Einführung
Dieter Schlesaks Heimatregion Transsylvanien wird bewusst als „Transsyl-Wahnien“ (Transilmania) bezeichnet, weil die Unvorstellbarkeiten ihrer Ge-schichtstragödien aus ihr eine der „verrücktesten“ und von der Geschichte am heftigsten gebeutelten Provinzen Europas gemacht haben. Sie ist mit dem europäischen Schicksal eng verbunden. Europas Gewalttaten und dessen Blutspuren haben, vor allem auch im 20. Jahrhundert, diese ungemein vielgestaltige, schöne und reiche Gegend fast zerstört, da sie alle europäischen Desaster, oft noch in gestei-gertem Maße als sonst wo, durchleben musste.
Das Buch wurde inzwischen in Mailand beim Verlag Garzanti italienisch veröffentlicht (L´Uomo senza radici. Der Mann ohne Wurzeln)
Transsylwahnien ist der dritte und letzte Teil der Transsylvanischen Trilogie. Der erste Teil ist der Roman: Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (Zürich 1986), und der zweite Teil: Capesius, der Auschwitzapotheker (Bonn 2006), der jetzt ein weltweiter Erfolg zu werden verspricht. Er wurde bisher nicht nur in die Sprachen übersetzt, in deren Ländern der Roman handelt, also ins Pol-nische (Auschwitz), ins Ungarische (es waren 1944 die ungarischen und transsyl-vanischen Juden, die in diesem Höhepunkt der Vernichtungsaktion in den Todes-fabriken vergast wurden). Ins Rumänische, Transsylvanien gehört zu Rumänien, ins Italienische (das Buch handelt zum Teil in Italien, wo der Autor lebt), dann gibt es Verträge mit einem spanischen Verlag, und vor allem, der Roman wird jetzt ins Englische übersetzt und erscheint in einem der größten amerkanischen Verlage Farrar, Straus & Giroux in New York. Weiter ins Hebräische, in Hollän-dische, ins Spanische, ins Portugiesische, ein Brasilianischer Verlag wird ihn übersetzen.
Und nun der neue Roman Transsylwahnien. Dieser führt mit seiner Handlung und seinen Figuren mitten in diese grausame Geschichte; in allen drei Romanen werden Geschichte, die Katastrophen, die Diktaturen, das Schicksal von Men-schengruppen als Familiengeschichte und Lebensgeschichte, Leiden und Tod, Verfolgung, Entwurzelung, Exil und gnadenlose Verluste von Einzelnen in zwei Weltkriegen, bis hin zur Endstation der Historie – Auschwitz, in Dokumentar- und Zeitliteratur übersetzt.
Transsylwahnien (Wahnien also) - anhand einer Familiengeschichte wird von dieser verrückten alten Kulturlandschaft erzählt, die jeder nur als Draculaland kennt, die aber vor allem im blutigsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte mehr an historischem Horror bietet als das eher kindliche Gruselmärchen. Vom Auschwitzapotheker bis hin zur Securitate.
Der Leser kann das blutige 20. Jahrhundert so überschaubar wie das Meer in ei-nem Wassertropfen aus erster Hand mit dem Blick eines Zeitzeugen nacherleben.
CymbidiumRusperAbrufbar auf Amazon/Kindle Lesegerät:
http://www.amazon.com/dp/B003F24HYK
Dieter Schlesak
TRANSSYLWAHNIEN
Roman
Meiner Mutter
I
1
Weg tauchen aus diesem Licht. Die Uhren nicht mehr hören, Nichts mehr hören. Mich verbergen, verschwinden. Ein Niemand sein. Und so alles ertragen können! Auch die Angst vor dem Tod, und die Angst vor dem Tod aller geliebten Menschen … Mutter gibt es nicht mehr…
Durch das geschlossene Fenster hinab in den grünen Garten sehen: auf die bekannten zwei Bäume, ich spürte ein Summen im Ohr, im Kopf. Ein Klopfen an der Glasscheibe, die trennt. Klopft ein Vogel, kein Brieflein im Schnabel? Ein Klirren, doch das dünne Glas hält. Auch kein Geist, Mutter ist nicht da, Unsinn, sich das vorzustellen; sie selbst würde darü-ber lachen; ein Geist? sie ist … ach nein, Grammatik stimmt so nicht mehr. Ich starre hinaus, hinein ins Zimmer. Alles nur Täuschung. Ich bin isoliert wie die meisten, habe Angst wie alle. Fühle mich der Erschöpfung nahe wie viele.
Draußen stürmt es; ein heftiger Nordwind, der die Bäume biegt, als wäre es ein großer Zorn. Vom Himmel ein Dröhnen. Ein Jet vom Militärflughafen Pisa. Dazwischen Rotmeisen auf den Olivenbäumen. Zerzaustes Thymiankraut oben im Licht des Berges Pedone.
Da kommt eben Hannah an. Man hört den Motor unse-res Autos, er heult in der Steigung auf, blubberndes Geräusch bei der Einfahrt. Ein Maultierpfad war es früher; wie die Zeit vergeht, eine hohle Gasse. Seit wann war Mutter nicht mehr hier? Seit vielen Jahren. Seit einer Woche ist sie tot, seit einer Woche, es war der 20. Februar, und sie wird NIE mehr hier-her kommen
Ich springe auf, renne die Treppe hinab. Der Hund bellt schon, plotzt gegen die geschlossene Tür. Die Signora kommt. Das Haus wächst, taut auf, streckt sich, scheint Leben anzu-nehmen. Leben?
Und nun ist auch Hannah da. Während ich ihre Einkäufe, Butter, Salate, Käse in den Kühlschrank räume, läutet es, es ist der Postbote, der sitzt auf seiner Vespa vor dem Tor, reitet darauf, die Füße aufgestützt. Reicht einen Brief. Doch niemals mehr von ihr. Es ist immer wieder das-selbe.
Nach dem Sturm gute Fernsicht. Solche Klarsicht ist selten, bis hinüber zum toskanischen Archipel und heute sogar bis Korsika; mittags können wir schon draußen am Steintisch sitzen; es riecht schön wie früher im Hau-senblaszhaus, wenn die ersten Spargelspitzen aus der Erde kamen, als würde es endlich Frühling auch in den Sinnen, die Luft ist scharf, der Himmel unwahrscheinlich blau (du kennst das mit dem blauen Band, sagte Mutter. Sie wird es nie mehr sagen!) Vogelgezwitscher in der Luft und dazu die Linie des Apennin wie mit dem Rasiermesser geschnitten. Im Garten blühen jetzt Mimosen und die japanischen Quitten, ich fasse sie gern an, sie sind ganz weich, wie Kinderlippen! Im Kinderhaus damals hatte Mutter auf die rosa Blüten gezeigt und gesagt, sieh, das sind Japanische Quitten, seither weiß ich es; so vieles hat sie mir zum allerersten Mal gezeigt und den Namen dazu gesagt. Und es ist ein Schrecken, als wäre nun seit Mutters Tod auch das Kind in mir gestorben…
Ich stand also in meinem Garten, fragte, was ich, der Nachgeborene, in all dieser Schönheit verloren hatte, stand da und träumte, und nur ein leiser Schmerz, der dieses Bild, das ich anstaunte, innen aufhob, kündigte an, dass alles, was ich sah, nicht mehr selbstverständlich war. Ich riss mich los, ging die Treppe hoch, öffnete die Badezimmertür. Als könnte mich alltägliche Gewohnheit schützen, griff zum Rasierapparat. Brummendes Geräusch des Trockenrasierers Marke Braun. Licht brennt im Spiegel, ins grüne Auge. Stimmung modelliert ein rundes Gesicht: manchmal ist es verfallen, doch öfter frisch, umrahmt vom Bart, sprödes Menschengras. Grauweiß sehe ich es vor mir. Gehe an dieser Farbe im Spiegel ent-lang… Und dann erschrecke ich, es gibt doch draußen über-haupt keinen Spiegel… Ich habe mir doch gesagt, am plausi-belsten, um überhaupt leben und weiter leben zu können, ist diese altehrwürdige Art, sich zu sehen: Dass es nichts, nur diesen Traum, den ich träume, und den wir das Leben nennen, gibt. Schon Calderon hat daran geglaubt und Das Leben ein Traum geschrieben. Einer, der davon überzeugt ist, ein so ge-nannter Solipsist ist, kann sich nicht im Spiegel sehen. Nicht, weil er keine Augen hätte, sondern weil es keinen Spiegel gibt. Den unabhängigen Spiegel gibt es nicht, weil es gar nichts gibt außer einem einzigen, jedoch bewussten Ich. „Doch, der Spiegel existiert“, bemerkt Johanna zurecht. Ich könnte Traumgebilde sein…
So etwa diese Frische von Chlorodont, das alte Mittel, auch das erinnert an Mutter, auch sie aber nur geträumt? Wie kann sie dann sterben, ist doch nur das Bild, der Traum von ihr jetzt gestorben und verschwunden? Oder… Das Bild von ihr ist noch in mir? Und plötzlich erinnert fast alles an sie; Wasser am Gaumen. Hart das Barthaar, wenn ich darüber streiche, weich die Haut, die sie einmal, oh ja, ganz fein sei-den, alles wie ein Kinderpopo, auf die Welt gebracht hat; ich betaste mit den Fingern erschrocken meine Haut, die glatte, die noch frei ist, drücke die müden Lider zu, träne, das Licht von draußen blendet, eben fällt der erste Sonnenstrahl auch auf den Haselstrauch des Nachbarn, fahle Streifen auf dem Gras im Garten. Blitzen der Sonne durch den Kastanienwald. Und ich atme tief, spritze kaltes Wasser in die Augen kaltes Wasser, blinzele durch die Tropfen in einen Strahl: Das ganze Spektrum scheint auf wie in einem kleinen Regenbogen an der Iris, an der Haut, als gäbe es keinen Abgrund mehr zwi-schen der Natur und mir. Ins funkelnde Wasser auf das Auge atme ich ein Mantra... wider die Angst. Lesen ist das rudimen-täre Gebet, die ausgedünnte Ekstase, die letzte Erinnerung an Gott: Es bestand alles vor uns und wird auch nachher weiter da sein: Schmerz der Geburt und Schmerz des Todes aber ist uns bewusst und ist in uns ein Leben lang. Und er kann in jeder Sekunde da sein.
Und nach unserem Spaziergang ging ich wieder in mein Zimmer. Und freute mich auf meine Bücher und auf das Schreiben, auf dem Schreibtisch ein Blatt, darauf stand:
„Ich meinte, es gäbe eine Rettung, nämlich alles auf sich zu nehmen, und ganz konsequent dem nachzugehen, dass alles nur von mir geträumt ist, so jedes Verbrechen auf mich selbst zurückweist, meine geträumte Welt ist, und ich dafür die Verantwortung trage. Doch auch der eigene Tod, der Muttertod, ja, der Tod überhaupt ist nichts als ein Hirngespinst, und so gehe ich von der Unfassbarkeit des Todes aus, die ja absurd ist:
Nein, ich kann es nicht glauben, und nichts ist beweis-bar, auch nicht, dass Mutter tot ist. Ist nicht auch die ganze Phänomenologie Hegels solch ein riesiger Traum“?
2
Der Übergang ist fließend, wir sind jetzt schon drüben, die von drüben hier neben uns, unmittelbar in unserer Nähe; - Freunde sahen mich verwundert an, wenn ich so sprach.
Als müsste ich mich jetzt der Gegenwart versichern, die wie immer schon vergangen zu sein schien … Ich lasse die grüne Milde der Umgebung ins Zimmer herein. Still ist es hier. Sehr still. Zu still, so dass ich meine, ein Spalt könnte sich auftun, und da würde ich hineinfallen. Auch auf dem gepflügten Feld des Nachbarn ist niemand. In der Ferne das Meer – blinkend. Ich höre ein Summen, als hätte ich Fieber, aber nur die Zeit steht still; es ist fast so still wie in einer Anstalt! Auch in meinem Haus hier spüre ich immer einen leisen ziehenden Schmerz, der mich mit kleinen Schlägen weckt und mich zu schreiben zwingt, denn was ich sehe, stimmt mit den Gefühlen nicht mehr überein; und manchmal sehne ich mich nach dem Getöse einer Großstadt, New York etwa, München oder Berlin.
Immer wieder hatte ich versucht, in Berlin zu leben. Aber immer wieder war ich weggezogen. Ich hatte mich dann im toskanischen Bergnest Agliano und in jene rasende Ruhe vergraben, in jenes Zentrum, wo trotz allem noch etwas voranzukommen scheint. Mein Leben wird völlig in diesen tödlichen Wirbel der Erinnerungen aufgesaugt, der mich langsam verschlingt und aufbraucht. Nur Mutter sagte immer wieder: „Ich möchte dich so gern in die Sonne hängen! Lass doch die alten Sachen ruhen!“ (Hatte ich: „Mutter sagte“, geschrieben? Nein, es geht ja nicht mehr: Keine Gegenwartsform stimmt für sie!)
Gestern schrieb mir mein Bruder Hannes: „Was wir von Mutter - Gott habe sie selig - lernen konnten, war ihre Herzlichkeit, ihr Frohsinn und ihre positive Lebensein-stellung. Ihr herzerfrischendes Lachen, das sie auch im Freundeskreis bekannt gemacht hatte, das haben wir von ihr nicht geerbt, ja es fehlt uns leider der Humor; und das Lachen ist uns vergangen. Da ist ein einmal gelesener Spruch zu beherzigen, den wir leider andauernd vergessen: "Nimm dir Zeit, um froh zu sein, es ist die Musik der Seele." Ich erinnere mich noch oft und gerne an die Theateraufführungen im Stadthaussaal, wo man Mutters unverkennbares, ansteckendes Lachen heraushörte.“
Ja, der Übergang ist fließend; und ich versuche, über sie zu schreiben, höre ihre Stimme und schreibe es auf.
Und ich suche nun Bilder mit ihr aus den alten Mappen: Sie hier in Agliano im Jahr 92 auf der Türschwelle mit einem schwarzweißen Kätzchen im Arm, Mutter in ihrer Wohnung in Aalen 1994, oder … ein Familienfoto 1929 zu Hause in Siebenbürgen, als es mich noch nicht gab. Im Altenheim Schloss Gundelsheim… nur noch ihr langsames Wegsterben … wie eine Verschiebung und Verhüllung ihres Todes.
3
Sie ist die letzte aus jener damaligen Großfamilie, es gibt nun niemanden mehr aus jenem winzigen verwackelten Foto. Nur im Licht-Bild kann ich sie noch sehen. Und ihre Stimme in mir dazu hören: „Sieh, dort, mein Junge: Ich im Dirndl, Vater im weißen Hemd mit Krawatte, immer trug er Krawatte, auch auf dem Gebirgsausflug, wo wir uns kennen lernten; er also, einen Staubweg mit Freunden entlang gehend, gestiefelt, ich im Dirndl. Mit Freunden einen Staubweg ent-lang gehend, an Wiesen vorbei, oder auf einer Staubstraße stehend, einige auf dem Lastwagen, andere wieder rauchend und redend auf der Landstraße, oder er und ich auf der Brechtischen Wiese, ich im Dirndl, er im weißen Hemd mit Krawatte; zwischen großen Margeriten stehen wir, Geruch von Waldluft kommt mit dem Wind von der Breite, es zieht aus der Schlucht.
Und ein Jahr später dann die Hochzeit; auf dem matt glänzenden Bösendorfer Flügel häufen sich in unserem Spei-sezimmer die Geschenke, sie häufen sich auch auf dem Tisch und auf der dunkel furnierten Speisezimmerkredenz. Es war halb vier Uhr nachmittags. Das Auto, damals eine große Sel-tenheit in dieser kleinen Stadt, stand im Hof, war mit Rosen und Immergrün bekränzt... Braut in weißem Seidenkleid mit Schleppe, zarter Schleier mit Myrtenkranz über dem Madon-nenscheitel, weiße Rosen mit zartem Grün im Arm, Goldkett-chen mit blauen Saphirsteinen und Perlen am Hals; der Bräutigam natürlich im Frack, weiße gestärkte Hemdbrust mit kleinen Diamantknöpfen, Hochzylinder in der Hand. Ein langer Hochzeitszug, vorneweg das Auto, dann viele Fiaker, vorbei an der Neuen Brücke, Eiskeller, damals noch an uralten Häusern vorbei, Hofeinfahrten, düstere Dämmerung, die das Augenlicht flackern lässt, Atembeschwerden wie in einem langen Fass, dem der Boden ausgeschlagen wurde, altersschwache Türen davor mit verrosteten Hängeschlössern, dimpiger Geruch, muffiger, weinsäurehaltiger Moder. Vor dem Altfrauenheim und Paulinenloch standen die Zuschauer, einige Gäste, vor der Klosterkirche dann der Kirchendiener Löw, genannt Schnich, der Stundturm schlug, der Trommler oben, 3. September 1932, ach, die Venus da oben in der Nische, schön, Brautjungfern in pastellfarbenen Tüllkleidern mit Blumen in den Händen, von der Empore die Orgelmusik des braven Onkel Daniel, die Altstimme dann der Blaszek: Wo du hingehst, da will auch ich hingehn, dein Gott ist auch mein Gott. Nach dem Jawort und allen Zeremonien des Pfarrers Wagner, Hochzeitsschmaus beim 'Sander', Festtafel mit Alpenveilchen; in einer Ecke die Zigeunerkapelle. Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Rede des Stadtpfarrers und anderer Stadtgrößen. Gläserklingen, Zigarettenrauch. Festschmaus. Tanz. Hoch-stim¬mung.“
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Und jetzt ist sie gegangen. Sie ist tot, sagen wir, ohne zu wissen, was das wirklich heißt. Wir leben weiter. Und dies ist das eigentlich Unmögliche: Leben ist trotzdem möglich. Sogar Schönheit. Und heute liegt es wie Glück in der Luft; der Morgen ist taufrisch und jung, und ich hatte plötzlich wie als Kind Lust zum Barfuss Gehen im Morgengras; Duft und Klang, es riecht nach Pinien und nach frischer Frühlingsluft, nach Berg und nach Kaminrauch. Langsam, alles ganz lang-sam tun, mit vielen Pausen und ruhigen Atemzügen. Nur manchmal das Tier mit vier Füßen, schwer atmend, schnau-bend und hechelnd im Rhythmus der gemäßen Natur und den hochschießenden wunderbaren Säften. In Transsylvanien roch es nach Erde, Heu, Zwiebeln, Kaminrauch, und sauer nach Schweiß, nach festem Boden, und nach einem andauernd sicheren Glück. Das Kind hatte kaum sprechen gelernt, kaum laufen, wie sollte es da etwas vom schnellen Zeitempfinden wissen können, hie und da ein stinkender Uraltford auf staubiger Landstraße, der wie ein Ungetüm krachend und hupend dahin kroch und 20 Kilometer in der Stunde zurücklegte, da war noch im Geruchssinn und am stärksten nackt in der Sonne und im Frühjahrsgras einer Blumenwiese, eine so starke Wahrnehmung des flüchtigen Daseins auch im Parfüm meiner Mutter, nur außen schlugen manchmal Uhren mit langen Pendeln, sogar Kuckucksuhren mit einem bunten Holzvogel, der vor Schmerz zu schreien schien, dass schon wieder eine Stunde vergangen war, wenn er dort im Türchen erschien; ein Tag war eine Ewigkeit, lang, lang, wie heute ein Jahr. Und ein starkes, fast zu lautes Gefühl für sich selbst dort in der Öffnung und im Haar, erinnerte ich sogar heute noch, und blitzartig kamen die Empfindungen, taten fast weh, und er wusste, dass er durch ein haariges, stark riechendes Tier, durch einen Schlauch im Dunkeln raus gestoßen worden war, mit klebrigem Blut hinaus ins Kalte. Und dass er vorher in einer ganz anderen, einer großen Stadt gelebt hatte, wo man fliegen konnte, und jeder Gedanke sofort zu einem Ding oder zu einem Menschen wurde, und dass man sich hier auf der Erde lebenslang wie nach einem verlorenen Zuhause sehnte, und nur nachts manchmal im Traum dort in jener Stadt sein durfte. Früher, da tat ich nie etwas anderes, nur das, was ich sah, jetzt aber waren meine Augen müde, Einsamkeit der Augen, hatte jemand gesagt, und ich hatte nun auch hier in diesem toskanischen Bergdorf, wohin ich meiner Kindheit nachgezogen war, etwas Neues geübt, zaghaft und langsam an die Dinge heranzugehen, als würden sie sich wieder in ihr Inkognito zurückziehen können, die Bekanntheit, die mich fluchen ließ, aufgeben, und sie so, wie als Kind aus der Sprache fallen lassen, scheues Auftreten angesichts des unfassbaren Abgrundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus. Erleuchtung der Langsamkeit, dachte ich: Nie, nie schnell werden. Anstatt nur Erinnern, lieber wirkliche Pausen; Zartheit, Zärtlichkeit, schon mit den einfachsten Dingen und durch sie, wenn wir es merken, scheint etwas Undenkbares hindurch. Und ich legte die Hand auf den angewärmten Stein der Treppe, auf dem ich saß, und tastete die Vertiefungen und Rillen dieser Landkarte einer Stein gewordenen Erinnerung von Milliarden Jahren nach, ließ dann auch meine Finger den Stein abtasten, den warmen Körper, die Waden. Und die Katze schmiegte sich mit zwei ihrer Jungen, reizenden flaumig geschmeidigen Geschöpfen, die keine Schwerkraft zu kennen schienen, an mich, und sprangen in kurzen hohen Sätzen dem Spiel der Sonne und der Schatten nach.
Doch ich war mir meiner selbst und meiner Stimmun-gen und Zustände nie sicher, als würde mich täglich jemand zwingen zu vergessen, wer ich wirklich war; unzählige Perso-nen schien ich zu sein, und viele kannte ich nicht. Auch mich kannte ich nicht. Ich spielte mit dem Tod, spielte, wie mit der Schönheit dieses Tages und dem Kind in mir, im Tod wird je-der Fehler deutlicher, jeder Fehler bleibt ewig, vielleicht schmerzt der Todesgedanke deshalb so sehr, weil er unsere Versäumnisse verewigt; im Niewieder... Mutter? Fort für Im-mer?
Doch so, als wäre etwas noch von ihr hier übrig – Ich. Mein Gott, ist das dumm, so zu denken, sich das vorzustellen, dass SIE MICH hier „zurückgelassen“ hat? Mich mit ihrer Stimme, die mich zum Schreiben antreibt, sie, als meine ver-längerte Erinnerung, als wäre es meine eigne?
5
Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, also 1934, an jenem Tag, es war August in der kleinen Stadt Schäßburg in Sieben-bürgen, so erzählte sie, „gab es sonst keine besonderen Vor-kommnisse, außer dass ausgerechnet an diesem Tag der Milchmann Heuschnupfen hatte und es keine Milch gab. Pa-nik im Sommerhaus“, ja, wo die junge Schwangere lag. Im rosa Mädchenzimmer. „Die Ami sang eine Arie aus dem Frei-schütz und legte dazu mit den Mägden Sauerkraut ein. Ein Pirol flötete ganz unprogrammgemäß, der Eichwald nah. Und der Ami, meiner Großmutter, fielen schöne Verse ein: Monde wechseln und Geschlechter fliehn/ ihrer Götterjugend Rosen blühn/ Wandellos im ewigen Ruin.“
Die Eri aber stand plötzlich an der Treppe, sagte atem-los: „Mutter, ech dinken et hot ugefangen.“ (Mutter, ich denke, es hat angefangen!)
„Awer gang, menj Känjd“, sagte die Ami, die vor dem Vorgang Angst hatte: „Tea host jo nor Bochwieh.“ (Du hast ja nur Bauchweh.)
„Roszika, die Széklermagd, aber schlug die Hände ü-ber dem Kopf zusammen. Sie wurde losgeschickt, den Ur, den Herrn zu holen, sowie den Fiaker zum Abtransport.“
Als der Fiaker dann da war, stieg die Madonnen-gesichtige vorsichtig in den Koberwagen. Pferde furzten, schnaubten, pferdeäpfelten in den kühlen Staub. Ich aber schwang mich auf, trat zu. Sie sagte: „Au.“ Dann schwamm ich behaglich im Fruchtwasser, im Urraum des hebräischen Bibel-Buchstaben Thet, nun nach neun Monaten. Überhaupt in der Neun, die wie eine Nabelschnur aussah, zusammengewickelt und aufgerollt.
Albert, der Kutscher, kutschierte das Wägelchen mit dem schwarzen Regenkober vom Bock aus in die Corneşti, dann in die Albertstraße, über die Neue Brücke – eben katholisches Siebenuhrgebimmel, und da: sieh ein Storch mit roten Beinen, eingezogen und groß, flog über das Gefährt hinweg, das wie eine komische Ameise da unten vorankrabbelte. Heftige Druckwehen setzten schon im Fiaker ein.
Im roten Gassenhaus mit dem wackligen Gang wurde Eri vorsichtig zu Bett gebracht, der milde Hausarzt war schon da, auch Sles, der junge Vater. Recht nervös, rückte dauernd die Hornbrille zurecht, setzte sie ab und wieder auf, war ein langer Lulatsch, schmal, blass, nur im Hemd bei der Hitze, aber mit Krawatte; ohne diesen Knoten unterm Adamsapfel ging nichts, der gab ihm Sicherheit.
Der Sonnenuntergang dann, nach 20 Uhr, ganz normal, keine besonderen Vorkommnisse, keine Klopfzeichen, kein Mirakel. Wie jeden Abend seit einer Woche kam gegen zehn der Komet Wipple-Jedtke, tauchte auf unterhalb des Großen Wagens, nebliger Stern 3 zwei Drittel Größe. Von da eilte er zu Beta dem Bären.
Erst gegen Morgen setzten die schmerzhaften Presswe-hen ein, als Scheszbrich, mit allen Hähnen, Ferkeln, Fiakern, Hunden, Milchmännern erwachte, hörst da eben die Klein-bahn, wie sie den Markt hinauf stampft und uns ohrenzerreis-send und rücksichtslos eins pfeift; Fenster der Gasse zu, wo das Hochsche Haus steht, offen, da bauscht sich der gelbe Vorhang, Luft; die Grünäugige atmet schwer. Rhaij edmen. Ticken der Uhr. Läuten, Turmuhren. Glocken, Engel singen. Summen in den Ohren. Krankhaftes Brausen aus dem Fenster, ferne Stimmen, ein Milchwagen poltert über den Hof, klopft auf dem Kopfsteinpflaster. Der schwarze Zigeunerkopf er-scheint gegen acht, das Kind schreit vor Kälte. Das harte Licht wie ein spitzer Pfeil. Man nabelt ab, Schere, ratsch weg. Und kalt. Das verschlägt dir den Atem, und jedes Wort ist zuviel. „Hot hie uch alle Fanjerchen?“ „Cha, cha“, lacht der Arzt. Im Steckkissen bist du wie eine Mumie eingepackt, ja, Erdenkind.
Und höre wieder Mutter ganz nah:
„...ich stand auf, hatte einen neuen Schlafrock... war glücklich mit meinem Kind... das heißt, ich habe auch viel ge-heult, denn da hatte ich eine Waage. Und meine Mutter sagte: diese Waage schmeiß ich zum Fenster hinaus, die macht dich noch verrückt. Denn es wurde gewogen vor und nach dem Trinken. Und wenn ich dachte: Jetzt hat er gut getrunken, da kam nur ein Gramm oder zwei mehr auf die Waage. Man ist ja furchtbar labil im Kindbett und überempfindlich. Und du lagst in einem bestickten Steckkissen. Großes und kleines Molton-Tuch, Dreieck usw. Bestickt hatte das Steckkissen ein junger Mann, der epileptisch war (Wieso?). Naja, Vögelchen und Hühnchen waren darauf. (Das wimmelte nur so von Geschädigten bei uns!) Und jeden Tag musste ein Mordstopf mit Windeln gewaschen und gekocht werden. Bis zu 24 Windeln am Tag musste die Magd waschen. In der Küche am Herd. Der erste warst ja du, spieltest eine große Rolle in der Großfamilie. Baden, Wickeln und Füttern.“
6
Zur gleichen Zeit fuhr Großvater, der Tierarzt, über Land in der Staubwolke des Leiterwagens Richtung Denndorf. Sles aber, der Vater, der Überglückliche mit seinem Stamm-halter, stand mitten im Zimmer und stammelte und bedankte sich überschwänglich bei seiner Frau. Sie lag da mit diesem Winzigling in Weiß, dämmerte müde dahin, aber wohlig. Sles lief die Treppe hinab auf die Gasse und wollte Blumen holen, ein ganzes Blumengebirge wollte er holen. Bis zum Gärtner fuhr er mit einem Fiaker. Zu Eder. War liebevoll besorgt, frag-te, wie es ihr gehe: „Hast du noch Schmerzen, Eri?“ Sie hörte ihn dies fragen!
Dann aber war´s Zeit für Sles, den langen Lulatsch, ins Geschäft, in die Schnittwarenhandlung zu gehen, die seinem Vater gehörte und wo er Prokurist war.
Auf dem Weg sah Sles, der junge Vater, in Kwie-schinskys Kolonialwaren¬handlung Orangen, Feigen, Pampel-musen... dies Frische und von weither Gekommene. Werds später mal brauchen für Mutter und Kind. Havanna Zigarillos. Hoffentlich wird er kein Raucher. Kannst ja bei uns alles bestellen, die ganze Welt ist offen. Drüben in der Drogerie Lingner sogar französisches Parfüm. Für Eri. Schmuck? Er hastete am Kino vorbei. Im Astra-Kino: Die Nacht der großen Liebe von Bolivari, Samstag, Sonntag. Heute aber, Mittwoch und auch Donnerstag Quick mit Lilian Harvey. Wann wird sie wieder ins Kino können. Marisch kann ja solange beim Kind wachen. Unsinn. Was fällt dir ein. Und da das Plakat: Am 24. der Thomanerchor aus Leipzig. Die musica. liebst sie. Erhebend. Das Schwere geht auf. Festliche Abendmusik in der Klosterkirche. Wie vor einigen Jahren, na, wie lang ist´s jetzt schon her, meine Studienzeit in Leipzig: fünf Jahre bald, in der Thomaskirche zu Leipzig. Wir werdn alt. Wo der Werner wohl jetzt ist? Lässt nichts mehr von sich hören. Dachte mal daran, zu uns zu kommen: Emigration, sagte er. Na, da sieht er, was er von seinen roten Ansichten hat, habe ihn immer gewarnt, kommt doch aus gutem Hause. Was Vater sagen würde, wenn ich mit so einem Freund da ankäme. Aber freilich, aufgenommen hätt´ ich ihn schon. Wenn einer in Not ist, sogar einen Gegner. Was heißt hier Gegner, Feind sogar. Ach, diese blöde Politik. Garstig Lied, steht ja schon im Faust. Hier wär er noch sicher gewesen, der Werner. Sie haben unsere Nationalsozialisten vor kurzem verhaftet und Haussuchung gab´s sogar bei Roland, dem Heißsporn, oben auf der Marktzeile. Na, da waren aber die beiden Schöngeister Daniel und Tante Cäcilie entsetzt ... so einen Sohn zu haben, na ja, dieser Roland. Aber hat er nicht recht: Alles zersetzen die Juden, das GROSSE GELD ist jüdisch. Gold anstatt Blut. Sich nicht verlocken lassen, nein. Bitte nur hereinspaziert, die Herrschaften! Auch die hier werden verkauft, schöne Rekla-me. Und bei Tietz die Schaufenster, meine Spezialität, die Schaufenster ... werd sie heute wieder mal vornehmen, der Latzi, unser Laufjunge, wird die Puppen bringen, nackt, aber leicht umwickelt mit Tüchern, das schickt sich hier in unserem Kaff nicht, nein, nicht mal Schaufensterpuppen dürfn nackich sein. Obwohl geschlechtslos, die brauchen ein Feigenblatt. Und doch und doch, wenn die mal angezogen sind, dann sind sie wie wir auch, wichtig. Doch nur die Kleider. Habe da Vater immer wieder gesagt, der Professor lehrte es, ja Modewaren sind geheime Beziehungen zwischen den Menschen, halten das Leben in Schwung sozusagen. Bei Tietz, aber auch auf der Straße in Leipzig... war das ein Gedränge, das können sich die hier kaum vorstellen, da sperrst du das Maul auf. Überall Kleider, Mäntel, Hüte, Schirme, zwei Anzüge im Gespräch, englischer Kammgarn, feinste Marke, da habe ich ein Auge dafür. Zwei Hüte: Habe die Ehre! Geheimnis des Lebens: und Kleider machen Leute. Aber der Junge soll Arzt werden oder Rechtsanwalt, da werd ich darauf bestehen... Oder bei Wertheim in Berlin Kaufhaus Wertheim, habs mir mal angesehn. überhaupt Berlin! Wär da gern noch geblieben, Reichshauptstadt. Wertheim, König der Basare: Und Modewaren, das habe ich auch gesehn... wandelst zwischen zartem Email mit japanischen Goldblumen durch den Erfrischungsraum im Kaufhaus Wertheim. .. diese Juden! Feurige Tropfen in Kreisel Fächer und Ringform, Glühbirnen ... auf Metallflächen unter leuchtenden Fontänen und über die Kanten der erznen Balken streuen tausend Reflexe; unter einer altfränkischen Holzdecke. Darunter dre-hen sich Damenhüte, die Damen-Köpfe daneben, die niemand beachtet, es geht um die Leute hier und dort um die Hüte, der ganze Spektakel ihretwegen: Museum des überströmend Fertigen, im Moment verhaftet, damals, als wär´s ein illuminiertes Eden der Dinge und Waren, unpersönlich, aber ewig schön und wunderbar, jeder Betrachter aber glaubt, er sei mit ihnen allein. Ließ mich mit der Menge durchs Kauf-haus schieben. So wie Sonntagsausflügler die Landschaft an-schaun... entzückt, nicht dazugehörend, anders als der Bauer zuhaus bei uns: der hart arbeiten muss, Hand anlegt oder der Holzfäller.
