DIETER SCHLESAKS OST- UND WESTKONZEPTIONEN IM
ZUSAMMENHANG MIT DEM BEGRIFF „ZWISCHENSCHAFT“
Maria IROD (Bukarest)
In verschiedenen Stellungnahmen zum
Zeitgeschehen nach dem politischen Umbruch in Osteuropa, die vor allem in der
rumänischen Presse erschienen sind[1],
hat Dieter Schlesak eine brisante Formulierung geprägt, die seine Zeitkritik
und die im Laufe mehrerer Jahrzehnte herausgearbeitete Geschichtsauffassung
vorzüglich zum Ausdruck bringt. Er spricht wiederholt von einem „Reichtum des
Ostens“ und einer „Armut des Westens“. Was durch dieses scheinbare Paradox auf
die Spitze getrieben wird, ist die für das literarische Werk Dieter Schlesaks
grundlegende Weigerung, einen (post)modernen immer noch von Historismus und
Materialismus geprägten Wertekanon durch das eigene Schreiben fortzuführen.
Die Problematik der Gemeinsamkeiten
und Unterschiede zwischen Ost und West beschäftigt den in den Westen
ausgewanderten deutschstämmigen Osteuropäer bereits in seinem ersten Prosabuch
mit dem eindeutigen Titel Visa. Ost-West-Lektionen
(S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main 1970). Mit diesem Essayband fängt
Schlesaks Gesellschaftskritik an, die in seiner Sonderposition eines zwischen
Sprachen und Kulturen angesiedelten Künstlers gründet. Die „Zwischenschaft“ als
Erkenntnismittel und Identitätsmerkmal wird also gleich nach der
„Weltenwechselerfahrung“ thematisiert. Hier handelt es sich freilich in erster
Linie um eine Verortung im geografischen und politischen Sinne, einer geistigen
Anwesenheit im Osten und im Westen, sowie einer Distanzierung von beiden
Systemen, die „den unbestechlichen Blick“ und die Kritikfähigkeit des
Schriftstellers ermöglicht. Auch wenn die Ausführungen im Hinblick auf Rumänien
ihre Aktualität weitgehend eingebüßt haben, ist das Buch mehr als nur ein
historisches Dokument[2].
Es enthält Aussagen, die zum Kern des Schlesak’schen Denkens gehören und die in
späteren Schriften wiederaufgenommen, nuanciert, ergänzt, radikalisiert und nur
selten widerlegt werden. Für die Identitätskonstruktion des „Zwischenschaftlers“
ist es ein sehr aufschlussreiches Dokument, in dem die bewusste Entscheidung
für ein Beharren in der Heimatlosigkeit, d.h. für eine absolute
Deterritorialisierung im Sinne von Deleuze und Guattari deutlich artikuliert
wird.
Bezeichnend dafür ist auch die
Reaktion Ciorans, der dem Autor im Zusammenhang mit diesem Buch und einem
weiteren Essayband (Geschäfte mit
Odysseus. Zwischen Tourismus und engagiertem Reisen, Hallwag Verlag, Bern
und Stuttgart 1972) schreibt:
Man
merkt […], dass Sie für immer durch Ihre balkanischen Erfahrungen gezeichnet
sind. Sie werden niemals ein Westler sein.[3]
In einem früheren Brief heißt es
ebenso eindeutig:
Bei
unserer Begegnung in Paris fiel mir auf, wie sehr Sie von dem walachischen
Milieu geprägt worden sind, in dem Sie lebten. Eine wahrlich tiefreichende
Erfahrung, da Sie nicht zögern, Notre Dame die winzigen Moldauklöster
vorzuziehen [...]. Aber es kommt noch besser: als ich zum erstenmal in den
„Westen“ kam, störte mich am meisten das Fehlen der Zeit. [...]. Sie haben also
die gleiche Erfahrung gemacht wie ich. Dazu machen Sie eine erstaunliche
Bemerkung: „Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeit-Mangel und die Hast.“
[...].
„Progressivität
als Kitsch“ konnte nur einer schreiben, der aus dem Osten kommt. Mich macht all
das Falsche und Groteske der „revolutionären“ Unternehmen in den so genannten
zivilisierten Ländern genauso rasend wie Sie.[4]
Dabei identifizert Cioran treffend die
Hauptursachen des Unbehagens, das Dieter Schlesak bei seinem ersten Kontakt mit
Westeuropa empfindet: den Zeitmangel und die Fortschrittsgläubigkeit, beides
Auswirkungen des modernen linearen Zeitbegriffs.
