
So muss das erzählende Ich schon 1993, nach der erst zweiten Reise in das nun freie Heimatland und später immer wieder enttäuscht feststellen, „daß die Erinnerung, die Familie, die Freunde in mir kein Gefühl mehr wecken, als gäbe es sie, wie das Land, die Kindheit nicht mehr. Daß alles Erinnerte, das Erhoffte, die Heimkehr, die nun mit dem wirklichen Leben, der wirklichen Berührung zusammenstoßen, ins Leere greifen, unbegreiflicher und bodenloser werden, für immer.“[287] 
Die 30 Jahre lang gehegte Illusion „mich für eine Heimkehr aufzusparen“  wird rücksichtslos zerstört: „zuviel gelebte Zeit in der Fremde ist vergangen, zu entvölkert ist das Land, zu verändert der Gegenstand meiner Erinnerung, zu fremd jene gewesene NÄHE!“[288], als dass noch von einer wahren Heimkehr gesprochen werden kann. So auch die nüchterne Schlussfolgerung:
„Was mir im Verhältnis zum Land meiner Herkunft bleibt, ist das Bewußtsein, ein Emigrant in Pension zu sein, bei dem die Heimkehr überholt ist.“[289]
Wie sollen aber die „Vaterlandstage“, die „Utopie-Metapher Hölderlins“[290] interpretiert werden, auf die der Autor durch das Roman-Motto hinweist?
„… daß jedes, als von unendlicher
Umkehr ergriffen, und erschüttert,
in unendlicher Form sich fühlt, in
der es erschüttert ist. Denn
vaterländische Umkehr ist die
Umkehr aller Vorstellungsarten
und Formen.“
Umkehr und neues Bewusstsein – nach Hölderlin durch eine Art schmerzhaften Schock und Erschütterung („Für uns war dieser Chock Krieg und Nachkrieg und seine Folgen“[291]) – als Vorbedingung für die Erkenntnis der wahren Heimat.
„Die Tage nämlich SIND möglich erst bei Abschiedsfähigkeit vom empirisch Realen und ordinär Heimatlichen“, behauptet Schlesak, solch ein utopischer Ort entstehe erst bei „Umkehr aller Vorstellungen und Formen“.[292] Und vielleicht noch während der Kindheit, wenn der Begriff ´Heimat` noch gar kein Begriff ist, Heimat aber um so intensiver erlebt wird:
„Gebär mich von neuem
Mach mich zum Kind!
Das der Welt vertraut
Lehr mich die Heimkehr.“[293]


Heimat


„Ich komme aus Italien nach Düsseldorf, aus der Gegend von Lucca, wo ich seit 20 Jahren wohne, aber nicht zu Hause bin. Folge jenes längstbegonnenen Krieges? Vorher war es Siebenbürgen, dann Bukarest, wo ich zu Hause war, aber nicht leben, schreiben, denken konnte, wo ich die Erinnerungen, die Kindheitslandschaft liegenlassen mußte, wie eine unbeerdigte Leiche, die keine Ruhe gibt. […] Für mich gibt es drei Länder: Deutschland, Rumänien, Italien; drei Leben, drei Erfahrungen. Schreiben in der Muttersprache in fremder Umgebung. Eine Art Zwischenschaft.“[294]

Den zwei Heimkehrmöglichkeiten (fiktiv und real) entsprechen zwei Arten, Heimat zu empfinden: als erinnertes, einerseits idealisiertes, andererseits korrigiertes Heimatbild der Kindheit und Jugendzeit, und als reales, ständig wechselndes Bild der verschiedenen Heimatorte. Die Folge des wiederholt verlorenen fassbaren Zuhause ist das Trauma der Heimatlosigkeit, die Suche nach einer ´neuen Heimat` und die Erkenntnis der Bedeutung der ´Kunst des Verschwindens`.


1.)     Die erinnerte Heimat

„Ist der Heimatbegriff ein alter Hut? Ich meine nein, schon weil Heimat das Gegenteil davon ist, als das erwähnte, unmenschliche, menschenunwürdige, heute, Gegengift, Rückbild für das verlorene Menschengemäße, die Nähe, das Vertrauen, Sinnliche, ja Schöne, Erinnerbare eines kleinsten Erfahrungskreises.“[295]
Siebenbürgen, Land des Segens, Land der Fülle und der Kraft, sang einmal meine Großmutter, […] es war meine Kindheitsmelodie, weite Kornfelder, Bauern, Hitze, Gold und Weingärten.“[296] Siebenbürgen, „das allerletzte Versteck“[297] und die Landschaft, in die das Ich „festgewachsen [ist] im Baumschatten der Batulläpfel, Pflaumenbäume, hineingewachsen in die Erde, in die nahe Berührung mit der nackten Erde“[298], bilden die Kulisse für die glückliche Kindheit des Ich/Erzählers inmitten seiner liebevollen Familie, eine Zeit, die er als Erwachsener in intensiven Erinnerungsbilder aufbewahrt. „Erinnerst du dich, wie es war in S.? Zu Hause?“[299] fragt das Ich sich selbst und seine Familienangehörigen, um das Bild des damaligen „zu Hause“, das zum „Kein-Ort-Nirgends-Zuhause“[300] wurde, wieder zu erstellen.  „Gedächtnisparadiese“[301] sind für den Autor die Orte seiner Kindheit, allen voran die Geburtsstadt Schäßburg, Scheszbrich im Dialekt, die „hochtürmige kleine Stadt, mein ORT […]. Kerzengerade gewachsen, Türme, Bäume, Kinder, […] trautes Heim, traute Heime: allen uns heimgeleuchtet, jetzt.“[302], die Bergkirche, „das Gesicht meiner Erinnerung“[303], Plätze, Straßen, Vaters Schnittwarenladen, Großvaters Geschäft und vor allem das Geburtshaus. Es ist eine „Paradieseszeit“[304], an die sich das Ich erinnert, doch nur oberflächlich, da sich die, in der geschützten, harmonischen Atmosphäre des Elternhauses erlebten Glücksmomente als flüchtige und trügerische Augenblicke erweisen: mit dem Wissen um die Kriegs-Schuld eigener Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde beladen, sieht sich der Erwachsene gezwungen, das Scheinglück, die Lebenslüge zu entlarven, und dabei die eigenen idyllischen Kindheitserinnerung zu zerstören:
„Maikäfer (am Kastanienbaum, da blühn die Kerzen. Herzen) fliegt ins Land, Kindheit langsam ausgebrannt […].“[305]
„Andreas, Freiwilliger der ersten Tausendmannaktion, war bald Sturmführer. Hermann Unterarzt mit Rune. Sein Bruder Töff, der Unentschlossene […] wurde SS-Wehrgeologe nach Abschluß des Tiefbaustudiums in Berlin. […] Doch Urlaub war schön. Rochen nach starken Kriegszigaretten – und anderem Rauch. Mama und ihre Schwester sangen in der Küche, ES GEHT ALLES VORRÜBER ES GEHT ALLES VORBEI. […] Friederike an ihrem kleinen Tischchen mit Blick auf den Tannenwald, schreibt an Onkel A., den Töff, nach Berlin […]. Weihnachten nähert sich, steht vor der Tür; Tannen auch vor dem Fenster, oh, es duftet, Nadeln allüberall. Die Oma im Schlafzimmer hat das Nähkästchen auf dem Schoß und singt […] die ersten schweren Regentropfen fallen auf trockenes Staubmehl der Landstraße. Tropfen zerplatzen wie winzige Sterne. Es ist Ostern oder Pfingsten. Wir flüchten in ein Haus, rennen, Vater mit langen Schneiderschritten und Mutter lachend und juchzend hinter ihm. Oh, oh, oh, wie frisch, herrlich diese Luft. […] Nur Andreas ist ein Junger Siegfried in Uniform, er geht betont langsam und stoisch durch den Regen, als könne ihm diese lächerliche kleine Naturgewalt überhaupt nichts anhaben […] Es war Heimaturlaubszeit. Das gabs. Kamen von der FRONT nach Hause. Das gabs. Jetzt ist die Front überall. Und kein Zuhause. […] Georgs Brüder Ernst und Gustav kamen nicht mehr heim. Doch sonst wars warm, und alles schön: leuchteten die Straßenlampen, und gemütlich, und weils Menschen gab, und die Gasse, auch Auslagen erleuchtet…“[306]
„Es war ja Paradieseszeit, letzte Sekunden.“[307]
Besonders schmerzlich ist der innere Konflikt, wenn das Ich an den Schäßburger Nachbar und Auschwitz-Apotheker Dr. V. Capesius zurückdenkt: ein freundlicher „großer massiger Mann“ mit nach Formol riechenden Händen, der dem Jungen Pfefferminzplätzchen schenkte, „ein Bekannter aus der Heimat, gar ein Freund“[308] für die im Konzentrationslager eingetroffenen Nachbarsfamilien Mendel, Baruch oder Böhm, aber auch einer der Verantwortlichen für das in den Gaskammern eingesetzte Zyklon B:
„Das Paradies, wie wirklich ist es… glänzt Erinnerung wie Gold? In der Apotheke ZUR KRONE; […] Und im Paradies ist man eben eins mit der Umgebung, alles ist an meine Haut, an die Hände, an die Augen eng angeschlossen. Und auf dem Dachboden der Lager-Apotheke verwahrte der massige Mann das kostbare Zahngold: ein alter Koffer halb offen, quollen Gebisse heraus, gebrochene Unterkiefer, Fleischreste. Habs nicht gesehen, und weiß es.“[309]
Verbitterung und Scham („Und nun sollten wir mit dieser Schuld leben, die andere auf sich geladen hatten.“[310]), und das Gefühl des Heimatverlustes empfindet das erzählende Ich in seinen vergeblichen Bemühungen, in der Erinnerung heim zu finden:
„[…] da kamen die Fronturlauber: in Zivil auf dem Bild, Onkel A., Hermann, Andreas mit dem Kreuz und dem Klavier./Manche Hoheitszeichen wurden rausoperiert aus dem Bild nach dem Krieg, manche in den Letten der Kokel geborgen. Schlamm drüber. Alles in den Fluß gefallen. Kein Ort mehr von früher, nirgends: Fotos sind geblieben.“[311]
Der Erzähler klagt die Kriegsverbrechen der Rumäniendeutschen an, beginnend mit der Kriegsbegeisterung der Männer („Und alle Männer müssen, nein sie wollen marschieren“[312]), und bis zu deren späteren Rechtfertigung („Es konnte sich der Einzelne doch nicht auflehnen … […] Wir konnten unser Vaterland nur retten, wenn die Russen nicht herüberkommen …“ oder „[…] hatte er nicht gesagt, daß jener ORT, der schon jenseits unserer Vorstellung lag, doch eigentlich vielleicht berechtigt gewesen war? Denn dort sei HEIMAT verteidigt worden, wenn  auch leider mit bedauerlichen Mitteln?!“[313]). Als Gegenbeispiel erinnert das Ich den Vater, der es geschafft hatte, die persönliche Integrität gegen den herrschenden Zeitgeist zu wahren:
„Vater, der eben aus dem Geschäft gekommen ist, sagt, er mache aber nicht mit: Die ‘Volksgruppe’ hat diese Plakate verschickt mit dem ‘Juden unerwünscht’, wir sollten das da sichtbar an die Tür unseres Geschäftes anbringen, ich hab das zerrissen, sagt er. So was mach ich nicht.“[314]
„Mein Vater aber, […] der war kein Verräter, der blieb, war Sergeant, wollte nicht zur SS, weigerte sich, als alle Deutschen drei Jahre später verpflichtet wurden; er: Ich bleibe bei euch, will meinem Staat die Treue halten, so erklärte er seinem Hauptmann: und machte den Krieg mit sieben moldauischen Bauernburschen […].”[315]
Schuldgefühle lösen beim Erzähler besonders diejenigen Ereignisse aus, die sich jenseits des kindlichen Wahrnehmungshorizontes ereignet haben, die somit Teil der „Paradieseszeit“ sind, vom Erwachsenen aber mit dem Entsetzen  des Wissenden erinnert werden: dazu gehört im Besonderen das judenfeindliche Verhalten – die Verbrechen im Schäßburger Alltag: „Es war die Zeit meiner Kindheit; das wars. Schön. Vergessen. Ein Loch. Nichts gewußt. Und gewesen.“[316]
Schmerzlich ist die Identifikation mit dem erzählten Ich, dem kleinen Jungen, der zu Weihnachten von Onkel A. einen Miniaturstuka geschenkt bekommt, mit dem er begeistert „gegen Engel-Land. Engelland“[317] fliegt, der mit der Mutter ‘fein gemacht’ durch die Stadt geht, mit „Tirolerjanker, Lederhosen. Weißes Hemd. Und nicht mehr Sgett, Sgett sagen, sondern den Arm heben. Kein Maku sein“[318], oder der nur widerwillig und unbewusst der Gefahr entkommt, als Pimpf ins letzte Aufgebot aufgenommen zu werden: „Ich heulte und warf mich wütend auf den Boden: Ech wäll awer änd Feld. Ech mess änd Csärkes, schrie ich.“[319] Vergeblich versucht das Ich diesen Erinnerungen zu entkommen („[…] wills nicht wahr haben, das Kind in mir, als müsse ich es aus meinem Leben, um dieses nicht zu zerstören, für immer verjagen.“[320]), über die Sinneswahrnehmungen (das dichte Netz von Gerüchen, aber auch der „Erinnerungston Nähe“ oder der „Kindheitsklang“[321]) werden sie immer wieder präsent und die Verflechtungen von Erlebnis und Gefühl bleiben ein dominierendes Element im Leben des Erwachsenen:
„Nur das Lied, nur daran kann ich mich erinnern […], wie die blauen Dragoner, die reiten, das steht auch heute noch, ist Gegenwart, wenn ich es wieder singe, ein Kind werde, weder Kitsch fürchte noch den Kindernazi, es zieht, es hat mich wieder, ich wehre mich dagegen mit dem Kopf, aber mein Gefühl spricht darauf an, immer noch, wie auf alle diese Lieder, die Kontrolle aber ist kalt, das bin gar nicht ich, das ist ein Angelernter;“[322]
Der Erzähler konnte am eigenen Beispiel erkennen, inwiefern der Einzelne dem Zeiteinfluss ausgeliefert ist. Deshalb überrascht auch die Behauptung des Autors nicht: „[…] wäre ich einige Jahre älter gewesen, hätte ich mich möglicherweise jenem Zwang auch nicht entziehen können.“[323] Gegen die Nichtakzeptanz von Seiten der Familienmitglieder (Tante Friederike, die bei der Nachricht der Massenmorde in den KZ weint, doch überzeugt ist: „[…] das können deutsche Menschen nicht getan haben, das glaube ich nicht“[324], oder Mutter, die nach einem Albtraum über das Massaker im italienischen Dorf St. Anna behauptet: „Nein, russische Gewehrkolben schlugen zu, und Fäuste von oben… vor allem Greise, Frauen und Kinder wurden so von den Russen misshandelt“[325]), sowie gegen das allgemeine Verdrängen und Vergessen-Wollen der Siebenbürger Sachsen, lehnt sich der Erzähler auf und versucht, schreibend dagegen einzugreifen. Selbstverständlich findet er dabei keinen Zuspruch bei seinen Landsleuten, und auch nicht bei der eigenen Familie. Als „Nestbeschmutzer“ wird Roman betrachtet, und „kein Familienathlet wie Carmen oder Hannes, Romans Geschwister und Romans Mutter; […] sie machen sich keine Gedanken, sie rühren nicht an ihre Kindheit, sie haben einfach ihr Leben gelebt, sich ein Leben geschaffen, Beruf, Häuser, Kinder, Enkel.“[326] Während die anderen an eine neue Heimat glauben und die Vergangenheit abgelegt zu haben scheinen, muss der Erzähler den Verlust der Heimat seiner Kindheitserinnerungen erst verarbeiten:
„Aufwiedersehn. Wiederaufrichten. Wiederaufnahme eines Stückes, Reprise, Wiederaufnahme eines Themas in einem Musikstück. Das ist möglich. Im Leben nicht.“[327]