Komm! Behalte die Mark nicht in der Brieftasche, Va-ter könnte den Wechsel schon mal erhöhn... Unwillkürlich der Reiz, doch daran teilnehmen zu können, falls bei Kasse: das prickelt.
Es sei etwas Neues im Entstehen, sagte auch der Professor Lisewsky. Ja, Luxus, Reiz, Gier, aber die ist zu meiden, es schafft Ruin, Abhängigkeit: Nur ja keinen Plunder. Sparsam und ehrlich, auch das Ausschweifende meiden, nicht wie ich in Leipzig damals in dieser Schlupfbude, kein liederliches Leben, das sind wir unserem Volk schuldig: Askese im Kontor, dazu Tabak, Kaffee, Tee, Haha. ... Vater war doch auch bei dieser Ilona in Bistritz und dann in Kronstadt. Wir sind doch keine Heiligen. Aber anpassen müssen wir uns schon. Wichtig sind die Schaufenster. Heute haben wir vor allem Markennamen und Verpackungen ... die Waren werden ja so verkauft. Absatz ist noch mehr als bisher das Zauberwort nach der Weltwirtschaftskrise. Reklame-technik, habs ja als Nebenfach! Wichtigste Technik heut. Versprechen von Glück, wir glauben es! Im alten Sinn gibts keinen Kaufmann mehr - sagte auch der Professor Lisewsky, die Dinge seien inzwischen. Meinungs¬gegen¬stände. Die Ware, pulverisiert in Empfindungen, löst sich auf in Gefühle, du schmeckst dann den Namen, Kooiinor oder sonstwas: schon schmeckst du es auf der Zunge. Als wollte wirklich der Weltgeist, angekommen am Ziel, alles abstrakt und ideell verwandeln. Und du kaufst und kaufst und kaufst, und alles schmeckt dann nach nichts, bist der Süchtige, Verführte: wie Tantalus in der Unterwelt: trinkst und trinkst, und der Durst wird doch nie gelöscht, der alte Durst. Aber eine Bullenhitze ist´s jetzt.
Und Sles zieht den Rock aus, legt ihn über den Arm, lo-ckert die Krawatte... August. Ein Regen wäre gut. Das Som-merhaus ist jetzt wunderbar, Sommerfrische. Wir haben ge-baut. Doch jetzt schau, der Marktplatz. Dort die Apotheke „Zur Krone“ des Capesius... Die Katzenköpfe. Ein paar Szék-lerwägen vom letzten Markt. Rossäpfel. Habe ich das Rezept? Geh ich zuerst zur Drogerie? Noch eine Stunde Zeit. Nein, die Medikamente sind wichtiger. Türklingel. Guten Abend. Chlo-roformgeruch. Weiße Töpfe mit lateinischen Aufschriften ringsum. Nehm auch Pfefferminzbon¬bons, mag sie. Hustensi-rup. dann die Mandelseife von Lingner gegenüber. Wird der Junge mal auch Inhaber werden? Kaufmann oder Arzt? Arbei-ter? Ach geh. Bauer? Unsinn. Was sich gehört in unsern Krei-sen. Stammhalter. Wächst und gedeiht. Wichtig: Gradgewach-sen und gesund. Deutsch soll er bleiben, so Gott uns beisteht. Mer wälle bleiwen wat mer senj! Die Vorfahren meiner Mut-ter: die Wagner kommen aus Böhmen. und waren ungarischer Kleinadel: de Kerekes de Kerekes de Kerekes, Wagner auf Ungarisch. Komisch, dreimal „von“, die konnten nicht genug davon bekommen. Ja, und Mutter war auch recht stolz. Sie hat sich leider immer für was Besseres gehalten, Mitz-Mother nennen sie sie, sieht auf die Bürgerlichen herab. Und auch den armen Franzonkel und die arme Marietant, sind doch Vaters Geschwister aus Bistritz, hat sie schnapode behandelt; und beleidigt sie...der Franzonkel sei surkig, die Marietante stinke ... Sie liest In zarte Frauenhände und hat das Benimm-dich-Buch Umgang mit Adligen und Beim Baron zu Tisch im Bücherschrank. Ach, Mutter! Zur Hochzeit eine schöne Bernsteinbrosche. Die Ehe wie unsere Gemeinschaft: ehrwürdiger Staub, hatte unser Freund Hensel gesagt, der Professor, Doktor: da darf nichts einbrechen, nie. Das Chaos nicht, und seis nur ein Insekt, etwas winzig Kleines, das bleibt, fortdauernd im rastlosen Getöse des Tages, im Gerede, in dem sie untergehn, unsere Tage. Hier aber klopft das Ewige im Stein. Begutachtete die Brosche, Bernstein mit Insekt, transparenter Insektenflügel, in diesem Abgrund haust das Ewige, hier höre ich das stille Rauschen des Göttlichen. Hier siehst du die Unverletzlichkeit aller Einrich¬tungen, das Ordnungsgemäße der Lebenserscheinung. Alles, was Gesundheit und Beständigkeit sichert, ist heilig, wie unser Boden hier, die Häuser, überkommen von den Vorvätern, oder die Ringe, die Stadtmauern, die Türme, wie ergraute Seelen. Ja: Alles, was sie gefährdet, ist frevelhaft, eine Sünde wider Gottes Willen, jede Veränderung, die Zeit ist das Maßlose, gegen IHN aufgestanden... So hielt Professor Hensel uns und seiner Frau Ficca, die auch Grethe heißt, einen kleinen Vortrag, sagte noch etwas vom aufbewahrten tiefergrauten Staub, der allerdings entropisch dem Nichts zueile: unweigerlich. Und da war ich entsetzt: das hatte auch der gescheite Melas, der Übergeschnappte, mal gesagt: Mitten drin im Ewigen fühlen wir das schmerzhell Vergebliche...
(Die melodische Uhr vom Turm schlug... dazu ihr Klingklangkling. Und Sles hörte fast andächtig zu.) Und dann gings in ihm pausenlos wieder weiter: ... es stand auch im Großkokler Boten zum Tage der Machtergreifung Hitlers: Re-volution sei Sünde wider die Weltordnung. Jubel, dass wieder alles in Ordnung ist, dass Babel und Völkerchaos, Verjudung usw. aufhören. Das heißt. JEDEM DAS SEINE. Die Volks-gemeinschaft wieder hergestellt. Der Knecht wieder Knecht. Der Herr wieder Herr. Ordnung ist das Naturgesetz ewiger Leistung und ihrer Stufenleiter nach oben. Alle sollen daran teilhaben, heißt es jetzt. Nordisch sind die Träger der Herr-schaft: Offiziere, Beamte, Lehrer, Polizisten. Händler und Kaufleute dagegen sollen nur ostisch oder fälisch sein. da bin ich dagegen. Richtig aber ist: Der Herr steht über dem Knecht – das ist Naturgesetz, genau wie ihre natürliche Trennung schon fixiert ist in Blut und Stammbaum. Daher die Könige. Jede Vermischung ist wider die Natur. Und wie sagte der Heißsporn Roland, den Eri als Lieblingscousin so mag, auch mein Schwiegervater sagte es: Blut ist wichtiger als Gold!
7
Erinnerung also bleibt, HIER an Vaters, an Mutters lee-rer Stelle, hier, und auch alles Erzählte! Tröstet es, tut so, als gäbe es auch auf der Erde so etwas wie „Ewigkeit“! „Damals“ heißt es dann, „damals“. Ja, Mutter wollte Hannah und mich „damals“ bei einem ihrer Besuche hier davon überzeugen, dass wir uns 'lüften' müssten. Hannah hatte sie damals, und welch ein Wort, ich muss es ständig verwenden, als wäre jedes Jetzt vergangen, ja, damals hatte sie Hannah schneller überzeugen können, ins Freie in die Luft, ins Helle zu kommen, ins JETZT.
Hannah stand damals in ihrer Schreibzimmertür. Beide öffneten wir unsere Türen fast gleichzeitig an jenem Morgen, als hätte Mutter magische Kräfte in ihrer Abwesenheit gehabt. Ich merkte damals (oder besser: ich hatte damals bemerkt!) wie ich unter der energischen Obhut dieser trostreichen Ein-fachheit aufatmete, als könnte nun alles wieder neu beginnen, als könnte alles wieder gut werden.
Und damals, es ist Jahre her, wirkte sie noch so unbe-kümmert. So war sie, so schön naiv und naturnah in allem, ließ sich davon tragen. Sie lebte weiter, und es war wie immer, wie früher, wie je. Auch bei Hannah fällt mir diese Unbekümmertheit auf, und diese Unbekümmertheit ist sehr tröstlich, tröstlich ist dieses Selbstverständliche, als könnte man gemeinsam einen Tag neu erschaffen.
„Wie wäre es mit einer Bergwanderung“, sagte Mutter: „Carrara, Michel Angelo...?“
Hannah sah mich fragend an, hochaufgerichtet, erwar-tungsvoll stand sie da. Und neben ihr klein und gebückt, aber unruhig und agil meine Mutter. Komisch, dass die beiden da so zusammen stehen, dachte ich. Als wäre es selbstverständ-lich, dass Hannah und Mutter zusammen DA sind! Auch im Jetzt?
„Nein, um Gotteswillen“, nein, wehrte ich damals ab.
„Warum nicht?“
„Da wirst du nur depressiv! Kein Grün, nichts, nur wei-ßer Stein. Schöner wäre es doch durch den Wald nach Torcigliano zu gehen. Wundervoll der Geruch der süßlichen Lianenblüten“, lockte ich! „Und auch die Blumen, da gibt es wild wachsende Myrten, herrliche Sträuße könnten wir pflücken.“
„Und nah am Blick entlang, blau wie der Äther, eine Glockenblume“; spottete Hannah.
Und Mutter ganz ernst: „Vielleicht ist dies der große Gott, vor dem ich mich verneige. Joi, wie wunderbar.“ Und sie stürmte trotz ihrer achtzig mit Floh, dem kleinen Hund, gleich los, als wären wir die Alten.
8
Sie lebte allein. Vater war schon seit zwanzig Jahren tot. Sie hatte es gut verkraftet. Fast war es so, als wäre sie seit diesem Tod freier, ungehemmter gewesen. Er hatte sie ein we-nig unter Kuratel gehabt. Sie spielte immer das junge Mäd-chen, war es (unangetastet von den Ereignissen) vielleicht auch bis zu ihrem Tod geblieben. Erinnert aber ist sie da, sie lebt ja: und ich streiche über diese Seite.
Jaja, genau jetzt gehen wir JETZT gehen wir hier auf der Zeile los in Richtung Torcigliano. Und Mutter jubelt: „Schau, Blüten, kein Blatt gleicht dem andern, und sie sind so winzig. Und winzige Kronenköpfchen.“
Sie zählt die Gänseblümchen ab wie früher als Back-fisch... „er liebt mich, er liebt mich nicht, liebt mich, nicht... liebt mich.“ Lacht, wird dann verlegen, als erwache sie. „Na so was…“ Und dann stehen wir an der alten Kapelle.
„Schau, die alte Kapelle! Innen rosa und golden, abge-blätterte Farben, Wind und Regen als Zeitzeichen ... was war.“ Mutter steckt den Kopf neugierig hinein ins Kühle. Empfinden an Haut und Haar, als zähle sie Verbotenes ab. Besonders gläubig war sie nie, im Gegenteil. Sie streicht sanft über das grob-bäuerlich geschnittene Madonnenbild. Und war es nicht so (du sprichst mir aus der Seele): „Da wandern sie durch Pinienduft/ natürliche Marienlieder/ Maria vorstellbar/ und grün/ in einem spitzen Grashalm/ Aufwärts/ Wachsend. Vielleicht/ ist er ja gar nicht/ Tot. Dort oben lebt Er/ Unberührt...“
Ihre tänzelnden Schritte, ihre kurzen weißen Hosen, der Oberkörper gebückt, der Kopf, das Gesicht durchfurcht, lang die fast muskulösen Beine, blau geädert und gezeichnet, die Füße in groben Schuhen bewegen sich wie selbsttätig fort auf dem Wiesenweg; Und wie würde sie böse werden, wenn ich von Zwerg Nase spräche, es mir hier einfiele, als läse sie es mir am Krankenbett wie früher vor.
Früher siebenbürgische Hausmannskost, Eintopf. Klein¬bürger¬gerüche auch in der Kirche. Ekel schon damals vor dem Alltag und dem Geklirr des Bestecks, der Teller. Abwaschen. Wie alles wirklich verkommen ist, das spürst du im Alter.
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Dass wir immer noch da sind!? So bewegt sie sich auf dem Wiesenweg, Füße in groben Schuhen, tänzelnd, wippend, einen rosa Stern im Mund, in der Hand, Grashalm durch den Mund gezogen: Joi, wie zu Haus die Steinnelken. Und die an-dere Hand hält den Klee. Wo liegt hier das Glück begraben? Nimmt die zu große, zu dunkle Sonnenbrille ab (die braucht sie wegen der Lichtempfindlichkeit – die Augen schmerzen und tränen).
„Ein Fernglas müsste man haben, schade, dass wir kein Fernglas haben“, sagte Hannah.
Und Mutter wie ein spätes Echo: „Joi, kannst du dich erinnern, zu Hause bogst du dir heimlich Großmutters Opern-glas bei.“
„Und hielt es verkehrt, um zu sehn, wie winzig ihr wart.“
Jaja, die blaue Vitrine. Kredenz wie ein Gebirge aus Glas. Vorsichtig hinaufsteigen. Das Futteral innen rot ausge-schlagen: ein Kern mit dem Gerätchen. Es roch nach Parfüm von der letzten Aufführung im Stadthaussaal. Was war´s: Freischütz oder Götterdämmerung? Großvater auf der Veranda, Zeitung lesend. So merkte er nichts. Und ich sah mit dem Opernglas hinauf in das blaurote Licht, oben, wo die Morgensonne blendete. Und wenn ich die Lider zusammen presste, schwammen in den Tränen wasserhelle Geißeltierchen und Amöben. Mit dem Gucker ins Blaurote sehn! Meinte, so besser sehen zu können, was Oma, Mutter und Tante Friederike am Frühstückstisch erzählten. Wenn ich das Glas umkehrte, die Vergrößerungsseite auf sie richtete, erzählte ein großer roter Herzmund aus dem Gräfinnengesicht Tante Friederikes im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt: Und der Fährer kam mät Goebbels uch dem däcken Göring äm ofenen Wochen ze as. Und der Führer kam mit Goebbels und dem dicken Göring im offnen Wagen zu uns. Und ich machte ihm einen Frühstückskaffee mit Semmeln. Und Mutter tanzte begeistert auf dem Parkett dazu Czárdás, lachte in den höchsten Tönen. Aber weißt du, was die dicke Frau Sturm geträumt hat, na, das war was, die hat dem Göttlichen von oben mit dem süßn Bärtchen evangelische Hendl und Kraut offeriert. Doch der Adjutant war beleidigt, es müsse schon was Edleres sein, ein Hase, Wildbret, Rehbraten zumindest. Auch die Knödel schlug er aus. Am schönsten aber hatte die Oma geträumt: Nämlich, dass der Führer sie auf der Stelle küsste, wegholte und heiratete. Im Schilder¬häuschen salutierten alle Wachen mit weißen Handschuhen dazu.
Ich sah Mutter vor mir, sie stapfte da voran in ihren weißen Hosen. Hannah neben ihr. Worüber reden sie? Ich ging ihnen schnell nach, Mutter wandte sich um: „Ah, da bist du ja wieder.“
Und ich sagte ganz unvermittelt: „Redet ihr immer noch über das vergessene Opernglas? Um mehr Gegenwart zu sehen? Ja, wann war das?“
„Na schau“, sagte Mutter erstaunt.
„Es wird jetzt alles unsichtbar“, erklärte ich: „Alles bildet sich zurück, wird kleiner und kleiner, auch wir, bis wir wieder ein winziger Traumpunkt geworden sind! Ist die Welt nicht aus einem mikroskopischen, sehr dichten und unausge-dehnten Kern gewachsen und explodiert, wie aus einer unendlich konzentrierten Träne?! Heißt der Urknall.“
„Einer hat das also getan …?“
„Keiner“, sagte Hannah ganz ruhig: „Das ist es ja.“
„Aber geh, ist nicht wahr“, stellt Mutter verwirrt fest – und schaut uns beide an, als erlaubten wir uns mit ihr einen Scherz. Freilich, Hannah glaubt sie aufs Wort, was ihre Ver-wirrung nur noch steigern muss:
„Schau, das Meer, die große Träne – schade, kein Fernglas!“
10
Am Nachmittag aber schlug ich vor, mit dem Auto et-was höher, in die Berge, hinauf nach Sant´ Anna zu fahren.
„Fein“, sagte Mutter, „da hat man eine schöne Aus-sicht.“
Gegen vier Uhr fuhren wir los. Über eine kurvenreiche Bergstraße kamen wir nach Sant´ Anna.
Wir gingen bis zum leeren Platz, der sich vor uns öffnete, ein Ort, wo niemand mehr wohnt; nur noch die Kirche steht verlassen da. Viele Blumen auf dem Vorplatz, und der Frühlingssturm heulte von den Höhen.
Ich meinte, das Geknatter der Gewehre zu hören und das Schreien der Frauen, das Weinen der Kinder.
Hannah erzählte, was hier im Krieg geschehen war.
Und Mutter ging nachdenklich und schweigend über diesen leeren Platz.
„Ich dachte, es gibt in Europa kein Land, wo diese Schandmale nicht anzutreffen sind.“
Mutter aber sagte vorwurfsvoll: „Weshalb habe ihr mich an diesen Ort gebracht... grässlich...! Das können deutsche Menschen nicht getan haben!“
Es war ein schöner Tag, das Meer wie ein Farbklavier in der Ferne, der Horizont war nicht schwebend, sondern scharf begrenzt, man sah die Inseln des toskanischen Archi-pels.
Immergrüne Pflanzen rochen besonders stark nach dem Gewitter der letzten Nacht.
Inzwischen waren wir in der kleinen Bar von Sant´ An-na. angekommen; es ist das einzige bewohnte Haus hier, wir saßen auf einer Terrasse, Weinlaub, grün, über und neben uns der Sonntag. Mutter leckte genüsslich rundum ein eigelbes Vanilleeis, als ginge sie all dieses nichts an; ganz versunken und fast gierig: Als gelte es, sich noch zu beeilen oder etwas schnell zu vergessen. Hannah und ich aßen etwas Brot und tranken Rotwein. Ich sagte: „Roter Kaffee, nicht kalter.“ Und Mutter probierte den 'Kaffee', nippte und lachte verschmitzt: „Ist ja Wein!“ Scherze – um zu vergessen? Dazu gehört ein Lachen, als lebe man dabei schneller. Und Wortverbindungen fielen ihr ein: „Wein und Brot gegen den Tod.“
Vielleicht Stimmen der Opfer hören, die es ganz gewiss gab, und die keine Ruhe fanden. Ungerächt. Das von der SS ausgelöschte Bergdorf. Ein Überlebender, ein Einbeiniger in der Bar erzählte, auf Italienisch, so ist es noch möglich... reihte ein Wort an das andere; erzählte von der strage: „Jeden 12. August kommt der Verteidigungsminister herauf zum großen beleuchteten Eisenkreuz. Salutschüsse werden von Ehrenkompagnien aller Waffengattungen abgegeben, junger Soldat, halte nie das Gewehr in Menschenhöhe, Salut in den Himmel, abgegeben. Ihre Väter, die Partisanen... starben hier die Söhne nicht vor den Vätern? frage ich dich.“
Oben also. Ein Volksfest. Der Einbeinige trank ein Glas Grappa. Es war das dritte Glas. Er sagte, „die an die Wand geschlagenen Köpfe der Säuglinge, neonati…“ ein Bersten sei es gewesen, er höre es immer noch, ein Klang, ein Zerspringen von...von... von – „Wir wissen es nicht. Die To-ten. …“ Dann sieh, wie der Herr plötzlich stottert, wenn es um nackte Tatsachen geht. „Nein... Nein... dort am Kirchplatz, sein Gesicht verzerrt. Kommandostimme, klare Bergluft. Sal-ven. Stimmen Schreie; die Tellermütze hochgeschoben, der Totenkopf bewegt sich. Eine Frau hob ihren Säugling hoch. Vor ihnen der Pfarrer. Hob das Kruzifix hoch. Das Maschi-nengewehr. Die Kirchenwand. Das Blut floss durch die Tür, der Altar war viel zu weit. Nur die Stimmen sind immer noch zu hören in der Wand. Klopfen. Nachts Rufe. Niemand will hier wohnen. Nur die Kirche ist wieder aufgebaut worden. Kein Haus.“ In der Bar der Einbeinige. Ein Überlebender.
In der Nacht aber sah ich mich im Frühlings¬garten von Schäßburg, noch sehr jung, Duft nach Kirschblüte - oder Jas-min, ferne Musik, und ging mit ei¬ner Frau einen Liebesplatz suchen. ...die Szene mit Johanna, die fiel mir jetzt ein, in Ag-liano am Ende des Maultierpfades ein Jasminstrauch wie zu Hause im alten Schäßburg. Duft von Jasmin, betäubend, doch ich empfand manchmal auch hier auf dem Berg nichts mehr, roch nichts, war leer, wie hinter Glas die Welt, kein Rauch aus Kaminen! So auch nichts Weiches, wie bei der Rückkehr von Deutschland hierher nach Agliano. Hannahs Kuss, weiche Lippen unter Jasmin, feucht und doch verschlossen, samtig, darin ein Versinken wie in einer rosigen Blüte. Diese große Freude, wieder hier zu sein. Zorn kommt leicht, wenn die Sinne taub sind. Vielleicht in Deutschland geschehen, an einem der letzten Tage: da stritten wir: es ist schmerzhaft, ein Lebensriss!
Jeden Tag war sie bisher da, diese Angst, auch Mutter könnte sterben, auch sie einfach nicht mehr da sein, der letzte Mensch und Zeuge der Vergangenheit: Und jetzt? Dieser Ort, wie weit hat er sich doch schon entfernt, wird einmal ausge-löscht sein und verblasst schon mit ihr.
Mutter sagte gestern beim Mittagessen: „Joi, sieh den Schatten, den Wald, grüner Wald wie zu Hause, eine Wand, grüne Wand, lauschig“. Oder: „Weißt du, ich werde alt, manchmal diese Schwindelanfälle, es ist wohl das Herz; ein Taumel, meine ich, als hätte ich Schwammerl gegessen, als hätte ich einen Schwips oder wer weiß was.“
Und dann sang sie: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Weißt du noch, unsere Maifeste auf der Breite. Heute ist der erste Mai, alle Kinder bitten frei. Wunderbare Frühlingsluft, frisch, ganz frisch. Maigefühle, Maigrün, Mai-enlaub.“
Und dann waren es wieder Pilze, Parasole, die wir hier unter den Kastanien am Brunnen sahen: „Sieh ein Parasol, weißt du noch, Tante Cäcilie hatte fast damenschirmgroße Pa-rasole unter den Tannen, Staubwolken rieche ich, ihr rotes Mauthäuschen gleich an der Straße, und über die Felder liefen wir an den Fluss, an die Kokel baden, Krümmung, Wasser, einer ertrank, das passierte, in den Letten wurde er wieder gefunden. Roland, du weißt, Roland mein Cousin, wir liebten uns sehr, die ganze Kindheit, die war gemeinsam, der fand den Ertrunkenen. Roland, sonst ein Familienathlet, schöner Bub, schöner Mann, war wie ein Siegfried, blond, wasserblauäugig, aß fünfzig Zwetschgenknödel, rief menj Boch jubiliert, und mit ihm holten wir riesige Parasole, unter den Tannen standen diese Pilz-Geheimnisse wie Wichtelmännchen mit riesigen Hüten, wie Chinesen oder so. Schööön.“
„Du weißt, wo Roland während des Krieges gewesen war“, sagte ich.
„Bitte, mach ihn nicht schlecht“, sagte sie und redete unbekümmert weiter: „Parasole hatte Roland in den Fäusten ... Unter den Tannen... und die Parasole und Pfifferlinge kamen dann in die Tocană und dazu Täublinge mit Speck gebraten, wir aßen, Vater aß keine, fürchtete die Pilzvergiftung, ganze Familien starben bei uns an der Verwechslung: Sie aßen arglos Knollenblätterpilze.“
„Ja, was ist der Tod - eine Verwechslung?“
Während sie eifrig gestikulierend erzählte - sie kann das – leckte sie begierig an ihrem Eis, das süß-klebrig auf ihre tadellos weiße Hose tropfte. „Joi, da habe ich mich be-kleckert.“ Und wischte und wischte. „Zu Hause muss ich mir die Hände waschen, unbedingt.“ „Du kannst es auch hier in der Gastwirtschaft“, sagte ich: „Dort die Tür zur Toilette.“
Komisch, Mutter konnte diese Tür nicht öffnen, war fast schüchtern in der fremden Umgebung auf der italienischen Sonntags-Terrasse mit den Karten spielenden und trinkenden Männern, sie brachte die Tür nicht auf, die sei verschlossen. „Gehen wir, es ist zu laut hier, lieber in die Natur, in die Stille!“ Sonst ist sie doch laut, und hier nun hilflos wie ein Kind; diese Eisentür, grün gestrichen, der Beton dieser Terrasse rissig, darauf stand sie nun... Wie aber, wenn ich diesen Beton sehe, es gibt Worte, Beton – da denke ich an ein kleines Beton-Regenwas¬serbassin im sieben-bürgischen Garten, unter dem Klofenster, Worte, die Mutter, sie sagte es, nicht mag – Beton-Kammer, im Beton mauerte die Mafia ihre Opfer ein... Beton. Grüngestrichene Tür aus Eisen... Zellen, Baderäume, Roland weiß es besser... Wenn ich in seinen Kopf hinein sehen könnte, fragen: Roland, woran denkst du bei rissigem Beton oder vor Eisentüren, oder wenn aus dem grünen Kachelofen etwas Gas ausströmt?
Woran würde er jetzt denken, dein Cousin, der Blonde, der Offizier bei den Wachmannschaften war, du weißt? Woran würde er denken? – Nervös soll er gewesen sein, konnte auch das Wort Beton nicht mehr hören, hatte eine Phobie gegen jede Art von Rauch. Und er hasste Fotoapparate, wollte keine Fotos sehen.
„Einmal war die ganze Stadt in Rauch gehüllt“, sagte ich: „Als bei uns in Schäßburg Wehrmachts-Pferdebaracken brannten, roch es nach verbranntem Fleisch, nach verbrannter Haut und angesengtem Haar, neben der Lederfabrik war´s, lichterloh brannte es, ja, da lagen Schwaden süßlichen Ge-stanks über der Stadt; sonst roch es nach Lohe am Kokelufer, zuweilen nach Kadaver, abgezogenen Fellen, Haut, ja auch Haarberge gab es, Gerbsäure in Bottichen.“
„Einmal fiel ein Kind in den Bottich mit weißlich schäumender Gerbsäure“, sagte Mutter, „wie schrecklich; man brachte das Kind ins Spital, die Säure hatte den ganzen Körper zerfressen, Haut und Fleisch fielen Stück für Stück ab, bei lebendigem Leib fielen sie ab; das Kind starb nach wenigen Tagen. Der gute Hans-Onkel, der Bruder meiner Mutter und Tante Cäcilies Bruder“, sagte sie, „der Hans-Onkel, der mit den guten Händen, er war Arzt, du weißt, ging täglich ins Spital, aber er konnte auch nicht mehr helfen, - er ist natürlich tot, der alte Arzt. Er war nicht alt. Aber er ist tot.“
Und Roland ist nun auch tot. Wir werden alle einmal tot sein.
EINER fotografiert auf der Rampe. Wer ist es? Ein Blick, jener Blick, der sucht, der nie aufhört, der nie mehr fin-det, was er sieht, nie gefunden hat, dazwischen hängt der Ab-grund wie eine Trugbrücke, der Blick schlägt zurück, steht, er weiß nicht, was dahinter geschieht, was geschehen ist, nach dem Licht Bild. Und alles brennt. Keinen Blick mehr gibt er zurück der Apparat, der nahm sie in sich auf, gab sie niemals mehr wieder heraus, verschloss sie, bewahrte sie in der Ver-nichtung? Letzte Stunde. In einer Stunde werdet ihr euch wie-der sehn! Niemals mehr auf dieser Erde wird eine Kindheit ihren Blick aufschlagen. Sie starb erstickt und ich mit ihr. Und auch das Wort zerbrach mit uns. Es war vergeblich, nur der Tod ist wahr. Alles andere Lüge. Erfahrung aber blieb. Sieh, wie das Fenster dieses Blatt hier verbrennt.
Das Tor unter dem großen Turm von Auschwitz. Ro-land sieht hinab auf die Armen da, dieses Menschengewusel, und flüstert unwillkürlich, als könnte er diese Zeilen wie Schutzwände vor sich halten: O weiser Brauch der Alten, das Vollkomm‘ne, / Das ernst und langsam die Natur geknüpft, / Des Menschenbilds erhab‘ne Würde, gleich / Wenn sich der Geist der wirkende, getrennt, / Durch reiner Flammen Thätig-keit zu lösen!
Und doch das Hinschaun, schrecklich! Denn nie zer-fällt der Körper, wie Kerner meinte, "flugs in Asche".
Für Sekunden absent, nicht hier, für Sekunden absent. In Gedanken. Nicht da. Wo war er, der Roland aus Transsyl-vanien, was suchte er hier. Oja, dass wir Deutsche sind … ge-rmanissimi germanorum. Auf der Erde, in der Hölle, im Him-mel? Nachdenken auch über die Religionsstunde, die er mor-gen in der deutschen Schule zu halten hat. Ein Tag Schule. Ein Tag Wachdienst. Interessanterweise ist hier Babel, und auch mit einer besonderen Sprache, einem Esperanto der Häftlinge, vierzig Sprachen? Er hat hingehört, ist verhunztes Deutsch, sie hassen unsere heilige deutsche Sprache, sie ma-chen uns klein, sie versuchen sich zu wehren… er käme da als esesmani zum Dienst aus der blockführerszba unter dem Turm, sagen sie, er hats gehört, käm also so zu dem Todestor… eigenartig.
Welcher Psalm wird heute durchgenommen? Deutsches Christentum? Schock¬wellengleich pflanzt sich der Schrecken der Nacht ins Herz. Wie kann er den Kindern sagen, dass es weder Gott noch Erlösung gibt. Vielleicht Nietzsche zitieren?
„Dass ihr allein, die Angst eures Tuns und die Not eu-res Herzens, Himmel und Hölle erfindet. Dass ihr sie er-schafft, um darin zu wohnen. Nicht ahnend, dass eurer Geist die Wohnung nicht braucht. Dass es genügt, zu sein. Dass es kein Irgendwo und kein Nirgendwo braucht, um zu leben. Dass die Kraft der Existenz euch immer weiter trägt und ihr euch alles schaffen könnt, was ihr braucht.“
Man sieht es genau, Roland dreht den Kopf weg. Unten …Er hat alles gesehen, er musste alles sehen… Seine Lippen bewegen sich, und dies wird er durchnehmen, den Kindern vortragen, oh, es sind liebe, gehorsame Kinder hier in der Auschwitzer deutschen Schule.
Und dann wird er vom Führer sprechen, den Gott ge-schickt hat. So ist es, sonst könnte man dies hier nicht ertra-gen….
Der Tod hat seither ein anderes Gesicht. Wirf das Buch fort und lies! Höre, wie sie sprechen! Nein, es ist ein anderer, der da redet, den triffst du nie!
Aber dafür höre ich Roland, Mutters Lieblingscousin, auch er längst tot, aber seine panierte Stimme lebt in mir und ist unerträglich laut jetzt: „Ich habe dort auf dem Wachturm ständig Wachvergehen begangen, ich habe Hölderlin gelesen, um DAS nicht sehen zu müssen.“
11
Wie war so etwas möglich? Und ich war in diese Welt hineingeboren…Nur sieben oder acht Jahre früher hatte AL-LES angefangen. Ich wurde in diese Zeit hineingeboren. Man schrieb August 1934. Roland lag mit seiner Liebsten im Gras. „Geburten in Siebenbürgen können recht kompliziert sein“, sagte er zu ihr. „Kinder mit Wasserkopf sind keine Seltenheit, Alfen. Aber dies muss bekämpft werden, mit allen Mitteln und unbedingt. Wir haben den Kampf mit den Ungeborenen aufgenommen. Daher auch der Jubel vor einem Jahr. Verstehst du? Seither träumen die Frauen vom Führer.“
Wie dies Führertum da durchschlug bei den jungen Leuten. Auch bei Mutter. Ist heute schwer, ja, kaum nachvollziehbar…Und es sah ja auch alles so jung und sportlich, frisch¬ gewaschen, sauber gekämmt und gebügelt aus. Und man turnte viel... Frisch, fromm, fröhlich, frei/ ist die ganze Turnerei.
Schlagt die Pauken und Drommeten
Turner in die Bahn
Turnersprache lasst uns reden
Vivat Marlitt
Vivat Vater Felix Dahn
Heil! Umschlingt euch jetzt mit Herz und Hand
Brüder aus Nord, Süd- und Überhauptdeutschland!
Dass einst um eure Urne
Eine gleiche Generation turne.
Volksgesundheit also, um das Verschwinden zu brem-sen, das dann eben genau durch den Versuch, es zu verhin-dern, eintraf, das große Heimatverschwinden auf die Art, wie wir es heute kennen.
An jenem Tage also, es war der 7. August, als ich he-raus und in diese Welt kommen sollte und partout nicht auf die Erde wollte, als hätte ich schon „davon“ gewusst… war der Stadttierarzt, mein Großvater, morgens dabei, über Land zu fahren.