Grundsätzlich hat sich Schlesaks
Einstellung nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Osteuropa
nicht geändert. Die Problematik der Zeit bleibt für sein Verstehen der
Differenzen zwischen Ost und West ebenso zentral. Aufgrund der Erfahrungen, die
er in einer von Hektik, ständiger Zeitnot, dem Diktat der Effizienz und dem
Arbeitsfanatismus geprägten Gesellschaft machen musste, entwickelt Dieter
Schlesak ein Konzept, das man auf den ersten Blick als völlige Abkehr von der
säkularisierten Moderne bei gleichzeitiger Wendung zu vormodernen Traditionen
deuten könnte, zumal er wiederholt und mitunter in Anlehnung an rumänische
Vorbilder vom „Boykott der Geschichte“[5]
als einem Desiderat des befreiten Individuums auf dem Weg zur
Selbstverwirklichung spricht.
Auf die Frage der Chronokratie als
Krankheit des modernen Menschen, die im engen Zusammenhang mit einer auf
Fortschritt und rationale Planbarkeit gerichtete Gesellschaftsordnung steht,
sowie auf den von Dieter Schlesak oft thematisierten Versuch, mit Mitteln der
Literatur der Kontingenz zu entfliehen und so Zugang zum Bereich des Zeitlosen
zu suchen, ist bereits eingegangen worden[6].
Hier gilt es die Ost-West-Dialektik angesichts der „spirituellen Wende“[7] im
Denken Dieter Schlesaks nach 1989 zu untersuchen. Dabei wird das Augenmerk
hauptsächlich auf den nicht-fiktionalen Textkorpus gerichtet[8].
Die Ost-West-Thematik kommt mir als
ein Teilaspekt des Schlesak’schen Grundbegriffs „Zwischenschaft“ vor, der in
seinen biografischen, politischen und weltanschaulichen Implikationen bereits
besprochen wurde[9]. Meine These war, dass
Dieter Schlesak sich allmählich von der Dialektik des Fremden und des Eigenen
distanziert zugunsten einer Radikalität im Denken des Fremden. Die Fremdheit
ist eine unaufhebbare Bedingung der menschlichen Existenz und die
Zwischenschaft ist die Anerkennung dieser Grundbedingung und die Verweigerung,
an den gewohnten Kategorien des Denkens teilzunehmen. Nach dem Zusammenbruch
des alten Paradigmas, d.h. nach dem Tod der Metaphysik, der auch mit den
historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zusammenhängt, sei eine „Umkehr
aller Vorstellungen“, um mit Friedrich Hölderlin, einem von Schlesak oft
zitierten Autor, zu sprechen, dringend notwendig. Schlesak findet eine Lösung
in der „Rückkehr zu Längstgewusstem“, d.h. in der Wiederaufnahme einer
hermetischen, dissidierenden Tradition, jenseits der offiziellen Denksysteme.
Diese Wiederaufnahme bedeutet jedoch keine Reterritorialisierung, sondern
vielmehr einen ständigen Versuch durch Variationen des Alten unbekannte
Resonanzen spürbar zu machen. Das Beharren in der Nicht-Zugehörigkeit kommt
einer „Augenüffnung“ gleich, einer Bewusstwerdung, die das Leben intensiver
macht. Das Schreiben im Zustand der Zwischenschaft ist folglich mehr als nur
Schreiben. Es ist eine dem Gebet und der Meditation ähnliche Lebenspraxis, die
eine Wiederversöhnung zwischen Körper und Geist anstrebt. Und diese
psychologische Coniunctio vollzieht
sich auf der Ebene der Schrift, die selber doppelter (immaterieller und
irdischer) Natur ist.
Im Rahmen dieser komplexen Problematik
der Zwischenschaft ist auch Schlesaks Gebrauch der Kategorien Ost und West zu
verstehen. Der Autor betont erneut seine zwischenschaftliche Position, indem er
den Standort beschreibt, von dem aus er seine Überlegungen zum Thema der
Kulturkreiszugehörigkeit formuliert. Sein „ostwestlich gespaltenes Bewusstsein“[10]
hält ihn davon ab, von einem einzigen Bezugspunkt auszugehen und den Vergleich
zwischen Ost und West eindeutig im Spannungsfeld von Moderne und Tradition zu
verorten.