Zu der erinnerten Heimat des Erzählers gehört auch Bukarest, die Stadt seiner Jugendjahre, des Studiums und der ersten Arbeitserfahrungen als Redakteur - ein für den Erzähler „so wichtige[r] Gedächtnisort“[328]. Es sind die 50er und 60er Jahre, mit der ersten Ankunft auf dem Bukarester Hauptbahnhof und dem ersten Kontakt mit der Hauptstadt unter der glühenden ´Bărăgansonne`, an die sich das Ich erinnert; Straßen, Plätze, Hotels, Restaurants und Geschäfte („MUNTENIA“, „INTERCONTINENTAL“, „ATHENEE PALACE“, „DUNĂREA“, „CAPŞA“, „AUTODESERVIRE“, „Boulevard SECHSTER MÄRZ“, „Calea Victoriei“, „BUCHHANDLUNG DER ACADEMIE“, „Cişmigiu“[329]), aber auch die starken Gerüche und vor allem das südlich-balkanische  „dolce far niente […], den Zufall spielen […] lassen, […] was ganz dem hiesigen Lebensstil entsprach und auf merkwürdige Weise auch meist die Lösung bringt, günstige Gelegenheiten, Bekanntschaften, Einfälle, ein geradezu schöpferisches Geflecht […]”[330], das der Erzähler im Westen so sehr vermisst.
Die Bukarester Erinnerungen werden von den Gestalten der Freunde belebt, von denen  die meisten inzwischen ausgewandert sind, „[…] So mancher tot. Am Suff – oder vor Kummer gestorben. Drei während des Erdbebens erschlagen oder begraben und erstickt. Einen andern haben sie im Irrenhaus zu Tode gespritzt.“[331] Chris („Christian, der Lange, der Inzwischenwestberliner“[332]), Adam K. der jüdische Bibliothekar („Ein Freund, der jenen WIRBEL erlebt hatte, der an jenem ORT gewesen war, Anus mundi […]“[333]), Zeno, der inzwischen in New York lebt, und Maria, die spätere geschiedene Ehefrau des erzählten Ich, sind die Protagonisten, mit denen der Erzähler diese Erinnerungen teilt.
„Maria ist in mir alt geworden, ich erkenne sie heute kaum noch, ist fast abgestorben in mir, damals aber war sie für mich Maria, die Barmherzige, die Zornige, mit der ich stundenlang in Regen und Schnee auf den Straßen der Bukarester Vororte <>.“[334]
Nicht selten sind die Erinnerungsbilder dieser Jahre mit Angstgefühlen verbunden: Angst vor der Geheimpolizei, vor Festnahme und Verhör:
“Denn wenn es wirklich geschieht, SIE dich festgenommen haben, verändert sich sofort das Straßenbild, nicht nur dein Gesicht, jene Calea Victoriei etwa, die du kanntest und durch die das Auto mit den zugezogenen Vorhängen fährt, hat plötzlich einen anderen Anstrich, die Geräusche sind nicht mehr vernehmbar oder so gedehnt, […] alles so, als gehörtest du nicht mehr dazu.“[335]
Bitter und schmerzlich  erweisen sich hingegen die Erinnerungen an die materielle Not in Bukarest und im sozialistischen Rumänien allgemein:
„[…] Elend, Hunger, Finsternis, Kälte, die drei F: <>, hätten zur totalen Vernichtung der Person führen können. Der Zwang zur Korruption, zur Lüge, zur Zweigleisigkeit des Denkens und Sprechens, der tägliche notwendige Gestus des <>, der Vetternwirtschaft, der <>, um zu überleben, war die <>, in der man alle moralischen Werte über Bord werfen mußte. Die Bedürfnisse waren nahe an Null, ein Stück Brot, zwei Scheiben Salami waren das <>.“[336]
„Wann aber hatten wir in Bukarest etwa Geldsorgen? Was wußten wir von Banken? Nichts, denn wir hatten nichts. Gaben alles sofort aus. Essen, Trinken, Kleidung. Und kamen zu nichts, lebten wohlproletarisiert in holder Vorläufigkeit. Und schön naiv.“[337]
Für das im Exil lebende Ich sind die Rumänien-Erinnerungen die wichtigste Verbindung mit der Heimat. Trotzdem werden sie ihm auf den späteren Heimreisen den Kontakt zum Land und den Menschen eher erschweren. Da sich das Erinnerungsbild durch die lange Abwesenheit nicht an der sich ständig verändernden rumänischen Wirklichkeit korrigieren kann, ist der Schock der ersten Rückkehr (1974), viel mehr noch während der 1990 erfolgten Heimreise unvermeidlich.


2.)     Die reale Heimat

„Ich stehe mit dem Rücken zur eigenen Erinnerung und sehe die Schatten wie sie vorbeiziehen, duftlos fast, dabei roch doch früher hier alles so stark; und jetzt – als hätte sich eine Folie, eine mineralische Substanz des Todes dazwischengelegt […].“[338]
Es ist die erste Heimkehr des erzählten Ich nach fünf Jahren Abwesenheit. Die erste Begegnung mit der Hauptstadt. Die erste Enttäuschung und Desillusionierung. Die Stadt, in der Michael T. einmal zu Hause war, erscheint vertraut und gleichzeitig fremd; kühl, fast abweisend ist ihr Empfang, und auch die Menschen, denen er begegnet „wirkten eher apathisch, kaputt, ohne Kraft. […] Zäh kam es auf ihn zu: arm, glanzlos, verkommen, trüb, der Schnee schmutzig. […] die Leute bewegten sich ungewohnt langsam, ja lustlos hier auf der Calea Victoriei, der ehemaligen Pracht- und Einkaufsstraße [...], nur bei manchen Passanten diese fast rührende, fast mitleiderregende Bemühung, ihre westliche Kleidung, ja, das fiel sofort auf, schick zu tragen […].”[339] Kein Kontakt zur sonst so vertrauten Umwelt ist möglich, denn Erinnerung und Wirklichkeit decken sich nicht mehr, die Vergangenheit liegt schon viel zu weit zurück und der im Westen durchgemachte Persönlichkeitsumbau ist zu deutlich:
„War also nun geworden, was hier jeder werden will, ein Fremder, un străin. […] Hast also auch diese Stadt verloren … zum Teufel, kommst überhaupt nicht mehr nach Haus.“[340]
Als regelrechtes „stehendes Ich in laufender Zeit“ wird der Erzähler von der Dezemberrevolution ´89 überrascht. Oliver Sill kommentiert: „Die Medaillons der Erinnerung, in den Jahrzehnten des Exils immer wieder hervorgeholt und mit Liebe und Andacht geputzt, poliert und betrachtet, erweisen sich mit der Reise vom März 1990 als bloße Schimären, nahezu ohne jede reale Entsprechung.“[341] Schockartig ist für das erzählende Ich das Wiedererkennen der vertrauten Orte, und nur allmählich berühren sich die Zeitschichten, die bisher nebeneinander herliefen. Noch ist das Bild der alten Heimat befremdend („Als ich wieder draußen unter dem grauen Smoghimmel Bukarests stand […], die überfüllten Busse, auf dem Dach immer noch die stromsparenden häßlichen Aragasbomben sah, die Menschenmenge, schluckte ich, und fand mich ziemlich allein in meinem Bukarest wieder.“[342]), sogar beschämend („Und jetzt schämte ich mich, sah: Arme Ferienhütten, nachgemacht dem Wohlstand, wie Hundehütten.“[343]), doch mit jeder weiteren Reise in die ´neue Fremde`, Heimat, soll die „Zeitschicht des Gedächtnisses“ aufgebrochen und „<>“ aufgedeckt werden:
„Mein Land. Ich erkenne es wieder, es ist geblieben. Feuchte Augen. Rundberge wie Wangen. […] Es durchzuckte mich von Zeit zu Zeit ein Glücksgefühl. Ich fühlte mich geborgen, als schützte mich die Grenze. Dann wieder diese kleinen persönlichen Wahrnehmungserlebnisse, das Mittagessen mit rumänischen Spezialitäten in einem <> […]; die Häuser, nun die Straßendörfer, die rumänischen Streusiedlungen, die Schafherden, dieser ersehnte <> des westkarpatischen Hügellandes […].”[344]
Je größer die Bemühungen des Erzählers sind, sich dem Land zu nähern, desto deutlicher werden die neuen Kontraste und Konflikte, Folgen des „wilden Konsum-Kapitalismus auf levantinisch“:
„Dolce vita, Nachtleben, teure Autos, neue Villen und Paläste, gleich nebenan Bettler, Horden von Straßenkindern, zerlumpte Rentner mit einer durchschnittlichen Monatsrente von 30 Euro, umgeben von Meuten herrenloser Hunde, die in den neuen Konsum-Mülltonnen wühlen.“[345]
Demokratie und Marktwirtschaft werden von den breiten Massen mit wirtschaftlichem Niedergang gleichgesetzt, mit Inflation, Arbeitslosigkeit und untragbaren Lebenshaltungskosten; der Westen hingegen wird immer mehr als Maßstab und Modell betrachtet, mit seinen positiven, vor allem aber negativen Aspekten:
„Kein Land ist 1989 so spektakulär in den Postkommunismus eingetreten, aber auch kein anderes war so wenig vorbereitet für eine neue Zeit. Vom alten Rumänien ist den Rumänen wenig geblieben. Der Kommunismus hat einen guten Teil von dem, was vor ihm war, zerstört, dann ist auch er gefallen. Überlebt haben nur disparate Elemente: folkloristische Fragmente und Traditionsreste, Nostalgie, einige historische und kulturelle Zeugnisse. Rumänien ist heute ein zerrissenes Land, bestehend aus Segmenten, die sich nicht mehr zusammenfügen: Fragmente des traditionellen Lebens, Vorkriegsreminiszenzen, kommunistische Strukturen und Haltungen. Und postkommunistische Entwicklungen. Es ist ein System, das nur sehr schwerfällig funktioniert, und das – schon viel zu lange – auf einen Neubeginn wartet.“[346]
Auch für Schäßburg, die „Perle des Kokeltals[347], die „Vater-Stadt“[348] gibt es ein vor und nach ´89: Beim ersten Besuch in der Geburtsstadt kommt sich Michael T. als „Phantom“ vor, dessen Wahrnehmungen von einem fast ununterbrochenen Erinnerungsstrom überdeckt werden („Erinnerungen verfolgten mich, so als wären sie das einzig Reale hier. Waren es ja auch.“[349]). Vor allem durch Gerüche und Geräusche kann noch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden, die Gefühle belieben jedoch zwiespältig:
„Es kam mir alles sehr weit entfernt vor, obwohl es heißt, ich sei hier zu Hause … gewesen … ja, gewesen … eine Art Krankheit, ein Gewesener zu sein, […] ich war ein Fremder, der nicht mehr hierher gehörte, zu BESUCH, GAST, wie überhaupt Gast, das ließ sich gut erfühlen und erkennen, jaja, das, so nah alles, so winzig und abgelegt, irgendwie untergegangen war wie meine Gefühle auch.“[350]
Einzig in der Bergkirche fühlt sich das Ich „für einen Augenblick aufgehoben. Himmlisch gefallene Ruhe. Ehemaliges Zuhause. So bist du also kurz angekommen T.“[351]
Auf den nach 1990 wiederholten Heimatbesuchen gelingt es dem Ich, die Wand der Erinnerungen allmählich zu durchbrechen und Wirklichkeit zu erleben: die zum Teil veränderte Landschaft, das Stadtbild, „das Erinnerungshaus“ („Er ist nicht mehr tabu, dieser Ort. Früher: das Haus der Securitate“[352]) mit fast intakt gebliebener Einrichtung  – alles wird erkannt und neu erlebt. Und trotzdem bleibt das Gefühl der Fremdheit und Heimatlosigkeit erhalten:
„Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine Unvorstellbares zu träumen, aber ich bin nicht da. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluß tauchen; das zweite Mal ists etwas Anderes. […] Keine Heimatgefühle können aufkommen. Es ist anders, als ich mich erinnern kann.“[353]
Die Stadt, die dem Heimkehrer auf den ersten Reisen noch klein und verkommen, doch mit Vergangenheit geladen vorkommt, wird im Laufe der Jahre „weltläufiger“, sie „glänzt in den neuen Kleidern. Doch für wen, für uns, ´die Verräter`, die es sich leisten können? Die hier leben, können mit ihrer ganzen Rente kaum zwei Mittagessen bezahlen.“[354] Die radikalen Veränderungen und die Verwestlichung Schäßburgs erschweren die Orientierung in der Heimatstadt und verstärken das Gefühl der Verfremdung. Sogar die Bergkirche empfindet der Erzähler nicht mehr als ´angehörig`, denn renoviert und weiß getüncht „erstrahlt [sie] in ´neuem` Glanz; ich aber dachte, als ich sie so sah, mein Gott, sie ist zu Tode renoviert […]. Welch ein Gleichnis, dachte ich, für alles, was jetzt hier geschieht!“[355]
Eine neue Heimat versucht das erzählende Ich nach der eigenen Emigration und der Auswanderung der Familienangehörigen in Deutschland zu finden. Nicht in einer unpersönlichen verfremdenden Großstadt wie Köln oder Stuttgart sondern im „Kreis-Reichs-Städtchen“[356] Aalen steht das „Ersatzelternhaus“[357], „sein letztes Versteck, das letzte Eckchen, das noch einem Zuhause ähnlich sah“[358]. Wie bei allen ausgewanderten Sachsen, die „ihre Vergangenheit komplett nach Deutschland geholt [haben]”[359], findet das Ich nun im neuen Haus der Eltern „die verstreuten Reste der alten Atmosphäre, aber sie ergeben keine Stimmung mehr im Raum, sie stehn verloren da, als wären sie mitgebracht aus einer andern Welt. […] verschwommene Heimat-Bilder, Gefühle, Gewohnheiten: Kissen mit rotblauem türkischem Muster, von Oma bestickt, ein Rauch-sevice, das früher auf dem runden Tisch im Herrenzimmer stand, mehrere Morres-Aquarelle, vertraute Landschaften, die alte Burg von S., so an die Wand geworfen wie von einer laterna magica aus der Kindheit, mystische, dunkle Augenblicke, die aber dem Licht nicht standhalten können. Die intakte Vorstellung, die innere Kraft allein könnte diese Dinge strahlen lassen – aber sie erscheinen ärmlich, wie abgebraucht.“[360]
Besonders die Mutter ist darum bemüht, das aus dem ´alten Zuhause` bekannte Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Heimischen wach zu halten, und befürchtet, nach Vaters Tod den erwachsenen Kindern „kein so warmes Zuhause mehr bieten [zu können]”[361]. Immer wieder wird sie vom Erzähler aufgesucht, in der Hoffnung, dass er „in ihrer Nähe, die Nähe auch spüren würde, als gäbe es sie hier noch.”[362] Sie ist die „Gedächtnisfee“[363] und „Gedächtnisverlängerung“[364] des Erzählers, die über ein erstaunliches „reale[s] Erinnerungsgewebe“[365] verfügt und die „glatte Oberfläche meiner Außenwelt-Halluzination […], die auch vom Gedanken beschützte Sicherheit“[366] aufzubrechen vermag. Als Auslöser von Eindrücken, Erinnerungen, Träumen, stellt sie die für das erzählende Ich notwendige direkte Verbindung zur Vergangenheit dar, denn „solange sie da ist, ist alles noch in ihr da, fast alles.“[367]
Zu der rumänisch-transsylvanischen und der deutschen Heimat zählt der Erzähler ein drittes ´Zuhause` hinzu: das italienische Dorf Agliano, „ein ferner Punkt im toskanischen Apennin“[368]. Die Berglandschaft, die unberührte Natur, das fest gefügte und eingefahrene Landleben ziehen anfangs das Ich und seine Lebensgefährtin an:
„Als wir hier einzogen, hatte auch ich einen erstaunten Blick dafür, war noch naiv und empfänglich; erst drei Jahre West hatte ich hinter mir gehabt, als wir, von Köln kommend, hier unseren Sinnen gemäß leben wollten, die dort fast abhanden gekommen waren.“[369]
Recht bald erkennt das Ich jedoch, inwieweit es schon mit „Fühllosigkeit“[370] infiziert ist: es fühlt sich eingesperrt in seinem „alte[n] Haus mit den zweiundzwanzig Fenstern und den vier Türen“[371], in seinem „Dornröschenschloß hier in C.“[372], ausgesetzt und isoliert; sogar die umgebende Schönheit ist schmerzhaft:
„Vor mir Glas, als wärs geronnenes Wasser. Ich spüre die Schönheit kaum, bin verpackt in einem Gipsverband, die Haut taub, die Geräusche kommen an wie durch Watte, die Augen sehn, aber nehmen nicht wahr.“[373]
Selbstverständlich fällt unter diesen Umständen auch das Partnerleben mit Jann/Hannah nicht leicht, erfordert ist „ein Training des Alleinseinkönnens zu zweit“[374], um den „partnerschaftlichen Einsamkeitsstreß in unserer Doppelhalluzination“[375], aber auch Existenzängste und Geldschwierigkeiten bewältigen zu können.
Das Ich ist großen Gefühlsschwankungen ausgesetzt, von „bodenlosen, dem Wahnsinn oft nahen“[376] Zuständen bis zu erlösenden Glücksmomenten, in denen es „das Inkognito als Kraftspender, das Entzogensein als Wiederbelebung“ empfinden und sich in der erwählten Umgebung heimisch fühlen kann:
„>>Zu Hause<< war ich in der nahen und vertrauten >>Fremde<<, im Grün und Weiß auf den Feldern, der blauen Luftkugel des Südens, wenn die Bäume blühen, Knospen platzen, überall dicker Samengeruch in der Luft steht, eine Weiße, ein weißer Fleck, das Unbetretene, das nicht besetzt werden darf; alles nur ein Zeichen. Auf den Feldern Feuer und Rauchgeruch.“[377]
Weder falsch noch zufällig betrachtet der Autor die Wahl Italiens als neue Heimat:
„Der ´schöne Name` Agliano in der Toskana, wo ich seit 25 Jahren wohne, aber nicht zu Hause bin, ist wirklich ein ´sinnvoller Zufall`, wie Jung das nannte, und Emil Cioran, der solches natürlich als alter Emigrant sofort erkannte, und es in einem seiner Briefe an mich auch aussprach: Agliano kommt von lat. ´alieno`, der Fremde, Fremde!“[378]
Der erste dieser „Lebenszufälle“, die „zu einem uns >>zugeteilten<< Schicksal gehören, das uns alle bestimmt“[379], ist das seltsame Déjà-vu-Erlebnis des Erzählers im Winter 1968 in Lucca, und die darauf folgende besondere Beziehung zu Nicolao Granucci, an den ihn unter anderem auch eine ähnliche sensorielle Heimatverbundenheit bindet:
„Neunundfünfzig war Granucci im letzten Sommer geworden. Und es war ihm gleichgültig, was sie mit ihm taten, nur diese Luft, diese Erde, den Serchio, die Straße seiner Kindheit, die sienafarbenen Hauswände, den Geruch nach Rauch am Abend wollte er noch einmal empfinden können […].”[380]
Emil Cioran hatte die Vorliebe des Autors für Italien erkannt und zu erklären versucht („Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie sich mit den Italienern gut verstehen, die Rumänen sind: aber Rumänen eben, die eine Vergangenheit haben.“[381]). Doch nur teilweise sollte er Recht behalten, denn trotz seines langjährigen Aufenthalts und der zugegebenen Liebe für das Land und die Menschen, für „dies Ausgesparte, Entzogene, das mein ewiges Flucht-Ich gewählt hat“, bekennt der Autor, mehr zu jenen Ländern zu gehören, „wo ich absent bin: Deutschland und Rumänien. […] Das italienische Temperament sagt mir zu, allerdings fehlt mir hier jener schmerzliche historische Bruch, den es in meinen beiden anderen Ländern gibt, die beiden Diktaturen, die Narben, die Krieg und Nachkrieg hinterlassen haben, also die anthropologischen Wunden, die etwa die ostdeutsche und auch die rumänische Literatur so lebendig und interessant machen.“[382] Agliano, Italien bleibt weiterhin nur ein „Ausweichquartier“[383] auf der andauernden Heimatsuche des Ich.