Der Großvater war sehr besorgt, denn eine seiner Töchter war als Kind an Diphtherie gestorben. Zu oft wurde von den Gefahren der Inzucht, den vielen Wasserköpfen in den Dörfern gesprochen und auch von den transsylvanischen Alfen, Geistern, die ihre missgestalteten Kinder blitzschnell und hast du mich gesehen, mit dem gesunden Säugling vertauschen und sich gleich aus dem Staub machen, aus dem wir ja sowieso gemacht sind.
Onkel Georg war noch viel früher aufgestanden als der Großvater. Kurz vor sechs und bevor er ins Büro ging, dem er im Elektrizitätswerk vorstand, hatte er diesen Morgen eingeb-lasen. Er blies auf seinem Flügelhorn von oben aus den Wie-sen den Trompeter von Säckingen:
Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen
Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.
Herrlicher Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blass die Venus und die Mondsichel.
Bratenfett vom Vorabend war längst verduftet, auch der Rauch der Petroleumlampen. die weiten Röcke der Großmutter lagen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf der Landstraße, kühles Staubmehl, Pferdeäpfel.
Die Geburt – eine gefährliche Sache. durch fehlerhafte Haltungen und Drehungen des Kindes entstehen schon im Mutterleib Vorderhauptslagen und hintere Hinterhauptslagen, Gesichts- und Stirnlagen. Wie eine Schraubenspindel dreht sich das Ungeborene im knöchernen Kanal ans Licht, macht es jedoch eine einzige falsche Bewegung, folgt die so gefährliche Zangenextraktion am Becken¬ende.
An diesem Morgen war der Großvater früher aufges-tanden, wie ein großer Engel im Nachtgewand im Hof erschie-nen.
Er nimmt die Zeitung, klemmt sie unter den Arm und geht durch den Gang am Stifken vorbei zur Eingangstür, auf-recht, nicht schlurfend, aufrecht wie ein Soldat; frische Mor-genluft, Tannenduft schlägt ihm entgegen, er schnuppert und murmelt: „Hiesch äs der Dach hegt. Uch fräsch de gead Laft!“ Und Vogelkonzert antwortet. Da geht der Mann mit der schar-fen, leicht gebogenen Nase hinaus in den verkrauteten Hof, schreitet über die weißen Chlorodont-Spritzer, die die zähne-putzenden Kinder auf dem gerippten und gewundenen Huflat-tich hinterlassen haben, geht im langen weißen Nachthemd, ein Erzengel in Pantoffeln, am Backofen und der "Wassertin-ne" vorbei zum Plumpsklo. Die fahrbare Wassertonne hat eine Deichsel für den Esel des Zigeuners: „Ja, der Puşcaş muss wieder mal gerufen werden!“
Öffnet die Plumpsklotür, setzt sich, entfaltet das Blatt.
Ein Blick in die Heimatspalte: "Das Landeskonsisto-rium beschließt über Volksgesundheit. Ausschüsse für Wohl-fahrts- und Gesundheitspflege, weingeist- und tabakfreie Sonntage (Armen-, Kranken-, Waisen-, Krüppel-, Taubstum-men- und Blin¬den¬pflege, Pflege der Schwachsinnigen und Geisteskranken, der Trinker, Geschlechtskranken und Schwindsüchtigen..."
Diese Zeit. Schwere Zeit. Große Zeit, große Sorgen. Hoffentlich ist das Kind nicht erblich belastet. Er starrt ratlos auf die gelesenen Zeilen: Blut muss rein erhalten bleiben. Manche in unserer Familie sind nervattich. Vor allem unser Misch, der Schwager. Und Töff ist oft sehr ungeschickt und abwesend. Gottseidank sonst munter: Beim Coetus ist Töff Fuchsmajor, er herrscht die Männer an, habe ich gehört: „Wer spricht da im Glied?“
"Es predigt in der Klosterkirche, Sonntag, den 12 Au-gust: Pfarrer Georg Ließ, nächsten Sonntag, den 19. August: Pfarrer Georg Ließ... Erkältungskrankheiten, Nervenschmer-zen, Grippe. Geistliche Abendmusik in der Klosterkirche, der Leipziger Thomanerchor kommt am Freitag, den 24. Au-gust..."
Er hustet vor Erregung, er schnäuzt sich. Chronischer Katarrh. Sein Blick fällt auf die Zeile: "Togal löst die Harnsäure, beseitigt die Krankheitsstoffe." Morgens im Bad Salzwasserlösung in die Nase, fast genauso gut, überlegt er, Naseneingänge frei halten.
Er steigt dann etwas später unten an der Tornatz auf den Leiterwagen, freilich nicht wie ein großer Engel im weißen Nachthemd, sondern nach dem Frühstück, das er auf der blauen Veranda eingenommen und nachdem er sich in seinem Schlafzimmer reisefertig gemacht hatte, schritt er den Fahrweg hinab bis zur Tornatz, wo der Leiterwagen stand, der Herr Wagner und die Pferde warteten.
Der Großvater auf dem Leiterwagen fährt eben am Let-jew ganz nah am orthodoxen Kirchlein der Kornescht vorbei, auf rumänisch heißt es Corneşti, denkt er, müssen leider jetzt auch diese Staatssprache lernen... Im Wirtshaus sitzt schon der Hartmann, denkt er, verkommenes Subjekt, stiehlt dem Herrgott den lieben langen Tag. Pale säuft er; wer? der Herrgott? Dummerjan, der Hartmann doch wohl, es werden immer mehr und mehr. Gut, dass ich meinen Armeerevolver behalten habe. Auch das Jagdgewehr für alle Fälle. Überfälle zunehmend, am schlimmsten die Aufrührer, Wahnsinn und Rebellentum.
Staubmehlstraße, große Wolke hinter dem Wagen, Fer-ne. Wie in der Fibel; bittschön, bei uns ist noch alles in Ord-nung. Pferde traben und furzen, Hüh, überwältigend. Und ge-stern Hindenburgs Begräbnis. Ordnung herrschte da wider Pö-bel und die Revoluzzer.
Das ferne Ostpreußen, Neudeck um Mitternacht. Nur die Familie, dann Personal, Gutsleute, viele treue Bauern und Knechte. Die Treuedietreue. Von Neudeck bis Tannenberg standen sie, Tausende Treue Spalier. Die Sargträger nicht, die gingen voran: Zwei Hauptleute, zwei Kapitänleutnants, wie es sich gehört am Rand versinkender Geschichte.
Und bald kommt das Kind ins Gassenhaus. Heut oder morgen. Gezogener Degen, Reichskriegsflagge, Kränze ohne Zahl über dem Eingang, in eherner Ruhe Reichswehr, zwei Bataillone Infanterie, zwei Schwadronen Reiter. Felder ring-sum flimmern schön. Süße Heimat, komm bald wieder. Und zwei Batterien Artillerie, drei Leibregimenter, Präsentier-marsch, die Lafette mit Sarg, sechs Rappen; Fahnensenkung, Fahnenhebung. Also oben, jaja, im Reich, da ist noch alles in Ordnung. Pöbel wird beherrscht, der Achtzehner, die Schuld annulliert.
Aber was Merkwürdiges haben sie oben eingerichtet. Schon dieses Wort Konzentration... Konzert, nein auch in der "Dimineaţa" stand was von Gespenstern, die da rein müssten, Volksfeinden.
Im Januar schon hatte Hermann, der ja oben Medizin studiert, im Lokalteil "Aus der Heimat", Dachau-Innersdorf, gelesen, natürlich zuerst den Wetterbericht, den man über-fliegt: „Wetterbericht, ausgegeben am Samstag, den 13. Januar 1934, mittags noch vereinzelt Regen und Schneefälle, zeitweises Aufklaren, schmales Zwischenhoch, kein weiterer Temperaturanstieg.“
Dann aber war die Rede von jener merkwürdigen neuen Einrichtung. Da stand: "Der neueste Wachkommandant. Der Führer des 1. Sturmbanns der 56. SS-Standarte Norbert Scharf wurde zum Wachkommandanten des Konzentrationslagers berufen."
Gräuelnachrichten aber und Gehässigkeiten des perfi-den Albion aus dem "Manchester Guardian", dass es in der neuen Einrichtung etwa 2700 Gefangene gäbe, dass einige mit feuchten Handtüchern und drahtumwickelten Ochsenziemern, die die Gefangenen sogar selbst verfertigen mussten... ja, dass einige von ihnen vermittels 25 – 75 schweren Schlägen zu Tode geprügelt worden seien, sind energisch dementiert worden.
„Diese Feinde! eine Welle der Besinnung geht doch durch die Welt“, hat Hutmacher Lingner gesagt, auch ge-schrieben im "Großkokler Boten", der Schriftführer Freiwilli-ger Feuerwehr zu Ehren des großen Ereignisses im Januar: „10 Steigerübungen, 12 Spritzenübungen, 8 Sanitätsübungen, 9 Gesamtübungen und 9 Vorträge“, wozu also noch Punkt und Komma kommen, denn es läuft wie geschmiert? Übertragungen ausm Reich Sportpalast und das Herz geht dir auf Mund auch über Mund auf und Mund zu aber ohrenbetäubend Jubel nämlich „Heil Deutschland“, und da kommt er schon.
Also oben jaja da im Deutschen Reich ist alles in Ord-nung. Pöbel beherrscht. Der Achtzehner, die Schuld an-nulliert.
Als ich im Achtzehner dann abrüstete, nach Hause kam, da hatte sich auch in der Heimatstadt alles verändert: Bei der Neuen Brücke eine ungeheure Flut, das dahin schießende Wasser, das Trommeln der Wassermassen an die Fensterscheiben war zu hören, der alte Schopfen mit den Familienbriefen aus der Verlobungszeit, den Kriegsbriefen aus dem Feld: Galizien, den Briefen von Misch aus Amerika – weggerissen. Wir konnten noch die schwimmenden Kisten retten. Und alle Gesichter wie zehn Tage Regenwetter, fahl, "verwapelt", die alten Unterscheidungen passten nicht mehr in diese völlig aufgeweichte Landschaft.
Vielleicht werden wir plötzlich und ganz unheroisch eines Nachts in der Kokel zusammen mit angeschwemmten Hühnern, Kühen, Schweinen einfach ersaufen. Oder auf dem Klo morgens beim Zeitungslesen. Das Haus stürzt ein, es wird unweigerlich nach einer Zeit einstürzen.
Wofür ist der arme Wilhelm gefallen. Soldatenehre. Fiel an der Spitze seiner Kompanie in Galizien in den ersten Tagen des Vierzehner, mit gezogenem Säbel erstürmte er als blutjunger Leutnant eine Anhöhe und brach im mörderischen Feuer eines Maschinengewehrs schon bei den ersten Schritten zusammen; die andern stürmten weiter. Und seine Mutter, die Grießi, soll genau in seiner Todesstunde einen Schrei gehört haben. Sie wusste: „As Willi äs died. Äs gefallen!“ Pflichter-füllung, absolute Pflichterfüllung. Es gab damals keine Widerrede wie heute. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, zu fragen, ob es Unsinn ist oder. Nein, wenn das Vaterland in Gefahr ist, dann darf doch nicht gefragt werden, das wäre ja schon Verrat. Oder gar Gedanken – wie kann ich mich drücken. Wo solch eine Auffassung durchkommt, da ist das Kostbarste vertan. Dann ist die Idee des Vaterlandes tot... im kalten Licht des Verstandes wird alles zweckmäßig, verächtlich und fahl. Uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren Strahlen großer Gefühle zu leben. Dies Gefühl ist in uns noch lebendig. Und wenn nicht die Familie gewesen wäre, hätte ich mich gegen die Roten in Budapest gemeldet, die auf den Kopf geschlagen.
Und gerührt erinnert er sich an den letzten Brief der elfjährigen Friederike, die ihm ins Feld geschrieben hatte: Wie sich Hermann ("Bübchen") freue, weil Vater ihm aus Galizien Fasanenfedern mitbringen wird. Und dass viele Schulfreundinnen krank seien. Sie lägen mit Scharlach und Pocken im Epidemiespital, es gäbe schon keinen Platz mehr.
Oh wie schön. Bahnhöfe
der alten Monarchie/ weiche Anfahrt
im tschechischen Laut/ böhmische Dörfer...
Büffel, Ziegen und Schnitterlieder/ Korn und Kühle
Tonkrüge. Sensen geschultert. (Der Riese Tod!)
Tanzte Csardas, Polka, Hora, Donauwalzer.
Ein Kaiser mit Backenbart auf allen Briefen.
Aber über die neuen Einrichtungen im Reich, wie man sich der Volksfeinde entledigt, nein, da stand wenig im "Bo-ten" und im "Tagblatt". Dieses komische neue Wort „Konzentration...“ wie war es nur, ja eine Konzentration war es schon, konzentriert, konzentrierte Lösung, was denkt man sich dabei, „Konzentrationslager.“ Da stand nur eine kleine, aus der "Dimineaţa" übersetzte Notiz über "Gespenster in die Konzentrationslager, die Phantome einer vergangenen Zeit.“ Jaja: „Schutzhaft für alle, die die Sicherheit des Staates gefährden und den Staatsapparat zu sehr belasten, wenn man sie in den Gerichtsgefängnissen belasse!“
Auch dass sieben SA-Männer, die am 1.August in „Schutzhaft“ kamen, derart misshandelt wurden, dass zwei, Amuschel und Handschuck, starben, dass die Stadträte Haus-mann und Lehrburger, der Reichsbannermann Aron, ein kom-munistischer Funktionär aus Memmingen, insgesamt 50 Mann ermordet worden seien: dem sei heftig widersprochen worden.
Alles nur Zwischenfälle, falls überhaupt wahr; denn wo gehobelt wird, da fallen auch Späne; der junge idealistische Polizeipräsident Himmler hat nur das Beste gewollt, auch bekannt gegeben, dass es diese Lager gab, "ohne jede Rücksicht auf kleinliche Bedenken und in der Überzeugung, damit ganz im Sinne der nationalen Bevölkerung zu handeln." Gegründet wurde das Lager auf dem Gelände der ehemaligen Pulverfabrik K. Durchgeführt von Landespolizei, SS und SA. Und seit einigen Wochen kann man nun im Moor bei Eschenhof Gefangene arbeiten sehen; manche marschieren mit geschultertem Spaten aus und singen: Schwarzbraun ist die Haselnuss/ schwarzbraun bin auch ich, bin auch./ Schwarzbraun ist das Mädel mein/ gerade so wie ich. Hollari juwi-juwi hi trallera. Im "Amper Boten" stand, dass die Verwaltung des KL vom Pg Gutsbesitzer Dinkler, Gröbenzell, gekauft worden war. Die Inhaftierten seien im Dinklerhof selbst untergebracht. Sie sollen sich in der Freizeit mit Spiel und Sport aufs beste unterhalten. Tagsüber kann man die Schutzhäftlinge frohgemut arbeiten sehen.
Auch bei uns ist einiges los. Das sah man auf dem letz-ten Feuerwehrball hier in Scheszbrich: Wie der Fritz Markus, dieser kleinköpfige Doktor, der Obmann ist wohl krank – die Polonaise anführte. Und die Hautevolee, Dr. Wolff da drüben, der Stadtpfarrer, Baurat Jacobi von der Stadtverwaltung, Dr. Seiverth, der Bürgermeister, alle Brudervereine der Stadt, die sind auch alle auf Seiten der Erneuerungsbewegung, Schwarz hat es in seiner Rede betont, alle Körperschaften sind eh durchdrungen vom neuen Geist. Unser Volkskörper sei krank, sagen sie. Vor allem diese „Selbsthilfe“-Organisation von Fritz Fabritius ist fabelhaft. Wir sind hier im Südosten noch nicht am Ende. Auf genossenschaftlichen Grundsätzen aufge-baute Organisation verschafft Volksgenossen billiges Geld, Bau von Häusern, neuen Bodenraum, Hilfe im Wirtschafts-kampf.
Habe es im "Klingsor" nachgelesen: „fremdes Recht und fremde Wirtschaftsweise haben das Kostbarste, haben das Innere des Volkskörpers, die Seele, das Rechtsempfinden krank und hohl gemacht, dass wir von Stufe zu Stufe dem Ab-grund entgegen taumeln auf unserem Schicksalsweg, Keim zu innerer schwerer Krankheit.“
Beeindruckend vor allem die Auffassungen des Her-mannstädter Rechtsanwaltes und Schriftstellers Wittstock, der ja seit dem 5. Sachsentag juridisch so ausgezeichnete Auffassungen hat. Dieser Dr. juris hatte Wichtiges geschrieben: "Es geht darum, aus der Volksgemeinschaft einen kategorischen Imperativ zu machen, und das heißt, die alte himmlische Forderung der Nächstenliebe und Menschenliebe endlich irdisch im Einfachsten zu erfüllen. Es geht darum, an die Stelle der parlamentarischen Demokratie, die nie etwas anderes als Kompromisse und politische Tauschgeschäfte zustande gebracht hat und bei der die Politik kaum je mehr bedeutet hat als die Fortsetzung von Privatge-schäften mit anderen Mitteln, eine ganz neue Art der Staatsleitung zu setzen, eine Staatsleitung aus dem Volkswillen, eine Staatsleitung ohne Geschäftemacher und ohne Privilegien und auch ohne Übergewicht der Amtsstuben und Amtsformeln über das Leben selbst... Es geht darum, dass die Zufälligkeiten der alten Weltwirtschaft und die unverdienten Zufälligkeiten des Besitzes von Rohstoffen ausgeglichen werden und nicht länger zum immer frischen und immer brotlosen Kampfe zwischen den gequälten Menschen führen."
Und dieser Hitler wird dann das Problem lösen. Diese leidige Arbeiterfrage, diesen Arbeitsmangel. Das wird er! Und gleich nachfolgend kam dieses schöne Gedicht von unserem Dr. Zillich dazu: „Den Deutschen von Gott gesandt: Gütiges Auge, blau.../ dunkle Stimme du.../ Und der Kinder treuster Vater,/ sieh, es steht geschart über die Erdteile hin/ Weib und Mann in den Flammen der Seele/ heilig vereint...“, so schrieb es unser Heinrich Zillich... Aber Przemysl, die Festung, hat Hindenburg doch übergeben müssen, da haben wir fast ge-weint, damals im Fünfzehner.
Und die elfjährige Friederike schrieb mir aus ihrer Puppenstube und ihrem Puppenspiel, wo sie sich auch die andere Art von Adam und Eva ausdachte, wie Mann und Frau das Paradies gewinnen, schrieb mir ins Feld, ich erinnere mich an diesen herzigen Brief noch genau: „Wie teuer wird alles werden. Zucker haben wir immer nicht, man kann überhaupt nur noch Krustenkaffee ohne Zucker trinken, manchmal kommt es mir zu speien, so bitter ist er. Mergler-tante schrieb Grossi aus Agnetheln, sie solle ihr Zucker und Petroleum kaufen. Wir könnten froh sein, schon elektrisches Licht zu haben. – Wie kann man Hunderte von Feinden auf einmal schießen? was machst Du immer am Abend? Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Du befreit wirst. Auch wie gut wäre es, wenn Du zu Hause wär´s t, ich kann es mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie das vor dem Krieg war. – Schlaf gut, unser lieber guter Vater, es grüßen und küssen Dich vielmals Deine dich so liebenden Kinder Friederike, Erika und Hermann, Dein kleines lustiges Bübchen. Kuss auch von der Mutter . (Der Steieranzug steht Büberle sehr gut.)“
Das Elend. War nicht das Elend beherrschend für die Frauen gewesen. Mit Fritzi hatte ich jeden zweiten Tag Briefe gewechselt. Galizien, Saloniki bei Turba. Und Fritzi hatte Angst wegen Russlands Revolution. Einmal schrieb sie mir: „In Russland herrscht das Chaos. Misch war während der Wirren in der Ukraine gewesen, was hat der in der Ukraine zu suchen!? Naja, Geschäfte hat er gemacht, sieht ihm ähnlich. Für zwei Hendl erhielt er 200 Kronen, für eine zerrissene Hose 60 Kronen. Er war schon immer ein Zauberer und ein Tausendsassa. „Ohne Hokuspokus kein Leben“, sagte er.“ Goldenes Zeitalter der Sicherheit. Dauer. Gings damals zu Ende, 1918? Die österreichische Krone. Gold. Ordnung. Aus. Alles am rechten Platz, jeder wusste, wo er hingehörte. Zinsen genau berechenbar. Beamte und Offiziere, die den genauen Tag der Pensionierung wissen. Schon dem Säugling legte man ein Sparbuch an. Immer war eine kleine Reserve da für Notzeiten und Krankheit. Aus. Bisher hatte man solide gewirtschaftet, man ging keine Risiken ein; verbrauchte immer nur einen geringen Teil der Einkünfte und machte Rücklagen, kaufte Grund und Haus, dachte an die Zukunft. keinen Plunder! Aus?
Doch Kultur ist da. Musikverein Probenordnung: Mon-tag gemischter Chor, Dienstag Orchester Vollprobe. Pünktlich und vollzählig erscheinen! Männergesangverein. Montag, den 13. keine Frauenprobe. Sonst gewöhnliche Probenordnung. Mata Hari im Astra-Kino. Ein Sensationsereignis... Greta Gar-bo und Ramon Novarro...
Der Alte fuhr mit dem Leiterwagen in die Stadtwoh-nung, den Ledersitz zu holen, vom Lederwarenhändler Berger gefertigt,. die Albertstraße hinauf, am Eiskeller vorbei, Neue Brücke, Maria Theresia Brücke, uralt, Holz, dann durchs Hof-tor Baiergasse 49, Katzenköpfe grau schimmernd, ganz nah, rund erhoben wie eingegrabene Eier. Im Hof sägen sie schon das Winterholz. Früh heut, früh. Wohl für das alte Fräulein Hoch, naja, die hat es nötig, die mit ihren kranken Füßen. Ge-ruch von Öl, ohrenbetäubendes Sägegeräusch. Der Puşcaş.
„Bunã dimineaţa Domnule Doctor.“
„Munciţi, munciţi?“
„Dada.“
Kannst dich hier nur schreiend verständigen. Aber die Staatssprache, die neue, naja, die kann ich schon leidlich.
Der Ledersitz wird aufgesetzt, samt Decke. Nun kann es losgehen. Am Fenster erscheint die Kranke.
„Gress se Gott, Freiln Hoch.“
„Gress se, Gott, Herr Doktr.“
Die gelähmte alte Jungfer am Fenster. Ist sofort wieder verschwunden. Zumgotterbarm. Schüttelt die Teppiche nie. Aber der alte Herr Zerbes - eine gute Erscheinung, geht noch aufrecht, ohne Stock wie ein Soldat. Jetzt an der weißen Ein-gangstür. Hinter der Tür noch eine Tür, und dann eine ganz steile Treppe hinauf. Wie der alte Herr das noch schafft, trotz seiner fünfundsiebzig. Rüstig, rüstig. Aber die arme Hoch mit ihrer Lähmung, ein Rollstuhl müsste her, doch so mit den zwei Krückstöcken, Zumgotterbarm. Was für ein Kreuz. Warum schlägt Gott die einen, lässt die andern heil und gesund an Geist und Gliedern. Und auch sonst sind sie ja nicht mit irdischen Gütern gesegnet, wenn sie das Haus nicht hätten, wären sie schlimm dran. Wie der arme Hellwig da, der kleine Schuster, sitzt den ganzen Tag in seinem Loch und hämmert an den Sohlen anderer herum. Bitter arm. Und ist doch ein Mensch unserer Sprache! Die Frau stammt ja aus der Tschechei. Ihr Rock zipfelt hinten wie ein Schwanz, immer länger. Haben auch noch diese Rangen, vier oder fünf Kinder. Gekindsel; kugeln dauernd in der Werkstatt herum. Höhle. Ärmliche Verhältnisse, drei Stiegen hinunter wie in die Unterwelt. Tageslicht an blinden Scheiben, da ist keine Energie, um hochzukommen; vielleicht schlechtes Erbgut, wer weiß. Wie bei unserem armen Hartmann, dem Pintsch unter dem Gang im Hof. Dieser wacklige Gang. Müsste befestigt werden, das neue Kind, ein Junge und Stammhalter, könnte hinunterfallen.
Schlimm wie devot der Mann ist... Wenn die Tür der Hartmanns offen steht, riecht es nach Kraut und Bohnen. Armeleutegeruch. Und der Sohn spielt Ziehharmonika. Quäkt: Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein,/ und das heißt, dreivier, Erikaaa im Takt. Der Hartmann ist schnell und schusslig ... und dienstbeflissen. Hat ja was, sagte man, mit der Kraftehann. Die mit ihren zehn Kindern. Ist etwas unterbelichtet. Ungewaschen, Geruch eingetan... Wie die das alleine macht, das wissen die Götter, wer da alle Kotschen wäscht. Sie natürlich. Wer den vielen Kindern den Hintern putzt, Essen macht. Kaum zu glauben, - eine Frau allein, und dann auch noch zu Wohlhabenden waschen gehen, sich für einen Tag verdingen. Na. bei uns wird Eri nicht waschen müssen, jetzt hat sie zwei Mägde; viele Windeln wird es wohl geben. Großer Kessel. Kochen die Kindersachen, die hellbraunverkackten und nass gemachten, Wie der Wind sie dann am Seil im Hof in den Himmel heben wird, leer die Ärmelchen und Beinchen...
Die ungrischen Knechte für Ochsen und Pferde.
Rumänische Mägde tränken das Vieh.
Am tiefsten aber in unsere Erde ...
nun ja, der sächsische Bauer mit seinem treuen Pflug...
12
Ja, die Jahre vergingen. Und die Konsequenz, die Kon-sequenz kam. Die Dreißiger, und auch 1940, 1941. Und ich sehe Roland als SS-Offizier vor mir, so als wäre es gestern gewesen… Diese schlechte Luft beim Friseur Roth. Vor der Tür eine Glocke, die schwingt und bimmelt. Drinnen roch es gemischt, Öl, Pomade, Kölnischwasser. Scheitel, gestutzte Köpfe, Nullerköpfe. Darunter einer mit Totenkopf an der Offiziersmütze. Der Onkel Roland. Oder Rolli. Früher gab´s dazu eine unerklärliche Ausstrahlung, schwere Aura, prickelnde Hysterie. Das "gesunde Gefühl". „Instinktsicher“, sagte man.
Rolands SS-Mütze strahlte für mich als Kind etwas Ed-les, Stolzes, „Grosses“ aus. Schon durch den hochgebogenen Rand flösste sie Respekt ein. Ich setzte sie gerne auf und sie fiel mir ganz über die Augen, es wurde finster. Wä än der Bäf-fel (wie in der Büffel!)l, lachte dann Roland mit seiner sonor-panierten sanften Stimme, und sagte, jetzt aber stramm stehen, auch blind!
Totenkopf: Ordnungsbesessenheit und zusammenge-kniffene Lippen. Ihre Taten wären anders nicht möglich gewesen. Dabei musste man forsch und fröhlich sein. O Donna Clara, ich habe dich tanzen gesehn... Wann kam dieser schwarze Feldpostbrief? Das Lied aber, ist das Gegenteil, auch Mutter sang: Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, und sofort dann weiter: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Biserbricht!
Dann, schon im August 44 und bis heute, wurde der RÄCHER aktiv. Die Furie des Verschwindens. Uns gibt es seither nicht mehr!!
Und dann doch wieder Rolands´ Stimme: „Ich weiß es, ich bin seit ich hier unter den Toten bin“, flüsterte er, „ganz nah dieser Einsicht... diese Qual.“
Und alle Toten, nicht nur Roland oder der Auschwitza-potheker Capesius, nehmen immer zahlreicher Kontakt mit mir jetzt auf? Vor allem die Kriegstoten. Ich höre doch immer noch Georgs schöne Tenorstimme, und er sagte wieder: „Hierst tea mech, Mächel.“ Und dann auf Deutsch: „Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.“ Und Kurti, unser siebzehnjähriger Nach-barssohn, sagte fast heiter: „Hallo, hier Totenfunk. Be¬denke, ich bin. Und Dein Vater hat damals recht gehabt. Wir hätten uns nicht freiwillig melden dürfen! Meine Mutter ist vor Kum-mer gestorben. Du weißt es.“
„Ja, ich weiß es.“
Und ich sehe plötzlich seine tote Mutter, die Frau Kua-les, vor mir, auch sie erscheint zusammen mit ihrem Sohn, so-gar der Alte, der Jäger und Richter Dr. Kuales erscheint vor meinem geistigen Auge. Es waren unsere Nachbarn auf dem Holzmarkt. Er hatte dort versucht, in einem Weinkeller zwei alte Damen zu retten, die geschrieen hatten, dort bewusstlos lagen, doch als er sich bückte, fiel er ebenfalls tot hin: Koh-lenmonoxyd war ausgetreten aus alten Weinfässern. Sie aber, die Budapester Dame war im gelben Nachbarhaus zu sehen, ich konnte es von unserer Eingangstür aus mit dem Transsyl-vania-Schild genau beobachten: Eine Frau mit aufgelösten Haa¬ren und bitterem Mund, und singt ein Lied aus einer Dachluke des gelben Nachbarhauses, ihr Wolfshund schlägt noch an, Vögel in den Kerzen der Kastanien, weiß, und ich wäre ein Kind, sagte sie, aus Tränen. Sonne von oben, also Mittag.
Das trifft mich wie ein Axthieb auch deshalb, weil es so unwirklich erscheint und in ganz fahlem Licht, als wäre ich ebenfalls schon gestorben. Dabei leb ich doch, und kneife mich zur Probe in den Arm. Einmal, ja, einmal wird es ganz sicher für jeden von uns sein. Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holz¬kuckuck, der schlug in der Diele Viertelstundenweise den Tod an: Verneigte sich da¬vor, bunt. Und im Sommerhaus ist der Echte aus dem Wald zu hö-ren. Kuckuck, Kuckuck, ruft aus dem Wald. Tanzen und Sin-gen… Ja? Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung. Wie lange noch? Jetzt hat uns die Zeit der Väter, der Großväter wieder erreicht. Als ginge ich über den Bergfriedhof; Tausende von Namen und Sterbeda-ten.
Ja, aus und vorbei.
Ich hatte bei einer dieser Rückkehren in jenes ehemali-ge „Zuhause“ die alte Fikkatante besucht, die mutterseelenal-lein – der Mann war gestorben, die Söhne gefallen – auf der Burg in der Schanzgasse wohnte. Sie sagte so langsam wie noch nie, als wollte sie eine Ewigkeit einholen:
« Joi, Mächel, bäst tea et? Bist du es? Ich fühle mich so einsam, es gibt niemanden mehr bei uns, keinen kenne ich, keiner redet mit mir. Und es ist traurig.“ Seufzte. „Ich aber halte euch allen einen Platz hier frei, oben auf dem Bergfried-hof – wenn es so weit ist.“
Die eigenwillige Alte, immer schwarz gekleidet, saß am Fenster, strickte, sah hinab auf die Gasse, den Burgplatz, tunkte Semmeln in ihren schwarzen Kaffee, weichte sie auf, weil sie zahnlos war, nicht mehr beißen konnte. Neben ihr lag "Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen" von Teutsch. Darin lese sie manchmal, um das leere Zimmer ein wenig zu bevölkern.
Sie hatte mich im ersten Augenblick gar nicht erkannt. Ich war in meinem Mietwagen vorgefahren, sie hatte sich ers-taunt aus dem Fenster gelehnt, aber gar nicht gewinkt oder sich gefreut. Ich in meinen Jeans und der Lederjacke war ziemlich weit entfernt von ihrem schwarzen Kleid. „Was ist das für eine Verkleidung“, fragte sie während unseres Ge-sprächs: „Ein Mann, der altert, darf sich nicht mehr hinter solchem Klimbim und Kram verstecken. Vor sich nicht und vor den andern nicht. Das hat mein Georg immer schon gesagt, de Ijenschaften kunn grot eraus, de Lijen nitt oof…“ Die Lüge nehme ab, „wenn die Lebenskraft nichts mehr verbirgt. Die einzige Wahrheit ist doch, dass man sterben muss. Je größer der Umweg, umso härter der Schlag. Wer zu Hause stirbt, stirbt leichter.“
Ich schwieg dazu. Es schien mir, als müsste ich den Teutsch nun nachträglich noch abschreiben... und mich dazu. Und konnte diese Begegnung nicht vergessen... ging ziemlich erregt und nachdenklich wieder fort, dachte an Martha, meine Jugendliebe, die jetzt auch fast so alt wäre, ging zum Hinteren Tor in Richtung Misselbacherisches Magazin die Treppe hi-nab, vielleicht begegne ich ihr... wenn ich nur ganz stark an sie denke!