Freilich ist in diesem Zusammenhang
nicht immer leicht zu erkennen, was genau unter Ost bzw. West gemeint ist.
Ausgehend von dem biografischen Hintergrund des Autors sowie von seinen
Ausführungen im oben erwähnten Vortrag über den „östlichen Reichtum“ und die
„westliche Armut“ darf man annehmen, dass es sich hauptsächlich um Ost- und
Westeuropa vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs handelt. In diesem Sinn
ist auch eine Kontinuität zwischen dem in Visa.Ost-West-Lektionen
unternomenen Systemvergleich und der Auseinandersetzung mit den seit dem
Umbruch von 1989 zu bewältigenden Transformationsprozessen festzustellen. Dass
dabei Rumänien im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Ost-West-Thematik
steht, ist nicht allein auf die Herkunft von Dieter Schlesak zurückzuführen,
sondern darüber hinaus auf den Sonderstatus, der diesem Land in seiner
Vorstellungswelt zukommt: als imaginierten Ort der denkbar größten Vielfalt
Europas, quasi als geopolitische Verkörperung des Zwischenschaftlichen:
...es
ist bis in die Sprache, den Lebensstil, die Menschen von einer Symbiose von
Einflüssen und Kulturen geprägt, die ihresgleichen sucht: ostwestlich,
türkisch, byzantinisch, orthodox, römisch, dakisch; es gab slawische,
französische, deutsche, ungarische, habsburgische, russische Einflüsse; es gibt
kaum ein Land in Europa, das so eine Synthese bietet.[11]
Es wäre an dieser Stelle nach den
methodologischen Ansätzen zu fragen, mit denen sich die Bedeutung von
Ethnizität und die Thematisierung der kulturellen und nationalen Differenzen
bei Dieter Schlesak am besten untersuchen ließen. Zweifellos kämen aus dem
Bereich der imagologischen Forschung wichtige Impulse zur Interpretation
einschlägiger Textstellen. Dabei ginge es vor allem darum, das Vorhandensein
unterschiedlicher national gefärbter Fremd- und Eigenbilder festzustellen und
ihre Funktion innerhalb des Textes aufzuzeigen. Es ist allerdings anzumerken,
dass es sich bei Dieter Schlesak nie um eine binäre Oppostion zwischen Auto-
und Heteroimages[12] handeln kann, da er
selbst aus einer nicht eindeutig einzuordnenden Perspektive des Querdenkers
spricht. Für sein Literaturkonzept, das die mimetische Wiedergabe der sozial
und kulturell produzierten Wirklichkeitsbilder verwirft und die Erfassung von
Realität in einem kohärenten Ganzen als Fiktion entlarvt, sind die
fragmentarische (Nicht)Identität und das Sich-Bekennen zur Erfolglosigkeit im
marktwirtschaftlichen System von großer Bedeutung:
...ich
will mich mit der Wahrheit des Choks und der Querschläger weiter verbünden,
während die „Sieger“ das „Ausmalen“ möchten, den beschränkten Horizont des
„Antiquarischen“, Kleinen, Regionalen, Landschaftlichen [...] Der Beweis bei
den Siegern ist der Erfolg. Unsereiner aber steht in Beweisnot. [...] Nun aber
wollen plötzlich alle zu den Siegern des „Alles-ist-so-wie-es-ist“ gehören.