3.)     Heimatlosigkeit

SO NAH, SO FREMD – im Vorwort der Prosasammlung erklärt der Autor die Wahl eines so eigenartigen Titels: und zwar meine er damit „die Heimat, die fremd geworden ist; kehren wir den Satz um, ist es die Fremde, die alltäglich so nah ist, doch Heimat nicht werden kann: SO FREMD, SO NAH.“[384]

Wie für Paul Celan, mit dessen Werk sich Dieter Schlesak mit großer Aufmerksamkeit und Hingabe auseinandergesetzt hat, ist auch für den Autor die Heimat ein ´Nirgendwo`, das nur im Gedächtnis  aufbewahrt und ausschließlich durch die Sprache erreicht werden kann:



„Mir ist die Tatsache bewußt geworden und fürs Leben bewußt geblieben, daß es nur eine unverlierbare Heimat geben kann: die Sprache und das mit ihr eng verflochtene Schatzhaus der Erinnerung […]. Auch mein Schreiben, das mir Leben nimmt und Leben schenkt, ist an dieses Schatzhaus gebunden, und wie vorläufig und ungesichert kommt mir, in dieser so schnell laufenden Zeit, mein wirkliches Haus vor […].”[385]

Auf die lebenswichtige Rolle der Sprache und der Schrift soll im zweiten Teil der Arbeit näher eingegangen werden, an dieser Stelle  nur noch ein besonderes Beispiel der Heimatsuche in und durch die Sprache: im Internet, das eigentlich „die ganze Welt, nichts als Fiktion durch Sprache über ein Tastatur“ ist, findet der Erzähler in „Minieden“ und „Edencity“ ein „Zuhause“:
„Endlich hatte ich nun eine neue ´Heimat`, das tat mir altem Emigranten gut, so spät nun kein Exil mehr, Inländer überall, frei auf der ganzen Welt… Im Eden zuhaus… “[386]
Das Trauma des Heimatverlustes versucht der Autor abzuschwächen („Eine Kollegin sagte, das sei wohl ein nautischer Begriff ´Hai, Maat`. Ein Hai, beißt und tut sinnlos weh.“[387]) und als Zugewinn zu betrachten („Adam Mickiewicz sagte schon im vorigen Jahrhundert: meine Heimat, du bist wie die Gesundheit. Nur wer dich verloren hat, weiß, was du bedeutest.“[388]), vor allem da heute der traditionelle Heimatbegriff als überholt gilt:
„Heimat, wie wir sie aus den Liedern kennen, ist ein altmodischer, vorindustriellantiquierter Begriff. Vom Lauf der Zivilisationsgeschichte immer mehr zerstörte Reservate, zerstört, wie alles, was mit Gefühlen, Bindungen, Erinnerungen zu tun hat. Geblieben ist die Heimatlosigkeit, täglich die vielen Millionen Emigranten, Flüchtlinge, Arbeitsemigranten, die riesige Völkerwanderung, Tragödien der Nichtidentität heute, Haus- und Heimatlosen.“[389]
Auf die Frage, wie die Heimat, dieser „immaginäre Ort“ heute zu erreichen sei, antwortet der Autor: „Durch eine große, aber zwingende Unmöglichkeit: Alles verlieren zu wollen, was uns eingeredet wird, daß es so wichtig sei.“ Diese neue Lebenseinstellung bedeutet einerseits „innere und äußere Ökologie“, (d.h. „Mut, dort nicht mitzumachen, wo die Wurzel des heutigen Weltruins ist, unsere Zeiteinteilung, unser Verbrauch, unser chronokratischer Lebensstil“) sowie „Widerstand gegen die ontologische Zensur“[390], andererseits ein neues Verhältnis zum eigenen Körper, zum Tod, Sterben und Überleben.
Dass es gilt, Abschied zu nehmen von „der gewohnten, täuschenden sinnlichen Welt […], die uns auch die Sentimentalität <> vortäuscht“[391], um sich auf ein ´anderes Zuhause` vorzubereiten, erkennt allmählich auch das erzählende Ich. Salmen, der letzte Jude in Schäßburg, spricht es deutlich aus: „Immer hast du versucht, an dies andere ´Haus` zu glauben, sogar in der Zeit, als du den Überzeugten spieltest. Versuchs auch jetzt, das ist das Haus, nach dem du dich sehnst, das du suchst!“[392]
„Vaterlandstage“ ist die Metapher für diese ersehnte Heimat, die nur durch die „Kunst der Verschwindens“ erreicht werden kann.


Die Sprache

„Nach so vielen Brüchen und Utopieverlusten in dieser Unzeit bin ich bei der letzten Instanz angekommen, nur noch die Grenzerfahrungen der begrifflich nicht fassbaren ´Randphänomene`, zu der die Literatur mit ihren Worthöfen und Zwischenräumen, ihrer Berührungsfähigkeit gehört, sind mir geblieben.“ [393]

diese Die Erfahrung im Bereich der Sprache und der Literatur beginnt für den Autor Dieter Schlesak mit dem „Randphänomen Siebenbürger-Deutsch“[394].

Neben dem schweren deutschen Erbe und dem brutalen Erbe des stalinistischen Staates ist die soziale und sprachliche Isolation der rumäniendeutschen Minderheit eine weitere Folge der historischen Brüche. Vor allem für die jüngeren deutschsprachigen Literaten, die durch ihre politische Einstellung einen Traditionsbruch begingen, stellt diese Krisensituation einerseits eine Gefahr dar; andererseits bietet sie ihnen die Möglichkeit einer kulturellen Erneuerung:
“Fürs Leben Unglück, für die Literatur eine Chance: Die östlichen- und Kolonistenmöglichkeiten, der Trieb, den Bruch in sich selbst zu artikulieren, in Trauerarbeit mit der verlorenen Zeit und mit den Erinnerungen fertigzuwerden; Sprach- und Bewußtseinsreaktionen auf eine besondere Lage.“[395]
Und genau diese ´besondere Lage` zwingt die Schriftsteller zu extremen Entscheidungen: entweder Zuflucht in der inneren Emigration suchen oder sich „eine totalitäre Seele“[396] anlegen.
Besonders im Verhältnis zum Minderheitendeutsch, oder „Randdeutsch“, wie Schlesak die ´Inselsprache` bezeichnet, wird der Minderwertigkeitskomplex der Schriftsteller deutlich,  „weil man bei dieser Sprache, die man mitbekommt, immer von einem Angstgefühl begleitet ist, daß man sie nicht richtig beherrscht, daß man eben ein Randdeutscher ist und kein Binnendeutscher“ behauptet der Autor. Daher auch der „sehr bewußte Umgang mit der deutschen Sprache, der auch zu einem sehr bewußten Umgang mit den Texten, mit der eigenen Literatur führt.“[397] Diese neue, engagierte Sprachsensibilität beweist Schlesak in der Prosa schon im ersten Essay Visa. Ost West Lektionen, und auf ganz besonderer Weise im Roman Vaterlandstage, in dem er eine „Verwandlung der deutschen Sprache“ durchführt und hervorhebt, „wieweit aus einem besonderen deutschen Bewußtsein, aus dem Randphänomen hier ein Sprachphänomen geworden ist.“[398]
Zu einem bewussten Umgang nicht nur mit der deutschen, sondern mit der Sprache schlechthin, hatte schon das rumänische Überwachungssystem der Securitate geführt, „die REALITÄT der Angst, der Geheimpolizei, der Zensur“, ein „Repressionsapparat“, der eine lang anhaltende, für manchen Autor fatale ´Bewusstseinsamputation` und innere Zensur bewirkt hatte. Hinzu kommt die „Verdrängungskunst“, die Darstellung der „geschönten >Wirklichkeit< einer terroristischen >heilen Welt<“[399] als Haupthandwerk der Schriftsteller, die dadurch nicht nur ihr eigenes Leben „<>, sondern auch mitgeholfen [hatten], daß das Leben einer ganzen Nation aufgeschoben und vertagt worden war. Wir hatten das <> kultiviert, es mit Worten zugedeckt.“[400]
Die Sprache und die Ideologie benützen Autoren aber auch in eigenem Interesse, „zum Teil als Realitätsersatz, zum Teil als Schutzmittel gegen das Leben, zum Teil als Möglichkeit, den Tod aufzuschieben.“[401] Als „<>“ bezeichnet Schlesak im nachhinein die Realitätsflucht („Ich nannte es <>, wenn ich <> war in meiner Gedankenburg, Seelenburg.“[402]), wobei er die Schuld der eigenen Schriftstellergeneration „in den Versäumnissen, im Abblocken, dem Nicht-Wahrnehmen-Wollen und Nicht-Wahrnehmen-Können dessen, was sie geschehen ließ“[403] erkennt. Sozialistischer Realismus bedeutete, mit Hilfe des Wortes „künstliche Welten ohne Mühe herzustellen: für Schriftsteller und Diktatoren gleichermaßen geeignet“[404], denn nur durch Sprache kann die Abstraktion bis ins Absurde übertrieben, das Individuelle vernichtet und die Wirklichkeit verformt und manipuliert werden. Und trotzdem betrachtet der Autor das Negative der Diktatur auch als Gewinn, denn die „Diktatur hat die Verletzlichkeit und die Sprach- und Hellhörigkeit in ihren Gefahrenzonen, die ja sprachliche waren, noch verschärft, sie hat die Autoren überwacht, zensiert, verfolgt, offen waren die Abgründe des Absurden, die Sinne der Autoren für das Absurde geschärft.“[405]
Zwischen Autor und Leser entwickelte sich eine Art Komplizität: es wurden Formen gesucht und geschaffen, um die Wahrheit über die rumänische Wirklichkeit durch die strenge Zensur durchzuschmuggeln und gleichzeitig gegen das Regime anzugehen: eine Art „Hinweis-Sprache […] äsopischer Art“[406] und das „Versteckspiel mit der Metapher[407]:
„So entstand etwas sehr >>Modernes<< daraus, nämlich eine Art erlebte >>Hirnsyntax<< der Sprache. Inhaltlich ließe sich dies grob so ausdrücken: wir wurden von der Polizei zur Metapher, also zur Kunst der besonderen Rede gezwungen. In Diktaturen wird diese Tatsache, die sonst keiner merkt, virulent, hautnah, alltäglich und in der Angst überdeutlich. Unser Sprachsinn damals war sehr geschärft, nicht nur weil wir Deutschsprechende in einer fremden Umgebung waren, sondern weil Sprache generell gefährlich war. Und subversives forderte im Spiegel unsagbarer ganzer >>Gestalt<< die Lüge heraus, sich zu zeigen. Das war kein nur abgehobenes privates Spiel wie im Westen: man probierte neue Möglichkeiten der Selbstbehauptung aus.“[408]
Diesem totalitären Überwachungsstaat der sechziger Jahre verdankt der Autor die für seinen weiteren Lebensweg so folgenreiche Entdeckung der Sprache, des literarischen Sprechens und die Erkenntnis des Sprachpotentials:
„Ich besaß nämlich einen Schädel mit einem gefährlichen Sprengstoff staatsfeindlicher Waffenarsenale: die Sprache; Syntax, Sprengsätze. Obwohl ich ein ´Überzeugter` war, trauten sie mir nicht; Interlinearversionen, Metaphern, Transportmittel in kaum wahrnehmbaren Nuancen: Hauptwörter abgestuft in Schattierungen von Eigenschaftswörtern, Tunnel der Adverbien, und die langen Züge und Flugzeuge, ja, der Verben; dies fürchteten sie; in ganzen Armeen rannte die Phantasie an gegen die Elephanten und Monster der farblosen, der abgetrennten Jubelplätze schreiender Fahnenschwenker und mißbrauchter Transparente, gegen Reden und Leitartikel, Verfügungen und Paragraphen, wir, dort noch eine Gegenmacht, daß jeder Westwortmacher, Privatliterat, vor Neid erblassen könnte.“[409]
Und voll Ironie lässt Schlesak den Neid des Westens in der Gestalt des Herrn G., des westdeutschen Verlegers auf Besuch in Bukarest, durchscheinen: Neid auf „die merkwürdige Freiheit in eurer Gefangenschaft! […] Auch beruflich scheint ihr ja hier geachtete Leute zu sein. Und verdienst besser als die Ärzte, Schreibender! Bei uns ist dieser Beruf echt ein Hungertuch, auf dem kannst du dich dann verewigen. Und einen Scheiß kümmert man sich um dich; hier aber genießt du allerhöchste Aufmerksamkeit.“[410]
Krieg, Nachkrieg und Kalter Krieg haben nicht nur Sprachverletzungen und -verstümmelungen herbeigeführt, sondern auch eine Sprachverwandlung bewirkt und ein neues Sprachbewusstsein geweckt. „Die alte Sprache, die alten Bilder, die alten Lieder, die alten Formeln, sie tragen nicht mehr“[411], bemerkt der Historiker Prof. Andreas Möckel, der Dieter Schlesaks Bemühungen um sprachliche Vergangenheitsbewältigung entsprechend zu schätzen weiß:
„Sie habe eine große Treffsicherheit, wenn Sie die dunklen und heiklen Seiten der vergangenen Jahrzehnte beschreiben. Die Katastrophe war ein Desaster der Sprache, daher muß das Sprechen vom Desaster einen neuen Anfang setzen. Indem Sie eine neue Sprache sprechen, wie sie unter den Schriftstellern Siebenbürgens und Rumäniens so nicht gesprochen worden ist […]. Ich finde es sehr tröstlich, daß Sie an die Sprache, an ihre Kraft, an ihre Heilkraft glauben.“[412]
Und genau auf diese Kraft der Sprache deutet der Autor im folgenden Gedicht, einem „Reinigungsversuch der deutschen Sprache durch Küsse und Liebesgeflüster“:
„´Haus des Seins?`
Jedes Komma jedes Und
Hat der Mörder gespalten
gespalten die Zunge
und im Befehl vernichtet
vor den Opfern was war!
Blut klebt an ihrem Hauch
An jedem Laut.