Doch ich höre nur Vaters Stimme in mir, diese Nähe, so, als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche. Rot und Braun, beides gehört zu meiner Kindheit. Dort gegenüber auf der „Lehmkeule“ die Purdis, die Ziganie, nicht alle entkamen den Transporten, Jani nicht und Janos nicht, nur Puşcaş entkam den Todestransporten. Onkel Roland mit Rune und Totenkopfzeichen an der Mütze war dabei. Wie durch ein Wunder war Puşcaş entkommen, der mit dem E¬selchen, der in der Tinne das Koch-Wasser brachte, wenn man ihn rief, über das Tal hinweg: Puuşcaaas! Er brachte kein Trinkwasser, nein, nur zum Kochen war das Wasser gut, brachte es mit dem Eselchen, holperte heran, und dann stand die Tin¬ne, faulig roch das Wasser, die Tinne unter dem Schopfen. Aber andere waren dort, weißt du, dass viele siebenbürgische Zigeuner dort waren. Wo? Im Zigeunerlager von Birkenau. Siebenbürgen Land Des Segens, Land der Fülle und der Kraft, sang die Großmutter, das hatte so dunkle Innenräu¬me, der Klang vibrierte, eine Kindheitsmelodie, ein großes Enig¬ma, weite Kornfelder, Gold und Weingärten, Bauern, Hitze. Überlandfahrten. Und dann dieser ,,Meeres¬bo-den“ einer ,,längstver¬flossenen Flut“; 1940 bis 1944 die Todesflut; gehört zum Bodenlosen tief tönenden Gefühls; Mord, Maschinengewehr, Bombe und Cello; SS-Gebrüll und das zittrige Stimmchen der jetzt Toten…
Als kleiner Junge war ich fast jeden Tag mit Mutter in die Stadt, wir gingen zum Markt. Mutter summte ein Lied, als wir am Musikgeschäft unter dem Sandersaal vorbeikamen. Dann an Winter Schorrs Fleischerladen, da hängt ein halbes Schwein blutig am Fleischerhaken; daneben Ollahs Eisenhandlung mit Hämmern und Äxten. Die Melodie aber bleibt. Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn… Denk ich mit Schmerzen, weißt nicht wie gut ich dir bin! Geigen und Trompeten, Mandolinen und eine Zieharmonika liegen im Schaufenster des Musikgeschäftes an der dicken Mauer. Kannst damit wunderbar spielen, blasen, flöten. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Liiindenbaum. Ich schnitt in seine Rinde so ma-a-a-nchen sü-üßen Traum. Omas Stimmchen. Aber dazu: Vorwärts, vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren… Vor allem in der Morgenfrühe, frisch ist es heut, und die Blütezeit der Himmelsschlüsselblumen; sie schließen auf, wenn über den Feldern die Luft flimmert und glüht, Pimpfe aber sind im kühlen Wald; Waldlauf, Hornrufe, Trompete, Zeltlager. Und dann, wenn der Mond über den Berg kommt - Lagerfeuer. Flamme empor! Karree. Die Meldungen. Lager. „Lager. Von Granada“, sagte Mutter . Lagerertüchtigung. Lager. Lotterlager. Pfui. Und oben im Reich auf der Landkarte ebenfalls Lager, im Wartegau und Bromberg, wo Hermann als Arzt arbeitet. Und nicht weit davon auch Roland in einem andern Lager, Roland hatte Ja gesagt. „Deutsches Volk, inneres Gesetz neuer Weltordnung. Also Weltvolk. Große Weltwandlung, in deren kosmische Wirbel wir mit hineingerissen werden“, hatte er gesagt; und unser Ortsgruppenleiter hat es auch gesagt. Und der Hutmacher Lingner, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, hat es auch gesagt. „Urgestein, eherner Fels eines neu entstehenden gesunden ertüchtigten Volkskörpers, der dem Chaos einer ge-schichtlichen Wende entsteigt.“ Und wie früher einmal auch heut der HIMMELSSTURZ. Abdichtung und reine Haltung, „Volkskörper ist alles.“
13
Am nächsten Morgen nach unserem Besuch von Sant´ Anna, sagte Mutter, sie habe im Traum an jenem leeren Platz in Sant´. Anna, in jener Leere vor der Kirche gestanden, sie habe die Menschenmenge auf der Dorfstraße gesehen, doch die Freude sei mit einer großen Angst vermischt gewesen. Dann aber habe sich gezeigt, dass diese Angst nicht unberechtigt gewesen sei, denn die Leute hätten alle gehetzte Gesichter gehabt, sie wurden nämlich von Russen mit Hieben zusammen getrieben.
„Aber Mutter , es waren doch SS-Leute in Sant´ An-na.!“ sagte ich.
Sie aber sagte völlig unbeirrt: „Nein, russische Gewehrkolben schlugen zu, und Fäuste von oben... vor allem Greise, Frauen und Kinder wurden so von den Russen misshandelt. Es war ein Gewühl – und das Portal der Kirche stand weit offen, mit Kolbenhieben wurden unsere Leute da hineingetrieben, in der Kirche zusammen¬gepfercht, denn es waren ja viele, sehr viele! Immer mehr und mehr Siebenbürger Sachsen strömten mit entsetzten Gesichtern ins Innere der Kirche, der Platz vor der Kirche aber war übersät mit Stöhnenden, Verwundeten, am Boden Liegenden, Schreienden und Toten, nur manchmal noch einzelne Schüsse, wenn ein Russe den einen oder anderen Ver-wundeten erschoss. Im linken Kirchenschiff, auf einem kahlen Platz, auf einer Empore oder Tribüne, die schnell in einen Altar verwandelt worden war, bauten einige Russen hastig ein Rednerpult auf, und über den Beichtstühlen wurden Galgen errichtet, darunter aber standen nun die Gefangenen und sahen zu. Einige von ihnen kannte ich gut, und man hatte mir gesagt, die Hinrichtung solle gegen Abend stattfinden, es war aber erst zehn Uhr vormittags. Es hieß, nur wenige Auserwählte sollten gehängt werden, am Abend würde man die Kirche mit den vielen Menschen in den Kirchenschiffen anzünden.“
„Aber Mutter, weshalb drehst du das jetzt so um?!“
„Es war 1945 im Januar“, sagte sie ernst, „du weißt doch, da wurden unsere Leute nach Russland verschleppt, auch unser armer Georg, Friederikes Mann. Und er ist nie mehr wiedergekommen!“
„Ja, ich weiß, für uns war der Krieg zu Ende, doch Ro-land war immer noch in Auschwitz eingesetzt, dein Bruder in Buchenwald…“
Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei... Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Es geht alles vor….
Und jetzt bin ich müde geworden, sterbensmüde. Wie ausgelaugt und ausgebrannt, burn-out? und der Versuch, gegen mich anzugehen im täglichen Umgang mit mir selbst, ist gescheitert. Keine meiner Hoffnungen hat sich erfüllt. Die Jahre schlagen zu. Lebensekel, Erkenntnisekel würgen mich. Und die gute Hannah habe ich mit rein gezogen, sie ist das Opfer meines Versuches nach all dem, zu dem ich ja mit gehöre, zu verschwinden.
Und erinnere mich an den Sommer des Einzugs hier in dieses Haus, als ich nur weg wollte aus Deutschland, wo ich die durch Bomben zerstörten und dann neu aufgebauten Häu-ser als „Neugerümpel“ empfand, die Leute „kalt“, wo die grauenhafte Vergangenheit in den Familien Tabu war, und das Heimweh zuschlug, erinnere mich an den schlimmen Haus-Krach hier in Agliano. Das Haus voll mit Gästen; ein Bienen-haus ohne Honig. Auch die Eltern waren da, alle vier; es war der furchtbarste Sommer meines Lebens, damals prallten die beiden Familien, die Hannahs und meine aufeinander, Hannah und Templin: Streit bis aufs Messer. Mutter trug den ganzen Tag eine dunkle Brille, damit man ihre verheulten Augen nicht sehen sollte. Sie sah aus wie eine arme Eule.
Sie hatte im Essraum am Tisch zu Gisela gesagt: „Ich war immer völkisch eingestellt und ich bin traurig, dass im heutigen Deutschland jedes Nationalgefühl verschwunden ist; als wir hier ankamen, haben wir dieses schmerzlich erkannt.“ Und Gisela hatte darauf mit leichter Herablassung erwidert, dass man so etwas in der Bundesrepublik gar nicht mehr emp-findet, das Nationale sei den Deutschen ausgetrieben worden durch all das Grauen, national, gar völkisch, das sei überholt.
Und doppelte Wut hatte mich gepackt, einerseits gegen Mutter und dann gegen Gisela mit ihrer freundlichen Herab-lassung: So behandelt man eben diese Hergelaufenen. So hat-ten diese Habenichtse auch in diesem neuen Haus nichts zu suchen, zu sagen, gar zu bestimmen, und eine ohnmächtige Wut überkam mich.
Mutter aber hatte geweint, sie saß vor mir, die Hände vors Gesicht geschlagen, wie ein Schrei hallte ihre Tonlosig-keit im Raum, nur unterdrücktes Schluchzen war zu hören, selten ganz selten überkam sie, schüttelte sie eine Welle von Weh, so schien es mir, wie eine kranke Aura strahlte es aus ihrer Gegend, strahlte aus dem Körper. Und da, als ich in der Tür stand, hilflos redete, redete, redete, ununterbrochen, ich konnte mich nicht lösen von diesem Raum, wo meine Mutter saß, wo die vergangenen Jahre anzukommen schienen, anwe-send, so vollbesetzt das Zimmer von ihnen, dass gar kein Platz mehr da war, dass ich selbst mich kaum bewegen konnte, wie angewurzelt da stand, oder mich vorsichtig bis zum Fenster bewegte, hinaussah, als könnte ich so wieder entfliehen, Atem schöpfen und ruhiger werden. In der Nacht hatten wir beide kaum geschlafen; diese Stimmung schien sich auch außen zu spiegeln, es war ein starkes Gewitter in der Nacht gewesen, Sturzbäche von Frühlingsregen auf das Dach geprasselt, dazwischen fahle Blitze durch den Spalt des Fensters. Und die Erinnerung an diesen Wutanfall gegen Mutter; als wäre nun die seelische Arbeit von Jahren zerstört, als wäre die nun völlig vergeblich gewesen, klang immer noch bitter und mit Schuldgefühlen nach. Nichts mehr war wieder gut zu machen, Nichts.
Mutter hatte dann tagelang mit verweinten Augen im Bett gelegen, nachdem ich sie vor allen angeschrieen hatte. Und Vater hatte neben ihr gesessen und hilflos gemurmelt: „So lass ich meine Frau nicht behandeln… So nicht!“ Und schon damals hatte sie dann kraftlos bei Tisch gesessen mit harten zuckenden Bewegungen, die fast automatenhaft starr waren. Und Schwäche. Schwäche hatte ich dabei empfunden.
Und Hannah brachte mich, diesen „Ostler“, zur Weißg-lut, indem sie mir meine zu langsamen Reflexe, meine Abwe-senheiten und meine Anpassungsmängel an den westlichen Lebensstil vorhielt, dauernd an meinem Verhalten, an jeder Handbewegung, an meinem geduckten Gang, meinem Auto-fahren, meiner Sprechweise, meiner Art einzukaufen, zu essen, mich zu waschen, etwas auszusetzen hatte. Schon im er¬sten Jahr die Hölle. Wir saßen dann da mit versteinertem Gesicht und künstli¬cher, verkrampfter Kälte um uns, verbissen und sich selbst strafend in unserem Elend, in diesem Jammer, den wir nicht anrühren, den wir nicht öffnen konnten mit dem Denken, mit dem besser lösenden und ausweitenden Verstand, der abprallte wie von einer dunkeln Wand: Ein aufgetürmtes Ner¬venrot; und wir litten an dieser harten Konfrontation, die aus Gründen, aus Ei¬genschaften entstand, der wir nicht Herr (oder Frau) sein konnten - Wände, die sie nicht selbst aufbauten, sondern etwas kochend Anonymes in unserer Seele, das stärker war als wir. Die Jahre hatten es dann noch größer werden las¬sen, wir hatten uns gegenseitig verletzt, und jedesmal waren die Spuren in uns tiefer geworden, die Gedächtnisspuren gespannter und geladen mit alten halbvernarbten Wunden, die dann alle zugleich aufbrachen, wenn sie nur leicht berührt wurden und zu einer schrecklichen Explosion führten. Es war mehr als ein Mensch ertragen konnte, und es ist wie ein Wun-der, dass wir nicht auseinander gegangen waren! Denn oben auf dem Berg in jener Einsamkeit verstärkte sich alles noch ins Ungemessene, wurde hinausgeschleudert in ein Außerhalbderwelt.
Auch später immer wieder Kräche mit Hannah, es war diese düstere vergangene Zeit des Anfangs, als wir noch jün-ger waren und dieses elementare Aufeinanderlosgehen noch ertragen konnten. Und wir schlichen dann mit sandigem Ge-fühl und höllisch gestörtem Gleichgewicht die nächsten Tage beklommen durchs Haus, wortlos aneinander vorbei und mit geröteten Augen.
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... Übers Bachel bin i sprunge... übers Wiesel bin i renn ... alles so unschuldig am Fuß des Himmels, blau, ein Leben lang bleibt es so: Das Guckloch hinüber und nah nach Hause. Ich kann es berühren. Barfuss liefen wir früher über die nackte feuchte Erde, fühlten Zementboden im Keller unter den nackten Sohlen, Sonnenstrahlen fielen durchs Laub, zeichneten Muster auf allen Wegen; alles wie frisch gewaschen. Wir liefen durch Pfützen, Lehm, Gras zwischen den Zehen... Differenz, Wörter, erst jetzt wie ein Kloß im Hals, etwas geduckt die Phantasie, die Türen geschlossen; oft Zementboden.
Damals die Holzwege noch voller duftender Blätter, die Sonnenkringel, Kreise an der warmen Hausmauer. Muster auf dem Sandboden, unsere nackten Füße tasteten sie ab; und jetzt kehren sie wieder im Traum: Ein Widerschein von Licht, hallend, dichtes Leben, eine Wiederkehr, ein Kreis.
Am Grabenrand hinter der Sommerküche auf der Zis-terne, unter den Rusperbäumen die Sonnenkringel, Schatten-flecken, Muster werfend: Da war es schön kühl.
Und schrecklich... jedes Wort ruft jetzt eine andere Erinnerung wach; sie liegen übereinander die Schichten, sie stören sich,. und ich kann es immer noch nicht glauben...
„Und die Toten bleiben jung.“
„Ja, alle sind sie tot, alle.“
Bei Familienfesten eine Durchreiche aus der Küche fürs herrliche Weinsteinkraut; der Graben: Holz- und Hohlweg rätselhaft, Mäuse in der Sommerküche, Angst der Frauen, sie könnten in die Scheide gleiten; im Kamin über der Sommerküche der Uhu, zog die Lider den ganzen Tag verschleiernd übers Auge, und wenn der seinen Flug nachts zur Mäusejagd begann, als wollte er jene Angst auslöschen, träumten wir bereits. Zehnuhrkinderflüge – kein Problem, alle konnten wir fliegen, Schwerkraft aufheben, in uns noch keine bleierne Melancholie und Müdigkeit, Schwere, die zu Boden schlägt. Auf der Holzbrücke über den Graben noch trappelnd Roß-und-Reiter-spielen, Blinde Kuh, Verstecken mit Onkel Roland und Onkel A., dem Töff, und dann wieder auftauchen, kein Problem.
… die armen Dinge, Tiere und Menschen, und ich beo-bachtete genau; sie sahen das Huhn nicht an, wenn sie Huhn sagten, stachen mit einem langen Messer in den Hals des Huhns, durchschnitten ihn, und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte, das Huhn lief ohne Kopf im Hof herum, bis es ohne Kopf eingefangen wurde, Blut rann in eine Schüssel, und ich war erstaunt, wie dumm die Worte sein konnten, Huhn, Blut, Laufen, Holz, das ich erst seit kurzem sagen konnte. Wie ein Kotzbrei hatte damals das Gebilde vor mir gelegen, und ich hatte oben auf einem wackligen Gang gesessen, von unten stank das Klo herauf, das Eisen des Ganges war von der Sonne warm, das Holz auch, und roch so gut wie das eingelassene Holz der Brücke über den Bach, oder die Holzscheite, und die Balken auf dem Dachboden, wo die Wäsche ausgespannt wurde, Taubendreck weißgrau auf dem dimpigen Balken, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte, zwei drei Bienen über meinem Kopf summten, sie wollten zu den Blumen, zu Thymian, Lavendel, Majoran, zu den Weiden und Lindenblüten an der Straße, und sie dufteten, Duft kam die Nase hoch ins Hirn wie eine Droge, und war wirklicher, war viel näher als Worte, und ich sah plötzlich das Gesicht der Kinderfrau vor mir, wie es sich wollüstig verzog, wenn sie an der frischen Erde roch, und ich war freilich viel zu klein gewesen, um zu verstehen, was die Leute damals in Siebenbürgen behaupteten, dass es eine zweideutige Ehe gäbe zwischen dem Blütenstaub und der Frau, Duft, Pollen und Geruch, große Nasen offene Löcher, lüsterner Mund, und ein Lippenblütler unter dem sie-benfältigen Rock; Geruch und Rausch der Feldblumen und dem Liebesakt im Heuschober oder in der Scheune, den die Magd damals vor den Augen des Kindes vollzog, das neugie-rig zusah, wie die Magd mit Ernö vögelte, dem grobknochigen Knecht, ihrem Lieben Gott, der aber nun wie ein Tier mit vier Füßen schwer atmend auf der Frau lag, schnaubend und he-chelnd im Rhythmus der ihr gemäßen Natur und den hoch-schießenden wunderbaren Säften. Alles roch nach Erde, Heu, Zwiebeln, Kaminrauch, und sauer nach Schweiß, nach festem Boden, und nach einem andauernd sicheren Glück. Das Kind hatte kaum sprechen gelernt, kaum laufen, wie sollte es da et-was vom schnellen Zeitempfinden wissen können: Hie und da ein stinkender Uraltford auf staubiger Landstraße, da war noch im Geruchssinn, und am stärksten nackt in der Sonne und im Frühjahrsgras einer Blumenwiese, eine so starke Wahrnehmung des flüchtigen Daseins… Und ein starkes, fast schreiendes Gefühl für mich.
In der Nacht ein Alptraum, der mit einem Wort zusam-menhing. Am Morgen hatte ich aber alles vergessen. Mit Mü-he, ich sah zur Gedächtnishilfe alte Fotos aus Schäßburg an, so fiel mir der Traum wieder ein.
Wahre Augenblicke, wie ein Traum, fast vergessen ein Ge¬bäude vor mir, das Dampf¬bad zu Hause, davor hohe Bäu-me, Bänke vom Regen ausgewaschen, die Rillen wie winzige grauschwar¬ze Straßen im Holz, und eine Straße mit Schanz-graben vor meinen Augen, nah, wie ein Ge¬ruch nach nassem Holz, es hat aufgehört zu regnen, Nebelschwaden zie¬hen ins Tal; die Bilder über¬lagern sich wie Wolken, kennen keinen festen Ort, die Männer im weißen körperna¬hen heißen Nebel, glänzende schweißnasse Haut, kein Wort, nur ´türkisches Bad´ fällt mir ein, denn als diese Bilder in unseren Köpfen waren, hatten wir die Worte verloren; manchmal einsilbig Dialekt, transsylvanisch-sächsisch, wat menj Jang, Det Ärw. De Aankeln? Und der Kopf Großvaters mit großer Glatze, ein redender Mund, darüber die grauen Augen, die mich beim Schweigen forschend ansehen und erwartungsvoll, fast neugierig, obwohl sie lange tot sind. Bei seinem Begräbnis war ich nicht dabei, ich durfte die Grenze nicht über¬schreiten. Er, in fremder Erde, ausgewandert, also in Deutschland, unter einem Holzmahl, sieben¬bürgi¬sche Eiche, ohne Kreuz, eine Art Menhir. Ich sehe die anderen Steine hier nahe am Bad, jen¬seits des Parks, an der Bahnhofs¬straße, die Körper unter der Erde, ohne Kreuz, Steine gefalle¬ner Rot¬armisten, ihre Sterne, die längst unterge¬gangen, sind auf den geraden Reihen des Grabmals in fremder Erde. Die im Gefühl so unter¬schied-lichen Toten über den Wolken unterhalten sich noch heute ü-ber den Un¬sinn des Er¬sten und Zweiten Weltkrieges und über die Entfernung vom Heimweh in uns. Sprache, die sich fortbewegt, jetzt, spät und nachher; damals, als der Schrecken nicht vergehen wollte, fühlte ich mich als ein ver¬dämmern¬des Geräusch ir¬gendwo im Kopf, der nie kühl war. Wir sa¬ßen gefangen in der Nähe, in den Häu¬sern, die noch fest schienen und schützten, so glaubten wir es ihnen, bis die Sprache durch die Mauern drang, und sie langsam entfernte, als wären sie nie gewesen. Alles ein Märchen, wir sind lange versteckte Kinder, keiner gibt es zu, hart ein Mann, der alles vergessen will. Die Träume scheu¬chen nachts wie¬der auf. Und ich höre sie fast höhnisch lachen. Immer wie¬der kehren die Stim¬men an jene Orte zurück, wo wir noch am Fluss oder an den alten Brücken wartend liegen, bis der Tod die Träume end¬lich vertreibt, die Orte sind ja längst tot und warten nicht mehr. Aber, aber, was wartet denn da, was so versäumt wurde? - Das Sichtbare hier ist wie eine Kulisse, wie ein summender Alp¬traum: eine arme Idylle. Der Himmel grau, es schüttet oder trietscht, wie es in Siebenbürgen heißt, ich denke daran, dass wir diesen Onkel Roland in Innsbruck be¬sucht hatten. Ich sehe die schmalen spre¬chenden Lippen des ergrauten Hilfsarztes vor mir, und in ihm arbei¬tete es fast zu laut: kreischend fast, schmerzhaft hoch und laut. Oder die Schwarze Wand, Rauch und Menschen¬schrott, nackt. Ach bleib bei mir Und geh nicht fort/ In meinem Her¬zen Ist dein Heimatort. Pro injectione. Mitten ins Herz getroffen. Deutsch. Knacken der Halswirbel. Schuss. Schluss. Komm zu mir dann wieg ich dich. Auch sie, liegendes Kreuz. Murmelte einer, Kopf, Kopf rund, Kopf aus Knochen, aus Haut. ´Nirgends kommt der wirkliche Mensch so nackt zum Vorschein´. Und eine Art Onkel: un¬ser Mann an der vordersten Front.
Entsetzt wird mir bewusst, dass doch Daniel und auch Roland eigentlich längst tot sind.
Auf den Straßen nur noch Kähne, darin eng zusammen-ge¬drängte Menschen unter alten Regenschirmen, zusammen-ge¬schrumpft wie Knirpse, sehen wie Nullitäten aus. Und von oben sintflutartige Regen¬güsse, alles wird schwammig, die Kleider schlottern den Leuten am Leib. Kälte, alter Lehm, als müsste der vom Anfang nun aufgelöst wer¬den, erdig, ver-schlammt auch die Gesichter, die Haut und die Seelen. Jemand sagte: Die arme Ami, unsere Oma, träumte, vom Himmel sei kochendes Wasser gefallen, und wollte alles verbrühen.
„Wer, wer ist schuld, dass alles so gekommen ist?“ fragte Mutter. „Doch nicht wir, nein, die Russen, ja, die sind schuld! Sie haben uns alles genommen – die Rumänen! Du, aber du …Warum wühlst du dort! Lass doch diese alten Sa-chen ruhen.“
„Nein, Mutter, ich kann es nicht ruhen lassen. Denn WIR waren es, wir haben uns selbst das Grab gegraben! Wenn du mich acht Jahre früher geboren hättest, wäre ich vielleicht auch zum Henker und Schuldigen geworden…“
„Aber ich war ja 23 als du auf die Welt kamst, und ich wäre acht Jahre früher ein Mädchen von 15 Jahren gewe-sen…“
„Nein, es geht nicht darum Mutter , sondern dass ich gleichen Blutes bin, wie ihr es nennt, genau so erzogen worden bin, wie Roland oder Töff, so dünnlippig… so autoritär, ein autoritärer Mann geworden wäre… nein, es ist ja wirklich wahr, dass ich sehr dagegen ankämpfen musste, um ein Anderer zu werden, nicht Befehlen und Gehorchen und eiserne Disziplin mein Wesen bestimmen… und ich auch in der Partnerschaft mit Johanna nicht mehr diesen alten Männlichkeitswahn hervorkehrte, auch wenn es so oft miss-lingt!“
„Aber Mächel, waren diese hohen Werte denn alle schlecht?“
„Ja, auch Treue, Tugend, Ehre, euer Anständigsein wurden im Krieg zu Verbrechen umgemünzt! Ebenso die Verachtung anderer Völkerschaften…“
Ein Gespräch mit Vater fiel mir ein, das war noch zu Hause im Speisezimmer gewesen, vor meiner Flucht. - Vater wurde sehr traurig, als ich ihm sagte, wir seien alle falsch er-zogen worden.
„Haben wir also alles nur falsch gemacht?“
„Ihr konntet doch gar nicht anders...“
„Und das andere, das ihr gewählt habt, das rote Den-ken, ist das etwa richtig?“
„Wir konnten auch nicht anders..., wir wollten weg, auf die andere Seite der Front kommen.“
„Zu den Siegern…“
„Nein, zu jenen, die im Krieg auf der richtigen Seite standen…Aber schuld an unserer Krankheit ist das Verges-sen“: Ich hob den Ton.
„Welche Krankheit meinst du?“
„Jenes so genannte deutsche Herz“.
„Aber Mächel, das ist doch keine Krankheit! Wie kannst du so etwas sagen, du, ein sensibler Mensch?“
„Wir wissen, wohin dieses deutsche Herz geführt hat.“
Und ich sah das Foto des ´Bolschewikenschweines´ und ´Judenknechtes´, des ´Feindes´ vor mir, das Onkel Roland allen stolz gezeigt hatte: die buschigen Augen¬brauen, die schwarzen Augen, die aufrechte Haltung, der Mann in der zerlumpten Uniform, und unrasiert, eben ein Untermensch, wie Roland betonte; und er hatte ihn nicht nur gefangen genommen, sondern auch der Wissenschaft zuge¬führt, um ein für allemal zu klären, was das für Menschen sind. Denn wer den menschlichen Schädel öffnet, wie das in Straßburg von Professor Hirt 1942 ja auch getan wurde, erkennt, dass die Hirnmasse Ähnlichkeiten mit den polaren Eiskappen hat, man muss sie nur spiegelbildlich umkehren, wie ja das Hirn et¬was Verkehrtes ist. Wohl wahr. Doch für Hirt war es der Götze. Das Hirn sei keineswegs, wie manche behaupten, Transformator kosmischer Information oder eines außerweltlichen, gar geistigen Lebens¬bereichs, Hirn, das sollte eben nachgewiesen werden: sei nichts als Materie! Das wollte Professor Hirt mit al¬ler Sicherheit im Laboratorium und auf dem Seziertisch - nachweisen. Und be¬weisen. Ebenso ähnelt das Hirn ja auch dem Stalingradkessel, der größten Schlacht aller Zeiten.
Heute Nacht ein furchtbarer Traum aus dem Familien-ambiente: Das Sichtbare hier ist wie eine Kulisse, wie ein summender Alp¬traum: eine arme Idylle. Der Himmel grau, es schüttete oder trietschte, wie es in Siebenbürgen heißt, ich sah ihn vor mir wie ein Gespenst, knochendürr, die Knochen schienen zu klappern, dachte daran, dass wir diesen Onkel Roland, wie ihn meine Mutter nannte, in Innsbruck besucht hatten, ihren Lieblingscuss-eng, wie ihr Bruder Hermann spottete. Ich sehe die vollen spre¬chenden Lippen des Cussengs vor mir, und in ihm arbeitete es fast zu laut…. Rauch und Menschenschrott, nackt.
Nach dem Frühstück mit Hannah und Mutter, wir konnten schon draußen sitzen, und über den Bergkamm des Spranga blendete dann auch die Sonne auf unsern Tisch vor dem Haus, fiel mir beim Gespräch der Traum und diese Abkürzungen ein, war´s cuss, war´s eng, war´s ein Lied, ach ja, zwei Lieder, nicht eines? Ich konnte es aber nicht lassen, in meinem Arbeitszimmer nach dem fehlenden Wort zu suchen, immer noch in der Hoffnung, jenes schaurige Erlebnis dieser Nacht doch noch in den hellen Tag zu holen. Es ist genau so, wie diese Suche nach dem, was an Irrsinn in uns allen steckt, da fehlt ein Stück zum Wachbewusstsein.
Doch konnte ich dieses Wort, obwohl ich manchmal meinte, es liege mir eben gerade auf der Zunge, natürlich we-der in meinem Gedächtnis noch in einem Wörterbuch finden. Trotz allem schien dieser Kampf gegen das Vergessen sehr nützlich gewesen zu sein; dann fiel mir die Abkürzung doch blitzartig ein: KL…
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Mein Freund Adam Salmen, der letzte Jude von Schäß-burg, mit dem ich im Briefwechsel stehe, wir schreiben uns sehr oft und telefonieren einmal in der Woche, sagte gestern, als ich ihm von Roland erzählte und ihn fragte, ob es denn wahr sein könne, was der erzähle: „Ja, mein Lieber, die Scham überfiel uns, überall, nach Selektionen, nach öffentlichen Prügelstrafen auf dem Bock, nackte Frauenhintern hochgestellt wie etwas, das nicht sein darf. Handlungen wie Schnitte ins tiefste Gefühl. Eine Scham gegenüber dieser Schuld, die andere auf sich geladen haben. Oder die nackte Wahrheit, Qual, weil dies alles fassbar wirklich erlebt worden war. Ein Schlag, die Uhr steht still. Ir-gend etwas ist für immer vorbei. Nie wird man es abwaschen, vergessen können. Und ich war verwundert, dass die Deutschen diese Scham nicht zu kennen schienen. Hatten etwas, was wir nicht kannten. Wenige von uns rannten auf die Reiter zu, als das Lager befreit wurde. Gedämpft die Freude. Jetzt sollte das Elend erst beginnen; keine Ausnahme mehr. Man musste nun damit leben, für immer. Daraus gibt es keine Befreiung.“
„Stimmt, sie kennen es nicht; es gibt eine innere Wand. Blei. Tatsachen und Befehle. In der gläsernen Seele metalli-scher Sprache gebrandmarkt.“
„Wir selbst waren nicht mit drin in der Gaskammer. Wir waren nur auf dem Hof. Alle Türen waren zugesperrt.
Wir hörten dann Husten, Geschrei und ein Schlagen aus der Ferne gegen die Tür. Es wurde immer langsamer, und schließlich hörten wir nur noch ein schwaches Husten. Auf einmal sahen wir oben Stark mit einer Gasmaske und mit Büchsen wie Konservendosen stehen und wieder herunter-kommen. Die Offiziere gingen dann weg. Jetzt mussten wir in allen Klamotten nachsehen. Da stand eine große Kiste, in die Gold, Edelsteine usw. hineingeworfen wurden. Stark sagte zu dem Unterscharführer Klaus und dem Rottenführer mit den roten Haaren etwas, und sie steckten sich das Gold in ihre Ta-schen. Dann wurde ein Wagen mit den Klamotten voll geladen und zum Effektenlager gefahren.“
Ich hatte in der Nacht geträumt, dass wir uns wiederse-hen würden nach tausend Jahren in einer Baracke, ich mit Frau und Kind, ich trug einen zerknitterten Judenmantel, grau, wir waren zusammengepfercht in einem Lastwagen mit einem kleinen Gitterfenster, man sah von fern die Auen der Kokel. Und ich erfuhr später von einem Alten, dass wir ertrunken seien auf dem letzten Transport, blau der Tank, der uns überfuhr.
Aber diese eine Hälfte, dieser autoritäre Mann, das war doch der letzte Grund, dass so etwas möglich wurde, Gold und Blut?
Und ich konnte den Gedanken nicht loswerden. Auch beim Duschen nicht, vor allem da nicht. Und ich duschte ja jeden Tag. In Auschwitz waren die Duschen Tarnungen, Täu-schung, anstatt Wasser kam Zyklon B aus den Duschen. Und sehe den Capesius, unseren Apotheker, wie er den Befehl zur Vergasung gibt. Ja, der Capesius, unser Apotheker… Ich hatte ihn in Göppingen besucht.
Capesius: „Und dann sind wir alle zusammen geschickt worden zu einem österreichischen Apotheker, der in Warschau das Zentrale Sanitätslager hatte und wir sollten uns dort allmählich an die Sache gewöhnen, und der hat auch so’n wenig Schulung gehalten vom absoluten Befehl und dass man eben tun muss, was befohlen wird: Es gibt keine Widerrede.“
„Das kannte man ja schon von zu Hause, sagte ich fast versonnen… Nichen Wedderried…!“
Capesius, ein Freund meiner Mutter?
Ich höre ihn stammeln, sein großer Kopf wackelt, die Augen starr hinter einer dunklen Brille. Und doch, ich weiß, er ist vor kurzem gestorben. Ist er jetzt besser im Bilde?
Seine Stimme ist in meinem Ohr immer noch da, breit und schleppend, als müsse sie schwere Gewichte tragen.
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Im Supermarkt 6 Kilo Kaffee, Maismehl gekauft, dann beim Fotokopieren, und nach der Rückkehr Zeitungen abge-holt in der Buchhand¬lung am Meer. Autofahren, Lesen, auch in KH. Bohrers Plötzlichkeit, notiere meine Wut über den ab-gestandenen Augenblick. Wieder oben am Haus, es regnet heftig, Nebel, kurzes Aufblitzen einer Kindheitserinnerung in Siebenbür¬gen beim Rauschen, den Bäumen, doch wie weit, wie dumm sind die Maschen. Ich lege meinen Zustand darü-ber, dieses spießige Dahinexistieren ist der Be¬trug hier. Eini-ge Jahrhunderte - bis es so weit war. Hannah wollte früher einmal einen Schuppen kaufen, ihn zu einer Garage umbauen lassen. Wo ist deine Jacke, häng sie doch auf, sie ist ganz nass. Ich kann diese mit Lebensmitteln und Wein voll ge¬füllte Cantina nicht mehr sehen, dieses abge¬standene Leben, Wohlleben, Nor¬malität; das Landleben hier; aufgebraucht ist die Kindheits-Erinnerung, kein Reiz mehr. Sie macht mich ungeduldig. Jenes jahrzehntelange Kindheitszurück, Widerschein des Paradieses - vorbei, auch diese Nostalgie, wie schön es gewe¬sen wäre, auf Großväterart in Transsylvanien eine Großfamilie gehabt zu ha¬ben, mit Haus und Hof. Seit Jahren schon spüre ich den Bruch. Es ist aufgear¬beitet, aufgebraucht, was war. Jetzt wird etwas völlig Neues erwartet, von vorn, das Kommende wie den Tod, doch hier auf der Erde, die letzte Grenze der Sinne ist aufgehoben. Wie ein Gespräch mit jenen, die schon dort sind. Die Grenze nach drüben, das Blatt hauchdünn. Zeitwechsel Tod.