Weiter: Auch ob einer zur Handlungseinheit
gehört, über die er berichtet, ist entscheidend für seine Perspektive. Und als
Emigrant und Zwischenschaftler gehöre
ich nicht mehr dazu.[13]
Die Ost- und Westbilder und die
Nation-Images, deren sich Dieter Schlesak bedient, haben, wie mir scheint, mit
den identitätsstiftenden Auto- und Heteroimages wenig zu tun. Indem er sich vor
der Identifizierung mit einem festen sozialen oder kulturellen Zentrum abhält,
schafft er es das kulturell Bestimmte immer wieder ins Unbestimmte des
Imaginären zu treiben und eine Sichtweise über Länder und Kulturkreise zu
bieten, die sich in kein kollektivabhängiges Konstrukt der Welt integrieren
lassen. Das schließt jedoch eine politische Interpretation seiner Schilderungen
von Ost- und Westverhältnissen nicht aus. Hinter seiner Kritik an der
Konsumgesellschaft liegt ein klares Engagement für ein „anderes Daseinsgefühl“
und gegen die „ontologische Zensur“, die im Westen alle öffentlichen Handlungen
und die Institutionen bestimme:
Für
den Westeuropäer ist es dagegen nicht diese leicht auszumachende politische
Zensur, sondern eine viel tiefer gehende innere ontologische Zensur, die von
der Psychiatrie bewacht wird, die eiserne Grenze für konformes Verhalten,
dessen Ränder kaum definierbar, aber in letzter Instanz mit Logik und
Rationalität, Raum und Zeit, mit dem veralteten Newton’schen Weltbild
zusammenhängen.[14]
Das Thema der „ontologischen Zensur“,
die die Scheinwirklichkeit einer heilen bruchlosen Welt aufrechterhält und die
in die Geschichte, d.h. in die „ohnmächtige Linearität der Schlüsse“[15]
nicht einzugliedernden Ereignisse (Massenvernichtungen, Katastrophen,
Revolutionen) aus dem Bereich des Erklärlichen ausschließt, ist von
unverkennbarer politischer Relevanz. In seiner Auseinandersetzung mit einigen
Interpreten von Paul Celan, die immer noch in der als überholt erachteten
Aufklärungstradition verharren und angesichts der Poetik Celans zu Klischees
wie „Hermetik“ oder „absolute Sinnlosigkeit“ greifen, kritisiert Dieter
Schlesak die strikte Trennung von Transzendenz und Geschichte und die damit
einhergehende Unfähigkeit, die „unerklärlichen“ historischen Ereignisse als
Einbrüche aus einem höheren Bereich der Wirklichkeit anzuerkennen. Damit setzt
er sich für ein „Zusammentreffen zweier seit der Aufklärung getrennter
Kulturen“ ein: „Geist“ und „Politik“, „exakt“ und „human“, „Engagement“ und
„Transzendenz“[16].
Eine Erwähnung verdient in diesem
Zusammenhang auch das Thema der Interdisziplinarität, die einen wesentlichen
Aspekt des Begriffs „Zwischenschaft“ darstellt[17].
Darunter versteht Dieter Schlesak vermutlich eine Aufhebung der seit Anfang der
Moderne bestehenden Trennung zwischen dem wissenschaftlichen und dem
literarischen Diskurs, die jenseits der akademischen Institutionen zu
vollziehen ist, als gegenseitiges Inspirieren und Affizieren von verschiedenen
Disziplinen, Künsten, Praktiken etc. Angesichts der unzureichenden Instrumente
der Erkenntnis und der Weltauslegung, die teilweise in den
Geisteswissenschaften und auch in der Literatur noch angewandt werden, schlägt
Dieter Schlesak eine Poetik vor, die in Anlehnung an die Quantentheorie dem
chronologischen Längsschnitt der traditionellen Erzählung und dem rationalen
Gedankengebäude eine „Ästhetik der Plötzlichkeit“ (K. H. Bohrer) und den
Querschnitt des augenblicklichen Erlebnisses vorzieht:
...gewohnte
Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im subatomaren Bereich
auszudrücken. [...]. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer Selbstverwandlung
ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den Abgrund fähig. Die
Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben etwa, da, wo Zeit,
die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur
Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der Quantenlogik, einer
Wissenschaft von JETZT, die, wie auch eine neue Kunst, erst im Entstehen ist.
Dies im Schreiben, in der Meditation, im Gebet, in der Liebe und in der
Fantasie und in den besten Stunden vieler Einzelner, ein Raum, wo neue
Wirklichkeit entstehen wird.[18]
Vor dem Hintergrund dieses
umfassenderen Erklärungsmusters, das poetologische, erkenntnistheoretische und
ethische Aspekte miteinander verbindet, ist auch die Problematik der
„westlichen Armut“ und des „östlichen Reichtums“ zu verstehen. Um der
Übersichtlichkeit willen kann man die Unterscheidungsmerkmale von Ost und West,
so wie sie in den hier analysierten Büchern vorkommen, wie folgt
zusammenfassen:
West:
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Ost:
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Bei einer solchen Gegenüberstellung
könnte der Eindruck einer Schwarz-Weiß-Malerei entstehen, wo dem Osten nur
Positives angedichtet wird. Tatsächlich weist Marian Victor Buciu mit Recht auf
eine gewisse verklärende Nostalgie, die in der Thematisierung des Ostens bei
Dieter Schlesak zu spüren ist[22].