Dort auch aus der Stadt woher
Ich kam aus allen Städten
Mit unseren Lauten
Ist für immer eine Blutspur
Zu uns gelegt!

Lass uns die Zeiten vermischen
Wie unsere Glut die in uns zittert
Lass uns die Worte oben mischen
Mit denen die Mörder das Töten befahlen
Lass uns sie waschen im Liebesgeflüster
Lass sie uns jung in die Lippen tauschen
In Küssen so zur Welt
Gebracht/ sie und uns
Liebste zu einer neuen Geschichte.“[413]
Als eine „explosive Mischung aus Sprachkomplexen des Minderheitendeutschs und des geschärften Sprachsinns in der Diktatur“ beschreibt Schlesak die eigene Literatur-Sprache, zu dessen Entwicklung auch die schmerzlichen Erfahrungen des „Weltwechsels und Heimatverlustes“ im Westen wesentlich beigetragen haben, „dann die Ablehnung einer abgemagerten Mediensprache und Warensprache, viele sich überkreuzende Bewußtseinszustände, die zu sich überkreuzenden Sprachzuständen führten.“[414] Während die Sprache und die „Wunderdroge Literatur“ im Heimatland auch „ein Solidaritätsmittel, also heimlich sogar ein sozialer Akt“[415] war, wird sie im Westen zur ´Privatsache` und belanglos: „[…] nichts mehr hat Bedeutung, auch das Wort nicht, auch die Aktion nicht, alles läuft sich tot; alles verläuft sich ins Unverbindliche, auch Politik, auch aggressivste Kunst, aufgefangen vom Konsum, vom Markt, von der >>Gummiwand<<-Freiheit, die gar nichts bedeutet.“[416]
Um nicht selbst ein Opfer der westlichen Verbrauchersprache zu werden, die nur der Ausdruck einer übertriebenen Konsumorientierung ist („Markennamen […], wichtigstes Kriterium der Wahrheit: Kosten, VerKosten, Geschmack ist Sein, Welt zum Stil hin-gerichtet.“[417]), flüchtet der Schriftsteller in die Isolation des toskanischen Berges, wo ihm jedoch eine neue Gefahr auflauert:
 „So aber verlierst du deine Sprache, sagte er [Herr G.], wirst einfach ein sprachloser Esel. Dein Berg ist leere Transzendenz. Hebst ab und himmelst stotternd.“[418]
Die mündliche Sprache scheint der Autor jedoch nicht zu vermissen, im Gegenteil, er wendet sich gegen die Mündlichkeit, die an die „Macht- und Massensprache“ grenzt, welche „die Fassaden und Realitätsillusion herstellen, Wirklichkeit halluzinieren […], die Vergiftungen und Anpassungsmechanismen in die Psyche transportieren“[419]: „[…] es ist die Sprache, vor der ich Angst habe, weil die Sonde in mein Bewußtsein hineinreicht.“[420] Dieser Ausdrucksform setzt er die Sprache der Literatur, die Schrift entgegen, „oder meine eigene Sprache, wo die Worthöfe Berührungsphänomene erzeugen in der Metapher, im Symbol, in der Struktur eines Textes, wo dann dieser Flash, dieses Glücksgefühl entsteht bei den Berührungen von Sinn, von Zusammenhängen, die immer dichter werden wie die Bildpunkte bei einem Fernsehbild.“[421] Es ist die vom Schriftsteller bevorzugte Sprache, denn „sie hat mit Konsum, Kapital, Partei-Wort-Bedürfnissen, Markt und Bestsellerei nichts zu tun“[422]. Diese „Feindschaft zwischen den beiden Sprachen“[423], wie Schlesak sie bezeichnet, soll jedoch mit der Entdeckung der unendlichen sprachlichen Möglichkeiten des Internets beendet werden. 1994 heißt es noch: „Mündlichkeit ist Verblödung! Nur die Schrift transportiert Wahrheit, beim Reden mischt sich jeder ein in die Intelligenz der eigenen Sprache, stört und zerstört sie.“[424] Zehn Jahre später chattet („Chat heißt Geplauder, Geschwätz.“) der im Internet vernetzte Schriftsteller/Autor mit „Abwesenden aus aller Welt“ und verteidigt diese neue geschriebene Mündlichkeit, „weil im Chat viel mehr geschieht als harmloser small talk. Das Wort bekommt wie in der Poesie Sprengkraft.“[425] Die Technik ermöglicht somit eine neue künstlerische Legitimität der mündlichen Sprache: der Chat ist nicht nur eine „lichtschnelle Schreibbrücke“[426], sondern auch Rohstoffquelle für den Schriftsteller, der auf diese Weise die Gesprächspartner am Entstehen (s)eines literarischen Werkes aktiv teilnehmen lässt. Internetslang und Fachausdrücke, Sprachmaterial aus dem Alltag sowie für die Literatur als noch tabu empfundene „Liebesgeflüster“ (34) verschmelzen so zu Romans Netz, dem neuen Roman Dieter Schlesaks und bestätigen die Bezeichnung „bewegliche Sprache“[427], die von der siebenbürgischen Autorin Dora Bettina Schuller schon für den Roman Vaterlandstage verwendet wurde.
Für Dieter Schlesak besteht die „Spracharbeit“ des Autors „im Aufbrechen oder der Parodie von Klischees, oft auch des ´bewährten und erprobten` Ausdrucks, des nichtssagenden Standardausdruckes, schließlich der alles zudeckenden Wort-Lüge im Berufs- und Familienalltag oder in der Politik, im Mediengeschäft und anderen Geschäften“, wobei er den eigenen Ausdruck „erst beim Ablegen von oder sehr oft auch der Reibung an ´bewährten` Sprachfertigteilen, im überraschenden, unerwarteten Kontext“[428] findet. „Lyrik als Sprache der Epik oder umgekehrt“ so definiert Bettina Schuller die literarische Sprache des Schriftstellers, „sie trägt sich kurzgeschürzt, gestylet, traditionell, scharfumrissen, diffus schweifend, bald brutal vordergründig, bald empfindlich hintergründig“, eine Sprache, mit deren Hilfe er sich „seine Identität, seine Freiheit, seine Schuld“[429] erschreibt.




Die Schrift

„Vielleicht gehöre ich als ´freier` Autor zu einer Art experimentellen Grenzgängerei, bei der nur die Ersatz-Institution SPRACHE und meine Partnerin verhindert haben, daß es zu einem ´experimentellen Irresein` gekommen ist. Etwa 6000 Seiten Text entstanden in diesem tagebuchartigen Schreibprozeß zum Roman ´Vaterlandstage`, unaufhörliches Schreiben, schreibend leben in der fremden Umgebung, beim Essen, in der Straßenbahn, im Auto, im Flugzeug, im Kaufhaus, in der Innenstadt, vielleicht aus einer Art Angst, zwischen die Sekunden zu fallen, da es anfangs so schien, als könnten die Sinne nirgends einen Halt finden, und müßten ins Nichts fallen, wenn die Sprache sie nicht in einem selbstgeschaffenen Außenbild, das aus dem eben Gesehenen ein Wortfoto als Boden herstellte, auffing.“[430]
Wie schon öfter in der vorliegenden Arbeit hervorgehoben wurde, sind die Sprache und die Schrift für den Autor Dieter Schlesak „Identitätsspender“[431] und ein „Kompensationsphänomen, […] ein Schreiben aus dem Mangel – bis hin in den Liebesverlust, in den Wahrnehmungsverlust, in den Bodenverlust – und aus der Unmöglichkeit einer Traditionsbindung auf andere Weise.“[432] In der Schrift erst gelingt es ihm, sich eine ´Ersatzheimat` zu errichten und die eigenen „Lebensstückchen […] zu einem Ganzen, zu einem selbstgeschaffenen Kosmos“[433] zusammen zu setzen. Und dass das Schreiben nicht nur ein bewährtes Mittel gegen den Wahnsinn sei, weiß der Schriftsteller aus eigener Erfahrung: „30 Jahre schon mache ich das […], diese Lebensjahre, so gelebt, meine angehäuften Investitionen […], daß ich diese Dinge um mich versammle, ja, einen Beruf daraus gemacht habe.“[434]
„Das Schreiben ist auch eine Droge, sagt der Sieger! Jene Droge, mein Lieber, hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Politik der Diktatoren, ihre totalitäre Enklave aufzubauen, indem sie die banale Realität, >>die einzige<<, die wir selbst bauen, Spiegel unserer Unfähigkeit, überspringen, ausklammern, vernichten und Hoffnung vorspielen, wo es keine gibt. Und jeder, der sich mal als Traumtänzer sein Phantasie-Anwesen, ein dauererfundenes Fest via Kunst errichtet, sich damit eingelassen hat, ist nach Jahren unheilbar süchtig; und wenn er dieses Spielzeug, den Glauben daran verliert, gar sich traut, erwachsen zu werden, ist er ziemlich verloren…“[435]
Diktatur und Geheimpolizei haben dem Autor nicht nur die Gefahr der Schrift nahegelegt („Daß Texte lebensbedrohend sein können, daß sie kein schönes Spiel sind, haben wir jedenfalls unzählige Male erfahren müssen – ein Wort zu viel, es konnte die Freiheit kosten. Diese Erfahrung einer besonderen ´Geheimdienstästhetik` ist unvergeßlich, es prägt das Sprachverhalten fürs ganze Leben.“[436]), sondern gerade dadurch auch den Weg zur Moderne geebnet:
„Es ist kein Sarkasmus, wenn ich sage, dort mehr über die Hölle der Zeit erfahren zu haben als hier. Grundsätzliches über die Auflösung von Logik und Sprache, die Vernichtung des Vorurteils, das uns einredet, es gäbe so etwas wie Raum und Zeit, gar eine Logik.
Also Dank dafür, die Moderne am eignen Leib erfahren zu haben, nicht nur als Schreibexperiment. Sondern sozusagen als geschriebene Figur von der Staatspolizei in Verhörprotokollen, Spitzelberichten, >>freundschaftlichen Gesprächen<< mit meinem jahrelangen >>Schatten<<, den ich einmal in der Woche treffen mußte.“[437]
Doch erst aus dieser „Reibung mit der Non-Realität“ und unter wachsender Lebensgefahr „indem man sein eigenes Leben abschrieb“ konnte „diese originelle südosteuropäische Variante einer postmodernen Literatur“ entstehen: „Literatur jenseits der Literatur, die die Grenzen des Erträglichen und der Vorstellung auslotete.“[438]
Inwiefern diese Schreibbedingungen bestimmend waren, erkennt der ´Ost-Autor` beim Weltwechsel, wenn er sich „ins diffuse Private einer bindungslosen Freiheit entlassen“[439] fühlt und feststellen muss, dass im Westen „die rationale Kontrolle über jede Emotion größer ist […], die Öffentlichkeit […] so perfekt und instrumentell, daß sie nur Ursächlichkeiten, sozial und rational Klargestelltes und eventuell noch Diskussion annimmt. Die Diktatur des Öffentlichen, die Diktatur des Merkantilen und Anti-Privaten (das Private wird Konsum und Konsumartikel) ist hier mindestens so groß wie bei uns der offiziell manipulierte Mangel an Öffentlichkeit.“[440] Die anfangs noch beibehaltene östliche „Schärfe einer Sicht zwischen den Systemen“ nimmt allmählich ab „der Blick wird angepaßt und matt“[441]; „die Erregung beim Denken lässt nach. Eine gewisse Entspanntheit, ein sich nicht mehr persönlich Engagieren […] und das führt zu der allbekannten Unverbindlichkeit westlicher Intellektueller.“[442]
„Hier käme ich nie auf den Gedanken, mich ´lyrisch` gehen zu lassen, und habe auch noch kein Gedicht geschrieben“[443] behauptet der Schriftsteller 1970, kurz nach seiner Emigration. Allein das Essay könne für ihn als Ausdrucksform noch in Frage kommen, da  es die Möglichkeit bietet, sowohl kritische Distanz als auch analytische Unbestechlichkeit zu wahren. Für Schlesak ist die Kunst „Widerstand […], sie kommt aus ihrem Bereich der ´Zeit`, der ´Erinnerung`, der ´Utopie`, aus der Möglichkeit, nicht aus der Wirklichkeit“[444], und die Literatur „persönlichster Ausdruck eines sprachgewordenen Lebens […], das Gedächtnis ins Wort bringt“[445]. Und im Hinblick auf das im Westen entstandene literarische Werk des Schriftstellers triff Oliver Sills Bemerkung genau zu: „[…] die literarische Erinnerungsarbeit [wird] für ihn zu dem vielleicht einzigen gangbaren Weg, mit jenem ´Erinnerungstrauma` des Emigranten umzugehen, von dem er bereits 1970 annahm, dass es ihn ´das ganze Leben` begleiten werde.”[446]
 Auf diesem Weg wird der Autor von seinem „´besten Freund`“[447], seinem „Buchstabenklavier“[448], dem „neuen Schreibkumpanen […] Werkzeug und Extension unseres Selbst“[449] - dem PC begleitet. Obwohl die fortschreitende technische Entwicklung anfangs eine eher entmutigende Wirkung auf die künstlerisch-literarische Arbeit zu haben scheint („Heller Wahn, heute noch Bücher zu schreiben. Ein Textplattenstapel für Computer zaubert die ganzen Bibliotheken auf den Schreibtisch, durch Knopfdruck stehn 100 000 Bücher parat. Haha, dein papierenes Lebenswerk, Herr Pööt, hat Platz auf einem Spielraum von null Millimetern.“[450]), entdeckt der sonst von der Technik begeisterte Schriftsteller bald das riesige Potential des Computers und die unendlichen Anwendungsmöglichkeiten des Internets (eine erste Fassung des Romans Der Verweser erschien auf CD und im Internet, außerdem ist unter www.geocities.com/transsylvania die reichhaltige Homepage des Autors zu finden). Doch wenn der PC im Verweser nur als Arbeitsgerät (mit DOS und Office 97 Programm und LCD-Bildschirm), bestenfalls poetisch als „das große Auge des Bildschirmfensters“ erwähnt wird, auf dessen „Buchstabenlandschaft“[451] >>sie<< ab und zu Nachrichten hinterlassen und der Erzähler mit seinem Widergänger Kontakt aufnehmen kann, so rückt das elektronische Gerät in Romans Netz in den Mittelpunkt und wird zum Haupthelden. Hier heißt der PC das neue „Monster“ und „Blitzgerät“ (S. 15), es wird „ein Fenster zur Welt“ aber ein „Schummelfenster“ (S. 34), eine „lichtschnelle […] tödlich strahlende Namensmaschine“ (S.215) und „Gespenstermaschine“ (S. 3), mit deren Hilfe der Autor eine neue Art Literatur schreiben kann, im Sinne einer größeren Publikumsnähe durch die Auflösung der Grenzen zwischen Buch und Realität, Leser und Schreiber im Internet:
„Der ´Autor` im Chat nimmt ja ´real`  selbst an dem Geschehen teil: von Tag zu Tag in Echtzeit unfaßbar blitzschnell Mailpost und Chatgespräch! Dieser Autor ist aber dann einer, der nicht mehr, wie es sich bisher gehörte, im stillen Kämmerlein schreibt, sondern schreibend zugleich mit seinen Figuren kommuniziert, sich ´am Schreibtisch` entweder ´verlieben` kann, oder LebensMaterial von seinen Personen erhält.“[452]
„Internet ist vor allem eine Sprachwelt, ähnelt also verdammt der Literatur“[453], bemerkt der Schriftsteller, hier können ´Phantasie`, ´Wahnwelten`, ´Traumwelten` aber auch Literatur selbst Wirklichkeit werden. Die Sprache habe im Laufe der Zeit das Bewusstsein, die Wahrnehmung und die menschlichen Beziehungen enorm beeinflusst – nun sei eine „vierte Phase“ angebrochen („nach der mündlichen Phase im Mittelalter und dann der Gutenbergphase“ sowie der „dritten Phase, der Einwirkung von Sprache und Sehen“ durch Fernsehen, Radio, Telefon und Bandgeräte): „die der gesprochenen Schrift […] durch Mail, SMS über Handy, Chat und Internet.“[454] Für die ans lichtschnelle Informationsnetz Angeschlossenen kann der PC sogar ein „Kuppler und Knecht der Distanzen“[455], ein „Kuppler zum ´Leben`“, aber auch ein „Scheißlebensvernichter“ werden – denn auch die virtuelle Welt birgt ihre Gefahren, weiß eine der ´Figuren` zu berichten:
„[…] dies Schummelfenster da, der lockende Display, ist mit Vorsicht zu genießen, es kann sogar tödlich ausgehen bei manchen, passiert ist es auch Julie, einer französischen Freundin, einer MUD, einer Multiuser-Frau! Es gibt ja diese Langzeit-Onliner und Tastaturneurotiker, die sich schließlich verknallen, und dann wehe ihnen! Was Hartes zwischen dich und dies Erwachen setzen.“[456]
Wie dramatisch der vom elektronischen Gerät abhängige kreative Akt enden kann muss der Schriftsteller schon öfter erleben – wenigstens einmal lässt er demnach dieses Gefühl des Ausgeliefertseins auch Roman, seine Romanfigur nacherleben:
„[…] ein Blitz, dann […] der Donner… die Natur schlug zu […] … der Absturz und totale Leere, alles, was seine Phantasie als Schrift hergegeben hatte, tot, gelöscht, schreckliches Nichts, Schwärze auch auf dem Bildschirm… […] ein kleiner Weltuntergang – als hätte plötzlich die Kunst der schönen Neuen Welt ihre falschen Augen geschlossen, ging mit einem Schlag auch das Licht aus, Roman saß im Finstern… und fluchte…“[457]