Und ich hoffe, dass ich in den vielen Jahren mit Han-nah, auch weil es dem Tode zugeht (aber was wissen wir denn überhaupt davon, und sagen „Tod“, der seit dem, was gesche-hen ist, etwas anderes geworden ist.), gelernt habe, besser mit ihm umzugehen. Doch die Frage bleibt: Habe ich auch jenen Kerl in mir, diesen Sachsen oder Deutschen, habe ich dieses anerzogene Kollektivwesen, mit den Jahren aus mir hinaus-werfen können? Und Mutter? Die gesagt hatte: „Du hast kein deutsches Herz!“
Leben wir nicht alle im Unmöglichen, keiner weiß, was im nächsten Augenblick sein wird.
Was uns eingebläut wurde, an was wir glauben soll-ten… war immer eine Schutzwand, mal hart, mal weich, meist aber ziemlich dumm! So konnte etwa der Dr. Klein im Lager alles mit gutem Gewissen tun, die Juden waren ja „das Eiter-geschwür am Körper Europas“ für ihn.
Mutter erzählte: „Es gibt ein Foto vom Silvester unseres Kränzchens im Speisezimmer, man sieht die große Tafel und den Weihnachtsbaum, alle Freunde waren da, und der Vic, also der Capesius, schaut mich auf dem Foto so an, er hat ein Weinglas in der Hand, ich sitze, er steht, wie ein schwarzer Berg sieht er aus, und er beugt sich zu mir herab, und wir sind ja maschkuriert, Silvester eben, er als Schornsteinfeger, hat einen Zylinderhut auf und das Gesicht geschwärzt, er war mir unheimlich, aber auch ohne Maschkura unheimlich, er hatte etwas Lauerndes und Gewalttätiges. Und manchmal auch was Absentes, dann starrte er ins Leere.“
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Und keiner wehrte sich? Ich war selbst einmal als Leh-rer von der Disziplin, der Ordnung schmallippig wie „beses-sen“. Ich weiss: Es gab Ausnahmen. So der arme weiche Töff, Mutters Bruder. Er hat unter der Ordnung, der Disziplin, dem Befehl sehr gelitten, auch bei der SS. Er hat sich nur aus „ver-dammter Pflicht“ seinem Volk gegenüber freiwillig gemeldet. Das wusste er genau. Man muss nur seine Briefe an die Lehre-rin Hermie, die er gern gehabt hat, lesen. Ich weiß jetzt, was für schlimme Konflikte er in sich auszutragen hatte. Und ich weiß, was ihm 1942 sein Vater geschrieben hatte: „Lieber Ali, die Haltung des aufrechten Mannes ist das einzige, was wir in unserem kleinen schwachen Ich haben: Der starke Wille. Wenn sich die inneren Abgründe auftun, musst du es mannhaft abwehren, auch unsere unselige Zerrissenheit und die mangelnde Entschlusskraft, das alles in dieser schweren Zeit. Heute gehört jeder deutsche Mann an die Front.“
Was hatte man da alles in uns hineingesetzt, auch in mich! Körperertüchtigung! Pflicht, Gehorsam. Alles blind. Keine Widerrede! Ich werd aus dir noch einen anständigen Menschen machen. Bück dich, bück, habe ich gesagt, Hosen runter, sofort, na wird´s bald! Nein, nein, bitte, bitte nicht! So, jetzt bück dich, so, höher … und jetzt gehst du und holst den Stock, wird´s bald. So, jetzt… bück dich, höher… höher--- Witsch. Au, au… au…
Und wahrscheinlich stand dem Schläger dabei der Schwanz, erregt war er, haute, und atmete schwer, wie beim Beischlaf.
Ich sprach auch mit Hannah nicht darüber; es hätte heftige Auseinanderset¬zungen gegeben; die ich mied. Han-nah, die zarte schöne Hannah, die aber sehr zäh und energisch sein konn¬te, die mir andauernd widersprach, dies wie einen Sport betrieb: immer das Gegenteil von dem meinte, was ich sagte, die mich aber und vielleicht gerade durch ihre wider¬spenstige Art immer noch an¬zog, ihre Schwarzhaarigkeit, ihr Bubikopf, das Gesicht wie bei einem Pagen früherer Zeiten umrahmt von die¬sem Reiz des Haares, ihre Mischung aus Härte und Weichheit, verhaltener Rührung und Stolz, sie hatte etwas Männli¬ches, trug auch meist An-züge, die ihr etwas Herrisches gaben, Hannah also, bei der mich letztlich nicht die äußere Erscheinung, sondern ihre Aura anzog, die so fremd und vertraut zugleich war, und mit ihrem praktischen Sinn, mit dem sie die gleichen Dinge immer ganz anders sah, als ich, den die Dinge nur wie ein Zeitraub störten, lebte sicher auf einem andern Stern als ich, so dass ich mich oft fragte, ob ich sie denn auch nach drei Jahrzehnten des Zusammenle¬bens überhaupt kenne, was sie selbst beim häufigen Streit, der aber meist im Bett endete, als wären wir Krieger, die erst bei Schlafes Bruder Ruhe finden, heftig verneinte. Was weißt du schon von mir, sagte sie. Und ekstatisch musste auch die Zu¬stands¬veränderung sein, um zu ihr zu stoßen, sie zu spüren im Dahin¬schmel¬zen zweier äußerer Schalen, die nicht angeboren waren. Und es ist kein Zufall, es ist eher eine vorsehende Be¬stimmung, dass zwei Menschen zusammenkom¬men müssen, wie es nur in unserer unbedarften Ratio, die nur einen beschränk¬ten Ausschnitt der Realität kennt, so etwas wie Zufall geben kann.
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Beim Frühstück erzählte Mutter von ihren Träumen. Ich sah meine erzählende und gestikulierende Mutter im weissen Kleid wie in Licht getaucht vor mir; ihr Mund zappelte wie ein kleiner blassroter Fisch. „Nachts, wisst ihr“, sagte sie, „da irrte ich im Traum, denn da war ich ja eine Zigeunerin, in Schäßburg irrte ich wie eine Fremde umher, ich hatte ein langes Pendelkleid an, hatte aufgelöste lange Haare und war ganz durchnässt, als wäre ich aus dem Fluss ge-kommen, so lief ich durch die Stadt und kam nie an.
Meist führen die Träume heim, dann heben sie ab, fal-lend; auch diesmal war es das heimatliche Labyrinth. Jedesmal Hinterhöfe und Gärten, aber immer wieder Zäune und Gatter, vor denen sie abgesperrt stand; und sie besuchte ihre Eltern, die doch auch längst tot sind. Und sie wollte an der Kokel ankommen, im Elternhaus ankommen (es steht nicht mehr) – und kam dann an den Marktplatz, an ein Hoftor, einen Eingang, wer weiß in welche weingeistduftende fassartige Höhle... Hier erfuhr sie, ihre Mutter sei doch noch da; Stricken und Schwatzen – ihre Beschäftigung. Aus den Fenstern wehten Hakenkreuzfahnen und Staatsfahnen, und eine Blasmusik von fern spielte Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus... Und du mein Schatz bleibst hier.
„Es war mir klar“, sagte sie: „es gibt unsere Stadt nicht mehr ... Und eine Katze kratzte mich ganz tief am Arm, es blu-tete heftig, Fleisch war zu sehn, eine Wunde. Der Arm schien wie amputiert abzufallen, ich schrie und erwachte.
Schlimm war aber auch der wirkliche Augenblick im Bad. Ich hatte in der Wanne meine Füße ganz weißlich wie Totenfüße vor mir gesehen, sie kamen mir plötzlich so fremd vor, vor allem die langen Beine, die sich am Körper hoch-schraubten, ich sah es, sie kamen näher, zu nah, und wenn ich die Knie anzog, konnte ich sie fast mit dem Mund berühren. Ich tat es nicht.
Und dann erzählte Mutter bei Tisch, wie ja auch ihr letzter Besuch zu Hause in Schäßburg schrecklich gescheitert sei: im Leeren zu Hause. Sie war im vergangenen Jahr dort gewesen: „Es gibt unsere Stadt nicht mehr“, sagte sie beim Frühstück fast tonlos: „Niemand kannte und grüßte mich, und ich konnte niemanden mehr erkennen und grüßen, obwohl die Straßen, die Häuser unverändert, wenn auch etwas verfallen da standen. Freilich: noch da und doch wie längst vergangen stehen sie da!“ Sie sei dann mit der ehemaligen Stadt im Kopf durch die Gassen, etwa auf der Marktzeile spazieren gegan-gen, habe dann auf einer Bank sanft und wie verloren geträumt und dann jene Orte besucht, die noch ein wenig wirklich zu sein schienen, die wie kleine Inseln herausragenden wirklichen Stellen berührt; doch alles sei so geisterhaft gewesen.
„Af der Bank, Mutter ? Erinnerst du dich, hast oft ge-sungen, ich habe es noch im Ohr:
AF DER GASS do stieht en Bank Nett ze kurtsch uch net ze lank,
Awer fier en wevelen zwinzich
dennich net ze klinzich.
Awer fier en wevelen zwinzich
dennich nett ze klinzich.“
„Ja, Joi, ich habs ja oft gesungen.“
Erstaunlich, wie so ein Liedchen die Gegenwart, den Augenblick von damals haargenau wiederbringt mit allen Ge-fühlen, ich sehe mich mit Muter im Baumgarten am roten Haus stehn, und es schmerzt, dies Vergehen… und ihr Nicht-mehrsein…
So also auch Mutters Erinnerungsfahrt dorthin ins Wirkliche: ins Leere, in die Stadt der Geister. Auch das alte Stadthaus, den Hof, wo das blumenbekränzte Auto gestanden hatte, gibt es nicht mehr!
Nachts aber habe ich wieder geschrieen, weil mein to-ter Vater neben mir lag. Und hörte noch die alte Frau Weiß, die Weißnäherin, die auf dem Zuschneidetisch, auf dem überall 'Spännadeln' lagen und Stoffreste, Schnittmuster für die Ewigkeit radelte, auch das Brautkleid, wie sie sagte: „Es ist eine scheene Hochzeit gewesen.“ Und sie wackelte dabei wie gewohnt mit dem greisen Kopf, hatte nur zwei Zähne im Mund. Die Singernähmaschine surrte dazu ziemlich laut.
Schlüsselblumen und Klee aber seien immer noch da, und das Herz sei ihr dabei aufgegangen, hatte Mutter gesagt.
Und wenn diese Bilder kommen, wärmen sie mich. Immer noch... Wieso kommen sie jetzt, als wollten sie mir et-was sagen. Sie sagen doch nur: Dein eigener Weltuntergang steht noch bevor.
Keine Taufen und Hochzeiten zu Hause und Kirchgän-ger in Tracht oder Frauen in langen weißen Kleidern mehr... oder Großmütter mit Runzeln im Gesicht, einige mit Kopftü-chern, Leberflecken und dünnem Greisinnenhaar. Dazu steife Hüte. Gemessene Schritte. Feierlichkeiten. Und überall die Orgel. (Nachher die Märsche.)
„Du begegnest niemandem mehr, den du kennst“, sagte Mutter. „Wenn du Glück hast, siehst du zwei, drei vertraute Gesichter. Aber ich ging dann die Wege, die ich gern mag, ging auch über die Burg. Sie ist unverändert; ich ging durch die Tore hindurch zu den Türmen. Unter den Füßen die Kat-zenköpfe, abgeschliffen. Überstanden, abgestanden, vergessen. Zum Stundturm. Zeit... ein Schlag.“
Und ich sehe es vor mir: Die Kleinbahn, die dem Markt zuschnaufte; ich war ihr als Kind nachgelaufen bis hinauf zur gelben Post und zur Konditorei Martini. Jemand schien da ab-zufahren und winkte und winkte, und nur noch die Hand war aus dem Fenster zu sehn. Ein schneidender Schmerz durchfuhr mich: Zu spät, zu spät! – So sah ich meine Mutter vor mir und hörte plötzlich Vögel singen; Notenköpfe ziehen über den Himmel.
Die Erde ist kühl, an den Fußsohlen Lehm; ich laufe zum Sandplatz, ich fasse mit dem dünnen Kinderarm hinein in den Baum, ein Astloch ist da, ich fasse hindurch bis zum heutigen Tag, und ziehe den Arm erschrocken wieder zurück, dies Loch könnte zuwachsen, klemmen, ich wäre für immer gefangen.
Diese Schwere, diese Abschiedsunfähigkeit.
Sie versuchten dann nach der Übersiedlung 1972 ihre Wohnungen in Deutschland den alten siebenbürgischen Woh-nungen nachzustellen. Im fremden Raum standen die verstreuten Reste der alten Dinge; sie ergaben aber keine Stimmung mehr, sie standen verloren da, mitgebracht aus einer andern Welt. Sitzmöbel in der gemütlichen Ecke, auf denen Pölster aus dem alten Rauchereck lagen, verschwommene Heimatbilder, Gefühle, Gewohnheiten: Kissen mit rotblauem türkischem Muster von Oma bestickt, ein Rauchservice, das früher auf dem runden Tisch im Herrenzimmer stand, mehrere Morres-Aquarelle, vertraute Landschaften, die alte Burg von Schäßburg so an die Wand geworfen wie von einer Laterna magica aus der Kindheit, mystische, dunkle Augenblicke, die aber dem Licht nicht standhalten konnten, die innere Kraft alleine hätte diese Dinge strahlen lassen können.
Früher aber: Herrlicher Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blass Venus und Mondsichel.
Bratenfett vom Vorabend längst verduftet, auch Rauch der Petroleumlampen. Die weiten Röcke der Großmütter la-gen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf der Landstraße, noch kühles Staubmehl, Pferdeäpfel.
19
Mutter erzählte mit eckigen, überschnellen Bewegun-gen voller Ungeduld, als wäre sie noch ein junges Mädchen. Auch die hohe, manchmal etwas raue Stimme im vertrauten Dialekt, war matter: diese Stimme, die alles veränderte, etwas anrührte, was mich meine innere Zerrissenheit heftig spüren ließ.
Doch dann begann sie gleich von Bekannten zu erzäh-len, von einem fünfundsiebzigjährigen Siebenbürger, der im September nach Hause gefahren war, obwohl er bei seinem Alter oft starke Schwindelanfälle gehabt hatte.
„Er ist bis nach Schäßburg gekommen“, sagte sie: „du weißt, ich wollte mitfahren... Er fuhr dann weiter Richtung Kronstadt, doch kurz vor seinem Heimatdorf im Burzenland verlor er das Bewußtsein, das Auto prallte gegen einen Kilo-meterstein, dann gegen einen Brückenpfeiler, schlug gegen ei-nen Chausseebaum, seine Frau war sofort tot, er schwer ver-letzt.“
Als sie das sagte, spürte ich plötzlich einen fauligen, faden Geruch nach Flusswasser, Geruch nach Verwesung. Eine Glocke bimmelt vom gegenüberliegenden Ufer, dort steht eine orthodoxe Kathedrale in einem Park.
Ich sehe Mutter vor mir bei ihrem letzten Besuch, da saß sie unten im Garten, saß stundenlang unter den beiden Bäumen am Steintisch, aß gern ein gemischtes Nuss- und Himbeereis, Ich aber saß in meinem Bau oben, in meinem Ar-beitszimmer, sie unten, las diese von mir beschriebenen Blätter in der Sonne, ging nach einiger Zeit, wenn es ihr in der Mittagshitze zu warm wurde, in kurzen Hosen, und einem Leinenhütchen auf dem Kopf, hinauf in den oberen Stock des Hauses ins Gästezimmer, rumorte dort, hatte Angst vor Mäu-sen, deren Dreck auf dem Fenstersims lag; und tatsächlich drangen die Mäuse vom Dach her ins Schlafzimmer, also ka-men sie vom Himmel sozusagen, und Hannah warnte, es gab wieder Streit, weil ich meinte, es gäbe da überhaupt keine Ge-fahr und Hannah spinne, die aber sagte knapp, die Putzfrau habe die Mäuse ja gesehen, ganz deutlich, nur ich sei halb blind, sähe die gefährlichen wirklichen Tiere gar nicht, und sehe immer nur Phantome, abwesend sei ich, andauernd, ich sehe auch sie, die eigene Frau nie; und als Mutter dann für ei-nen Augenblick nicht ganz dabei war, schrie Hannah plötz-lich los: Du erkennst auch sie gar nicht, siehst ihr wirkliches verrunzeltes zuckendes Gesicht, das immer unruhig, hektisch ist, nicht, verroht, kein Strahl berührt sie, und nichts als Körper, alter Körper, der eigensinnig eine Härte ausstrahlt, die etwas Dämonisches und Ansteckendes hat… Eben der Bazillus, der sie, die Eheleute gegeneinander hetze. Und ich verdränge andauernd, dass da nichts, gar nichts sei, außer einer krankhaften Erinnerung meinerseits, und kaum Liebe, nur Angst, dass es meine Mutter, ohne die ich gar nicht auf der Welt wäre, nie gegeben haben könnte, weil es sie vielleicht nur in meinem Buch noch gebe. Und ich, ja, eindeutig sei es ihr nun klar geworden, dass ich daher auch liebesunfähig sei, in mich verschlossen, weil ich nie hätte ausschwingen können, geborgen in einer Mutterliebe!
Und ich schwieg taktvoll, ich hätte ja sagen können: Weißt du, auch unser Florentiner Freund Luca, der Musiker, meinte, seine Mutter sei ein Irrwisch, ein ungezogenes unreifes Kind, keine Mutter habe er gehabt, daher diese Ausbrüche dann bei ihm, seine totale Verrücktheit, und der Versuch, durch Musik alles zu kompensieren. Bei mir ist es die Sprache…
20
Ach ja, das Weltvertrauen… Nein, es war nicht nur Mutter… Es war das zerschlagene Weltvertrauen durch die Un-Zeit, den Untoten, den Allesverneiner, der sich in mir ge-bildet hatte, es war die Krankheit meiner Generati-on…Diametral entgegengesetzt der Generation von Mutter… und Roland! Die Unbeschwertheit, die Natur… sie blieben in ihrer heiteren kindlichen Naivität so wie vor dem Krieg, so, als sei nichts geschehen, als habe es den Krieg, Hitler und Stalin nie gegeben. Wir aber mussten nachträglich in unserer Seele und damit auch in unserem zerstörten Leben, alles ausfressen, was sie angerichtet hatten…und dies vielleicht gerade durch ihre Naivität und eine sträfliche Gutgläubigkeit. Möglicherweise gehört mein Schreiben zu jenem Untoten, als eine Art verzweifelter Heilungsversuch, um irgendwo Boden zu finden, wenigstens in der Sprache… Später dann auch durch eine neue Liebe, neues Weltvertrauen zu finden.
Beim Mittagessen mit Hannah und Mutter kam die Re-de auf meine Arbeit und auf meinen Charakter, ein Lieblings-thema von Hannah, und Mutter sagte, sie mache sich Sorgen, weil ich so zerrissen sei, andauernd unglücklich, eigentlich kein Leben habe, nur Schreiben. Ich aber sagte nur ungehal-ten: „Ich lebe eben in meinem Bau.“
Und Hannah warf ein: „Der Templin ist gar nicht so unglücklich, sondern glücklich in seinem Bau, weil er da aus dem Leben abhauen kann!“
Ich vermied es, über meine Weltfremdheit und auch über Mutter abfällig zu sprechen, denn ich liebte sie ja, achtete sie auf eine seltsame Art. Sie ist freilich an allem schuld, was ich bin, denn ich bin durch sie da! Das ändert nichts daran, dass sie manchmal wirklich von einer rohen und penetranten Anwesenheit ist, ich hatte auch die harten Falten um ihren Mund oft gesehen, die zuckenden eckigen Bewegungen, das schreiende, scharfe und aufgeregte Reden.
II
1
Damals, ja, damals… wie ein Stich… Vor ein paar Ta-gen war Mutter von Agliano in ihr neues Zuhause nach Aalen in Baden-Württemberg abgefahren. Jeder Abschied ist schmerzlich, jetzt weiß ich es: es könnte der letzte gewesen sein. Und jedesmal schien mir Agliano fremder als vorher, der Boden weniger fest, jener Boden, den ich mir mit Mühe hier geschaffen hatte.
Und doch war es auch eine Erleichterung, trotz allen Wehs, denn sie verkörperte meinen innern Zwiespalt; in Han-nahs Anwesenheit wurde nie über Siebenbürgen gesprochen. Mein Abgrund – die Kluft zwischen Mutter und Hannah.
Zwei Wochen später fuhr ich zu ihr. (So steht es noch im Buch, was in der Wirklichkeit nicht mehr möglich ist):
Als ich am Rathaus in Aalen vorbeifuhr, erinnerte ich mich an eine Preisverleihung, da war Fritz Martini mit dabei gewesen, auch er nun seit Jahren schon tot. Und ich erinnerte mich, wie „Königin Mutter“ sich bei der Preisverleihung im Rathaus ganz selbstverständlich in die erste Reihe gesetzt hatte, und ganz selbstverständlich auch zum Festessen mitge-kommen war, uneingeladen, „aber ich bin seine Mutter!“ Und so saß sie dann auch neben Martini und Hermann Bausinger.
„Das Wagnis der Sprache“ war mein erstes Buch aus Deutschland gewesen, Hermann hatte es mir nach Bukarest geschickt. Und Martini sagte mir beim Festessen in Aalen, ich saß wirklich, leibhaftig neben ihm, sagte, als ich ihm von meiner Flucht nach Deutschland, dann nach Italien erzählte, das erinnere ihn sehr an Kafka, der auch versucht hatte, aus Prag nach Berlin zu fliehen, doch die "Dämonen" hätten ihn auch in Berlin gefunden, "sie realisierten sich in seiner To-deskrankheit", und auch ich, der Transsylvan, könne ihnen keinesfalls entgehen. Ich könnte mich nur im Schreiben, also im fiktiven Graben von Flucht-Löchern noch retten, im Loch also, das immer zwei Seiten hat, verstecken; vom Standpunkt Großvaters oder Mutters, dachte ich, jedenfalls ein sehr win-diger Aufenthalt. Schutz also im Bau der Sätze gegen das übermächtige Schicksal, auch ich wusste, dass ich damit das Loch nur vertiefe.
Ach, die Frauen in diesem Bau oder auf dem Liebes-bau.... Nicht nur die Mütter… Martin Buber hatte mal ge-schrieben: Ja, das Weib steht im gefährlichen Rapport zur Endlichkeit, und ja, die Endlichkeit ist die Gefahr, denn nichts bedroht uns so sehr, wie an ihr haften zu bleiben; aber an eben diese Gefahr ist unsere Heilshoffnung geschmiedet, denn nur über erfüllte Endlichkeit führt unsere menschliche Bahn zum Unendlichen.
2
Nach Vaters Tod war es einsam in Mutters Wohnung gewesen, und es schien mir, als könne sie dieses Zuhause schon damals nicht mehr allein zusammenhalten. Und jetzt ist es ganz verschwunden… Ganz! Nie mehr und nie wieder diese Räume, dieses letzte „Zuhause“…
Sie hatte es damals schon bemerkt und sagte: „Ich kann euch nun, nach Vaters Tod, kein so warmes Zuhause mehr bieten.“
Sie war traurig und unsicher gewesen. Aber ihr Heim-weh, sagte sie, das habe sich ja nun gegeben, das sei nun überdeckt, da sei sie fast geheilt: Er liege ja nun hier, alles liege hier. Alle Erinnerungen wie unter der Erde.
Mutters Gesicht hatte viele Falten, die sich nach dem Tod ihres Mannes noch vertieften.
Sie war von der westdeutschen Umgebung angeschla-gen und wusste nicht, wie ihr geschah.
Noch bei ihrer Aussiedlung aus Schäßburg und kurz danach in Aalen hatte sie ihr fröhliches ausgelassenes und kindliches Temperament, die Stimme etwas zu laut. Aber überströmend und so schön naiv. Wie sie mich am Telefon begrüßte, stürmisch, das tat mir gut, hatte dieses Kindlich-Gefühlvolle anfangs in jenem Land des gemessenen, kühl-höflichen Betragens und der Distanz immer sehr vermisst, war doch anfangs auch so gewesen, überlaut, überschäumend, ein wenig verwildert, zu selbstbewusst und ungehemmt, wohl für diese geschniegelten überzivilisierten West-Seelen unerträglich oder auch faszinierend, je nach Typ, für jene, die in ihrer seelischen Kargheit keinen lauten Ton vertragen konnten, sicher eine Zumutung: Wie für die verletzliche Iren, die diese unbeherrschten Aussiedler anherrschte, mit Schweigen und mit Frostigkeit irritierte.
3
Das erste Jahr der Eltern in der Bundesrepublik ... sie scheint ungeheuer fern zu liegen, diese Zeit, als sie ins anges-taunte Paradies West kamen. Da hatten sie eine kleine bezugsfertige Wohnung in einem neuen Block gemietet und richteten sich ein: Wiederherstellung des verlorenen Elternhauses per Versandkatalog, dachte ich damals böse. Vater maß wie früher alles aus. Beide bewegten sich agil, als wäre es wirklich ein verjüngender Neuanfang (siehe, ich mache alles neu!) und sie strahlten. Ein junges Ehepaar – so wirkten sie. Und waren doch beide über sechzig! Vater sogar fünfundsechzig Mutter begleitete ihre Anweisungen für die Handwerker mit einem sich verselbständigenden Finger, mit dem sie auf die Dinge zeigte.
Im Block vis-à-vis war die Häuserfront angekohlt. Leu-te sagten, die Mieterin, eine fünfzigjährige Frau, sei dort ver-brannt. Sie hatte kurz vorher noch mit ihrem behinderten Sohn Kaffee getrunken, und als er dann fort ging, versperrte sie die Tür, legte sich ins Ehebett, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Die Flammen schlugen haushoch aus den Fenstern, sagten die Nachbarn. Die Frau war nicht mehr zu retten; die Polizei fand nur noch ihren halbverkohlten Körper.
Ich hatte am Vortag zufällig ein Foto von einem bun-desdeutschen Feinkostgeschäft gesehen, das neben dem Foto eines alten Spezereiladens in Schäßburg lag. Ich war betroffen. Auch ein Haus mit Torbogen und abbröckelnder Mauer aus Schäßburg und eines aus der Nobelgegend Refrath bei Köln sah ich plötzlich vor mir: Reihenhäuser wie aus Pappmaché, konnte sie vergleichen; schnurgerade alle Linien, alles so neu, dass das Auge daran abglitt, als sei da Nichts. Nichts zum Ausruhen für den Blick, nichts Vertrautes, alles viel zu neu. Die Häuserfronten und Formen sind leer und von einer schmerzhaften Schattenlosigkeit und Verlassenheit.
Es sei die Kälte, sagte ich: Eine Krankheit.
Und Mutter wunderte sich: „Woran können nur diese gesunden wohlhabenden Menschen leiden? Sie haben ja alles.“ Das aber war am Anfang ihrer Übersiedlung nach Deutschland. Jetzt fragt sie nicht mehr. Jetzt schweigt sie.
Vater hatte nichts als eine Aktentasche von zu Hause mitgebracht, darin: Zahnputzzeug, Schlafanzug und eine Fla-sche Zuika für mich.. Sein Gesicht war durchzogen von unzähligen Falten. Nur Mutters Ausdruck blieb froh und offen. Als hätte man es nun geschafft! Das Ärmliche und Laute der Durch¬gangslager-Phase lag hinter ihnen, aber auch das Freund¬lich-Naive, das Liebe und Enthu¬siastisch-Unge-hemmte, wenn Mutter mit lautem Joi! auf mich zustürzte oder laut rufend ins Telefon schluchzte.
4
„Im Grunde genommen bin ich eigentlich auch nach vierzig Jahren hier noch gar nicht angekommen“, sagte auch Onkel Hermann, Mutters Bruder, der Arzt, bei meinem Be-such in Aalen, auch er nun schon seit Jahren tot, alle sind sie tot: „Im Grunde meines Wesens bin ich immer noch nicht hier angekommen“, sagte er.
Er träume immer noch von zu Hause.
Und dieser Druck auf der Brust schien auch bei ihm nicht nachlassen zu wollen. Was ist das nur? Früher kam die-ser Druck auch bei mir abends, regelmäßig mit der Tages-schau. Später war er morgens beim Aufwachen da, dieser Druck…
„Ich bin hier in Schwaben eine Fremde geblieben“, hatte Iren, Hermanns Frau, gesagt: „fremd nach vierzig Jahren. Ob das an der Sprache liegt oder an der Art der Leute?“ Sie hatte eine heisere, ein wenig raue Stimme. Hermann rollte sanft den Satz. Hob die Stimme. „Wir werden hier nie mehr heimisch werden“, sagte er. „Wir müssen unsere Substanz aufgeben; andererseits aber wieder haben wir diesem Land viel zu verdanken.“
Sie saßen vor dem kleinen Serviertisch auf der Couch und tranken Weißwein. Mutter nickte zu Hermanns Erklärun-gen, war aber sonst seltsam still. Sie verehrte ihren Bruder, nahm alles an, was er und Iren sagten. Er war schließlich anerkannter Arzt und außerdem schon vierzig Jahre „oben“. Überhaupt fiel bei den meisten, die von „unten“ kamen, eine merkwürdige Schwerfälligkeit, eine laute und hektische Hilflosigkeit auf; die meisten wurden dann im Laufe der Jahre immer stiller und gedrückter, erkannten, dass sie sogar über sich selbst zu wenig Bescheid wussten und an etwas litten, was man in der hier gängigen Fremdwörtersprache Erfahrungs- und Informationsdefizit nannte. Es war aber viel mehr: Dies äußerte sich in einem Stillvorsichhinleiden, in einer gewissen Dumpfheit, wie nach einer schweren Krankheit, nachdem das Fieber gesunken, der Rausch verflogen ist, ein Rausch, der anfangs den jahrzehntelangen Druck von ihnen genommen hatte. Der Wahrnehmungsverlust, über den Mutter zunächst klagte: „Dass nichts mehr richtig schmeckt und riecht“, alles aseptisch sei, war der entscheidende Einbruch einer ihr bisher ganz fremden Welt, eben jener rasenden Gegenwart, von der man zu Hause abgeschirmt gewesen war. Dies Kalte schien nur das wichtigste Symptom einer neuen Krankheit zu sein, von der nur die kleinen Kinder verschont blieben. Am Schlimmsten, vor allem für die Älteren, war, dass sich nun zeigte, wie falsch, wie ganz und gar nur eingebildet die Voraussetzungen gewesen waren, nach denen sie ihr Leben jahrzehntelang heimlich aufgebaut hatten, und auch jetzt noch versuchten sie, daran festzuhalten, wie Vater, als er noch lebte.
Dabei war die Ankunft, die Übersiedlung doch so hoff-nungsvoll gewesen! Vom Nürnberger Bahnhof mit zwei Autos über das menschenleere fränkische Land nach Aalen. Kühe und Schafe auf den Höhen zwischen Dinkelsbühl und Ellwan-gen/Jagst. Als wäre nicht schon alles für uns vergangen, konnte man da plötzlich ein weiches vertrautes Abendlicht über den Häusern sehen. und auch in den Zimmern bei Hermann, wo das FEST stattfand, war es als Widerschein da. Dieser Tag also noch nicht abgestanden, vom dreißigjährigen Warten sauer geworden. Vater sagte beim Festessen, sein Leben sei seit fünfzig Jahren schon ein andauerndes Warten auf Frieden gewesen. Und so gehe es vorbei.
Aber im schwäbischen Aalen war er glücklich. („Ich will und kann vergessen! Hier gehöre ich zum Staatsvolk; die Angst ist weg“.) Ich sehe noch den blonden Jungen meines Bruders auf dem Bahnsteig; er läuft auf mich zu; meine Schwägerin starrt aus ihren vor Müdigkeit schwarz geränder-ten Augen geradeaus. Der Junge wirft mir eine einzelne weiße Nelke zu, ich denke: Welch ein Hohn, die Tochter, steht da, stumm, erregt, ein Staunen schüttelt sie bei dieser Ankunft.
Christine hatte den „schwarzen Mann“ gesehen, im Ausreisefieber, vor Angst, sie würden sie nicht ziehen lassen; Hannes war schon gefeuert worden, die täglichen Sekkaturen nahmen zu, und seine Frau drehte durch. Christine fiel eines Tages hin, schlug um sich, wurde starr, musste für mehrere Wochen in die Klinik.
„Aber seither“, sagte sie, „habe ich diesen Punkt außerhalb. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod: Ich schwebte über mir, sah mich, nein, den Körper, am Boden liegen, lachte darüber, amüsierte mich; nun hatte ich kein Interesse mehr an ihm. Es kann mir ja nichts mehr geschehen. – Ein Duft, der näher ist als jeder Sinn. Auf der Schwelle, wenn ein bisschen Licht aufscheint, uns wissen lässt, was keine Sprache weiß: Die Einsamkeit ist groß, aber alles klingt, als gäbe es einen grenzenlosen Frieden...“
5
Vater zeigte seinen Ahnenpass – stolz, denn er hatte ihn aus der alten Heimat rausgeschmuggelt. Und so war er ja auch im Rechtsnachfolgestaat des Dritten Reiches sofort als Deutscher anerkannt worden.
„Mit Stempel und Siegel“, sagte er: „Da gab es kein Problem. Der Ahnenpass wurde anerkannt.“
Ich las ziemlich entsetzt auf der zweiten Seite des Do-kumentes:
„Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völ-kischen Staates muss seine Krönung darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der anvertrauten Jugend hineinbrennt. Adolf Hitler.“
Kackbraun gebundenes Objekt, mit Adler und Hakenk-reuz: Alle meine Vorfahren kamen mir wie gebrandmarkt, alle Toten gebrandmarkt vor:
„Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann deutscher Volksgenosse sein! (Programm der NSDAP, Punkt 4).
Der Ahnenpass stellt eine Urkunde im Sinne des Geset-zes dar.“
Vater las ungeniert aus dem Ahnenpass vor; schließ-lich sagte er: „Ich bin nun endlich frei, hier zu Hause, dem Staatsvolk zugehörig, das war ich nie. Stolz las er gedankenlos oder gedankenverloren:
„Inhaber ist arisch und rein deutschblütig.