Die Idealisierungstendenzen kommen am deutlichsten in der Behandlung der
Orthodoxie zum Ausdruck, deren „sinnliche Mystik“ und Öffnung dem abstrakten
Denken, der Erfahrungsarmut und der Neurose des modernen Intellektuellen
gegenübergestellt werden[23].
In der Begeisterung für die orthodoxe
Spiritualität, die Nähe und Unmittelbarkeit in der Erfahrung Gottes aufwertet,
klingt fast eine melancholische Selbstbezichtigung mit, wenn man bedenkt, dass
Dieter Schlesak den Schreibenden – dabei die eigene Betroffenheit hervorhebend
– mit dem Vampir als Symbol der Abwesenheit und des Nicht-leben-Könnens
vergleicht[24]. Wenn man hier zu einem
imagologischen Interpretationsverfahren greifen will, dann wäre vielleicht
Swiderskas in Anlehnung an Gadamer und Ricoeur erarbeitetes Konzept[25],
das zwischen zwei komplementären Typen der „Figuren des Fremden“ unterscheidet,
gewissermaßen dazu geeignet, die Schlesak’schen West- und Ostbilder zu
erfassen. Die eine Möglichkeit, das Fremde darzustellen, ist die Alter-Relation, in der das fremde
Element (Alter) in unmittelbarer
Beziehung zum Eigenen steht und als Kontrastfigur die Identität der eigenen
Gruppe stärkt. Hingegen stellt Alius
ein ganz Fremdes dar, das unbestimmt und fern außerhalb der Vorstellungswelt
einer bestimmten Gruppe oder Kultur sich befindet. Während Alter meistens in die
Ideologie einer Gruppe integriert wird, weist Alius einen utopischen und subversiven Charakter auf.
Bei Dieter Schlesak ist das Image des
Ostens trotz seiner überwiegend positiven Eigenschaften nicht in der Lage, zur
Bildung einer kollektiven Identität beizutragen. Weder der Osten noch der
Westen können die Rolle des Alter
gegenüber einem hypostasierten Konstrukt des Eigenen übernehmen, auch wenn sie
scheinbar in binärer Opposition zueinander stehen. Der Schreibende selbst ist
nicht mehr zentriert auf eine ideale Position, von der aus die Darstellung von
Wirklichkeit gesichert wäre. Für ihn sind nur die „Hypostasen des Fremden“
wahr, „wo auch die Sprache sich von Satz zu Satz wundert, dass sie noch da ist,
und es sagt.“[26] In der
„Abschiedssituation“, in der sich der Zwischenschaftler befindet – „...jetzt
vor allem, wo sogar der Osten in die Vergangenheit rückt, die Kindheit während
der Nazizeit in die Vorvergangenheit, immer im Abschied und voller Trauer, wie
schon gestorben, zwischen Leben und Tod, das in sich spiegelt, was die Zeit
ist: alles noch da und schon längst vergangen“[27] –
fasst er sein Schreiben als ein „Kreisen an den Rändern unseres Bewusstseins“[28]
auf, wo das Ich für Momente aus seinem lebensgeschichtlichen Kontext
herausgeschnitten und seine Zugehörigkeit zu einem Territorium der Fremde
jenseits aller sozialen und kulturellen Bestimmungen hervorgehoben wird.
Schlesaks Ost- und Westbilder sind frei flottierende Zeichen, die in keinem
mimetischen Verhältnis zu irgendeiner sozio-kulturellen Realität stehen,
sondern sich vielmehr nach einer Logik der Zwischenschaft zu einem Modell der
Weltdeutung zusammenfügen, das dem neuen posthistorischen[29]
Paradigma entsprechen würde.