Das Buch

„Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde: nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich spürbar.“[458]
Freundlich ist das Tagebuch, das als treuer Begleiter des Schriftstellers, im Osten wie im Westen und auf all seinen Reisen nicht nur Eindrücke und Empfindungen festhält sondern auch den Kontakt zur Umwelt erst schaffen oder vermeiden hilft. „[…] vom Auge zum Stift, eine Brücke, die noch da ist“[459], Zeit und Raum auflösend, grenzüberschreitend. Das Tagebuch führt nicht nur zurück in die eigene Vergangenheit („Heute habe ich wieder in alten Tagebüchern geblättert; und seltsam, wie mich die eigenen Eindrücke so bewegen, als wäre es ein anderer gewesen, der mir sehr nahe stand, aber inzwischen verstorben ist.“[460]), sondern auch in die Zukunft „auf dieser hier entstehenden Zeile, die noch nicht weiß, was im nächsten Wort geschehen wird“[461]. Schon in Vaterlandstage wird die Grenze zwischen Schrift und Wirklichkeit undicht, der Erzähler/Autor ist im eigenen Buch, in den Blättern, „die ich hier schreibe, und die allein mich am Leben halten“[462] allzeit gegenwärtig, „ein Mann aus Wörtern“[463], um sich dann in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen schon auf der ersten Seite des Buches vorzunehmen, „in der SCHRIFT [zu] bleiben, im innern Wirbel, dort ist nicht nur ein Versteck, dort kommen wir schneller voran, zum Ende“[464]. Auch in Romans Netz führt das alter ego des Erzählers Tagebuch, ein „liebestagebuch“, mit dessen Hilfe er sich aus einer „wahnsinnsliebesgeschichte“ befreien kann, „indem ich ihr diese form gab, und mich [als Roman] ins buch ´rettete` und immer noch rette.“[465] Doch wenn im herkömmlichen schriftstellerischen Sinne das Leben in der Schrift zur Fiktion wird („Ihr seid alle meine Kreaturen, die ich halluziniert habe“[466] ruft Michael T., selbst eine Fiktion; „und ob T., Jann, Adam wirklich existieren, mag dahingestellt sein“[467]), findet dieser Vorgang in Romans Netz in entgegengesetzter Richtung statt: die Schrift wird zum Ausgangspunkt und ´Inspirationsquelle` des Lebens:
„So arbeitete ich in diesen Tagen (natürlich genau hier!) auch an meinem Roman, der nicht einfach nur ein Buch ist, denn die Liebe mit Nadine tickt, pulsiert, brennt genau hier auf der Zeile, es gibt sie wirklich, wie es auch mein Buch wirklich gibt! Denn alles, was in unserer Liebes-Geschichte existiert, ist erst durch das, was wir geschrieben haben, Leben geworden!“[468]
Mit seinem ´Liebestagebuch`, dem einzigen Ort, „wo es mich wirklich gibt“[469], gelingt es Roman, den Unterschied zwischen Leben und Schreiben aufzuheben, und seinen größten Wunsch, „sich nicht vom Schreibtisch wegrühren zu müssen, so leben zu können“[470], zu erfüllen – die von seinem ´Vorgänger` Michael T. erahnte Möglichkeit einer ´Wiedergeburt` im und durch den Text („In diesen Sätzen können wir auch unser kleines Leben verschwinden lassen; sie sind wie der Tod, sie löschen aus, und sie geben vielleicht ein neues Leben!“[471]) wird von Roman in Praxis umgesetzt.
Für den Schriftsteller ist das Buch aber nicht nur Lebensersatz, sondern auch Lebensentzug („[…] das Lebensopfer beim Schreiben [ist] ein kleiner Tod. Träger der Absenz des Lebens ist das Zeichen“[472]), und nicht selten muss er sich mit der Frage auseinandersetzen, ob er sich durch seine Opfer nicht zu sehr am Leben verschuldet habe:
„Welch Wahnsinn, anstatt Kinder in die Zukunft zu schicken, nur so dumm beschriebenes Papier zu hinterlassen! Schöne Hinterlassenschaft! Und dabei auch noch <>! Und sich nur störend und mäkelnd ins gesunde Leben einzumischen, ohne selbst daran teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. […] Ein Lebensumkreis, Tag für Tag – was getan wird und getan werden muss, Tun mit allen Konflikten, Reibungen – das fehlt mir!“[473]
Mein Leben versessen, vergessen? Schreiben – ein Fluch, eine Flucht vor dem Leben, dem Sinnverlust, letztlich vor dem Tod, als würden wir ewig leben.“[474]

Verewigen möchte sich Nicolao Granucci mit Hilfe seines ´Tage-Buchs` „in dem er lebte“, dem „URBANO“, seinem Trost und Lebensersatz. Da sein Name „zu klein“ ist, er aber dem Buch den Erfolg sichern möchte, schreibt er es „dem großen Ser Boccaccio“ zu:

“Der Plan war klar: Weit in die Zukunft, weil sie schon da ist, sollte das Buch reichen, da wir alle einmal gelebt haben werden, muss die Personperson zeitlos in die Ewigkeit hinein reichen, zurück aber zu den Katakomben und der Höhle, durchstoßen die Wand der Zeit – weit über den Tod hinaus. Daher musste auch eine sensationelle Geschichte her mit Lucida Lucrezia Maria, der Hexe.”[475]

Aus Rache und aus gekränkter Liebe erfindet Granucci die diffamierende „Höllengeschichte“ um Lucidas Liebesabenteuer und ihren „Teufelspakt“, wird zum „Tinten-Denunziant“[476] und „Schreibverbrecher“[477] und führt dadurch die Verurteilung beider herbei: Lucidas Tod auf dem Scheiterhaufen und die eigene lebenslange Haft im Turm. Obwohl von Anfang an seiner Schuld bewusst, schreibt Granucci gegen sein schlechtes Gewissen, schreibt sich die Schuldgefühle „von der Seele, indem er sie immer weiter ausnützte, sie zu seinem Text machte“[478].
„Im Zentrum stehen alle Dimensionen des Buches, der SCHRIFT als magisches und gefährliches Elixier und Machtmittel, das die Obrigkeit zu allen Zeiten gefürchtet, aber auch selbst in den eigenen Dienst genommen hat, gefürchtet aber vor allem, wenn es wie in der Literatur die unkontrollierbare Sprache des Subjektes ist, das sich jeder Macht so entzieht. Diese Rettung, aber auch böser Zauber, kann das Buch sein, das Unglück, nicht nur Glück und Schönheit bewirken kann. Vor allem durch das selbstherrliche Diktat des ´alleswissenden Erzählers`, der so eine Art Spiegelbild eines Diktators ist, der sich dieses Machtmittel anmaßt, anstatt in die Tiefen seines ungesicherten und mit dem Tod verbundenen Eigenen hinabzusteigen, wird Schrift zum Instrument eines falschen Denkens und einer falschen, ja, verbrecherischen Moral und des Kitsches.“[479]
Der ´Verweser` („abgeleitet von dem Verb mhd. Verwesen, ahd. Firwesan jemandes Stelle vertreten … […] verfaulen vermodern: In dem Verb mhd. Verwesen sind zwei in ahd. Zeit noch getrennte Verben zusammengefallen, nämlich ahd firwesenen verfallen, vergehen und firwesan aufbrauchen, verzehren.[480]) ist der Schreibende, der mit Hilfe der Sprache, der Schrift, der Fiktion, die Illusion der ´festen Welt` zum Verwesen bringt und die Illusion der Zeit aufhebt.
„Und das Buch wird nicht verloren gehen. Ist personlos und überdauert auch dich, Nicolao, sagt dir der Erzähler“[481], der am Ende des eigenen Buches etwas neidvoll zugeben muss: „Doch der hatte es ja geschafft, das war der Unterschied: - sein Buch war in aller Erinnerung und in aller Munde. Sein Phantom lebte!!! Und ich erkannte ein wenig neidvoll auch in der Erzählung des Custoden den Text des URBANO wieder.“[482]
„Ein beschriebenes Blatt ist eine große Sache“[483] bestätigen auch Andreas und Adam, ein Dokument, mit dem man „die ganze diffuse Welt […] im Griff [hat], ohne sie zu haben; Buch-Stabhochsprung“, wie zum Beispiel die „dünnen, abgerissenen Heftchen. Rote“[484], die sozialistischen Richtlinien, Broschüren, die Adam „wie eklige Insekten nur mit zwei Fingern […] nasenrümpfend“ anfasst, und „nur im Vertrauten“ zu sagen wagt, „die Mater Materia sei diesem Dreck ganz gewiß etwas Entgegengesetztes. Eine Schande für den Buchdruck.“[485] Außerdem gebe es „sowieso nur ein Buch“[486], behauptet der Bibliothekar, der auch von einem „ganz besonderen Buch“ zu berichten weiß:
„[…] wir nannte es das BIBLIOTHEKSBUCH. Darin standen weiße Geräusche, Licht gebündelt, Strahlengänge über die Zeilen verstreut, über den Tisch gereicht; in der Kladde: Namen von vielleicht tausend Toten; das eine Geheimnis mischt sich für immer ins Wort, jedes Blatt – schon gewendet und an-gezeigt, was kommt. Wir hatten dieses Buch gefunden, ich hatte es entwendet, das Buch lag im Wachtmeisterzimmer, dort lag ja damals alles durcheinander, das Buch war aufgeschlagen, das Totenbuch von Plötzensee; wie auf innern Befehl steckte ich es in die Drillichjacke, und keiner hatte es bemerkt.“[487]
In dem Essay, das den Gedichtband Aufbäumen abschließt, vermerkt der Schriftsteller:
„Die Welt ist ein großes Buch, ein kosmischer Sprachbaum; darin zu lesen, bis in den Aufbau der Atome, der Gene und Chromosomen, gelingt. Doch je genauer es entziffert ist, desto mehr nähern wir uns dem Verschwinden der Welt, jenem letzten Kapitel. Ist dies nicht vielleicht der Anfang einer schockierenden Heimkehr? Wir sind an einer Grenze angelangt.“[488]
Und genau diese Grenze zu überschreiten, dieses letzte Kapitel zu überwinden versucht Dieter Schlesak in und mit seinen Büchern.



Das weiße Blatt

„Mehrere gestempelte, weiße Papierbögen nahm der Strizzi. Ich empfand Ekel, wie vor einem Insekt. Ekel der Sprache, stinkend nach Zeitung, nach roten Broschüren und Losung. Nackt, kaum geborgen konnte ich darin sein.“[489]

Es sind die weißen Papierbögen der Securitate für die Verhörprotokolle, „in denen nach versteckter oder subversiver Prosa gefragt worden war“, und für die „unzählige Male“ geschriebene „SELBSTBIOGRAPHIE“[490].

Die im Osten gefährlichen Papierbögen werden im Westen zur „Lebensrettung in der Fremde“ und das “aufarbeitende Schreiben“ das wichtigste Mittel beim „Heilungs-Prozess“[491]: „[…] ich schrieb im Stehn, im Gehen, tagebuchartig, überfallartig, mein Archiv an Tagebüchern ist enorm angewachsen, und ich schöpfe heute noch aus diesem Reichtum an Texten.“[492]


“[…] so nehme ich ein NEUES BLATT: Denn: - DIE
               HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT…“[493]

Dreimal wiederholt es der Schriftsteller in Vaterlandstage und betont dabei, dass der einzig mögliche Heimweg über die Sprache führt, eine abschiedsfähige, reife Heimkehr demnach nur in der Sprache erreicht werden kann:

“Nicht das Reisen, wie Michael T. anfangs noch glaubt, bietet einen Weg der Heimkehr, sondern ein auf Erinnerung gegründetes Schreiben, das vor dem weißen Blatt Papier beginnt und jene Bewusstseinsinhalte in Form sprachlicher Zeichen bewahrt, die andernfalls im Fluss der Zeit sogleich wieder verschwinden.”[494]
Das Schreiben allein vermag es, den Fluss der Zeit anzuhalten, die vergangene Wirklichkeit, die nur noch im Gedächtnis eine gegenwärtige, allerdings flüchtige Existenz hat, zu bewahren und sie als Text vor dem endgültigen Verschwinden zu retten. Doch kann dieses nur bruchstückhaft gelingen, da der Erinnerungsprozess lückenhaft ist und Michael T. gerät, in seiner Rolle als Schriftsteller, in tiefe Selbstzweifel: „Was aber am Schlimmsten war, er setzte sich nur noch ächzend an seine Arbeit, schrieb ohne das alte Schreibvertrauen, daß er so in einem selbstgeschaffenen <> das Gelebte einbringen, diese alte Verlorenheit aufheben, in <> alles retten könne, er also im Alleingang sozusagen eine private Erlösung der Welt betrieb, größenwahnsinnig, ein Buchstabenmessias.“[495] Ein weißes Blatt, ´unbegangen` und ´unwegsam` - wie das schreibend verschwendete Leben – ein unendliches Nichts, ein leerer Ort, in dem der Schreibende selbst verschwinden möchte:
„Und nun schlägt der voller Verzweiflung die Buchstabenhämmerchen auf dies noch unbegangene unwegsame Gebiet des Weißen Blattes, als wären diese Zeichen der Rest, den der Herrgott bei seinem Verschwinden hier noch zurückgelassen hat. Daraus bastele dir etwas Hoffnung, die bald schon abblättert, klar. Die Sprache verschlägts schon längst. Und nun ist langsam ein Aussetzen auch der Gegenwart.“[496]
Ein unbeschriebenes Blatt bewirkt die für den kreativen Akt nötige Isolation, gleichzeitig bedeutet es aber auch Öffnung und Empfänglichkeit: „Alles noch offen. Wege erfinden sich selbst, ich muß sie gewähren lassen, jetzt.“[497]
Deswegen ist das Schreiben für den Schriftsteller trotz wiederholter Zweifel Lebenssinn und Lebensspender („Bin ich noch der alte unverbesserliche Optimist des Nachher? Ich bin es, solange ich vom Text nicht entlassen werde! Er nimmt mir das ganze Leben, braucht es auf, und schenkt es mir wieder: vielleicht aus alter kreatürlicher Angst, um allem Abschied voran zu sein.“[498]), und auch Lebensersatz, denn „was dann noch bleibt, ist wieder nur stellvertretend DAS BUCH.“[499]


Werkstruktur und sprachliche Gestaltung

Nachdem in den vorangehenden Kapiteln dem Leitfaden der Heimkehr folgend hauptsächlich auf die inhaltliche Analyse und Interpretation der Texte eingegangen worden ist, soll nun abschließend auch der formelle und technische Aspekt untersucht werden. Geachtet wird dabei auf die Darstellungsweise und den Aufbau der verschiedenen Werke, auf die Personeneinteilung sowie auf die sprachliche Gestaltung. Ausgangspunkt und Hauptgegenstand der Betrachtungen ist der Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens, zu dem die weiteren Prosatexte zum Vergleich und als Ergänzung hinzugezogen werden.