Ja, das war damals schon wichtig“, meinte er. „Aber hier in Deutschland ist es auch wichtig. Wie ich hierher ge-kommen bin, habe ich den Behörden diesen Ahnenpass eingeschickt, und sie haben mich sofort als Deutschen anerkannt, andere brauchen ja Monate oder gar Jahre dafür.“
„Über kurz oder lang wird der Ahnenpass ein Pflicht-ausweis für jeden deutschen Volksgenossen werden, und es ist dann zweifellos vorteilhaft, bereits Inhaber dieser Ur-kunde zu sein...“ Stand im Ahnenpass.
Vater hat ihn sich angeschafft, jahrelang versteckt (bei Haussuchungen Angstgefühle wegen des Hakenkreuzes auf dem braunen Umschlag) und bei der Aussiedlung ihn dann ins Mutterland mitgebracht. Auch Hannahs Vater Gregor besaß einen, mit riesiger Ahnentafel (weit über 1800 hinaus; Stichjahr der Ariernachweispflicht bei der Parteiaufnahme.)
Vaters Daten, groß auf der ersten Seite:
„Kurt Karl Erwin, geb. 1905 in Kronstadt/ Siebenbür-gen
Karl Josef, geboren 1879 in Bistritz/ Wagner Maria Luise, geb. 1881 in Kronstadt“, seine Eltern, der S.-Großvater und die S.-Großmutter.
Der Urgroßvater hatte sich germanisieren lassen: „Franz Leopold, geb. 1833 in Bistritz.
S. Josef, geb. ... in Tyrnau/Böhmen, gest. 1842, Schnei-dermeister, katholisch“, kam aus Böhmen, heiratete eine Bist-ritzerin, am 9.2.1825: die Katharina Karolina Apollonia Mast, geb. 1808.
Vater sprach sehr gern darüber:
„Die sind möglicherweise aus Schlesien nach Böhmen gekommen, dort konnte man ihren Namen nicht aussprechen, und so wurde er der Schlesier genannt, nehme ich an. Und zur Zeit der Doppelmonarchie 1867 war es wohl in Siebenbürgen günstiger, einen deutschen Namen zu haben, und so hat mein Urgroßvater, der Bistritzer, seinen Namen eben lautlich ver-deutscht.“
6
„Mutterland“ hieß Deutschland mal früher bei uns zu Hause. Mutter-Land - und jetzt der Vers dazu, als wäre er ein armer Maikäfer. Und der Vater. Und der Krieg. Und der ewige Frieden. Auf dem Waldfriedhof in Aalen. Und draußen vor al-lem Schnee. Unter dem Schnee die Blumen. Fußstapfen, wo-hin die führen. Vogelspuren ins Kalte. Und doch kein richtiger Winter mehr. Wie einst in Stalingrad. Wie einst. Und weißes Leichentuch. Licht durch die Bäume im Mutterland. Gießkannen aus Plastik, Eiszapfen daran. O wie ist es kalt geworden. Friederike sang es früher. Und jetzt reden wir über die Toten, über ihre letzten Tage in Aalen. Wie friedlich sind sie beide gestorben. Friederike an Krebs. Wie viele Wünsche blieben unerfüllt. Es blieb ein riesiges Loch.
Jetzt gehe ich über diesen Friedhof, er liegt in Deutsch-land, er ist klein. Tausende von Namen, Daten. Und da werde ich liegen, mit allen vereinigt. Die Flucht war vergeblich, ih-nen zu entkommen. Sie kommen immer näher, sie sind schon da. Ein ganz neues Land, jede Tei¬lung aufgehoben, jede Spal-tung vorbei. Vorbei.
Und rede mich jetzt wie einen Fremden in der dritten Person an, als wäre ich ein Anderer, und bin ich nicht ein An-derer? Also:
Eigentlich wollte ich ja nur das Grab meines Vaters be-suchen. Nasskalter Novem¬ber; wer zählt sie noch, die Jahre, die Jahre... alles vergangen, - ich aber, bin trotzdem noch da: In diesem besonderen Jahr, Mutters Tod. Nebel im Gesicht, im Herzen. Le¬ben, auch „Gras“, wer es umkehrt… Die Beine gehen ohne mich, treten auf vergilbte Blätter. Bald wird es Schnee geben. Alle Jahre wieder? Wie lange noch. Aber wer spricht da, Vaters Stimme in mir, als hätte er mich jetzt hyp-notisiert, Schnee, dann er¬frieren die Blumen, Kälte spürt das vereiste rote Blatt, sagte er: Mimosen liebte mein Vater. War selber eine. Kleiner Kopf, Brille, abgeschabte Brauen. Und ich, der Sohn, sah immer noch das Loch vor mir, da hinab, dumpfes Geräusch, Erdschollen, dun¬kel, hinab, ein Loch. Da siehst du hinab, da bleibt dein Blick drin gefan¬gen, kannst ihn nicht mehr zurückziehen, feuchte Erde, Lehm, Insekten, Erd-geschmack fad, Wurzeln, alte Blätter, schon vermodert, fallen darauf, du kannst den Blick aus dieser Klammer, eingez-wängt im Loch, nicht befreien, da wird es dunkel, verwirrt. Wer aber sieht den frisch aufgeworfenen Grabhügel, wer schluchzt da, - der eingegrabene Blick? Wo hast du nur deine Augen? Lang her. Dort der Steinmetz Roth, der Grabkünstler von zu Hause, der langsam und mit schwungvollen Bewegun-gen wie der Zeichenlehrer Donath deinen Namen schraffiert: Goldbuchstaben auf Marmor, als schnitten die ins Fleisch, der Stein ganz heiß und weich. Schreiben ja, das das Sterben er-setzt, es aufhebt, so¬lange du liest. Das Leben aber fehlt, und den Namen schreibt ein ande¬rer. Zurück, zurück der Spindel Spur. Was denn schraffieren, sogar der Stein ist tot. Aber es gibt eine Verwand¬lung und kein Ende, wir kehren in den Zu-stand zurück in dem wir Millionen Jahre waren, bevor wir in den Körper kamen. Dieser Unsinn - zwei Hände Erde, dump-fes Geräusch auf Holz, Erdschollen. Gibst den Geist nicht auf beim Able¬gen des Leibes, Templin. Sag nicht Seele, Templin, sag Nichts; es löst sich etwas vom Körper, inneres Leben ver-selb¬ständigt sich im Alter von Jahr zu Jahr mehr, Wahrneh-mungen nehmen ab, Außenwelt nimmt ab, die Täuschung Welt schwindet langsam, da willst du fort, um am Leben zu bleiben?
Ich bin kein Überlebender, ich bin ein Überlebter. Alle sind wir Überlebte, nur merken es wenige. Zukunft gibt's kei-ne, es sei denn, sie setzt sofort und schlagartig ein. Das Ver-gessen ist zu groß. Und das Vergessen des Vergessens.
7
Ich hatte damals auch noch diesen Wahnsinn began-gen, zwei alte Freunde von Mutter, den Vic Capesius und den Roland Albert zu besuchen!
Ein Klausenburger Gericht hatte den schon 1947 zum Tode verurteilt. Doch er hatte Heimweh. Und konnte nur noch unter Lebensgefahr nach Hause zurückkehren.
Der Zeuge Josef Glück habe beim Prozess gelogen, sagte Dr. Capesius, unser Stadtapotheker, der dafür nichts kann. Die Juden wollten gerne einmal nach Deutschland kommen, gratis, nach Frankfurt zum großen Prozess in den sechziger Jahren. Ja, er sei dem Joseph Glück und seiner Familie nicht erst in Frankfurt, nein vorher schon: dort begegnet, dort, wo der Himmel immer blutigrot war vom Feuer und dem Qualm des Rauches aus dem Rauchfang des Krematoriums, und ein schrecklicher Gestank in der Luft war, nach verbranntem Fleisch.
Gibt es die Opfer noch, irgendwo? Sind diese unerhör-ten Stimmen, - es ist ein feines Glasklingen im Ohr, sie sagen, sie sähen uns, ein Zeichen dafür, dass es auch die armen Opfer noch gibt, erlöst?
Und was sie sähen, ergebe ein schreckliches Bild: Ma-terie, der Körper löse sich auf, die Krankheit liege tief, die können wir nicht sehen, hören oder fühlen. Eine Art Dimensi-onsgrenze sei erreicht...
„Ist es nicht übertrieben, Mächel, dass du so allergisch auf längst Vergangenes reagierst?“ fragte auch Mutter. „Car-men zum Beispiel, deine Schwester, Carmen rührt nicht daran. Carmen sagte: Ich bin so, wie ich war, rühr nicht daran. Und du, lass die Finger davon, du schadest uns!“
Sie verzieht ihr Gesicht. Hasst sie mich? Nein, sie mag mich.
Als ich in Aalen anfing, von meinem Besuch bei Cape-sius zu erzählen, gar das Tonband holen wollte (es holte), die ersten Apothekersätze breit und unkultiviert da herausklangen, gab es eine peinliche Stille.
„Was willst du damit?“
„Darüber nachdenken.“
Widerwillig blätterte Carmen in den Büchern, die mir der Auschwitzapotheker mitgegeben hatte.
„Sieh, auch Onkel Roland ist hier angeführt“, sagte Mutter erstaunt.
„Du willst doch nicht etwa darüber schreiben?!“ fragte Carmens Mann in scharfem unangenehmem Befehlston. „Das würde uns doch alle nur belasten und uns allen schaden.“
Und dann verschwanden die beiden. Carmen und Ro-bert waren plötzlich furchtbar müde.
Vater sagte nur abwehrend: „Ich war immer nur Pri-vatmann.“
Und Mutter: „Denk doch an unsere schönen Feste zu Hause. Warum kommst du denn immer wieder auf deine Kindheitserinnerungen zurück, weil du zu uns gehörst, dort der Quell deines Daseins ist?“
„Ja, weil es ein Wunder ist, dass es mich gibt, weil es dich gibt. Weil damals die Welt noch so unbedacht, und daher heil war“, sagte ich. „Doch dieses Weltvertrauen und die Un-bedachtheit wurde ausgenützt, und sie führte dann zur Katastrophe.“
„Oh, du denkst und sinnst zu viel, eingesperrt im Zim-mer, ich möchte dich hinaus in die Sonne hängen!“ sagte Mutter oft.
8
Abends Bilder im Fernsehen. Mutters Wohnung. Man sieht auf dem Bildschirm Die Schlacht bei Leuthen. Preußen. Gleich zu Beginn Fußamputationen in einer Kirche. „Von Preußen ist die Rede“, sag ich. „Gloria“, sagte sie. „Schreie in der Kirche“, sage ich. „Der Alte Fritz“, sagte sie. „Menschen-körper. Es ist eben gerade Geschichte, eine harmlose Re-prise“, sage ich.
„Handlung, wie sie im Buch steht. Die Kirche sieht aus wie eine Metzgerei.“ „Fleischhauerei“, sagte Mutter. „Und jetzt predigt ein Pastor. Wie schön er spricht, vom Vaterland spricht er.“ „Ein großes schwarzes Loch“, sag ich. „Denk an unsere vielen Toten.“
Aber der Apotheker habe doch sicher einen Knacks davongetragen, sagte Mutter eifrig und ein wenig aufgesetzt bedauernd. „Als wäre er ein Analphabet, so spricht er, und ist doch ein studierter Mensch. Auch hat er ja immer etwas Brutales gehabt“, fügte sie leise, fast schuldbewusst hinzu.
Hermann, der mit Iren zum Abendessen gekommen war, meinte auch, bei Roland wisse man ja nicht, ... zugetraut habe er ihm so manches, zumindest sei der immer ein Neurotiker gewesen.
Alle atmeten ein wenig auf. Hier hatte der Arzt gespro-chen. Das war die Erklärung. Dr. Capesius hatte ja schließlich neun Jahre im Gefängnis gesessen. Da war doch alles in Ord-nung!
Ich aber ließ nicht locker:
„Willst du seine Taten etwa kriminalisieren, als wäre er ganz einfach ein Verbrecher, den so ein Richter für alle andern bestrafen kann, als wären alle andern frei von Schuld?“
„Es war doch ein ganz allgemeiner Zustand damals!“
„Ja, aber was war das für ein Zustand?“
Hermann meinte, keine Vergangenheit ließe sich fas-sen.
Und Mutter: „Wir waren andere Menschen damals.“
Iren sagte, es sei kaum jemandem möglich gewesen, den Alltag, in dem man gefangen war, zu überschreiten. „Wie viele Leben müsste man haben, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erfahren, was wirklich geschehen war.“ Es sei ein Gefühl, eine Stimmung gewesen.
„Er habe den Eindruck gehabt“, sagte Hermann, „dass in der offiziellen Geschichte über jene Zeit und auch in vielen Erklärungen, weshalb es nun so gewesen war und wir so gewesen sein sollen, unser Leben gar nicht vorkommt. Meines jedenfalls nicht“, betonte er nachdrücklich.
„Es lässt sich heute gar nicht genau in Worte fassen, was damals geschehen ist“, sagte ich.
„Aber was meinst du eigentlich?“ fragte Mutter be-kümmert. „Ist alles schlecht, was wir damals gelebt haben, war unser Leben verfehlt?“
„Nein, das meine ich nicht, nur, dass die gleichen Ge-fühle und Gedanken von damals heute nicht mehr möglich sein sollten, aus gutem Grund, aus schrecklicher Erfahrung. Und dass wir das alle nicht begreifen, weil unsere heftige Sehnsucht nach jener Umgebung zu Hause Unwissen mit ein-schließt, als wären diese Gefühle nicht durchtränkt von Fal-schem. Man müsste endlich einmal einen radikalen Schnitt machen können!“
Und ich musste dabei an den Richter Düx denken, den es im Auschwitzprozess überhaupt nicht gewundert hatte, dass es solche Menschen wie Capesius, der dort verurteilt worden war, gab, ein ganz normaler Familienvater, wie du und ich.
So konnte auch Capesius alles ableugnen, gar sich wundern, dass man ihn verurteilen wollte, und er dachte, er sei einem Komplott zum Opfer gefallen, er war doch völlig unschuldig, einer von uns; hätte man da nicht absolut jeden von uns verurteilen müssen? Außerdem war er ein ganz anderer gewesen - dort. Und nicht er, nein, er hatte nirgends und nirgendwo mitgemacht… Es war ja dort wie überall und auch zu Hause ein „ganz normales Leben“ .
Wenn wir zu Hause in der Kindheit abends beim Essen saßen, flogen und schwirrten Motten um die Petroleumlampe, das Licht zog sie an. „Alle sind aus ekligen Raupen entstanden wie die Maikäfer“, sagte Großvater. Weiße Engerlinge, die wie Regenwürmer in der Erde zu finden sind. Mit dem Spaten werden sie erschlagen oder mit der Hacke, beim Umgraben der Gemüsebeete im Frühjahr. Maikäfer aber sind legendäre Tiere. Die sammelten wir. Im Mai sangen wir Der Mai ist gekommen .../ Die Pferde schlagen aus… und rissen den Maikäfern die Flügel aus. Es sind ja Schädlinge. Man sieht das auch im Wilhelm-Busch-Album bei Onkel Nolte. „Man muss sie vernichten“, sagte Onkel Roland oder auch Onkel Ali, der Töff, wenn sie auf Heimaturlaub kamen. Kiloweise werden sie gesammelt und abgeliefert.
Maikäfer flieg...
Roszika, unsere Magd, sammelte mit. Jetzt aber, nach dem Abendessen war sie in der Küche und wusch ab. Manch-mal darf ich unter ihrem Szeklerrock sitzen. Das Geklirr von Tellern und Gläsern ist zu hören, das Plätschern von Ab-waschwasser. Unter dem Rock riecht es nach Zwiebeln, Lauge und Seife. An der Glastür sind rot und gold und grün bemalte Fensterscheiben: Blumenornamente und Engelflügel. Das ist schön. Aber vom Gang geht auch eine Türe ins Badezimmer. Da liegt die Strafmaschine. Ein schwarzer Lederriemen. Damit wurde man „zum Mann“ gemacht. Hartsein hilft!
9
Von Roland ging eine Sanftheit und Rastlosigkeit aus, sein Gesicht hatte etwas Irritierendes, das auf die Anwesenden übergreift, die nicht wissen, was sie so unruhig macht. Als ich ihn mit Hannah in Innsbruck besuchte, da war seiner Freundin, einer blonden Frankfurterin, der Stress des dauernd mit ihm Zusammenseinmüssens anzumerken. Sie war sehr nervös und ging unruhig von einem Zimmer ins andere.
Roland hatte eine weiche, pastorale Stimme. Und sang dann am Klavier ein Schubertlied. Plötzlich war er absent. Starrte auf einen entfernten Punkt außerhalb des Raumes. Und ich erkannte mich in allem in ihm wieder. Auch in dieser Absenz und Verträumtheit.
Uschi hatte bemerkt, dass Roland den Frauen vom Wein nicht eingeschenkt hatte, nur mir und sich selbst, sie tippte ihn vorsichtig an, ähnlich wie man Irre berührt, und sagte: „Das war aber nicht höflich!“ Sah ihn mit einer milden Wut an, als sähe sie ein Brett vor seinem Kopf, und goss sich selbst das Glas voll.
Roland hatte nur ´ja, ja` gemurmelt, kaum etwas wahr-genommen.
„Du willst also ein Buch schreiben“, erkundigte er sich neugierig: „Was beschäftigt dich?“
„Die Ursachen unseres Verschwindens.“
„Aha, aha, du bist also kritiksüchtig! Nietzsche hat da ein schönes Wort: Menschliche Tugenden: Güte, Hilfsbereit-schaft, Edelmut usw. sind nichts als eine Art Luxusgüter, die wir uns nicht immer leisten können. Das habe ich irgendwo bei Nietzsche gefunden, und das möchte ich unterschreiben.“
„Es sind nicht die obersten und höchsten Werte?“
„Ich möchte sagen, es gibt keine obersten Werte. Welt-anschauung ist immer biologisch: Ich will leben und überle-ben.“
Rolands Gesicht war wie verweht, ein großes ver-schwommenes Ei.
„Aber auch ich meine“, fuhr er plötzlich ungewohnt leise fort: „Gewissensfreiheit ist das Höchste.“
„Warum bist du dann nicht aus Auschwitz geflohen wie andere auch? Stand die Todesstrafe darauf?“
Roland sah mich mit den blässlichen Fischaugen amü-siert an: „Freilich stand die Todesstrafe darauf. Desertion. Aber nein, das war es nicht, an Mut hat es mir nicht gefehlt. Aber ich war für Ordnung, für bedingungslose Disziplin. Wo-hin hätte ich auch fliehen sollen, es waren ja meine Leute, die dort das Sagen hatten, die mich brauchten.“
„Ihr hieltet zusammen. Sie aber, sie hielten nicht zu-sammen, obwohl…?“
„Wie ich schon mehrfach sagte, haben die Juden einen ausgeprägten Familiensinn. Sie hängen wie Kletten aneinan-der. Doch fehlt ihnen nach meinen Beobachtungen das Zu-sammengehörigkeitsgefühl untereinander…ich habe oft erlebt und auch gehört, dass Juden - besonders die aus dem Westen – Anschriften von noch versteckten Rassegenosssen angaben. Eine Frau rief einmal aus dem Gasraum noch eine Adresse einer Judenfamilie dem Unterführer zu.
Ein Mann, seiner Kleidung und seinem Benehmen nach aus den besten Verhältnissen, gab mir beim Entkleiden einen Zettel, auf dem eine Reihe Anschriften von holländischen Fa-milien, bei denen Juden versteckt waren, verzeichnet war. Was diese Juden zu diesen Angaben trieb, sie dazu veran-lasste, ist mir nicht erklärlich. Ob aus persönlicher Rache oder aus Missgunst, weil sie den anderen das Weiterleben nicht gönnten? Oder wollten sie sich so im letzten Augenblick noch freikaufen?“
10
Und dann Aalen. Ich sehe alles vor mir, als wäre es heute gewesen: Damals lebten alle drei noch: Mutter, Her-mann und Iren saßen am kleinen Serviertisch auf der Couch und tranken Weißwein, und wie ein Schock wird es mir be-wusst, ich rede mit Toten, ich sehe Tote, die es nur noch in mir gibt, vor mir, und ebenso Roland, über den geredet wurde, auch ihn gibt es nur noch in meiner Erinnerung und hier im Satz, so selbstverständlich ist das Totsein, dass man es einfach übergehen kann? Wozu, wozu noch über diese Toten reden, so, als lebten sie noch!?
„Roland kann man nur von seinem Elternhaus her ver-stehen“, sagte Hermann, und schlug mein Buch auf: „Denn die Eltern haben in einem so musischen ichbezogenen Gehäuse gelebt, mit Musik und Klassikern, immer im Wolkenkuckucksheim, so dass die Kinder eigentlich zu kurz gekommen sind… Da stieß Leere und abgewertete Existenz mit höchsten Werten zusammen. Ein Bruch. Aber andererseits fällt Roland in eine besondere Kategorie von Vergehen und von Tätern, es ist ja bekannt von vielen SS-Führern, die durchaus in der Lage waren, Mordbefehle durchzuführen und zum Teil selbst Grausamkeiten zu begehen, und sich dann abends hinzusetzen und Mozart zu spielen oder sich vorspielen zu lassen von irgendeinem begabten Häftling. Es ist ja bekannt, dass in all diesen Lagern Künstler von Kommandanten bevorzugt wurden, weil sie dann abends zu-sammen saßen und beim Genuss schöner deutscher Kultur alles vergessen konnten. Aber es ist klar, sie vergaßen nie den Herrschaftsunterschied zu den Häftlingen.
Rolands Entwicklung ist mir nicht ganz klar: nachdem er ja als Gymnasiast alles andere als etwas Soldatisches oder Helidsches hatte. Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Er ist ja in der Atmosphäre seines Elternhauses aufgewachsen, da wurde das geistige Reich, philosophische Ideen hochgehalten, Kant, Musik, Poesie. Das alles in einer gewissen Enklave in einem Glasgehäuse. Und er hat sich vielleicht laufend ein neues Glasgehäuse geschaffen…Ja, ich war sehr erstaunt, als er sich freiwillig zur SS meldete. Und er hat ja offensichtlich auch Karriere gemacht bei der SS. Was ja mein Bruder Ali, der Töff, nicht geschafft hat. Roland hat es mühelos zum Offi-zier gebracht.
Etwas ist da, was zu Rolands sonstigem Wesen in völli-gem Gegensatz steht. Nach dem Krieg hat er sich dann wieder in ein geistiges Reich geflüchtet. Er hat seinem Bruder alte Bi-beln geschenkt, die viel Geld gekostet haben, obwohl er doch arm war und kein Geld hatte. Er hat sich in Tirol ein Antiqua-riat angeschafft. Vielleicht ist die SS für ihn nur die Lust am Ausnahme¬zu¬stand, am Abenteuer gewesen? Er hat sein ganzes Geld für Bücher ausgegeben, für Absonderlichkeiten. Und Privatstunden hat er gegeben für ein lächerliches Entgelt, für ein Butterbrot, dafür hat er sich verausgabt. Und er hat kümmerlich gelebt, im Winter keine Heizung gehabt. Seine Genügsamkeit ist ja unvorstellbar. Er ist schon damals so etwas wie ein elitebewusster Grüner gewesen. Das passt alles nicht so recht zusammen bei ihm. Jedenfalls ist er ein Neurotiker. Er sitzt da und fühlt seinen Puls. Ich kenne diese Bewegung bei ihm. Die hat er schon damals gehabt als Gymnasiast. Er hat ja fast ein Jahr lang bei uns gewohnt mit einer Herzgeschichte.
Aber es kann ja sein, dass es so, wie man es immer wieder erlebt hat, in Kriegszeiten gerade Neurotiker wie Ro-land, schwächliche Naturen…dass also gerade schwächliche Naturen in diesem fest gefügten militärischen Rahmen zu Helden wurden und unwahrscheinliche Leistungen vollbrachten, sich vollkommen gesund fühlten, so gesund wie sonst nie. Es ist ja bekannt, dass Leute, die sonst immer Magengeschwüre hatten, diese beim Militär verloren. Und wenn eine wirkliche Gefahr, eine wirkliche Bedrohung auf sie zukam, dann waren auch ihre Neurosen verschwunden.“
Roland hat noch seinen achtzigsten Geburtstag gefei-ert, und ist kurz danach gestorben.
Hermann wußte, dass diese verrückte Reichsbegeiste-rung und das Mitmachen, die SS und „unser Auschwitz“, schuld daran waren, dass Siebenbürgen verloren ging! „Doch auch die Entwicklungslinie in diesen Abgrund ist konsequent. Sie kam nach der Auflösung der Enklave, des sächsischen Gemeinwesens in Siebenbürgen ab 1876, des Identitätsverlus-tes, so dass man versuchte, diesen wettzumachen durch An-lehnung an ein starkes Reich und in Reichsbegeisterung auf-ging, sich darin quasi langsam auflöste. Am Schluss dann Auschwitz… Du scheinst stark und sehr persönlich von dieser Sache betroffen zu sein“, sagte Hermann und sah mich an.
„Ja, dass man diese Sachsen so gut verführen konnte, weil sie so tumb waren, das geht mir nah, weil ich es irgendwo freilich auch bin, mich sogar in Roland wieder erkenne…“
„Das freut mich aber…“, sagte Mutter erstaunt.
Iren aber: „Die Tumbheit war grenzenlos. Und diese Dummheit, zu glauben, dass alles, was von Deutschland kommt, gut ist. Dieser Glaube, dass nur Gutes von oben kom-men kann, der war also wirklich von tödlicher Naivität. Ja, es war ja immer so, wenn jemand von oben kam, wusste er nur Gutes zu erzählen.“
Und Hermann: „Ich meine, die Voraussetzungen, dass die Siebenbürger Sachsen da so hundertprozentig aufgingen, die kann man sicher nicht mit einem Satz umreißen. Die muss man historisch sehen. Die liegen zum Teil in der Verhimme-lung all dessen, was deutsch überhaupt ist. Denn deutsch war ein Wert an sich, nicht wahr. Es war ein hoher Wert, denn er gab uns das Gefühl, den andern Völkern überlegen zu sein. Deshalb habe ich, wenn ich nach Deutschland kam oder als ich dann auch später in Deutschland gelebt habe, dieses Gefühl der Inferiorität, das die Deutschen den westlichen Völkern gegenüber haben, nie begriffen.. Die Ostdeutschen haben es nie gehabt. Nicht nur die Siebenbürger Sachsen nicht. Auch die Schlesier und die andern haben es nie gehabt. Im Gegenteil, sie hielten sich für etwas Besseres. Also lebten wir auf Kosten der mit uns lebenden Völker. Und 1918 ging das zu Ende. Aber nach außen waren wir ja schon allein wegen unseres Besitzstandes immer noch die Herren. Und plötzlich ging dann alles bergab. So blieb uns der Besitzstand und unsere angeblich hohe Sittlichkeit und der Rassewert. Für uns“, sagte Hermann lachend, „war deshalb die Volksgesundheit am wichtigsten, und das war eng mit dem Rassegedanken verbunden, also, um das Verschwinden zu bremsen, das dann eben genau durch den Versuch, es zu verhindern, eintraf, das große Heimat¬verschwinden auf die Art, wie wir es heute kennen. Zu oft wurde von den Gefahren der Inzucht, den vielen Wasserköpfen in den Dörfern gesprochen. Und 1940 waren wir dann wie übergeschnappt, reichsdumm waren wir, und dachten, wir hätten es nun mit einem starken Deutschland auch geschafft. Nur der Freiheit gehört unser Leben, lasst die Fahnen dem Wind. Freiheit ist das Leben, ist die neue Zeit… So sangen wir in der NS-Erziehungsanstalt Sächsisch-Regen. Sakralräume, Lorbeer. Eschenschwert. Und im Sommer 40, da haben wir die ersten 1000 Mann für die SS gemustert. Wir sind auf die Dörfer ge-fahren. Die Burschen sind zur Schule bestellt worden. Und da haben sich diese Jungen gedrängt. Und manche waren todun-glücklich, wenn sie nicht bestanden, weil da irgendein Zahn fehlte; da gab es ja scharfe Kriterien damals, die Anwärter mussten ein tadelloses Gebiss haben damals für die SS. Die hat wahrscheinlich jemand dem Reichsführer zum Geschenk gemacht, um sich da oben gut zu stellen, denn alles lief auch damals vor allem über gute Beziehungen. Naja. Dann aber kam der Ost-Krieg. Und das Elend, das Ende.“
11
Hermanns Bruder, der Karl Wilhelm hieß, doch Ali genannt wurde, und er hatte viele Spitznamen, so auch Töff, Onkel Ali also, unser Töff, stand 1944 unter der Goetheeiche von Buchenwald. Goethe hatte hier, mit Blick auf Hottelstedt, Wanderers Nachtlied geschrieben. Und die Frau des Lager-kommandanten, Ilse Koch, machte später aus feindlicher Haut Lampen¬schirme. Oh du schöner Westerwald...
Ali ist später Scharführer geworden, war Tiefbauinge-nieur und baute Bunker für Geheimdokumente des Reiches: unweit des Kyffhäuser. Ein Testament für die nächsten tau-send Jahre. Kein schöner Land.
Ali ist der einzige der Familie, ausgerechnet er, der nicht mehr heimgekehrt ist, er wurde am 13. April 1945 in Buchenwald von Häftlingen während des Buchenwald-Aufstandes erschlagen.
Töff blieb immer so jung. Da schaut mich ein netter Junge etwas vergrämt an. SS-Mann? Die Runen hatte jemand vom Foto getilgt. Die Familie, vor allem sein Vater, aber auch seine Liebste, hatten ihn so weit gebracht, dass er sich frei-willig meldete. Er zögerte, er war zu weich, er war gegen das Soldatsein. Doch wer sich nicht meldet, wer sich feige drückt, ist ein ehrloser Hund. Ja, so hieß es, ehrloser Hund und ein Verräter.
Ich erinnere mich: Sie gehen im Garten spazieren, Da-niel, der Vater von Roland und Organist, Großvater, Roland. (Dazu kommt noch der Hauptmann Meyer-Göring mit dem Cello. Celloton wie eine Rose.) Die Frauen trinken Kaffee und stricken. Oder hat Mutter Kränzchen heute? Kühler Schatten auf dem Steintisch unter den hohen Tannen. Duft wie aus einem Harzparadies.
„Die kritische Stimme, die musste man zum Schweigen bringen“, sagte Roland. „Das ist´s.
Das Chaos ist zu bekämpfen! Das Gesunde, Helle, Leuchtende, es ist das in Ordnung-Sein, und das ist dann auch das gute Gewissen. Mit sich selbst im Reinen sein, weil der verschluckte Stock funktioniert! Wie sagte es nur Roland, welches war der Grund, warum er aus Auschwitz nicht deser-tieren konnte?
Roland: „Ich war für absolute Ordnung! Und weil es ja meine Leute waren, die mich brauchten!“
Oh, wie anständig er doch gewesen war, die nicht verraten zu haben. Keine Verlogenheit, sondern ein tapferer, gerader deutscher Mann zu sein, auch beim Dienst in den Gaskammern! Das war wichtig. Deutsch war das Vertraute, zu dem ja auch Prügel und Grausamkeit, Strafen vor allem gehörten. „Ich war für absolute Disziplin“, sagte er. Und die war meist inhaltsleer. Man konnte sie mit allem füllen, auch mit Gaskammern.
12
Um ganz sicher zu gehen, dass Roland auch wirklich gesagt hatte, was er sagte, manchmal Ungeheuerliches (ich glaubte oft nicht richtig gehört zu haben!), hatte ich ihn auf Band aufgenommen.
Am Allerschlimmsten sei dort „die Belastung der Nähe gewesen“, höre ich seine sanfte, kultivierte Stimme: „dass du auch mit jedem Atemzug, der jene verpestete Luft der ver-brannten Körper einatmen musste, dazugehört hast … zu jener Mordmaschine“, sagte Roland (er wusste es also genau, und hat trotzdem mitgemacht!), und es wird mir übel bei dieser salbungsvollen, wie geschmierten Stimme, die aber zugleich etwas Lauerndes hat, und sein schwadronierender Ton gehört dazu: „Diese Nähe, mit allem Gestank und allem, was deine Augen auch aufnehmen müssen, und das Bewusstsein einer Fatalität, dass alles so ist und so sein muss, wie es ist, auch wenn sich in dir und in deiner bisherigen Gewohnheit alles dagegen sträubt, du aber interessanterweise sogar zu den Verursachern dieser Hölle durch nichts anderes als durch die Überzeugung, gehorchen zu müssen, gehörst, du also ein anderer bist, als jener, den du sonst doch an dir kennst!“
„Welches war dort dein schlimmstes Erlebnis, Roland?“
„Darüber spreche ich nicht! Doch das auszuhalten“, sagte er, als säße er hinter einer dicken Glaswand, „ist nur starken Naturen gegeben. Und, interessanterweise, ich konnte alles ertragen, ich sagte es schon, ich war erstaunt, zu den Ro-bustesten zu gehören. Und doch, es ist eher ein Traum, ein tiefer, weicher Alptraum im Wachzustand, wenn einer in den andern Menschen hineinschießen muss, in einen Menschen, der vor dir steht, dich gar ansieht, schlimm, wenn es eine Frau oder gar ein Kind ist, und jener Mensch ist auf der Stelle tot, du aber lebst … das merkst du ja erst, wenn du aus dem merkwürdigen Zustand erwacht bist, viel später also. Dort, in jenem ernsten Augenblick drückst du ab und wunderst dich plötzlich, dass du immer noch da bist. Ich war ja ganz klar, die meisten soffen furchtbar viel Alkohol, der ja bei solchen Aktionen reichlich ausgegeben wurde, und viele meldeten sich deshalb freiwillig dazu. Es ist ja bekannt, dass niemand erschossen, nicht einmal besonders bestraft wurde, wenn er sich weigerte, an Exekutionen teilzunehmen oder an Einzelerschießungen …Sogar Ohlendorf, der Einsatzgruppenführer der furchtbaren Einsatzgruppe D, hat das mal gesagt. Und auch Generäle haben sich geweigert, Frauen und Kinder zu erschießen. Etwa Generalmajor Stülpnagel.“
Roland sprach wie ein Automat vor sich hin, er sah mich nicht an. Hatte Roland sich in einen Alp-Träumer ver-wandelt?