Die Darstellungen des Ostens werden
auch zu keinem einheitlichen Alius-Bild,
da ihr utopischer Charakter oft von Relativierungen durchkreuzt wird. Der
größte Vorwurf, den man dem Osten machen kann, ist laut Schlesak nicht der
Staatssozialismus, den er als Produkt der abendländischen Philosophie (Marx,
Engels) betrachtet, sondern die „Kehrseite der Gläubigkeit“, der religiöse
Fundamentalismus. In der Orthodoxie meint er trotz aller Begeisterung etwas
„Talibanisches“[30] zu entdecken. Mit seiner
scharfen Kritik an jedem Versuch, Erfahrungen der Transzendenz zur Norm des
Kollektivverhaltens werden zu lassen, bekennt sich Dieter Schlesak eindeutig
zum (westlichen) Individualismus. Bezeichnenderweise sind es große
Individualisten der südosteuropäischen Kultur, die bei seinem Zeitbegriff und seinem
Bild des geistlosen Westens Pate stehen: „Sowohl bei Cioran als auch bei Noica
gibt es [...] deutlich einen östlichen, einen antiokzidentalen Zug wider das
rein äußerliche Tun, den Fleiß, die Arbeit, Abneigung, die bis zum Hass
reicht.“[31]. Noica, ähnlich wie
Cioran, ruft zum „Boykott der Geschichte“[32]
auf und Celans Geschichtsauffassung wird in ihrer messianischen Dimension –
„Umkehr der Zeit, Gang durch die Hölle des Exils bis zur „Erlösung“, der
Aufhebung von Zeit“[33] –
von der jüdischen Mystik geprägt. Schlesak kritisiert jedoch Noicas
Einseitigkeit und „Realitätsblindheit“ in der Ablehnung der westlichen
Zivilisation[34] und fühlt sich dem
Westler Carl Friedrich von Weizsäcker näher und dessen Forschungsinstitut, wo
„östliche Weisheit“ und „westliche Wissenschaft“ kooperieren und zu einem
Paradigmenwechsel beitragen sollen[35].
In diesem Zusammenhang erübrigt sich
die Frage, ob der Osten und der Westen bei Dieter Schlesak essentialisiert,
d.h. als homogene Einheiten betrachtet werden[36].
Auch wenn Osteuropa mitunter als das Andere des Westens erscheint, wird es
niemals an einem westlichen normativen Modell gemessen. Indem das Dynamische
und Widersprüchliche innerhalb beider Systeme hervorgehoben wird, entsteht eine
plurale Sichtweise auf die Moderne, die Westliches und Östliches originell
aufeinander bezieht und dabei die Versteinerung in essentialistischen
Konstrukten vermeidet. Die Aufwertung des Subjektiven und seiner subversiven
Kräfte ist Schlesaks größtes Anliegen. Worum es ihm eigentlich geht, ist die
Überwindung der alltäglichen „Vergiftung durch Kopflastigkeit, durch ständiges
PLANEN“, des „Sich-nicht-öffnen-Können[s] aus mangelndem Vertrauen in die
Kräfte, die im Hirn, in den Atomen, in jedem Grashalm, in den Sternen wirken.“[37] Im Schreiben darüber ist das Östliche oft eine
Metapher für jenen „ontologischen“ Widerstand, den jeder Einzelne leistet, wenn
er „in der Nähe Ferne, ja, Fernweh zu fühlen“[38]
vermag.
[1] Vgl. Dieter Schlesak: Bogăţia
estului şi sărăcia vestului. In: Euphorion, Nr. 4, Sibiu 1995, S. 20 (Aus dem Deutschen von
Mihaela Sin). Der Text beruht auf
einem Vortrag, den Dieter Schlesak am 19. März 1993 in der „Evangelischen
Akademie Siebenbürgen“ in Hermannstadt gehalten hatte. Vgl. dazu: D.S.: Stehendes Ich in laufender Zeit. Leipzig
1994, S. 158 f.
[2] Oliver Sill vertritt diebezüglich eine andere Meinung. Vgl. Oliver Sill: „Reisen wegwohin“ – Prosa-Literatur
rumäniendeutscher Autoren zum Thema Migration: Richard Wagner, Herta Müller,
Dieter Schlesak. In: Georg Weber, Armin Nassehi, Renate Weber-Schlenther,
Oliver Sill, Georg Kneer, Gerd Nollmann, Irmhild Saake: Studien zu Ost-West-Wanderungen im 20. Jahrhundert. Westdeutscher
Verlag, Wiesbaden 2002, S. 809.
[3] Brief vom 9. September 1972. Vgl. Briefe
E. M. Ciorans an Linde Birk und Dieter Schlesak. In: Dieter Schlesak: Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung.