1.)    Darstellungstechnik

Im Kindlers Literaturlexikon definiert Edith Konradt den Roman Vaterlandstage wie folgt: „Der Roman ist gattungstypologisch schwer einzuordnen: Es ist kein Geschehnis-, aber auch kein Zeitroman, in herkömmlichem Sinn, sondern ein >>einziges langes Verhör und Selbstverhör<<, das am ehesten als Gedankenroman bezeichnet werden kann.“[500] Als Analyse der „Biographie seines Alter ego, des Schriftstellers Michael T.“ interpretiert die Literaturkritikerin den Roman in einer weiteren Studie, und auch als „radikale Selbstanalyse, die immer wieder darauf bedacht ist, den unbewusst greifenden Schutz- und Verdrängungsmechanismen auf die Schliche zu kommen und sie auszuschalten, selbst wenn dadurch fast unerträgliche Schmerzgrenzen erreicht werden.“[501]
Nicht als Roman, sondern als „ein auf 450 Seiten durchgeführtes Psychogramm“ wird Vaterlandstage von S.L. (?) bezeichnet, in dem die Geschichte der letzten fünfzig Jahre „weniger in ihren beobachtbaren Abläufen erscheint […] als vielmehr in ihren angenommenen oder tatsächlichen Auswirkungen auf den inneren Zustand des Erzählers […]. Stenogramm einer Selbstbetrachtung – davon haben die erstaunlich viel an Stoffelementen zusammentragenden ´Vaterlandstage`, hinter denen eine enorme Arbeit steckt, mehr als von einem Roman, der Geschichte verspricht.“[502] Der Historiker Prof. Andreas Möckel hingegen betrachtet den Roman als „die beste und konsequenteste Durcharbeitung und Darstellung des Chaos, in das die Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert schuldig-unschuldig hineingeraten sind“[503],  eine Konstruktion aus „Betrachtungen, Abrechnungen und Rekonstruktionen von Vergangenheit und Gegenwart, eine Mischung aus Tagebuch und Roman, der Spiegel einer wirren Menschheitsepoche, in die der Dichter hineingeboren worden ist.“[504]
Die von Schlesak bevorzugte Ausdrucksform ist das Tagebuch, doch nicht im Sinne der traditionellen literarischen Gattung, sondern als überarbeitete Version, ein Tagebuch, das nicht als historisches Dokument sondern als literarisches Werk betrachtet werden möchte. Schon im Prolog der Vaterlandstage, dann in Stehendes Ich in laufender Zeit und im ersten Teil von  So nah, so fremd erscheinen Orts- und vor allem Zeitangaben, die formell auf herkömmliche Tagebucheintragungen hindeuten (Tagebücher des Schriftstellers auch tatsächlich als Rohstoff verwenden) und dabei dem Text den „Glanz jener Aura [verleihen], der auf jedes Tagebuch fällt, weil ihm der Charakter des Authentischen zugestanden wird“ – trotzdem handelt es sich um Eintragungen, die bereits mit Blick auf eine spätere Neuordnung geschrieben wurden, in der Hoffnung auf „neue und tiefgreifendere Einsichten im Zuge des letztlich unabschließbaren Prozesses der Selbstvergewisserung.“[505]
„Als könnte ich alles auflösen, die Jahre rückgängig machen, nehme ich abends das alte Tagebuch, lese tagesgleich die Tage, die Jahre, die Jahrestage, überspringe ein Jahr; damals gab es noch tröstliche Gedanken […].“[506]
„Und ich lese neugierig geworden von meinem eigenen damaligen Zustand – als wäre es ein anderes Jahrhundert gewesen und ich ein Wiedergänger […].”[507]
“[…] das Schöne am Tagebuch ist, daß die Erinnerung dann so konkret, wie zum Greifen nah sein kann, ein aufgeschlagenes Buch, und als wäre keine Zeit vergangen, fällt die Trennwand, als wäre es gestern gewesen; diese Wiederkehr […].“[508]
Die Tagebucheintragungen sind dem Schriftsteller insofern nützlich, als sie ihm dazu dienen, die Vergangenheit anhand neuer Erfahrungen und seinem gegenwärtigen Bewusstsein entsprechend zu verändern, gleichzeitig veranlassen sie ihn dazu, über den erlittenen Verlust gehegter Illusionen in immer neuen Anläufen und mit unterschiedlichen Akzentuierungen zu reflektieren:
„Jedes JETZT erhält zur Zeit eine unendliche Perspektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist ja nicht so, daß dieses Ich nun nichts mehr erlebt, es erlebt nur ganz anders. Ähnlich wie beim Tagebuchschreiben, das ja die Ereignisse eines Tages erst bewußtmacht, sie an den Sinn bindet, der ungeschrieben verloren ginge, so aber gerettet wird. Die Hintergrundzeit wird zur Zukunft der Vergangenheit im Prozeß. Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die Unsterblichkeit der Personalpronomina der Sprache, die das Bewußtsein tragen, sich weiter erinnern zu lassen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen Bewußtseins-Horizontes es eigentlich erlauben. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossene, scheinbar abgeschlossene Vergangenheit eingeführt, mit dem bitteren Fazit und Urteil: daß wir uns selber das Leben geraubt, weil wir es uns haben rauben lassen.“[509]
Immer wieder wird der Leser durch „gezielt eingebaute Fiktionssignale“[510] jedoch daran erinnert, dass es sich um überarbeitete Tagebucheintragungen handelt: sei es der Verlagstext zu Stehendes Ich in laufender Zeit, oder der Schriftsteller selbst, indem er zwischen sich und der textimmanenten Erzählinstanz unterscheidet, und auch direkt auf die Fiktionalität des Textes hinweist: „14. August. Was wird hier im Tagebuch beschrieben, doch nie der Moment, sondern immer Gedächtnis; also ist der Text, das Datum fiktiv, wird aufgehoben. Und hat auch wenig mit der äußeren Realität zu tun. Jann weiß nichts davon, das Tagebuch berührt sich mit ihrem Tag kaum.“[511]
Auf die Frage nach dem „grundsätzlichen Charakter“ von Stehendes Ich in laufender Zeit meint Oliver Sill, der Text sei „ein ´Reflexionsgeflecht`, in dem der Vorrang diskursiven Sprechens jederzeit offenkundig ist“, Definition, die auch auf den ersten Teil von So nah, so fremd zutrifft: „Ausgelöst werden die dargelegten Reflexionen auf allen Zeitebenen durch momentane Erlebnisse in C. oder auf Reisen, insbesondere durch Gespräche des Ichs mit verschiedenen Personen. Darüber hinaus tritt das Ich oftmals ´in Dialog` mit Büchern, seien es nun literarische wissenschaftliche, philosophische oder auch theologische Schriften. Sie werden mitunter ausgiebig zitiert, kommentiert und zum eigenen Selbst- und Weltverständnis in Beziehung gesetzt. Nicht zu vergessen der vielfache Rekurs auf Zeitungsartikel und die Berichterstattung anderer Medien – gerade im Hinblick auf die sich überstürzenden Ereignisse 1989/90.“[512]
„Ich habe seit dem Massaker auf dem ´Platz des Himmlischen Friedens` im Mai 89 täglich an diesem Buch geschrieben, so die osteuropäische Revolution, ohne zu wissen, daß es eine werden wird, von Anfang an im Schreibprozess verfolgt: da öffneten sich dazu Erinnerungsräume bis in die Stalinzeit. In Reflexionen und Denkbildern versuchte ich diesen positiven Schock des heißen Sommers und Herbstes und dann des rumänischen Revolutionswinters zu begreifen; eine Aktualität ´aufzuarbeiten`, die viel mehr war und mich bis in den Traum verfolgte, mit Hilfe meines einzigen Mittels, Welt im Zusammenhang zu sehen, der Sprache zu sehen. Dabei erkannte ich immer mehr, daß ich dabei selbst ´aufgearbeitet` wurde.“ [513]
Zum literarisch reflexiven Charakter der Texte tragen auch die häufigen „essayistischen Einalgen zum Tagebuch“[514] bei – vom Schriftsteller vielleicht auch als Element der Kontinuität zu den anderen Prosawerken gedacht (von Visa. Ost West Lektionen über Wenn die Dinge aus dem Namen fallen und bis zum Verweser) – sowie der innere Monolog. Dieses Erzählverfahren, von Wolfgang Schlott im Essay Stehendes Ich in laufender Zeit als „Traum-Monolog“ identifiziert, „in dem der unbewältigte Ereignisstrom des Tagesbewußtseins in ein ruhigeres Fahrwasser transportiert wird, wo Thanatos dem Leben etwas abringt, was im Text als gereinigte Psyche Kontur annimmt“[515], ist in Vaterlandstage als „eine modifizierte Art des inneren Monologs, ein Monolog unter dem Druck der Angst“[516] Handlungsträger und wichtigste Darstellungsform, wie Sill bemerkt: „Seit James Joyce‘ ´Ulysses` (1922) gehört der stream of consciousness, die Bewusstseinsstromtechnik, zum Arsenal moderner Darstellungsformen in der Prosa. Als gleichsam radikalisierter innerer Monolog suggeriert diese Technik ein Höchstmaß an Authentizität: die vermeintlich unmittelbare Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten einer Person. Schlesaks ´Vaterlandstage` bedient sich dieser Darstellungsform ausgiebig […].“[517] Der Text gleiche somit einem Bewusstseinsprotokoll, „in dem Erinnerung, Tagträume, Phantasien, Träume, Visionen, kurz: alle Manifestationsformen des Imaginären gleichberechtigt nebeneinander stehen und in weitestgehend assoziativer Verknüpfung präsentiert werden.“[518] Nicht selten aber beschränkt sich der Schriftsteller auf einfaches Beobachten und kommentarloses Beschreiben, oder wie Edith Konradt feststellt: „Schlesak behauptet nichts, er befragt und hinterfragt vielmehr alles, was er […] um sich und in sich an Veränderungen registrieren konnte“[519]. Dieses alles gibt er jedoch nicht in „Ereignisketten“ wieder, sondern in „Sequenzen“, in „Zeitschnitten“, die „der verborgenen Wirklichkeit viel näher [sind], so vor allem wenn einzelne Ereignis-Szenen wie im Gedicht zu einem Gespinst von Sinn-Bildern verbunden werden.“ Als „Methode des Schnittes“ bezeichnet der Schriftsteller diese Technik „der erlebten Zeit in Tagebuchform, erlebtes Jetzt als Querschnitt, erlebte, dann strukturierte Momente im Einfall, die dann im Buch zusammengesetzt werden.“[520] Zu den ´Rohmaterialien` für die Vaterlandstage gehören zahlreiche Dokumente, Familien- und Kriegsbriefe, Lokalzeitungen sowie Interviews und Tonbandaufnahmen, darunter das Gespräch mit dem Apotheker Victor Capesius und dem SS-Offizier Roland A., dem Onkel Andreas  - eine „undurchdringliche Wand“ die sich erst durch „Kunstgriffe und komplizierte Strukturen, eben den oft erwähnten inspirativen flash […] in den Zusammenhang ´binden` [ließen], so daß der Klang, der Stil des Ganzen zurückwirkt, und sie sich mühelos und wie durch Diktat im benötigten Ton und Stil verändern, ja oft ´Erfindungen` daraus werden.“[521] Vielleicht ist dagegen der Umgang mit den Bibliohteksmaterialien über Nicolao Granucci für den Verweser einfacher gewesen oder mit dem „LebensMaterial aus dem Internet“[522]: Liebes-Mails, Lebensbeichten, Geschichten und Erfahrungen, die in Romans Netz zu einem Roman zusammengeschmolzen sind.
Ein „allgemeines Kennzeichen“[523] der Gestaltungsweise Schlesaks ist die Collage:
„[…] ein Arbeiten mit einem Beziehungsnetz von Lebensfragmenten, Erfahrungsfragmenten, Zitaten, ihre Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit der Phantasiearbeit, denn die Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Handlungs-Stößen; vielleicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Moment oder die Welt als Einfall, ganz ´heiß` aufgeschrieben, tagebuchartig in ´Zeithäppchen`, flashs, und dann erst nachträglich zusammengesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch beim nachträglichen Zusammensetzen alles ´heiß` und inspirativ geschehen muß, es darf keine Manipulation oder Bastelarbeit sein.
Dieses ist deshalb so erregend, weil es wie die Simulation eines ebenbildlichen Prozesses zu sein scheint, wo Sinn sich summiert. Je mehr Einzelszenen oder Fragmente […] sich gegenseitig anziehen, dichter werden, ein annäherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden ´Sinnarbeit`, die sich eben einem Unerreichbaren, einem verborgenen Ganzen annähert. Es ist ein erhellendes Verstehen, das immer näher und intensiver wird, je mehr ´Bildpunkte` auf dem Bildschirm des Gedankens und dann des Buches zusammenkommen.“[524]
Nicht zu übersehen ist auch der häufige Einsatz von Zitaten, den der Schriftsteller mit dem Bedürfnis motiviert, „Einleuchtendes, das gut gesagt ist, wie Eigenes einzubauen, aufzubewahren, in Kon-Text setzen und eine neue Sinnumgebung zu schaffen.“[525]