Meine Frau Hannah war mit seiner Freundin spazieren gegangen. Hannah wollte, dass Roland redete, und das tat er nur in Uschis Abwesenheit. Denn sie mischte sich sofort ein: „Roland, jetzt hörst du aber sofort damit auf!“ Sie hatte Angst um seine Freiheit! „Ja, sie hat das nicht so gern. Ich erzähl dir jetzt etwas über meinen Vater, er war ja dein Klavierlehrer… du wolltest etwas über ihn wissen… also…“
Doch als wir allein waren, vor allem er allein, ganz al-lein war, mich sah er ja gar nicht, nur das Mikrophon auf dem Tisch, als könnte er mit dem reden, sich ihm anvertrauen… redete er, und redete und redete, durchaus nicht über seinen guten Vater, den Organisten Daniel; musste er sich befreien, musste er’s endlich los werden? Er war allein im Raum, wie geistesabwesend. Wo war er in Auschwitz überhaupt zu fin-den? Auf Rolands Erinnerungsspur abwärts gleiten? In jenen anderen Zustand?
Jene Erfahrung dort sei vergleichbar mit dem Spre-chen, sagte er, „In den schlimmsten Momenten, wenn es dir die Sprache verschlägt, ist es wie mit dem Sprechen, das sich ja auch manchmal auflöst, nicht wahr? In Schreckmomenten, bei einer schlimmen Nachricht etwa, verschlägt es einem die Sprache, sogar den Atem, und das ist schrecklich: Du sagst dir, wenn du sie erschießen musst, auch Kinder, du erschießt eben einen späteren Rächer, wie man es dir eben empfohlen und befohlen hat zu denken, du stellst das vor dich, als müsstest du nur darauf zielen, als wäre es ein Ding, oder ein Zielen auf dieses Wort ´Rächer`, das ist ja zuerst da, das nimmt alles vorweg, der wirkliche Mensch ist dahinter wie versteckt, daran hält man auch fest, solange es eben geht. Aber langsam wird´s ja zur Routine, wenn du es einmal akzeptiert und immer wieder getan hast. Doch das mulmige Gefühl bleibt, der Zweifel, der bohrt weiter, ob es richtig sein kann, Kinder und Frauen einfach wegen eines Wortes zu erschießen! Jaja. Interessanterweise. Und du darfst nicht vergessen, dass das damals in eine Soße von Gefühlen und hehren Liedern getaucht war. Hörst du das Lied? Du kennst es sicher noch: Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren… Oder: wenn dir Zweifel kamen: Die Herzen hoch, den Kopf empor/, kämpft wider Schmach und Lügen./ Das Schwert zur Hand, das Banner vor, wir wollen, müssen siegen. Sogar Schiller ließ sich zitieren und singen aus Wallensteins Lager etwa: Auf, auf Kameraden aufs Pferd, aufs Pferd/ Ins Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde da ist der Mann noch was wert, da wird ihm das Herze gewogen… Und alles Finstere und Lügenhafte, wurde dir ja eingebläut, das sei der Jude. Ist es ja letztlich auch, wenn man tiefer denkt, bib-lisch denkt! Der Gläubigste von uns in diesem Sinn war ja der Dr. Fritz Klein, der gern selektierte, der auch gern Juden in die Gaskammer schickte. Weißt du, was er einmal der Wiener Häftlingsärztin Lindgens gesagt hat: In einem erkrankten Körper schneide ich das eitrige Gewebe heraus, um ihn ge-sund zu machen! Aber wenn wir schwach werden, hatte ja auch der Reichsführer damals in Posen gesagt, müssten wir an unsere geschichtliche Aufgabe denken. Energie der Erlösung. Unverständlich für einen laschen Demokraten. Es war die Kriegsgeneration, im Kampf gestählt, die sich immer höher und höher erhob bis zu den großen Taten des Januar und dann des März 33, als Deutschland und alle Deutschen auf der ganzen Welt im Jubel der Erlösung gleich klangen, unendliche graue Heere Gleichdenkender, gleich schreitender Männer in allen Städten und Dörfern, auf allen Strassen und Gassen, unter riesigen Hakenkreuzfahnen dieses geheimnisvollen inneren Reiches und über alle Grenzen hinweg, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Und dem innern jüdischen Reich Paroli bot. Ebenso der Vermassung der Demokratien und des Bolschewismus. Nicht mehr die Masse regierte die Strasse, sondern die ehernen Leibreihen soldatischer Menschen, die die zuchtvolle Zukunft schmiede-ten.
Heilig Vaterland in Gefahren,
Deine Söhne sich um dich scharen…
Heilig Vaterland, Heilig Vaterland.
13
Und du hast diesen Roland wirklich besucht?“ Fragte Adam einmal ungläubig.
„Ja, das war in Innsbruck…“
„Und du bist nicht ausgerastet bei seiner Selbstgefälligkeit?“
„Nein, ich sah damals Roland nicht einmal mehr er-schrocken an; ich hatte nichts anderes erwartet. Und kannte nun auch den rationalen Hintergrund, den wir nicht vergessen dürfen. Als könnte er sich endlich alles von der Seele reden, rief er mehr als er sprach all dies ins Mikrophon, das wie ein Beichtvater vor ihm auf dem Tisch stand. Neben dem Wein-glas. Er redete wie ein Wasserfall und trank dann wieder ein ganzes Glas aus.“
„Doch wer hat unseren Herrn ans Kreuz geschlagen?“ erklärte er mit seiner sanft-pathetischen Stimme, und rief: „Die Juden!“
„Du hast mal erzählt, er sei Religionslehrer gewesen! Religionslehrer? In Auschwitz?“
„Ja, er war in Auschwitz Religionslehrer in der deut-schen Schule gewesen…“
Aber ich höre immer noch „all das“ , ich höre noch Ro-lands panierte Stimme, die kann man nicht vergessen: „Diese Härte im Lager“, sagte er sehr laut: „Doch ich tat alles, was befohlen wurde, tapfer und ohne Nachlässigkeit, wie es sich für einen deutschen Mann und Soldaten geziemt, der wie im Kampf draußen im Felde im Feuer und vor dem Feind gestählt wird, sich wandelt im Todesmut und in der Kameradschaft. Aber im grauen Alltag des Leids, wo der Nebenmensch, und sei er auch ein minderwertiger Jude, Haltung zu bewahren und das Mitleid zu unterdrücken hat, das für jeden höheren Menschen unschicklich ist, wie es ja schon Nietzsche wusste, war schwer; und da gab es gerade in der Apotheke einige jüdische Landsleute, du weißt, der Capesius hat sie ja so gerettet, aber einer der Geretteten fiel einmal auf, und wurde zum Sonderkommando ins Krematorium versetzt, und du weißt ja, dass die alle paar Monate liquidiert wurden, und da gab es den Adam Salmen und den Siegfried Hertz, ja, auch noch Hertz hieß er, kam aus Sadagora aus der Bukowina, jaja, weißt du, diese Bukowiner Juden, ein zarter und sensibler Mensch, ein Altersgenosse, still, fast scheu, schien ein Weiser, der zu den Chassidim gehörte, glaube ich, der Gesänge schrieb, dass einem die Tränen in die Augen getreten wären, hätte man sich nicht dessen mannhaft erwehrt und sich in Erinnerung gerufen, weshalb man da war, welch Abgrund einen ja von ihnen trennte, und weißt du, wir kannten uns von früher, weißt du, er war ja bei uns auf dem Bischof Deutsch-Gymnasium in Schäßburg gewesen, ein Jahr lang nur, und als er mich sah, vermeinte er nun, ich könnte ihm helfen, ihn gar schonen. Anfangs, ich war bestürzt, ich war entsetzt, wollte er mir gar seine Verse anvertrauen, die er auf winzige Papierschnitzel geschrieben, und die mich so angerührt hatten. Ich wusste es, und ich schwieg, hatte ein sehr schlechtes Gewissen dabei, fast wie Verrat kam es mir vor. Und auch von Adam Salmens Notizen wusste ich. Ein sehr talentierter Mann mit einem wunderbaren Deutsch.
Und im Krankenbau, da lernte ich noch einen anderen Juden kennen, einen Poeten, der aus der Moldau stammte, der war 44 genau zur Zeit der Ungarntransporte aus Paris eingeliefert worden, Benjamin hieß er auch noch. Er starb am 3. Oktober 1944, es war eine der letzten Vergasungen.“
„War Capesius dabei gewesen?“
„Nein, er war ja an jenem Tag bei seinem Freund Stof-fel, einem Banater Schwaben, in den Beskiden; so mancher Volksdeutscher hatte dort ein Gut, das Polen weggenommen worden war, geschenkt bekommen! So wie auch Fabritius, un-ser alter Volksgruppenführer, ein Gut erhalten hatte. Er fühlte sich aber gar nicht gut dort.
Meist kamen wir mit Wildbret zurück. Und Trudi, mei-ne Frau, briet im Ofen dann wieder einen Hasen-Sonntagsbraten. Doch es war scheußlich. Freilich. Dienst war Dienst. Ständig dieser Rauch. Man roch immer diesen süßli-chen Geruch. Verbranntes Fleisch. Verbrannte Haut, verbranntes Haar.“
14
Stotterndes Bewusstsein? Unten im Hof, während der Hasenbraten brutzelte, Zählappell… Zahlen, Namen. Qual. Alles leer jetzt. Nichts mehr hier. Nichts.
Einer der wenigen, der voller Grauen sah, in welcher Falle Roland saß, war sein Vater Daniel, der Organist. Er hatte Hitlers Machwerk genau gelesen, um zu wissen, wie er sagte, und die Haare seien ihm bei dem schlechten Stil und dem verrückten Durcheinander zu Berge gestanden. Daniel hatte es auch gewagt, bei den Sonntagstreffen der Familie mit dem Kurator, meinem Großvater, darüber zu reden. „Karl“, sagte er: „Ich lese es nach, ich lese diesen Irrsinn des Führers vom verseuchten Volkskörper nach, der von den Mikroben, den Juden, gereinigt werden müsse. Hitler ist ohne Zweifel verrückt. Doch alle gehorchen ihm. Sind alle verrückt gewor-den?“
O du fröhliche, O du selige, Gnaden bringende Weih-nachtszeit. Mit dem Komman¬danten Höß. Klavier gespielt, um zu vergessen. Lichterbaum, Wunderkerzen, um zu vergessen. Tannenduft. Alles schläft, eiin...saam wacht. Und tröstete sich damit, dass er noch denken konnte: Und das Fest als Versuch gegen das Gas. Und die Musik auch. Was ist das Ewige: ein hartes Muss: Gegen das Verkommene, Verlotterte, Schmutzige, Unsaubere vorzugehen und zu vernichten, was verfällt, und wollten das Lichte, Blonde wider die feuchte Stelle in uns allen, das Kranke, Schwache, Nervattige. Am besten und besser als das Niegesagte im Fest zu halten, darin wäre der Glanz des Nichts, der einzig dem Glanz entspricht: Jahrtausende wie eine Sekunde, und wir, du jetzt noch, ich nicht mehr, eigentlich immer nur abwesend. Jetzt aber: Alles in die Flucht geschlagen.
Oh, dieses Überhebliche-Geschwollene! Was dort wirklich geschah, konnte vielleicht nur die brutale lagerszpracha ausdrücken, Dreck und Kreatur, das rein Leibliche:
Adams Tagebuch dazu spricht Bände:
In Adams Tagebuch stehn auch solche unglaublichen Todesgeschichten, und immer ist es, als wäre der Tod etwas Alltägliches, hier sogar etwas Privates, und erst dann rührt er uns wirklich an:
„Als wir in das Krematorium kamen, arbeiteten dort schon fünf andere Häftlinge. Es war das sogenannte Fischl-Kommando. Fischl war der Vorarbeiter. Drei von den Häftlin-gen arbeiteten bei der Verbrennung und zwei zogen die Lei-chen aus. Im Krematorium waren zwei Öfen in Betrieb. Insge-samt waren sechs Öfen da.
Und Ella, die ich im Teil C sogar treffen konnte, sagte heute, sie sei szajsmajsterin der Frauentoiletten geworden. Sie sagte, es sei doch Wahnsinn, dieser Sauberkeitsfimmel mitten im Dreck, echt deutsch: Immer die Scheiße, auch als Hauptschimpfwort. Diese übertriebene Schikane der Latrinenreinheit, die der szajsbrygady, szajskolumny und szajskomanda unter Leitung eines szajsführers, szajsmajsters, abortmajsters, szajskapos, war auch unter diesen grauenhaften Bedingungen gesteigert, aber echt deutsch. Und die klosetowe, die zusätzlich für Sauberkeit sorgen, aber vor allem aufpassen mussten, dass sich nicht jemand auf den für die Blockälteste oder die Kapo reservierten Plätze zum Scheißen hin setzte.
Frauen oder Männer, egal. Der Unterschied nahm ab, wurde annulliert, und unter den Muselfrauen oder Männern war jeder Geschlechterunterschied oder gar die Spannung ge-löscht.
Einmal beobachtete ich, wie ein Armer auf dem Abort ertrank, zum Spaß und Gaudi der SS machte der Kapo sein Scheißen bis zehn mit Bad. Der Kapo führte die Häftlinge zur latryna, lange Gräben mit einem darüber befestigten Brett und runden Löchern, wo zehn Häftlinge sitzen konnten. Der Kapo zählte bis zehn und alle mussten bei 10 fertig sein, wer sich verspätete, fiel in den Graben mit Kot und ging unter; nur wer Glück hatte, konnte von den Kameraden herausgezogen und zur Handpumpe geführt werden.
Im Sommer aber gab es das Läusesuchen in der Sonne, suchy nach den lojzy, den blondynki, den Blondinen, die Braunhaarigen, brunnetki, waren die Flöhe. Gestern war es furchtbar, Eis und Kälte, doch angeordnet war, die Fetzen ab-zugeben und zu warten, nackt und zitternd standen die Häft-linge im Schneesturm. So verlaust war das Lager, dass es hieß: Die Decken gehen nachts von alleine. Und zehn Geschwächte blieben auf der Strecke, im Hof liegen, erfroren im Schnee. Niemand durfte sie reinholen.
15
Ich schreibe dieses jetzt, am gleichen Tag. Jetzt kann ich es noch glauben. Später ist es unmöglich, es aufzuschrei-ben. Und niemand würde es mir glauben. Und Deutsch ist so-gar falsch. Einzig das Ordinäre der lagerszpracha gäbe es wieder. Und die unflätigen Beschimpfungen erniedrigen furchtbar, Sprache wirkt als tiefste Sonde der seelischen Zer-störung.
Doch für mich blieb Deutsch, für Polen Polnisch, für andere Russisch oder Französisch im Innern die mitgebrachte heiligste Reliquie, ein Gebet. Wir fühlten etwa zu Weihnach-ten, dass Sprache ein Heilmittel sein kann. Das Lied steigerte noch diese Wirkung. Nicht Oh Tannenbaum oder das polni-sche Mitten in der stillen Nacht, Lieder, die verordnet waren, hatten diese Wirkung. Nein. Im großen Saal war es, nachdem Dr. Mengele seine Zwerge hatte auftreten lassen, ein muzul-man, der uns weich stimmte, wir hatten Tränen in den Augen, einen Kloß im Hals, viele schluchzten, etwas löste sich im Kindervers auf:
Set w scyrym opolu Christus Pan,
A sa nim orsak bosy…
(Ins weite Feld ging Christus der Herr
und ihm nach auf bloßen Füßen das Geleit,
Die Kindlein zogen auf das gemähte Feld
Aus der Stadt hinaus bereit die Ähren zu sammeln…)
Ja, Schneuzen und Husten. Umarmungen. Weihnachts-wünsche. Heiligabend - eben. Liebe.“
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Und zu gleicher Zeit Kinderweihnachten zu Hause in Siebenbürgen .Soll ich mich schämen für meine schönsten Erinnerungen zu gleicher Zeit? Oder waren sie so naiv und rein, wie die … Set w scyrym opolu Christus Pan? Das damals ganz Fremde und heute so Nahe?
Es wiederholte sich und war doch immer soo schöön damals: Weihnachtsbaum aus dem Baumgarten. Den brachte der Schlachthausdiener Cloos, setzte auch Äste ein. Morgen Kinder wird’s was geben. So war es noch 1943 gewesen. 1944 aber waren wir schon unter den Russen. Trauriges Weihnach-ten. Noch ein Jahr zuvor aber – und ja, da wird es heikel dies schöne naive Gefühl von damals, als sie uns betrogen: … im Stadthaussaal oder im Sandersaal Weihnachtsfeiern, Krippen-spiele, Theateraufführungen. Reden des Kreisleiters, der hin-kend das Podium bestieg. Er drehte sich da oben hochaufge-richtet, die Hände aufs Pult gestützt, der hohen Lichtertanne zu, neben der die Bannspielschar stand, und rief: „Stunden der engen Verbundenheit mit Allmacht und Vorsehung über uns, Stunden einer eng gemütvollen Verbundenheit aller Deutschen untereinander. Und aus dieser Gemeinschaft der Herzen geht das Gedenken an Millionen deutsche Soldaten, die im weiten Europa in Ost und West, Süd und Nord ihre Pflicht tun für Heimat und Reich. Wir sind bei euch, ihr deutschen Flieger, Männer der Kriegsmarine, der Waffen-SS, der Wehrmacht. Wir sehen euch im Geiste vor uns, wie ihr zusammengerückt seid um euren kleinen Weihnachtsbaum aus dem Feldpostpaket oder auch um euren großen Baum in den Mannschaftsständen, den Quartieren des fremden Landes, in einsamer Ferne des Nordens, in Kasernen und Schiffen. Es duftet heimatlich nach Weihnacht, nach Tannennadeln im Kerzenschein, zu dem auch die Mundharmonika das Weihnachtslied spielt.
Und leise setzt dazu die Bannspielschar ein, vom neuen Musikdirektor im Gedenken an die Opfer sinnig als Weihnachtsgabe für die Front gedacht: O du fröhliche, o du selige../ Gnadenbringende Weihnachtszeit.
Alle haben Tränen in den Augen. Wie schön! Der Ge-danke wandert durch Raum und Zeit zurück in das Glück der Kindheit und vorauf zu Sieg und Frieden. Und von Roland ist zu hören, wie auf der Friedenskonferenz nach unserem Sieg dann alle Welt erfahren soll, „dass das alte Burgund wieder auferstehen wird, dieses Land, das einst die Heimat der Künste und Wissenschaften war und das unser Feind Frankreich auf den Rang eines in Weinessig konservierten Blinddarms herabgedrückt hat. Wartet nur, Deutsche, bis er in unserer Hand ist, der souveräne Staat Burgund. Mit seiner Armee, seinen Gesetzen, seinem Münz- und Postwesen wird er der Modellstaat der SS sein. Schon nächstes Weihnachten vielleicht, wenn Gott will. Er wird die französische Schweiz einbeziehen, die Pikardie, die Champagne, die Franche-Comté, den Hennegau und Luxemburg. Also unsere Urheimat, da gehören wir dazu, denn das erste Hakenkreuz, es stammt noch aus der Steinzeit, wurde in Siebenbürgen gefunden. Wir gehören in diese uralte Kulturlandschaft der Kelten, der Burgunder, des Gral, und wie der Reichsführer sagte, wird die Welt starr vor Staunen sein über diesen Staat, wo die Weltanschauung der SS in die Praxis umgesetzt sein wird.“
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Eine eisige Kälte war im Stalingradjahr hereingebro-chen, auch in diesem Jahr, wie schon 1941 und 1942. Die Rotz gefror zu blaugrünem Eis am Bart der Bartträger, zwickte in unseren Nasen; am Nachmittag vor Heiligabend waren wir bis vier oder fünf im harschen knirschenden Schnee an der Burg, am Hinteren Tor, am Schulberg, weil’s dort steiler war, Schlitten fahren; am Friedhof war’s damals verboten. Vorfreude, voller Erwartung, schon halb abwesend.
Weihnachten auch für die Häftlinge des Sonderkom-mandos, zu denen Wieslaw Kielar und der Bukowiner Hertz gehörten und auch unser Adam Salmen, der überlebt hat, es berichten und beschreiben konnte auf seinen winzigen Papier-Röllchen, doch bevor er Weihnachten aufatmend beschrieb, musste er etwas anderes loswerden… Weihnachten, wie es dort wirklich war…
„Wir selbst waren nicht mit drin in der Gaskammer. Wir waren nur auf dem Hof. Alle Türen waren zugesperrt. Stark ging dann durch die Tür auf den Hof hinaus in Richtung SS-Lazarett.
Wir hörten dann Husten, Geschrei und ein Schlagen aus der Ferne gegen die Tür. Es wurde immer langsamer, und schließlich hörten wir nur noch ein schwaches Husten.
Oh du Fröhliche, Oh du Selige
Gnadenbringende Weihnachtszeit.
Die Vergasungen waren jeweils früh vor oder abends nach den Appellen. Die Heizer in den Krematorien waren drei Polen. Dreimal in der Woche etwa wurden die Menschen ver-gast. Am schlimmsten war´s, wenn die Offiziere weggingen.
Sie waren Oh, Tannenbaum, Oh Tannebaum mit ihren Kindern singen gegangen. Wie grün sind deine Blätter. Du grünst nicht nur zur Sommerszeit, nein auch im Winter , wenn es schneit…
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Wir saßen dann nachher im Keller zusammen um ein Koksöfchen, brieten auf dem Öfchen Rohkartoffeln, von Gienek Obojski organisiert, der nicht überlebt hatte, wie Kielar berichtet, saßen um das glühende Öfchen, Kartoffeln brutzelten, angenehm der Geruch, schön, wie Leben, schöner Geruch, vertrieb widerlichen Gestank des Chlors, mit dem die dort gelagerten Leichen bestreut sind. Die Leichen machten uns nichts mehr aus, wir lebten täglich mit ihnen zusammen. Und Kielar spielte polnische Weihnachtslieder, auch deutsche? Stille Nacht. Auf der Mundharmonika. Man sang. Oh, Du fröhliche, freilich auf Polnisch. Die Leichen schienen sich zu freuen, zuzuhören, auch die Juden, die Weihnachten nicht feierten. Doch bemerkte es niemand. Es war Lager-Feuer. Lager.
Hertz, der Bukowiner, kochte die brotzupa; als er aber das oragnizirowan chleb, das Brot, aufbrach, das vom letzten transporty stammte, also von den gasowsy, den Vergasten, blitzte Gold; Ringe, kleine Brosche mit Initialen, goldne Trauringe funkelten im schon harten löchrigen Innern des Brotes, und alle liefen herbei. goldzupa murmelte Hertz, zlota zupa, zlota zlota… wiederholten die anderen im Chor… Er, der zu den Chassidim gehörte, erinnerte sich an seine Hochzeit in Czernowitz, oh, die golden jojch, den seine Großmutter Sarah so gut kochen konnte, diesen Bouillon, der die Goldfarbe durch Mohrrüben erhält; oh, die Rüben hier, zuhause die schönen Mohrrüben goldig gedünstet und mit Safran gewürzt… Ja zum Hochzeitsempfang, der König und die Königin sich auch durch die Braut und den Bräutigam vereinen… Hannah aber, ja, die Braut, seine Hannah, war hier als Rauch zum Himmel geflogen… sie lebte mit ihm, als es noch ein Morgen gab, den kommenden glücklichen Tag. Große Tränen rannen Hertz über die mageren Wangen. Und alle sahen ihn erstaunt an. Tränen? hier gab es doch keine Tränen mehr.
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Wie schön waren doch früher die Christtage gewesen. Noch 1943. Großvater saß am Nachmittag vor dem Blaupunkt und hörte den Reichssender München: „Weihnacht ist das feierlichste unserer Feste, und kein anderes Volk kann es so begehen wie wir. Unser allein ist das einmalig schöne Ge-schenkgeben dieses Heiligen Abends. Dann das schöne Lied: In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn…“
Weihnachtsurlaub in voller SS-Uniform mit Totenkopf. Aber beim Fest war Roland dann doch in Zivil mit Krawatte. Ich kroch mit ihm unter die Tanne. Er im weißen Hemd. Le-bensbaum, sagte er, Sonnenwende. Auf die Geschenke fallen Tannennadeln. Duft. Stearin vom Lebensbaum auf die gute Hose. Angst. Stock. Verstockt. Aber dann vergesse ich’s. Ein leichter feiner Hauch von Hysterie liegt in der Luft. Wie ein Traum. Seit wir hereingeklingelt worden waren mit den silber-nen Eierlikörbecherchen ins Festzimmer – welch ein Glanz. Ein neues Leben. Vorher standen wir vor der Tür, drückten uns die Nasen platt am Zelluloidstreifen in der Schlüsselloch-gegend; der Latzi kam aus dem Geschäft mit einem Karren voller Geschenke, die wurden durchs Fenster ins Festzimmer gehoben. Morgen Kinder wird’s was geben, morgen werden wir uns freuen! Dann das Klingeln, Tür auf: Der Himmel an Glanz und Wunderkerzen. Gedichteaufsagen. Stille Nacht. Großvater brummte inbrünstig und falsch mit. Inneres Jubilie-ren; alle Dinge wie hochpoliert, als strahlten sie aus einem Kern heraus. Man merkte den Unterschied besonders, wenn man in die Küche hinausging, wo die armen Mägde das Fest-essen zubereiteten. Auch im Schlafzimmer gab’s nur die ge-wöhnlichen platten und glanzlosen Dinge, die man kannte, schäbig stand das Gewohnte fahl in den Räumen. Aus dem Unscheinbaren rannte man schnell wieder ins Kerzenlicht; aus der ordinären Kälte in den Glanz.
Wie aber dachte Roland wirklich? Was ist das Ewige, er sagte es an der Festtafel laut: „Ein hartes Muss.“
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O Donna Clara, ich habe dich tanzen gesehen... Und ist es nicht so, dass dieses Lied, Kitsch freilich, doch am besten das Unwahrscheinliche ausdrückt, das freilich zeitweilig befestigt wird mit einer schönen Naturerscheinung, solange wir da sind, versteht sich, gesungen also während der Kriegszeit von den Frauen, die Angst um ihre Männer hatten, zu oft nämlich, kam dieser schwarze Feldpostbrief in die Häuser. Das Lied aber, ist das Gegenteil; auch Mutter sang: Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ... und sofort dann weiter: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai.
Der Rächer ist aktiv. Die Furie des Verschwindens. Es hat alles nichts genützt, sie hat gesiegt, auch im Kleinen siegt sie täglich, siegt dieses Unerkannte, das alte Nie, siegt jede Sekunde über uns: die Rache Entropie. Und am Ende das En-de, der uns allen unvorstellbare Tod.
Unsinn, sagte Adam, es war viel banaler und menschli-cher alles: Das Unglaubliche, warum die Deutschen mitmach-ten, die Augen schlossen vor den Gräueln: Götz Aly hat es aufgeschlüsselt. Es war für sie tatsächlich ein nationaler Sozialismus, es ging ihnen so gut wie nie. Soldatenfrauen bekamen 85% des Gehaltes ihres Mannes. Die Soldaten schickten Würste, Parfüm, Kleider. Aus Siebenbürgen Speck. Brecht: Was erhielt des Soldaten Weib… Und auch Heinrich Böll schickte seiner Mutter aus Frankreich Butter, Kaffee. Die Hitlerei war eine Gefälligkeitsdiktatur. Klassenlose glückliche Volksgemeinschaft, konkrete Utopie? Und diskret wurden die besetzten Länder enteignet. Besatzer bezahlten sogar die Lebensmittel etc. in wertlosen Reichskreditkassenscheinen (RKK). Abgesehen vom Raub an jüdischem Gut. Aha. Sorge ums Volkswohl also. Hitler hatte die Deutschen abgekauft. Nicht nur Autobahnen, nein Krankenversicherung für Rentner etwa gab es seither wie noch nie. Das Nie war eingebrochen auf alle Arten! Arbeit für alle. Tatsächlich, es gab Hitlers Volksstaat bezahlt mit Raub.
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Ach, ja, ach, ja, wie schön war es, als der Tod noch im Lied gewesen war! Gar in Schuberts Lindenbaum: Ich hörte es in mir singen, und ich sah mich auf der Sandallee beim Sommerhaus in Siebenbürgen, es war ja inzwischen schon Sommer 1942 geworden… als Kind auf einem Lindenbaum sitzen, ein Leinensäckchen um den Hals und süße Lindenblü-ten für den Tee pflücken, bei Fieber zu trinken. Und Mutters Stimme höre ich: „Sorg auf dich, dass du dich nicht vom Baum zu Tode fällst.“ „Ich würde das Künd nicht da hinaufs-teigen lossen:“ sagte das heisere Stimmchen der schwerhöri-gen Mitzmother, die mit zittrigem Ton: Am Brunnen vor dem Tore sang. Die Mitzmother sang es vereinfacht, laienhaft zit-ternd, ja, tremolierend, mit dem Klang einer schrecklich uner-füllten schweren Sehnsucht und einem quälenden Heimweh nach ihrer Jugend: Noch einmal achtzehn Jahre möcht ich sein! in ihrer Stadt, die nur hundert Kilometer von Schäßburg. entfernt war, doch die sie nie mehr sehen durfte. (Wohin genau aber wollte sie zurück, in eine ortlose Gegend: Noch einmal achtzehn Jahre möcht ich sein!) Aber auch sie variierte den Lindenbaum bei der zweiten Strophe bis zu den kalten Winden in Moll, und besonders anrührend bis zum Weinen bei der letzten Halbstrophe, ihrer Reprise Nun bin ich manche Stunde, und dem So manches liebe Wort; und nun: ganz im Fremden und Verlorenen und Kalten, sich heftig zurücksehnend. Und sie griff auch ohne helles, warmes und atemkluges so maßvolles Schluchzen eines Tenors - mit ihrem ganz wirklichen Schluchzen dem Kind Mächel ans Herz, dass ich es bis heute nicht vergessen kann, ja, mit meinem eigenen Heimweh verbinde, das ich fast schon vergessen habe, eine Wunde, die vernarbt ist, aber immer wieder aufreißt. Vor allem beim Hörbaren des nur im Er-innern Hörbaren dieses Stimmchens: Zu iihm mich iiiimmer fort, oder gar: Hier find´st du deine Ruh. Und sang es ganz bewusst als letzte Sehnsucht, wo sie im Tode sein wollte, fand aber die letzte Ruh dann doch nur in Schäßburg auf dem Bergfriedhof und nicht zu Hause - bis heute. Ja. Dass Gotterbarm. Und jener Sandweg, Sommerhaus, Leinen-säckchen, der Lindenbaum 1942 mit dem Weinen im Singen der armen Mitzmother und das Herzzerreißende daran, das mich packte, ganz unmittelbar und stark, war das Unheimli-che, das dahinter stand, es war nicht nur das Abschiedsweh, sondern verborgen das letzte Abschieds¬weh, das dahinter stand, und eine ferne Heimat, die niemand denken wollte, die sich verbot, da sie so unwahrscheinlich, weil so ganz anders und unerklärlich war.
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Der Tod, der so unterschiedliche Tod. Ich wage es kaum zu denken, und doch gehört es mit dem Abschiedsweh zusammen; man hat es ihnen, auch den Kindern dort im Lager gestohlen… Die letzten Gefühle vergiftet… Ist eine Wiedergutmachung auch des ruhigen; „normalen“ Todes? Der alten Sehnsucht? Des früheren, ruhigen Abschieds notwendig? Was war dort aufgebrochen im Unnennbaren für immer?! Damals als Kind kam bei mir nur der kleine Schre-cken hinzu: Aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Manchmal erfasst er mich auch heute noch: Jener vibratorische Übelkeitszustand, Gedächtnis-fetzen kommen hoch. Und ich hoffe dann, noch rechtzeitig aufzuwa¬chen... Alte Bilder vermischen sich damit: Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Friederike, die Tote, erzählt. Und wenn sich diese geschmeckten Bilder zusammentun, ist es ein dichtes Netz von Gerüchen, dann sind wir im Paradies, in der Kinder Zeit; aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie ganz am Anfang, die Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen kriecht in Scheiben das Lampenlicht von der Gasse herein, und im feinen Strahl steht ein kleiner Silberengel und tanzt, tanzt, bis er sich ganz im Staubflimmern auflöst. Und diese winzigen Engel berühren mich sanft und hoffnungsvoll.
Dahlien blühen, dieser unbestimmte Geruch treibt in der Luft, Geruch von Holzfeuer, gebratenen Pilzen, ein blauer flimmernder Himmel, eine Feder¬wolke, und darüber, dort, sieh, Mutter, der große Engel mit einem Kopftuch, der fliegt. Die blaue Luft wie eine feste Glasglocke. Dann verwischt sich langsam das Bild und wird wieder zur Wolke.
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III
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Nach Mutters Beerdigung waren wir zurück nach Ag-liano gefahren. Ich hielt es in Deutschland nicht länger aus. Ohne Mutter schien das Land leer.
Aber auch in Agliano entkam ich ihrem Tod nicht. Je-den Tag das aufblitzende Bewusstsein: Mutter ist tot. Vor dem 20. Februar noch Anrufe im Pflegeheim, es war zwar schwierig, sich zu verständigen… es kam nur noch das stereotype Schlof gaat, schlof gaat aus ihrem Mund, doch sie war noch DA. Und jetzt dieses Niemehr. Schuldgefühle, dass ich zu selten bei ihr gewesen war… Im Januar hatten wir zusammen noch Grecale getrunken. Und sie hatte beim Abschied gefragt: Wann kommst du wieder? …Als ich dann ging, wusste ich nicht, dass es das letzte Mal gewesen war! Ich sah sie nur noch als Tote wieder.