München 2005, S. 159.
[5] Dieter Schlesak: Von der Stärke des
Gedankens in finsterer Zeit. Der rumänische Philosoph Constantin Noica. In:
D.S.: Zeugen (Anm. 3), S. 335.
[6] Vgl. Maria Irod: Schrift und
Melancholie. Der Verweser und Vlad.Die Dracula-Korrektur. In: Jürgen
Egyptien, George Guţu, Wolfgang Schlott, Maria Irod (Hrsg.): Sprachheimat. Zum Werk von Dieter Schlesak
in Zeiten von Diktatur und Exil. Bucureşti /
Ludwigsburg 2009, S. 322-348.
[7] Bereits in Schlesaks Frühwerk (etwa im Debütband Grenzstreifen oder in Visa.Ost-West-Lektionen)
macht sich eine Tendenz bemerkbar, sich aus dem Kreis der bloßen
Gegenständlichkeit herauszuheben und die eigenen Interessen auf ein
Unsichtbares, hinter der Erscheinung Stehendes, zu verlegen. Dieser Impuls,
neue spirituelle Wege auszuprobieren, nimmt mit der Zeit zu, aber erst in den
letzten zwei Jahrzehnten rückt das Numinose in den Vordergrund des
Schlesak´schen Werkes. Aufgrund der intensiven Beschäftigung mit der
Transkommunikation, den Nah-Tod-Erlebnissen und anderen Grenzphänomenen sowie
deren literarischer Thematisierung könnte man von einem spiritual turn im Schreiben Dieter Schlesaks sprechen.
[8] Für die hier besprochene Themenkonstellation relevante
Buchveröffentlichungen sind vor allem Wenn
die Dinge aus dem Namen fallen (1991), Stehendes
Ich in laufender Zeit (1994), Eine
Transsylvanische Reise (2004) und Zeugen
an der Grenze unserer Vorstellung (2005). Von einer scharfen Trennung
zwischen Fiktion und Erlebnisschilderungen in Dokumentarform bzw.
poetologischer Aussage kann nicht die Rede sein. So wie Oliver Sill in Bezug
auf Stehendes Ich in laufender Zeit
richtig bemerkt, will Dieter Schlesak sein Werk als literarischen Text nicht
als historisches Dokument verstanden wissen (vgl. Sill, wie Anm. 2, S. 848).
Die Tagebuchform mit ihrem ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Zeitebenen,
die er im Falle der ersten zwei hier erwähnten Bücher auswählt, entspricht
nicht nur seiner Skepsis gegenüber großen epischen Konstrukten, die mit einem
veralteten bruchlosen Identitätskonzept arbeiten, sondern wird größtenteils
„durch die Hoffnung auf neue und tiefgreifendere Einsichten im Zuge des
letztlich unabschließbaren Prozesses der Selbstvergewisserung“ (Sill, wie Anm.
2, S. 850) motiviert.
[10] Dieter Schlesak: Eine
Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens. Edition
Köln 2004, S. 131.
[12] Die komapartistische Imagologie, die sich als Teildisziplin einer
interdisziplinär vorgehenden Literaturwissenschaft begreift, zieht dem auch in
nicht-wissenschaftlichen Kontexten auftretenden Wort „Bild“den Terminus „Image“
vor. Das Image wird sowohl von der kritisch-rationalistischen als auch von
der hermeneutischen Richtung der imagologischen
Forschung als Metazeichen definiert, dessen Denotat typische Vorstellungen vom
Andersnationalen / Anderskulturellen und vom Eigenen sind, während dessen Form
die Reihe der typischen Kollektivaussagen vom Eigenen und Fremden in
verschiedenen sozialen / kulturellen Diskursen darstellt. Dabei wird der Akzent
in erster Linie auf das Typische gelegt, was den literarischen Images nur
selten gerecht wird. Daher ist die imagologische Analyse literarischer Texte
bestrebt, die Funktion der Images im werkimmanenten Zusammenhang sowie ihre Wechselbeziehungen
mit den Kulturcodes des jeweiligen historischen Entstehungskontextes zu
untersuchen. Allen Ansätzen der zeitgenössischen imagologischen
Literaturwissenschaft liegt die konstruktivistische Annahme zugrunde, dass
weder Nationen noch Kulturkreise naturgegeben seien. Daraus ergibt sich die
starke entideologisierende Komponente der Imagologie, die jede bipolare –
staatliche oder völkische – Identitätsbildung, die die Welt in ein „Wir“ und
die „Anderen“ einteilt, hinterfragt. Für eine übersichtliche und kritische
Darstellung des Forschungsstandes vgl. Michail I. Logvinov: Studia Imagologica: zwei methodologische
Ansätze zur komparatistischen Imagologie. In: Germanistisches Jahrbuch GUS 2003, S. 203-220.