2.)    Struktur

Charakteristisch für das gesamte Prosawerk Dieter Schlesaks ist die Vielzahl der ineinander schlingenden Handlungsebenen und –stränge, die ständig wechselnden Raum- und Zeitebenen, sowie die Unmittelbarkeit des autobiographischen Materials. Die vorliegende Arbeit geht von der näheren Untersuchung des erzähltechnischen Aufbaus dreier Werke aus (Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens, Stehendes Ich in laufender Zeit und Romans Netz), um dann vergleichend auch auf die anderen Texte überzugreifen.
Romans Netz, chronologisch betrachtet Schlesaks letzte Veröffentlichung, ist vielleicht einer der Texte, dessen Struktur man ´leicht` erkennen kann: eingeteilt ist der Roman in zwei Teile, die insgesamt 88 Kapitel umfassen; auch die Erzählebenen sind zwei: die Schreibgegenwart der Erzählinstanz und die Erlebnisgegenwart Roman Templins, der Hauptgestalt, die gleichzeitig auch ´Autor` des Buches ist. Die Ebenen verlaufen parallel – wobei die Ebene der Erzählinstanz den Rahmen für die Liebes-Erlebnisse Romans bildet, der im Internet nicht nur eine neue Wirklichkeit entdeckt, sondern darin auch authentisches Material für sein Buch, das mit ihm mitwächst – und überschneiden sich nur wenn die Trennung Erzähler-Ich  Roman-Ich hervorgehoben wird.
Einen ähnlichen Aufbau findet der Leser auch im Verweser wieder: zwei Ebenen, die  die zehn Kapitel und 56 Abschnitte entlang ebenfalls parallel verlaufen, sich im Vergleich zu Romans Netz jedoch viel öfter berühren, überlagern, vermischen: die historische Dimension der im 16. Jahrhundert angelegten Lebens- und Sterbensgeschichte Nicolao Granuccis und die Erzählgegenwart Romans, alter ego des Autors und Granuccis Widergänger.
Verschiedenartig erscheint hingegen die Struktur des „synoptischen Tagebuchs“[526] Stehendes Ich in laufender Zeit. Formell ist das Buch in acht Kapitel eingeteilt, sinntragend ist jedoch die zeitliche Gliederung, aufgrund der in vier Jahrestagebüchern vorgenommenen Aufzeichnungen (1989/1990, 1991, 1992 und 1993). Bezüglich der zeitlichen Struktur stellt Oliver Sill folgendes fest: „Aufs Ganze gesehen, ergibt sich das Bild einzelner Blöcke, die jeweils einer bestimmten Zeitebene zugeordnet werden können. Dabei lassen sich insgesamt drei verschiedene Gruppen bzw. Zeitebenen ausmachen. Die erste Ebene umfasst den Zeitraum vom 20. Juni 1989 bis zum 3. Oktober 1990 […]. Auf der zweiten Ebene sind Eintragungen versammelt, die zwischen dem 2. Januar und dem 31. Oktober 1991 vorgenommen worden sind. Die dritte Ebene umfasst schließlich den Zeitraum vom 25. Mai 1992 bis zum 31. Januar 1994.“[527] Hauptmerkmal des Textes – auch im ersten Teil von So nah, so fremd wiederzufinden – ist demnach die weitgehende Aufhebung der Chronologie zugunsten einer neuen Anordnung, die auch aus dem Druckbild deutlich wird: die drei Zeitebenen sind durch unterschiedliche Schrifttypen nicht nur voneinander abgegrenzt, sondern auch als jeweilige Einheit markiert. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen, wie auch der Einbau früherer Tagebuchsequenzen in aktuelle Eintragungen ist Ausdruck eines „vielfach assoziativ anmutenden Reflexionsprozesse des gegenwärtigen Ichs.“[528]
„Ich wollte ein Sinngeflecht schaffen, das einer tieferen Logik folgt. Es geht um die inneren Gesetze eines ´Ich`, das 1993 eine Sicht auf die Dinge hat, die die Eintragungen von ’89 relativiert.“[529]
Laut Sill fungieren die drei Ebenen als „Bezugsebenen füreinander, Projektionsflächen und Spiegel gleichermaßen, deren vergleichende Betrachtung es dem Autor wie dem Leser erlauben soll, Korrespondenzen, Kontinuitäten und Brüche (deutlicher) zu erkennen.“[530] Auch sollen die Zeitsprünge „ein beständiges Hin und Her zwischen diametral entgegengesetzten Gemütsverfassungen des Ichs“[531] markieren: von der Hoffnung (1989) zur Resignation (1992-94) über  die Desillusionierung (1991).
Die Methode der Achronie erklärt der Schriftsteller folgendermaßen:
„Beim Schreiben geschieht dann das Zusammensetzen der BILDER in einem umgekehrten Prozeß; nicht der Zeitverlauf, sondern die Sequenzen sind zuerst da. Und in einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und Sinn-Nähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis. Und schafft einen anderen Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende Unvereinbarkeit. Aber fiktiv ist, wie Einfälle und Intuitionen, die aus einem Bereich an der Grenze unserer Vorstellung kommen.“[532]
Achronie aber auch eine viel komplexere Struktur weist der Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens vor. Die Unterteilung in zehn Kapitel unterschiedlicher Länge, denen ein Prolog vorangestellt ist und die zum Teil in Abschnitte untergliedert sind, gibt zwar eine bestimmte Ordnung vor, doch kann der aus einzelnen Wirklichkeitsfacetten zusammengefügte Text anhand nur dieser Einteilung inhaltlich nicht gedeutet werden. „Die Handlung, wenn man es überhaupt so nennen kann […]“[533] wurde in ihrem Zusammenhang bewusst aufgelöst, die kaum überschaubare Anzahl einzelner Handlungssegmente aus dem logischen zeitlichen Nacheinander losgelöst und die spärlich eingestreuten Zeitangaben signalisieren keine kontinuierliche Handlungsverläufe sondern große Zeitsprünge. Daher findet Sill es auch im Fall dieses Textes „plausibler und dem Werk angemessen“, das Erzählte „lediglich nach verschiedenen Zeitebenen zu gruppieren, die wiederum an bestimmte Handlungsorte bzw. Handlungszusammenhäge gekoppelt sind.“[534] Dabei unterscheidet er:
1.      die Ebene der Schreibgegenwart, „eine andauernde, sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Phase der in C. geleisteten, durch Erinnerung und Reflexion konstituierten Vergegenständlichung und Selbst-vergegenständlichung.“[535] Hier thematisiert der Erzähler die Mühen der Erinnerung und den Schreibprozess und berichtet von parallel verlaufenden Ereignissen;
2.      die Ebene der Reise Michael T.‘s aus Stuttgart über Bukarest und Schäßburg und dann wieder über Bukarest nach C., deren zeitliche Erstreckung nicht ganz deutlich wird, die aber „im vergangenen Jahr“[536] erfolgt und somit dem Schreibprozess vorausgegangen ist;
3.      die Ebene der Rückblenden in unterschiedliche Phasen des eigenen vergangenen Lebens, mit drei Schwerpunkten: die Kindheit in Schäßburg bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, die sechziger Jahre in Bukarest und die Aufenthalte in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit. Auch diese Rückblenden fügen sich keiner zeitlichen Ordnung und werden stets durch aktuelle Eindrücke insbesondere des reisenden Michael T. ausgelöst.
Sill weist auch darauf hin, dass diese Ebene trotz Auffächerung und Zersplitterung die „rahmensetzende Handlungsebene des Romans“[537] darstellt, da Michael T. im zweiten Teil des Prologs seine Reise nach Rumänien antritt und erst gegen Ende des Romans die Umstände seiner Ausweisung geschildert werden. Schon der Titel „Prolog nach dem Ende“ weise „in geradezu programmatischer Weise“ nicht nur auf „den Verzicht auf eine chronologische Darbietung des Erzählten“ hin, er verweise auch auf „die Notwendigkeit, diesen Prolog als Folge jener Ereignisse zu begreifen, die zwischenzeitlich, vor allem aber gegen Ende des Werkes geschildert werden.“[538]
„… Dies Ende der Geschichte ist ein Rohr, da kann man durchsehn JETZT von beiden Seiten. Du siehst dein Auge, siehst dein Sehn […].”[539]
„Mit der kreisschlüssig angelegten Erzählsituation, die auf einen unendlichen Regress verweist, hat Dieter Schlesak offenbar einen Weg gefunden, die abverlangte Beschränkung auf wenige hundert Seiten im fiktionalen Raum zu überwinden, um auf diesem Wege die Grenzen- und Bodenlosigkeit eines Schreibprozesses zu veranschaulichen, der einer unentwegten Erinnerungs- und Trauerarbeit entspricht.“[540]
„SIEBENBÜRGEN … das sag ich so vor mich hin und hör die Stimmen und bin mitten drin in diesem Riß, Heimweh, Fernweh teilt uns diese Zeit aus. Und ein Echo: Aus. Von wem ist die Rede? Oder anstatt Selbstmord beging er die Fremde, sprachauf, sprachab, und fand keinen Ausgang?“[541]

Der schwer übersichtliche Handlungsverlauf wie auch die Gliederung des Romans in Kapitel, deren Titel oft nicht leicht deutbar sind, veranlassen den Leser dazu, eine (zeitliche oder räumliche) Textlogik zu suchen. Es gibt aber eine noch tiefere, verborgene Struktur des Romans, die jedoch nur unter der Anleitung des Schriftstellers oder aufgrund guter Hebräisch- und Kabbala-Kenntnisse verständlich wird. In einer der zahlreichen Auslegungen zum Roman schreibt der Autor: „Das Buch ist ein deutsch-jüdischer Dialog, aufgebaut in 10 Kapiteln nach der Struktur des Kabbala. Deutsch das Roman-Geschehen, hebräisch der nicht entschlüsselbare transzendente Hintergrund bis hin zum Tod und Massenmord an der Grenze unserer Vorstellung.“[542] In seiner Lyrik aber auch in diesem Roman verfolgt Dieter Schlesak eine Verschränkung des Deutschen mit dem Ur-Text, mit dem „Anderen Buch“, das den Vaterlandstagen als Vorbild gilt. Bei Gershom Scholem und Friedrich Wainreb liest Schlesak, dass „das Hebräische von den Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt [wird], so wird das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher ´poietisch` (alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr aussagt, als die Erzählung […].“[543] „Es sind hebräische Buchstaben, die uns bestimmen“[544] und die gesamte Romanstruktur, denn die zehn Kapitel folgen den ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets, die zugleich die Zahlen von 1 bis 10 sind. So lautet zum Beispiel der Titel des 5. Kapitels „Fensterlose“, denn der fünfte Buchstabe ist He und bedeutet Fenster, sieht auch wie ein Fenster aus. Dazu erklärt Schlesak in einem Interview: „Es ist ein mehrsinniges Wortspiel mit ´Fenster` und ´Los` (Schicksal), ein Wechsel zwischen Blindheit und Sehenkönnen, Nähe und Fremde des heimatsuchenden Michael T..“[545] Oder das sechste Kapitel, „Unser Leben hat einen gewaltigen Haken“, das dem Buchstaben Waw entspricht, was Haken bedeutet und „das Zeichen des Menschen“[546] darstellt. Der Prolog selbst - als einziger in Tagebuchform verfasst – hat eine symbolische Bedeutung: „Die sieben Schöpfungstage hängen ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen“[547], erklärt der Autor, „sechs der Schöpfung einer abgeschlossenen Welt, Fertigteil der Entwicklung am siebenten, unser JETZT, Zeit der Geschichte, die sich selbst erzählt, ungewiß ist, voller Überraschungen […]. Das Buch, auch als Buch eine Metapher […], beginnt mit diesen sieben Tagen in Richtung des achten, der Grenze zwischen Leben und Tod, auf der wir zur Zeit uns bewegen: in dieser Kunst des Verschwindens, um jene Ebne jenseits der Körperlichkeit und der Vorstellung zu erreichen.“ Nachts am siebten Tag, dem Samstag, erfindet der Erzähler seine Hauptfigur und schickt sie auf Heimreise, eine Reise, die erst die Sprache ermöglicht, „die 22, hier die 24 Buchstaben des Alphabets, die Gott nach seinem Verschwinden uns zurückgelassen hat, ein Sprachbaum, jener alte Sprachbaum mit den zehn Ästen, den Sephirots, Zahlen und Buchstaben, die alles mit allem verbinden können, und so unsere Er-Schöpfung aufheben.“[548]



3.)    Personeneinteilung

In einem Interview zum Roman Vaterlandstage behauptete Schlesak: „Das Buch ist eine autobiographische Fiktion […]. Die Personen und Lebensumstände im Buch haben reale Vorbilder. Aber Verfremdung ist trotzdem da, sie geschieht mit dem Mikroskop oder Fernrohr der Sprache, durch Sprach- und Phantasieräume, die auch die realen Vorbilder sehr verändern.“[549] So wird zum Beispiel die Hauptgestalt aller Prosatexte als alter ego des Schriftstellers bezeichnet, sie weist auch oft dessen Züge auf, doch handelt es sich immer um eine fiktive Gestalt, die mit ihrem Erfinder nicht identifiziert werden darf. Dasselbe gilt auch für die anderen Figuren, die meistens eine Ansammlung vieler Personen zu einer literarischen Gestalt sind.
Zwar meinte der Schriftsteller, „von den autobiographischen Zügen, die der Roman ´Vaterlandstage` zwangsläufig tragen und ertragen musste“[550] im zweiten Roman loskommen zu wollen, das Grundmuster bleibt unvermeidlich das gleiche, so dass sowohl im Verweser als auch in Romans Netz Roman, die Hauptgestalt, der dem Leser schon wohlbekannte Ostmensch ist, mit den nostalgischen Erinnerungen an die verlassene Heimat Transsylvanien.
Neu sind hingegen in diesen beiden Romanen die zahlreichen Figuren, die dem erzählenden Ich als ´Erscheinungen` oder ´Bildschirmgespenster` und ´Internetphantome` begegnen: „Projektionen“ des Ich „durch tägliche Beschäftigung mit ihnen“[551], und „Projektionen des anderen nach eigenen Träumen und Wünschen“[552]. Auch zu diesen Figuren hat der Autor ´direkten` Kontakt, sei es in Träumen und Visionen, wie in Nicolao Granuccis Fall, oder durch reges E-mailen und heißes Chatten im Internet. Und von ihnen erhofft er sich, „die folgenden notwendigen Szenen >>diktieren<< [zu] lassen“[553], so als wäre das Buch „ein Lebewesen […], nur ein Diktat […], das über mich hinausging“[554] oder „600 Seiten Lebens- und Liebesgeschichten: geschilderte Ehetragödien, Selbstmordversuche, Liebesbriefe, intime Bekenntnisse“[555].
Es treten aber auch Figuren auf, die durch ihre Präsenz eine Art Kontinuität in Schlesaks Prosawerk herstellen, wie zum Beispiel Familienmitglieder (besonders die Mutter) und die Lebensgefährtin des erzählenden Ich: auch sie eine „völlig zusammengesetzte Person“[556], die den Erzähler „vielleicht gerade durch ihre widerspenstige Art erotisch sehr [anzog]. Aus dieser Mischung von Härte und Weichheit, verhaltener Rührung und Stolz war dieses Hannah-Inbild bei ihm entstanden. Hannah hatte etwas Männliches, trug auch meist Anzüge, die ihr etwas Herrisches gaben; Hannah, also, bei der ihn nun nach all den vielen Jahren des Zusammenlebens letztlich nicht mehr die äußere Erscheinung anzog, sondern ihre Aura. Hannah, die mit ihrem praktischen Sinn so fremd und vertraut zugleich war, die die gleichen Lebensmomente immer ganz anders sah als Roman, den die Dinge in  ihrem vorgetäuschten festen Zustand nur störten und nervten; Hannah lebte wohl auf einem ganz anderen Planeten als er.“[557]
Andere Gestalten hingegen werden zu Gegenspielern (so der jüdische Bibliothekar und Freund Adam K., „der andere Vater, der Vorweggenommene“[558]) oder zum ´Vorfahr` des Ich: „Nicolao Granucci, geboren am 6. August 1544 in Lucca, zwischen 1582 und 1603 auf der Flucht und im Exil, kreuz und quer durch Europa, 1600-1602 in Transsylvanien, Nemesvár, 1603 lebenslang eingemauert im Turm von Viareggio, gestorben im Turm – Mai 1618.“[559]
Interessant ist die Wahl der Figurennamen: „Michael“ - nicht nur als typischer deutscher Name, sondern der Erzengel, derjenige, der es schafft, das Negative (auch in sich) zu überwinden, in diesem Fall das „T.“, seinen Nachnamen, der für die anfangs von der totalitären Ideologie, später vom Okzident verseuchte Seele steht und seine Gefühlskälte und Liebesunfähigkeit darstellt, oder „t“ von „tempus“, als Überwindung der Zeit. Zwei Namen, die Spannung schaffen aber auch zueinander  gehören.
Roman hebt einerseits die Nachfolge und Beziehung zu Nicolao Romano Granucci hervor, andererseits weist er auf die Identität der Gestalt mit ihrem Buch hin, denn Roman lebt und liebt nur in seinem Buch, dem Roman.
Hannah (nur einmal „Norma“, „die Umkehrung und das Anagramm meines Namens“[560]) ist ein symmetrischer Name, und sie „die Beständige, in sich Ruhende […]. Anna. Die Gnade Gottes, dass alles so ist wie es ist und auch so bleibt. Dass du darauf vertrauen kannst.“[561]
Und auch für Michael T.`s Freund, Dialogpartner und Gegenspieler, dem Kabbalist, ist Adam der treffendste Name: „[…] es wird hebräisch a-d-m geschrieben. Die Vokale, außer a (1), durften nicht geschrieben, nur gedacht werden. Sie sind die Gnade Gottes in unserem Kombinationsvermögen. Die Konsonanten sind der Körper, dem dieser Geist noch eingehaucht werden muss, wie es Gott mit Adams Körper tat. A ist Er, die Eins, Aleph; d ist Daleth, ist die Vier (Elemente), m, Mem, die Vierzig, das Wasser oder die Zeit. Durch Adam bindet Gott sich an die Elemente (Körper) und an die Zeit.“[562]
 Von der Bedeutung des Namens weiß auch Granucci, der auf der Flucht seinen Namen nicht nennen darf oder immer wieder ändern muss, die Gefahr der Namen als „Gefängnisse, Gitter, Sprachgitter“[563] kennt und deshalb unter einem Pseudonym (für Massimiliano Arnolfini) seinen Urbano veröffentlicht.
„Zwischen meinen Personen und mir besteht eine intime Beziehung, und alles schwankt in der Erzählung zwischen der Personalpronomina Ich, Du, Er; die Eisdecke ist dünn, man bricht ein. Die Hauptperson, meist mein Alter ego, durch den Erzähler zum Er gemacht und verfremdet, wird im inneren Monolog und der icherzählten Erinnerung wieder zum Ich, die anderen Personen im Dialog zum Du, ähnlich ja auch die Hauptperson, und das Spiel mit Ich und Er wiederholt sich bei allen Personen, so daß metasprachlich und strukturell alle eine Person sind. Dazu kommt, daß sie, von der Hauptfigur erinnert, als Erinnerte aber selbst erinnern, zu einem Geflecht von Erfahrungen (meist denen des Autors) gehören, und so zu jenem Modell der Detail-Zusammenführung von Sinn gehören, die das Ganze erst möglich machen.“[564] Dieses „Spiel“ mit der ´verwirrenden` Personen- und Pronominaeinteilung kann in allen Prosatexten Schlesaks verfolgt werden. In seiner Analyse schenkt Oliver Sill der Entschlüsselung dieses „Spiels“ eine besondere Aufmerksamkeit und stellt dabei fest, dass zwischen Visa. Ost West Lektionen und Stehendes Ich in laufender Zeit eine Parallele in der Entwicklung der Ich-Ich/Er-Konstellation besteht: in beiden Texten erinnert das gegenwärtige Ich ein damaliges Ich, in der Hoffnung, erinnernd und reflektierend Klarheit über die Folgen des dargestellten Zeitabschnittes für die Grundlagen der eigenen Identität zu verschaffen. Der Unterschied besteht jedoch in der Notwendigkeit, in Stehendes Ich in laufender Zeit auf den fiktionalen Charakter des Gestalteten zu weisen und damit ist der Umgang mit den Pronomina verbundenen: während es in Visa zahlreiche Varianten der Ich-Ich-Doppelung gibt (das Gegenwarts-Ich, das Ich der ersten West-Reise, das Ich der Rückkehr nach Bukarest und der endgültigen Ausreise), ohne dass dabei die kategoriale Differenz zwischen dem realhistorischen Autor Dieter Schlesak und der textimmanenten Erzählinstanz hervorgehoben wird, wird dieser Unterschied im zweiten Werk besonders unterstrichen: der Ich-Erzähler verwendet die Abkürzung DS ([…] und merk dir, du heißt DS.“[565]) , um einer naiven Lektüre des Textes als Wirklichkeitsaussage vorzubeugen. Die gleiche Technik der Verfremdung verwendet Schlesak auch in So nah, so fremd, indem er zwischen Ich und Er unterscheidet und das Ich die eigene Figur werden lässt:
„Und rede mich jetzt wie einen Fremden in der dritten Person an, als wäre ich ein Anderer, und bin ich nicht ein Anderer? Also: eigentlich wollte er ja nur das Grab seines Vaters besuchen. Zwar naßkaler November, es war der November vorigen Jahres gewesen, wer zählt sie noch, die Jahre, die Jahre, alles vergangen, er aber, dieser DS, ist trotzdem noch da.“[566]
„Ich aber versuche jetzt etwas zu erzählen, nehme dazu einen berühmten Kollegen und verwandle mich auch in eine andere, aber eigene Person, denn ich bin aus Hunderten von Personen zusammengesetzt, und weiß es seit kurzem aus der Psychiatrie: wir alle sind multiple Persönlichkeiten, so nenne ich mich Niemand, aus Gründen des Abstandes.“[567] „Niemand, als jener, der sich in der Sprache versteckt, jener, der ich wirklich bin.“[568]
In Romans Netz verleiht der Erzähler seinem „er“ („er ist mein Ich… nein, nein, pardon, meine Kreatur!“[569]) sogar einen Namen: Roman, in dem sich die Figur auflösen kann. Mit Roman identifiziert sich der Erzähler kaum noch, er hält ihn „auf Distanz, so tun es ja auch die Psychiater mit ihren Patienten, um sich nicht reinreißen, anstecken zu lassen“[570], führt ihm die „Gedanken, auch die Hand beim Schreiben“[571] und kann ihn aus Versehen auslöschen oder nach Belieben wiederbeleben:
„Eigentlich war ja damit auch Roman tot. Die Zeile, wo es ihn gab… gelöscht! Doch sie ist ja wieder da, ich schreibe ja… die Angst, daß er und das Buch wie nie gewesen, für immer verschwunden sind, war unbegründet, denn sein Tagebuch ist mein Gedanken Gang. Und ich lebe ja und werde, Gottseidank, auch nach diesem Buch weiter leben! Lach, ich hatte die Untergangs-Szene erfunden, auch sie war nur hier im Buch… probeweise scherzte ich damit… löschte sie… wirklich und fand sie dann doch auf der Festplatte im ´Papierkorb`. Reversibilität ist im PC möglich, auch der Tod aufhebbar […], alles geschieht ja hier im PC durch mein Hirn eben mit Überlichtgeschwindigkeit! Für Roman aber, meine Kreatur, als wäre ich sein Herrgott, geschahs dann so…“[572]
Ganz anders ist dagegen im Verweser das Verhältnis des Erzählers zu Nicolao Granucci, keine erfundene, sondern eine historische Figur, die auf das Ich eine besondere Faszination ausübt: „[…] der Mann schien mir ein Hellseher wie Nostradamus, der auch meine Zukunft vorausgesagt hatte, ja, langsam bestimmte, je mehr ich mich ins Skript vertiefe“[573]. Es scheint jedoch so, als handle es sich eher um ein gegenseitiges Bestimmen: als versuche Granucci durch das Buch des Erzählers den für das eigene Werk ausgebliebenen Ruhm zu erlangen („[…] irgendetwas muss da geschehen sein, dass der wohlverdiente Erfolg und Ruhm bei ihm ausgeblieben war! Will er mich jetzt benutzen, schoss es mir durch den Kopf! […] Daher meine Schreibwut?!“[574]), während der Erzähler seinen Roman auf die interessante Figur des Arztes und Magiers aufbaut: „Erlaube, Nicolao, dass ich mich einmische, eingebrochen bin aus dem Zeitfeld im Jahr 2002, wo du jetzt sein wirst, da es mich gibt.“[575]
Genauso verwirrend wie die Handlungsstruktur ist auch die Erzählsituation des Romans Vaterlandstage, dank des permanenten Wechsels zwischen verschiedenen Pronomina (Ich-Du-Er) und der fließenden Übergänge zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Erfindung, dem alter ego Michael T.. Oliver Sill ist es gelungen, eine gewisse Ordnung zwischen den verschiedenen ´Sprechern` zu schaffen. Als erstes betont er die notwendige Differenzierung zwischen dem Ich-Erzähler und Michael T.: „T. ist […] eine imaginierte Figur, andernorts wird er als geträumte Figur des Ichs bezeichnet […]: Alter ego des Autors vielleicht auch, vor allem aber Widerpart eines textimmanenten Ich-Erzählers, der der eigenen Erfindung, Michael T., aussagenlogisch übergeordnet ist. Dieses Ich, obgleich namenlos, ließe sich vielleicht als D.S. bezeichnen; ganz gewiss aber handelt es sich nicht um den realen Autor Dieter Schlesak […].“[576]
„So habe ich mir diesen T. erfunden, anstatt meiner hier nun zurückgeschickt. Seite um Seite.“[577]
Diese klare und übersichtliche Rollenverteilung zwischen erzählendem Ich und erzähltem Er bleibt jedoch im Verlauf des Romans nicht so erhalten: in zahlreichen Passagen spricht Michael T. in Form innerer Monologe von sich selbst in erster Person, oder redet sich in Selbstgesprächen mit der zweiten Person an; das erzählende und schreibende Ich spricht sich an manchen Stellen selbst mit Du an und erscheint sogar als Michael T.. „Nachvollziehbar wird dieses Verwirrspiel zwischen dem Ich und Michael T., zwischen Ich, Er und Du nur dann“, erklärt Sill, „wenn man sich den Spiegelungseffekt, die gleichsam gedoppelte Erzählsituation der Fiktion in der Fiktion vergegenwärtigt: während Michael T. im unendlichen Regress von Leben und Schreiben befangen ist, erfindet sich das erzählende Ich eine Figur, die stellvertretend für das Ich nach Rumänien reist, um nach der Ausweisung darüber zu schreiben.“[578] Ich und Er sind nicht identisch, obwohl beide in C. an einer Lebensgeschichte schreiben, deren frühere Phasen durchaus übereinstimmen. Doch während sich Michael T. an das hält, was er auf seiner Reise im Dezember letzten Jahres erlebt hatte, demnach auf eine Reise baut, die im Desaster endet, erfindet das Ich den Reisenden, wohl wissend, dass die Heimkehr auf diesem Wege illusorisch bleibt und nur in der Erinnerung möglich ist. „Während das erzählende Ich seine Funktion gewinnt innerhalb eines Textes, der auf Seite 450 beendet ist, bleibt Michael T. gefangen im unendlichen Regress von Schreiben und Leben, gefangen im nicht endenden Versuch, den durch den Heimatverlust entstandenen Riss schreibend zu überwinden, sich schreibend ´zu heilen`. Und in diesem Punkt steht Michael T. dem Autor Dieter Schlesak sehr viel näher als das Ich eines Textes, der notwendig an ein Ende gelangen muss.“[579]
Auf die autobiographische Form des Erzählens genauer eingehend untersucht Sill, inwieweit Schlesak in seinem Roman eine neue Variante der Ich-Ich-Doppelung erfunden habe. Dabei stellt er fest, dass der Schriftsteller  zum Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Ich die Spaltung des Gegenwarts-Ich hinzufügt und „auf diesem Wege das abgespaltene Alter ego Michael T. mit einem offenen Zukunftshorizont [ausstattet], den das in C. zurückgebliebene Ich für sich ´verloren` glaubt“[580]:
„Und wer das Leben verloren hat, der schreibt […], und so verjüngst du dich, wirst zu T., der noch alles vor sich hat, obwohl gleichaltrig. Guter Trick, nicht?! Nach vorn also, da ist noch alles offen […].“[581]
Bis zum Zeitpunkt der Abreise haben beide Ich, das erzählende und Michael T. eine gemeinsame Vergangenheit, lebensgeschichtlicher Hintergrund auch des Schriftstellers. Mit seiner Reise in eine Welt jenseits der Grenze, aus der sich das erzählende Ich und Dieter Schlesak selbst ausgeschlossen sehen, „tritt Michael T. als vermittelnde Instanz zwischen das erzählende und das erzählte Ich der eigenen Kindheit und Jugend. [… Er] erscheint als fiktiver Gewährsmann der eigenen Erinnerung, […] befördert und vertieft […] das Eintauchen in eine Vergangenheit, die nur mehr in der Erinnerung existiert.“[582]
Für eine möglichst eingehende Interpretation der Erzählsituation schlägt Sill zwei Lesarten vor: in der ersten geht das Buch auf Träume Michael T.`s während seiner Bukarester Haft zurück. Nach der Ausweisung kehrt Michael T. nach C. zurück und wird selbst zum Ich-Erzähler. „Bedenkt man die Kreisschlüssigkeit der Erzählsituation […], dann erscheint Michael T. als fiktives Alter ego eines Autors, dessen Erinnerungs-, Reflexions- und Schreibarbeit ja in der Tat niemals an ein Ende zu gelangen scheint.“ In der zweiten Lesart wird Michael T. zum „Widerpart eines textimmanenten Ich-Erzählers“ und seine Reise nur erdacht, da das illusionslose Ich davon überzeugt ist, dass Heimkehr allein in der Erinnerung und in Form eines auf Erinnerung gegründeten Schreibens möglich ist. „Beide Instanzen, der Ich-Erzähler in C. und der ruhelos reisende, vom Heimweh vorangetriebene Michael T., sind Vergegenständlichungen des Autor-Ichs, wenn man so will: ´zwei menschliche Seelen in der Brust` des Autors Dieter Schlesak. Die eine ist die Figur der Hoffnung auf eine dereinst mögliche Heimkehr, die andere weiß um die Vergeblichkeit dieser Hoffnung und überlässt sich den ´Gedächtnisparadiesen`.“[583]

 512] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 851
[513] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 105 f.
[514] Dieter Schlesak: Stehendes Ich in laufender Zeit, S. 198
[515] Wolfgang Schlott: “Stehendes Ich in laufender Zeit”: Buchrezension in Kommune 2/1995
[516] Dieter Schlesak: Analyse meiner Selbstbiographie, S. 172
[517] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 826
[518] Ebenda, S. 825
[519] Edith Konradt: Von der Unentbehrlichkeit des Chronisten in Süddeutsche Zeitung 30.03.1995
[520] Dieter Schlesak: Auslegungen zu Vaterlandstage, undatiertes Typoskript
[521] Rodica Drăghincescu: Interview mit dem Schriftsteller Dieter Schlesak, Typoskript, S. 6
[522] Ebenda
[523] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 344
[524] Rodica Drăghincescu: Interview mit dem Schriftsteller Dieter Schlesak, Typoskript, S. 2
[525] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 345
[526] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 346
[527] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 849
[528] Ebenda
[529] Heinz Matunke: Begegnungen der 3. Art in einem Zeitenbruch in Leipziger Volkszeitung, Oktober 1994
[530] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 849
[531] Ebenda, S. 853
[532] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 156
[533] Dieter Schlesak: Analyse meiner Selbstbiographie, S. 172
[534] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 816
[535] Ebenda
[536] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 34
[537] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 817
[538] Ebenda
[539] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 446
[540] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 818
[541] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 13
[542] Dieter Schlesak: Auslegungen zu Vaterlandstage, undatiertes Typoskript
[543] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 359
[544] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 438
[545] Renate Schauer: Aalen ist ein Stück Heimat in Schwäbische Post 18.11.1986
[546] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 363
[547] Ebenda, S. 360
[548] Dieter Schlesak: Auslegungen zu Vaterlandstage, undatiertes Typoskript
[549] Renate Schauer: Aalen ist ein Stück Heimat in Schwäbische Post 18.11.1986
[550] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 346
[551] Dieter Schlesak: Der Verweser, S. 125
[552] Dieter Schlesak: Mails und Küsse. Schöne Neue Welt im Internet, S. 27
[553] Dieter Schlesak: Der Verweser, S. 136
[554] Ebenda, S. 178
[555] Dieter Schlesak: Mails und Küsse. Schöne Neue Welt im Internet, S. 12
[556] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 343
[557] Dieter Schlesak: Romans Netz, S. …..
[558] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 134
[559] Dieter Schlesak: Der Verweser, S. 17
[560] Ebenda, S. 47
[561] Ebenda
[562] Ebenda, S. 67
[563] Ebenda, S. 144
[564] Rodica Drăghincescu: Interview mit dem Schriftsteller Dieter Schlesak, Typoskript, S. 5
[565] Dieter Schlesak: Stehendes Ich in laufender Zeit, S. 20
[566] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 17
[567] Ebenda, S. 139
[568] Ebenda, S. 126
[569] Dieter Schlesak: Romans Netz, 218
[570] Ebenda, S. 212
[571] Ebenda, S. 221
[572] Ebenda, S. 218
[573] Ebenda, S. 11
[574] Ebenda, S. 49
[575] Ebenda, S. 110
[576] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 819
[577] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 31
[578] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 820
[579] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 822
[580] Ebenda, S. 823
[581] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 32
[582] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 829
[583] Oliver Sill: Reisen wegwohin, S. 861
[584] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 275
[585] Ebenda
[586] Dieter Schlesak: Analyse meiner Selbstbiographie, S. 172
[587] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 276
[588] Briefwechsel: Dieter Schlesak an Heinrich Vormweg (25.01.1987), aus dem Privatarchiv des Schriftstellers
[589] Dora Bettina Schuller: Sprache als Vaterland, S. 132
[590] Rodica Drăghincescu: Interview mit dem Schriftsteller Dieter Schlesak, Typoskript, S. 7
[591] Dora Bettina Schuller: Sprache als Vaterland, S. 131 f.
[592] Werner Söllner: KLG, S. 5
[593] Dora Bettina Schuller: Sprache als Vaterland, S. 131
[594] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 207
[595] Ebenda, S. 412
[596] Ebenda, S. 109
[597] Ebenda, S. 113
[598] Ebenda, S. 50
[599] Ebenda, S. 48
[600] Ebenda, S. 51
[601] Ebenda,  S. 77
[602] Ebenda, S. 314
[603] Dieter Schlesak: So nah, so fremd, S. 43
[604] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 173
[605] Ebenda, S. 48
[606] Dieter Schlesak: Vaterlandstage, S. 79 f.
[607] Wolfgang Schlott: Der Verweser Buchrezension in Die Horen, Dezember 2002 und in Halbjahresschrift, November 2002
[608] Dieter Schlesak: Auslegungen zu Romans Netz, unveröffentlichtes Typoskript
[609] Dieter Schlesak: Selbstbiographie, siehe http://www.geocities.com/ Transsylvania/So nah, so fremd.html

[610] Edith Konrad: An den Rändern der Selbstreferenz. Gespräch mit Dieter Schlesak am 9.02.1992 in Stuttgart, unveröffentlichtes Typoskript S. ……

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