[15] Dieter Schlesak: Die nachzustotternde
Welt. Paul Celans „Wahn-Sinn“ – Leid und Erkenntnis eines millenaren
Zeitbruches. In: D.S.: Zeugen
(Anm. 3), S. 25.
[16] Dieter Schlesak: Wort als Widerstand
(I). Paul Celans Herkunft – Schlüssel zu seinem Gedicht?. In: D.S.: Zeugen
(Anm. 3), S. 32.
[17] Dieter Schlesak weist in seiner Ansprache anlässlich der Verleihung des Dr.
honoris causa der Universität Bukarest am 7. November 2005 darauf hin:
„Zwischenschaft benennt nicht nur das Nirgends-Zuhause-Sein, das zwischen alle
Stühle Gefallene, das Bodenlose, sondern inzwischen auch das heute so wichtige
Interdisziplinäre, das ja das global Verbindende, ja, Vernetzte ist, sie muss
der neuen Immaterialität unserer Wirklichkeit eingedenk sein, um in der
wirklichen Gegenwart, in dem, was Historie heute meint, anzukommen.“ Vgl. http://www.ggr.ro/schlesakDE.htm
[18] Dieter Schlesak: Über Sprachskepsis,
Bildverbot und den Begriff Zeit. In: D.S.: So nah, so fremd. Dinklage 1995, S. 357.
[19] Dieter Schlesak (Anm. 10), S. 128.
[20] Dieter Schlesak: Eine Horde von
Verzweifelten im Herzen des Balkans. In: D.S.: Zeugen (Anm. 3), S. 130.
[24] Dieter Schlesak: Der Tod und der Teufel. Materialien
zu „Vlad, der Todesfürst. Die Dracula-Korrektur“. Ludwigsburg 2009, S. 155.
[25] Vgl. Malgorzata Swiderska: Studien
zur literaturwissenschaftlichen Imagologie. Das literarische Werk Dostojewskijs
aus imagologischer Sicht mit besonderer Berücksichtigung Polens. Münster
2001, S. 13.
[26] Dieter Schlesak: Schreiben als
posthumes Leben.Rumäniendeutsche Lyrik der neunziger Jahre. In: D.S.: Zeugen (Anm. 3), S. 262.
[28] Dieter Schlesak: Fragmente zu einer posthumen Poetik. In: D.S.: Tunneleffekt. Gedichte mit einem Essay. Berlin 2000, S. 232.
[29] Auf den Begriff der „Posthistorie“ bei Dieter Schlesak kann hier nicht
eingegangen werden. Es sei jedoch en passant festgestellt, dass er nur
bedingt mit Arnold Gehelens Kategorie
der „Posthistoire“ zu tun hat. Bei Schlesak geht es vielmehr um einen Zustand
der Zeitgeschichte, der die Kluft zwischen einem überholten und noch weit verbreiteten
Weltbild einerseits und den neuen Technologien sowie der neuen Physik
andererseits deutlich macht.
[31] Dieter Schlesak: Der Philosoph, die
Dikatatur und die Revolution. Constantin Noica – rumänischer Denker in
finsterer Zeit. In: D.S.: Zeugen (Anm.
3), S. 301.
[36] In einer Studie, die sich mit dem Forschungsstand der Ethnologie befasst,
wirft Peter Niedermüller diese Frage auf und kritisiert die Theorie der
einheitlichen Moderne, die den Westen als einzigen Bezugspunkt betrachtet,
nämlich als einen Ort, wo „ein einheitliches System der modernen
Gesellschaftsordnung“ produziert wurde. Vgl. P.N.: Transformationen der Moderne. Ein Ost-West-Vergleich? In: Beate Binder, Silke Göttsch, Wolfgang
Kaschuba, Konrad Vanja (Hrsg.):Ort,
Arbeit, Körper: Ethnographie europäischer Modernen. Münster 2005.
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