Ich war eben unten im Wohnzimmer gewesen, „Spie-gel“ gelesen: „Was vom Menschen bleibt. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele“: „Der Tod… vielleicht ist er gar nichts, vielleicht ist er nur wie abends einzuschlafen… Wa-rum macht das Sterben uns solche Angst? Wo das doch alle getan haben! Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle. Aber wenn wir selber dran sind –ah! Dann sind wir verloren…“ Las auch in Tiziano Terzanis Buch, der, bevor er starb, noch ein großes Gespräch mit seinem Sohn geführt, dem Sohn das alles gesagt hatte, auch, dass die Erde ein riesiger Friedhof sei, überall zu Staub zerfallende Knochen, dabei sei die Erde doch wunderschön! „Voller Blumen, die darauf wachsen, mit all den Ameisen und Elefanten, die darüberlaufen.“
„Schloof gad, schloof gad, menj Jang“, hatte Mutter ein paar Tage, vor ihrem Tod, jenem fatalen 20. Februar am Telefon gesagt, Carmen war noch das letzte Mal bei ihr im Pflegeheim gewesen, sie sprach nicht mehr, saß meist stumm im Rollstuhl, reagierte kaum noch, wollte auch nicht mehr es-sen…hatte aber immer wieder gefragt: „Wo bän ech? Wat sal ech hä?“ (Wo bin ich? Was soll ich hier?). Und dann: „Lieber Gott, ich will dir danken, danken für alles…“
2
Ich kann schreiben, ich kann erinnern, ich kann mich ablenken, so viel ich will: Es lässt sich nicht aus der Welt schaffen, dass Mutter gestorben ist, ge-stor-ben… Nun sind schon zwei Monate seither vergangen… Und es wird ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr, zehn Jahre, dann eine Ewig-keit vergehen. Nichts wird sich an diesem Tod ändern, zeitlos, für immer, dieses Nie! Tag der Geburt. Tag des Todes.
Mein Bruder hatte mich an jenem Tag angerufen, dann stockend nach einer langen Pause gesagt:
„Mutter ist heute früh gestorben!“
Ganz real die Umstände, alles erklärbar, aber nie fass-bar.
Eine Welt endgültig versunken; die Muttersprache auch. Mein Name ist ein anderer geworden. Das Jauchzen, wenn ich Mutter anrief oder zu ihr kam: „Diiiiiiiiiiiiiiiiiie-ter…“ gibt es nicht mehr. Schon bei den letzten Besuchen im Altenheim war es nicht mehr da, nur ein letztes Winken durchs Glas eines großen Fensters im Essraum. Ich werde die-se blasse Hand, dieses blasse geisterhafte Gesicht, das sich schon auf das Verschwinden vorbereitete, nie mehr vergessen; sie saß im Gemeinschaftsraum vor dem lärmenden Fernseher, saß da, vor sich hin dämmernd; ich hatte sie im Rollstuhl in den Essraum gefahren, hatte sie noch geküsst, im Zimmer lange umarmt, sie … mein Baby, wie ich es früher einmal gewesen war; sie hatte Schutz gesucht. Ich hatte mit ihr gegessen, telefoniert. Für ein letztes Gespräch mit ihr in die Ferne gerufen. Fotos angesehen, Erinnerungen … die ganze lange Zeit seit 1934, die nun vergangen ist.
3
Zwei Monate sind seither vergangen. Und heute ist Os-tersamstag, heute Nacht ist Auferstehung um Zwölf, Null Uhr. Dann sind sie zu Hause alle unterwegs, mit Kerzen um die Kirche. Ein Lichtermeer. Am 24. Februar haben wir Mutter begraben. Ist es möglich, kann sie einmal wiederkommen…? Und wenn ich jetzt das 17. Kapitel des Ägyptischen Totenbu-ches lese, diese Hymnen, die im Augenblick gelesen werden müssen, wenn der Tote seinen Körper verlässt, hineintritt ins volle Tageslicht, befreit von seinem Körper, wenn ich Musik höre, die in den Pyramiden aufgenommen wurde (Paul Horn, Inside the great Pyramid), tauche ich in etwas ein, in einen Zustand, in dem ich es nicht mehr für unmöglich halte… Kunst der Rückkehr, Totenbuch, 17: Sieh, nun gelange ich ins Land meines Ursprungs. Die letzte Heimkehr …
Mir wird es auch klar, und es kann kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet jetzt zur Totenwelt des Uralten fahren möchte, ohne es mir freilich bewusst gemacht zu haben, als ich die Reise mit aller Besessenheit plante und wollte, sogar gegen Hannahs Willen, die sich dann doch anschloss. Jetzt lese ich nach, was ich am Tag von Mutters Begräbnis aufschrieb, und jetzt erst wird mir dieser große Ernst bewusst, dass sich in den letzten sechstausend Jahren nichts daran geändert hat, ja, seit Ewigkeiten gilt es, das Undenkbare, das uns alle erwartet, und schon in uns als großer unbewusster Erinnerungsraum mit den Toten da ist, und in unseren Träumen manchmal durchbricht.
4
Die Gegend hier im toskanischen Agliano scheint günstig für solche Gedanken. Auch die alte Lisa hatte früher oft von Geistern erzählt, oben in ihrer Kammer da spuke es, erzählte sie. Jetzt ist sie auch schon tot. Ich denke an sie: Das Begräbnis von Lisa, der Schäferin hier. Hallen der Steine beim Beten, und das Abendmahl, Transsubstantion, ich dachte beim Schlucken der Oblate daran, dass Fleisch und Brot gleiche Atome haben. Ich sah nur einmal auf die Uhr, als Lello, unser Nachbar, ehemaliger Bankdirektor, seine Frau im Pelz, er, einen Schnurrbart wie ein Kohlenstrich angemalt, sagte: „Ich bleibe bis vier, keine Minute länger.“ Der Sarg aus Nussholz mit vielen Engelschnitzereien war schwer, Vittorio im roten Pullover, Ubaldo, der Enkel, Umberto, unser Bauer, der weinte, und zwei Fremde trugen den Sarg: Eingelötet in einer Zinkkassette der kleine alte Kör¬per der Schäferin, damit er nicht verwese, fast eine Mumifizierung, war sehr schwer. Vittorio im roten Pullover nahm rote Ziegeln, daneben stand Iva, die Tochter, ebenfalls im roten Pullover, stumm, wie erstarrt, als Vittorio die Be¬tonnische, wohin der Sarg von einem Gerüst aus geschoben wurde, einmauerte. Ziegel um Ziegel. Ich dachte an ein lebendiges Einmauern, Unsinn, Elisa ist doch tot. Neben Sirio, Ivas Mann, der vor Jahren gestorben ist, nun ruhend. Ruhend? Ich dachte, sie müsse da sein, von Schutzengeln geleitet, wieder jung und herabsehen, zusehen, sich freuen, dass so viele Leute da sind. Halb Pieve. Ich wollte gar nicht hin gehen, aber als hätte Hannah eben gesagt: „Wir sind so selten mit unsern Nachbarn zusammen, außerdem mochte ich Lisa. Ich habe da immer den Käs abgeholt. Sie war so freundlich zu mir, holte die runden weißen Schafskäserollen vom Brett unter dem verräucherten Dach.“
Auch am Kamin an langen Winterabenden wurde er-zählt. Unser Nach¬bar (Hutmacher der Königinmutter von England) sagte, in einer schweren Krise, bei einer Operation zum Beispiel habe er ES auch erlebt, da sei es normal, „dass man erlebt, was die Toten erleben, dass man dann den Kör¬per verlässt, ihn liegen lässt. Eine gewisse Gefahr bestehe freilich, sagte er: „Wenn nämlich zufällig einer mit einem Leuchter kommt, während wir draußen sind, und den Körper dauernd anstarrt, der da liegt, kann der Reisende, der den Körper verlassen hat und draußen ist, so lange nicht zu ihm zurückkehren, bis ihn endlich keiner mehr anglotzt. Und es ist schon geschehen, dass die Familie dachte, der Körper da, der im Bett liegt, sei tot, und anfing zu trauern, der Astralreisende kam so ins Grab, unter die Erde. Und da muss diese arme Seele, die draußen ist, so lange durch die Welt irren: bis zur Stunde, in der der Körper hätte sterben müssen.“
Nach solch einem Abend kamen die Alpträume, als wä-re alles, was an Grauenhaftem geschehen ist, unbewusst auch in meiner Erinne¬rung.
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Nachts war Vollmond. Hunde bellten in der Ferne. Da packte mich die Wehmut, und ich hatte wieder wie als Kind Angst vor „Berührungen“, vom dunklen Zimmereck her, und ich ging schnell, mit dem Rücken zur Dunkelheit aus dem Zimmer, Mutter war da, ich spürte deut¬lich ihre Anwesenheit.. Komisch, wieso soll ich da Angst haben vor dem, was ich doch selber bin. Oder stimmt es, dass unheimlich von heimlich = heimisch kommt, dass wir uns vor dem, was wir vergessen haben, am meisten fürchten, weil es das Intimste und Tiefste ist?!
Das Begräbnis war in Aalen gewesen; Mutter hatte es sich so gewünscht. Jedoch: Was würde sie jetzt sagen? Wün-schen können? Eines schon: Sie wollte nicht verbrannt wer-den, sondern neben ihrem Mann, neben Vater liegen. Ihr win-ziger Körper lag in der Totenkammer, vergeistigt, schön und wie verjüngt von diesem ewigen Quell, der in unserer Ohn-macht „Tod“ heißt. Meine Schwägerin, die sie von Anfang an besucht hatte, gleich nach ihrem Tod, sagte, Mutter sei am ersten Tag noch spürbar gewesen, ja, es schien, als hätte sie sogar mit dem Auge Zeichen gegeben, und beim Ausziehen mitgeholfen. Jetzt aber in der Kammer da sei sie nicht mehr spürbar.
„Doch“, sagte ich: „Ganz, ganz fern ist sie spürbar, und als käme sie als junge Frau aus der Vergangenheit wieder.“ Und ich hatte auch nachts ihr junges Gesicht gesehen. Ich hatte in der Kammer ihre eiskalten runzligen Hände angefasst, ihr Gesicht gestreichelt, das dann, nach einer halben Stunde in die Erde musste, nur noch eine halbe Stunde würde sie noch vom Licht angestrahlt werden? Ich hatte ihr über das weiße Haar gestrichen, das war mir noch vertraut vorgekommen? Nichts, nur das Gefühl, dass nicht ihr Gesicht, dass nur noch meines in der menschlichen Gewohnheit war. Und die Tränen waren mir unaufhörlich übers Gesicht gelaufen, warum hatte ich denn geweint, sie war doch frei!
Vor allem als ich dann alles, was gewesen war, und nun NIE mehr sein sollte, spürte, hervorholte mit dem uralten Dialekt, gab es nur noch einen verschwindenden Hauch in diesem Schlof gaat, schlof gaat, Mother.
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Carmen, meine Schwester, erzählte, dass Mutter am Donnerstag noch, beim letzten Telefongespräch als sie ableg-te, sie bat, zurückzurufen, gesagt habe: „Wat äs na?!“ Und vorher war Schnee im Fernsehen, Weltmeisterschaft -Vorbereitung, da habe sie große Augen gemacht und gesagt: „Säch wä hiesch äs der Schnie!“
Sie sei so schön gewesen, sagte Carmen, sie sei schön-zartvergeistigt und sie werde immer schöner! Ja, den ge-quälten Körper hat sie verlassen, jetzt ist sie wieder jung geworden.
Etwas hat sich von mir gelöst, die Stelle tut weh, und kommt in Bildern wieder, taut auf. Doch ich fühle mich wie verlassen, allein ohne sie. Das Kind, ihr Kind aus mir ist mit-gegangen, ist es nun auch tot?
Und die alte Zeit ist nun endgültig vorbei, und kehrt nie mehr wieder, die Erinnerung hat sich verändert so ohne sie.
Auch wenn ich weiß, dass ich loslassen muss, damit sie besser hinüberkommt, und meine Gedanken ihr helfen sollen, sich zu lösen, schmerzt die Stelle, wo sie war, und ich möchte sie behalten… Mother, wo bäst ta…?
In der Kammer las ich ganz nahe an ihrem Gesicht und nur für sie, was ich geschrieben hatte. Ich hatte gewartet, bis nur mein Sohn und meine Frau dabei waren, bevor ich dann in ihrer, in unserer alten Sprache las.
„Schlof gaat menj innich Mother menj,
det Känjt gieht mät der mät,
schlof gaat schlof gaat, menj Mother läw
und gress mer asen Herrgott na,
die dech esi lang behält!
Behält bäs mer as weddersehn
verihnt mät allen Anjeln.“
Dann kamen die Träger und schraubten den Sarg zu.
In der Kapelle Lieder und Gedichte der Urenkel. Dann das Vergangene, der tiefe Todes- und Berglocken-Klang von zu Hause, freilich nur vom Tonband zur Trauerrede.
„Sie ist dem Ruf gefolgt“, schrieb mir eine Freundin: „der sie zurückkehren ließ zu Gott ihrem Schöpfer, ganz sanft und ohne Schmerzen ist sie gegangen… Sie ist nicht nur ge-gangen, sondern sie ist zurück. Es ist ihre letzte Heimkehr. Deswegen ist Sterben nicht erschreckend sondern voller Licht, wie die erste Geburt. Das wichtigste ist, sie gehen zu lassen, wenn sie es möchte. Nicht Du zählst mehr, sie zählt, die nun vielleicht eine neue Reise antritt, ungebunden, frei. Wenn sie zurück ins All möchte, dann kann kein Mensch sie auf Erden zurückhalten. Und das ist wohl das Schwierigste: laisser partir, laisser aller. Deine Mutter wirst Du neu kennen lernen, wenn sie gegangen ist.
Aber Du wirst vor allem Dich neu kennen lernen, Dich, der dann zum ersten Mal in seinem Leben kein Kind mehr ist.
Du hast einen wunderbaren Schatz in diesem Leben ge-habt! Du bist Kind im Alter. Sei dankbar dafür. Sei dankbar für dieses Leben, das Du hast und dass Du diesen großen Ab-schied erleben darfst mit all der Reife Deines Wesens, Deines Lebensalters und Deinem Wissen um die Dinge. Und ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass man im Tod allein ist. Auch bei der Geburt ist man nicht allein! Und vielleicht erlebt ihr gemeinsam die Umkehr Deiner Geburt und Du siehst, dass es keine Umkehr ist. Gibt es etwas Schöneres zwischen Mutter und Sohn?“
Es ist bekannt, dass kurz vor dem Tod oder im Todes-moment viele von Krankheit zerstörte Menschen, so auch Mutter, zu einer unglaublichen Größe anwachsen können, als würden sie in solchen Augenblicken nicht nur sich, sondern „alle“ Menschen schlechthin verkörpern und in ihrem Namen sprechen. Mutter hatte sich ja eigentlich schon bei ihrem Schlaganfall, drei Jahre vor ihrem Tod, „verabschiedet“, sie hatte ihre Persönlichkeit in jenem Augenblick verloren und blieb mit dem armen, dahindämmernden Körper allein. Ich hatte ihren großen Augenblick nicht miterlebt, mein Bruder Hannes jedoch wusste davon, er war dabei gewesen, und er schrieb mir:
„Nach dem Schlaganfall, bei der Nachtwache im Kran-kenhaus hat sie sich von "Europa, Rumänien und von uns" würdevoll und in beeindruckender Weise verabschiedet, sie sagte leise zu uns: "Alter und Krankheit brauchen ein großes Herz Ich will diesen Druck ausdrücken, den Druck der gan-zen Welt. Ich möchte eine große Reise machen mit viel Luft und Wasser! Zärtlichkeit einbringen. Wir Rumänen sollten für Mütterlichkeit sorgen. Ich brauche unsere Heimat und Luft. Ist das Herz groß genug für Rumänien? Es ist nicht schön, dass man diesem Land alles abspricht." Es folgten dann drei Jahre der dahindämmernden Zwischenzeit bis zu ihrem Tod.
Am Grab hatte ich die beiden letzten Zeilen des Schlaf-gut-Gedichtes ganz leise gelesen, und das Papier ihr dann in die Tiefe nach geworfen.
7
Langher auch das. Und das Ersatzelternhaus in Deutschland, Aalen, die Langertstrasse? Langher. Seit Jahren aus. Vor vier Jahren, als Mutter ins Altenheim musste, war die Wohnung ausgeräumt, entrümpelt worden. Es gab sie nicht mehr. Mutter hatte durch ihren Schlaganfall ihre Persönlich-keit verloren. Und die letzte Begegnung mit ihr, ja, die gab es vor genau vier Jahren. Damals. Die Langertstraße, und in je-nem Frühjahr hatte ich zusammen mit Hannah ein kleiner Ausflug aufs Land gemacht, wir waren in eine Gaststätte ein-gekehrt, hatten dort Mittag gegessen. Es gibt Fotos davon. Es gibt einen Film davon. Der ins Leere abläuft. Es war die letzte Begegnung mit Mutter, wie ich sie von früher kannte, gewesen.
Wir hatten eine lange Fahrt hinter uns, Mailand, die Schweiz, die deutsche Grenze, Ulm, dann die neue Autobahn Richtung Nürnberg, Ausfahrt über Oberkochen, in Richtung der Skilifte und des Thermalbades, in Aalen den Berg hinauf in die Triumphstadt, und die Bilderreihen und Gedankenketten rasten durch mein Hirn, als hätte ich es gewusst, dass es hier jetzt meine letzte Fahrt zum verbliebenen Elternhaus in der Fremde sein sollte: Alles nur noch starr, vom Zuhause, von den Kindheitserinnerungen konnte nur noch wie von etwas Abgelegtem gesprochen werden, wenn auch lachend. (Und wenn ich heute überlege, heute nach Mutters Tod, dann hat sich all dieses, all dieses Verschwinden nun auch wirklich gesteigert, Aalen gibt es nun für mich nicht mehr, entfernt sich; niemand mehr lebt von meinen Leuten dort, es gibt nur noch Gräber!).
Auch die Kindheit ist brückenlos, und alles vorbei, der Geruch der Kindheit mit Mutter vergangen! Oh ja, diese schö-nen Ankünfte zu Hause, auch in Aalen, freilich: die Mutter stand schon hinter der Tür, stürmischer Empfang, Umarmung; „bist du hungrig, mein Junge?“ Es war immer die erste Frage. Nach der Umarmung, sagte sie: „Leg doch ab, dein kleines Zimmer steht bereit.“ Und dann am Tisch die letzten Fami-lienneuigkeiten, immer war sie über alle Details und Geschichten und Reisen der weit verzweigten Verwandtschaft genau informiert gewesen. Und alle waren sie in Deutschland. Nur eine entfernte Verwandte in Wien. Eine Cousine in Schäßburg. „Joi, weißt du, was mir die Dutzitante erzählt hat...?“
Und ich hatte wilde Träume dann wie so oft hier in die-sem kleinen Zimmer meines Ersatzelternhauses! Ich war tot. Jemand drückte mir die Augen zu, ich dann schwebend über dem Totenbett und dem alten Fleischge¬fäß, dem Körper ...
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Mutter hatte ihren Tod voraus geahnt, sie wurde merk-würdig klar, sie konnte wieder in zusammenhängenden Sät-zen sprechen, und alle dachten, sie wird nun plötzlich wieder gesund, berappelt sich; doch ich wusste: Bald wird das Schlimmste geschehen. Sie lag in ihrem Bett und umarmte mich wie früher. Dann sagte sie: „Nimm dir einen Stuhl, mein Junge, setz dich zu mir, ich muss dir etwas sagen.“ Dann bat sie mich mit ernster, ganz deutlicher Stimme, nach Hause zu fahren: „Du musst nach den Gräbern und nach den Häusern sehen; sie geben doch jetzt die Häuser zurück“, sagte sie mit matter Stimme: „Du musst nach dem Baumgartenhaus, nach dem Baiergasshaus und nach dem Haus auf dem Holzmarkt sehen!! Das sind wir meinem Vater und auch dem Vater dei-nes Vaters schuldig!“
Ich drückte Mutters Hände und versprach es. Sie mur-melte noch: „Auch die Gräber müssen gepflegt und der Friedhofsbesorger bezahlt werden! Schau nach den Gräbern, ich verlass mich auf dich!
Dann schien sie einzuschlafen. Sie hatte nichts davon gesagt, dass sie nach ihrem Tod nach Hause wolle, begraben auf dem Bergfriedhof?
„Ja, ich will fahren, Mutter! Ich verspreche es dir!“ sagte ich noch, bevor ich ging. Stand jetzt eine andere Heim-kehr, jene unvorstellbare Letzte Heimkehr bevor? Und vor dem Tode noch zurück in jenes kleine, immer noch nahe „nach Hause“? Doch auch dort ist ja alles tot, gehört nicht mehr zu uns. Wie wir nicht mehr zu unserem Heimwehort ge-hören? Erdenbürger, wo zu Hause? Nirgends? Erst der Tod wird uns gerecht? Und die Kirchenburgen an der Wand, alles nur im Foto; auch die Karte Siebenbürgens, nichts als ein Foto.
9
Vor einigen Jahren, als die Häuserrückgabe akut wurde, das Parlament eine Rückgabe beschloss, hatte ich auch an den alten Salmen geschrieben, der ja Rechtsanwalt gewesen war, Lebensgefährte von Hansonkels Tochter, der letzten Verwandten, die wir noch in Schäßburg haben. Adam Salmen, übrigens der letzte Jude der Stadt, der noch die Synagoge in der Kleingasse verwaltet, aber keinen Gottes-dienst mehr abhalten kann, da er dazu mindestens 13 Gläubige braucht, hatte sich auch beim Grundbuchamt im Hämchen nach den Häusern erkundigt, und mir die Unterlagen zugeschickt.
Mit Salmen hatte sich eine Brieffreundschaft entwi-ckelt, ich wusste inzwischen auch, dass er aus der Bukowina stammte, von Wien nach Auschwitz deportiert worden war, und heute enge Kontakte mit Israel hat.
In einem Brief schrieb er mir über seine jüdischen Be-kannten aus Schäßburg; er hatte vor allem die Familie des Rechtsanwalts Blau gekannt, den Heini Blau und seine Frau Adele. Beide sind inzwischen verstorben. Adele in Israel, Heini in Kronstadt. Dr. Mendel, der Bruder der Kinderärztin Dr. Böhm, ebenfalls Rechtsanwalt, war ein Freund des Ministerpräsidenten Maurer, er ging nach Bukarest. Wurde Bankdirektor, aber in der Ana-Pauker-Affaire verwickelt, kam er ein volles Jahr in Einzelhaft, und kurz nach seiner Entlassung fiel er in Schäßburg tot auf der Strasse um. Auch den Brüdern Baruch ging es sehr schlecht, 1948 wurden sie auf der Strasse mit einem Plakat AUSBEUTER; KLASSENFEIND um den Hals durch die Strassen getrieben… „Kurz alle Juden, die du gekannt hast“, schrieb Adam, „sind ausgewandert oder verstorben. Und jene, die vielleicht noch leben, was kaum anzunehmen ist, von denen kenne ich die Adresse nicht. Meine Mutter ist 1979, mein Bruder 1981 in Israel verstorben. Schon 1929 ist mein Vater von einer Lokomotive überfahren worden. Da kein Arzt da war, ist er nach zwei Stunden auf dem Gleis verblutet, er wurde in Czernowitz beerdigt. Im Schrank blieben ganze 500 Lei. Ich war in der sechsten Gymnasialklasse und habe dann mit Nachhilfestunden meine Mutter und meinen Bruder schlecht und recht durchgebracht.
Meine große, bis heute unvergängliche Liebe habe ich auch wegen meiner Armut verloren, Sie kam nach Radautz aus Braila dreimal in die Sommerferien, nur mir zu Liebe kam sie, angeblich zu einer Tante, zum letzten Mal kam sie dann aus der Donausstadt Braila, um sich von einer Malaria zu erholen. Ihre Eltern waren sehr reich und wollten sie nach England zum Studieren schicken. Mir zu Liebe ist sie aber nach Czernowitz gekommen, um dort Englisch, Französisch und Kunstgeschichte zu studieren. Sie hat mich zu ihrer Tante eingeladen, ich aber hatte kein Geld für einen Blumenstrauß. Und unter dem Einfluss der Tante ist unsere Liebe zerbrochen. In den sechziger Jahren hat mir mein bester Freund aus Israel geschrieben, sie sei als Sekretärin an der Jerusalemer Universität tätig. Sie war die erste Frau in meinem Leben. Die zweite, mit der ich zwei Kinder habe, ist 1971 an Krebs gestorben, so wie ihr Vater, drei Onkels und ein Cousin auch. Meine Beziehung zu Edith datiert noch aus den sechziger Jahren, wohl mit Unterbrechungen. Meine beste Zeit hatte ich als Reiseleiter 1973-1980. Da hatte ich alle zwei bis drei Wochen neue Freundinnen mit viel Spaß.
Ich wünsche mir sehr ein Wiedersehen mit Dir. Ich meine, dass Du mich verstehst.“
10
Adam hat mir auch die Grundbuchnummern für die beiden Häuser in der Baiergasse, eines war mein Geburtshaus, zugeschickt.
Es war seltsam; ich glaubte nicht daran, und doch be-gann es in mir zu arbeiten, und so etwas wie Hoffnung ent-stand, die meine Träume nährte.
Und inzwischen ist auch das Wunder geschehen: Ich habe das Gassenhaus, das Baruchhaus, wirklich zurückerhal-ten… Es ist ja jenes Haus mit dem wackligen Gang, das Haus, wo ich auf die Welt kam, und wo ich meinen ersten Menschen, das erste Licht, die ersten Gegenstände gesehen, den ersten Atemzug getan habe… Lässt sich tatsächlich die Zeit zurückholen? Oder in einer großen Kreisbewegung beenden? Gestern vor dem Erwachen hatte ich im Halbschlaf einen Wachtraum, der mehr ein tröstlicher und doch furchtbarer Gedanke war: Genau dort an der Wand, wo das weiße Bett mit Mutter, die ihren Säugling glücklich lächelnd im Arm hielt, es gibt ein verwackeltes winziges Foto davon, war das renovierte Gästezimmer mit einem Bett, und dorthin legte ich mich, genau an jene Stelle, wo ich auf die Welt gekommen bin, und genau an dieser Stelle mit den alten Koordinaten, die die Astrologie beschreiben kann, und die mir einmal bestimmt waren, ging ich in diesem Alptraum vergiftet aus der Welt …
Aber es kam anders: Ich habe im gleichen Haus eine Stiftung eingerichtet, die meinen Namen trägt. Nur eine Pla-kette fehlt noch. Und auch der Laden darunter, früher hatte der Friseur Roth sein Friseurgeschäft dort, gehört jetzt mir. Und mit den Einnahmen finanzieren sich die laufenden Kos-ten. Und das alles ist wie ein Sprung über den Abgrund des Krieges und der roten Zeit hinweg …
So träumte ich wild von der Heimatstadt S.
Sie hatten mich eben erschossen, da, der Blitz des Mündungsfeuers, da, der kleine Vogel, der nicht mehr aufflog, in der Luft auf der Stelle surrend, flatternd stehen blieb, der Regentropfen auf meiner Wange, das Rauschen der alten Bäume im Sommerhaus, Rusperbäume, die es nicht mehr gibt, verheizt im eisigen Winter, das Bild stehen geblieben, die Kugeln prallten von mir ab, einem, den es nicht gibt, kann man nichts mehr anhaben, Kugeln, die ich nicht mehr wahrnehme, gibt es nicht: sie drehten sich wie irr vor meinen Augen, und dann – Totenstille.
11
Einige Wochen später dann der wirkliche Flug von Stuttgart Echterdingen nach Bukarest. Sausen im Kopf, der Druck. Hochschrecken ins weiße Licht? Meine Augen geblen-det, ich spürte kleine Schläge, Helle, überdrehte Wachheit: Ein Tag, eine Stunde, Sekunden. Dröhnen im Raum. Zittern des Flugzeugrumpfes. Fahl und rosig kam das Licht durch die Luken. Dieses Huschen der Passagiere, der Menschenschatten in der Flugzeugkabine. Hochgefühle? Wir sitzen in der aufheulenden Maschine, Traumbaum; heute wachsen die Bäume in den Himmel, sie rollen, sie zittern, sie heben ab. Als Kinder flogen wir so: wir breiteten die kleinen Arme aus, wir liefen… WWW WWW, wir machten es mit den Lippen nach, alles lässt sich so machen! Heulen und Bombenwerfen, Krachen, denn wir fliegen gegen Engeland … ahoi! Und das genau hier im Nebenzimmer, wo ich im Baruchhaus, dem Geburtshaus auch mein erstes Weihnachten erlebt hatte.
Schafft es ein Flug, die Distanzen zu überwinden? Von Agliano, von Stuttgart in die Wench, gar ins Baruchhaus? Sausen im Kopf, der Druck, es ging alles zu rasch, alles passé, die Landschaft, die Stadt da unten, klein und kleiner. Prickeln in den Fingerspitzen; das kalte Lu¬kenglas fad, ner-vöses Dahindämmern. Notausgänge über Tragflächen. Und ich sehe es im Dunkeln und staune, dass ich noch da bin. Längst hat der Abschied begonnen.
Ich flog, und es war spät, zu spät. Und kein Schatten, Schlemihl, Schlemi, nannten sie mich in der Schule. Kleine weiße Flecken, ganz nah an der Luke Wattewolken, Fetzen, hörst du das Weiche am Ohr wie ein zerfleddertes Blatt. Für immer den Boden aufgegeben, die Sinne. Sank hinab, ermüdet von der nervösen Anspannung; die Landschaft, hoch oben die Sterne kalt…Schwindel, Druck im Magen, und kurz ein hoch zuckendes Angstgefühl, ich sagte mir ironisch zur Beruhigung aus der Absenz führen Notausgänge über die Tragflächen; und sehe bei geschlossenen Lidern, wie das Flugzeug Feuer fängt, abstürzt ... Und wo kommt man an? Alles schon geschehen, längst hat der Abschied begonnen.
Nach der Landung in Bukarest war ich erstaunt, dass in Otopeni die Abfertigung zivil und ohne jede Reibung vor sich ging, wie an irgendeinem fremden Flughafen, dachte ich. Alles viel zu alltäglich und trivial nach diesem Todesgefühl im Flugzeug. Doch die heiße Welle war da, ich wollte sie auflösen. Und ich erinnerte mich an meine erste Heimfahrt noch in der roten Zeit, um den Sohn rauszuholen, das war 1974 gewesen. Damals wollten mich alle zurückhalten, alle Freunde, die Eltern, die Geschwister, dachten, ich sei verrückt geworden, mich so einer Gefahr auszusetzen: Bratislava war die erste Station des Ostens bei der Heimfahrt gewesen, Bratislava, früher Pressburg, durch eine Straßenbahn mit Wien verbunden und in der roten Zeit um eine Welt nach Osten gerückt. Der Bahnhof dunkel. Als einziger Fahrgast stieg ich damals aus. In der Bahnhofshalle ein schauerliches Gedränge. Tiefste Provinz, Nachkriegsat¬mosphäre. Qualm und Menschengestank. Stoßen, Schimpfen, Nervosität. Massen, kaum Individuen. Ein Tages- und Nachtlager. In allen östlichen Ländern gab es vor 1989 das gleiche Bild. In Leipzig, in Bratislava, in Odessa oder Bukarest, dieselbe Welt: Hautnähe, animalische Sensibilität, bisher nie gesehen, nie empfunden, obwohl ich jahrzehntelang in der gleichen Umgebung gelebt hatte. Distanzen waren im Westen entstanden, innere Distanzen, die, so erkannte ich damals, nur in etwa neunzig Tagen Umgewöhnung wieder eingeholt werden können. Das entspricht etwa der Reisedauer rund um den Äquator.
IV
1
Hannah wollte nicht mehr weiter mitkommen. Sie hatte verstanden, dass sie nicht hierher gehörte, nein, nicht hierher gehören wollte. Dass ich in meinem Land nur allein sein konnte. Und sie nahm am nächsten Morgen das erste Flugzeug nach Rom.
In der Calea Victoriei mieteten wir ein Auto, und ich fuhr sie noch zum Flughafen, dann fuhr ich allein über Ploieşti und durch den Bucegi, nach Siebenbürgen ... alles so unwirklich. Ich sah zum Fenster hinaus - fern wie ein Hauch der Bărăgan. Beim schnellen Fahren fiel mir auf, wie langsam sich die Ferne bewegte, kulissenartig, wie eine abgehobene Beschreibung, während die Nähe rasend schnell vorbeirauschte, und das Mit¬nehmen des Straßenran¬des im Blick nur mit Mühe, nur als verwischte Spur gelang. Wenn du dem nachhängst, meinst du verrückt zu werden, wenn du aufschaust: rechts die Kontur der Stadt, ein einzelner krummer Baum etwas näher neben einer Scheune, schon ist ich nicht mehr da, als würde das Auto dieses Vorrücken der Sekunden im Sehfeld nochmals überholen. Genau so geht es mir. Rauschen von draußen, drinnen aber meine innere Stimme: Der Schock des viel zu schnellen Rhythmus im Westen, und dann die schmerzhaften Folgen, die nun auch hier im alten Zuhause langsam zu wirken beginnen. Man war ja im Osten, in der Balkan¬hauptstadt früher nach außen eingesperrt gewesen, und es hatte sich ein enormer Freiheitsapettit angestaut, so, als gäbe es tatsächlich irgendwo Eden samt Eva. Und Todlosigkeit, Körperfreiheit und das Angenehme dieser Welt - das alles sollte es im Westen geben! Mein Gott, wie blöd wir damals waren. Nur eine Stunde Freiheit im Flugzeug zwischen den Systemen und Wirklichkeiten damals wie ein metaphysisches Ereignis gefühlt, und dann: Aus. Ich dachte an Hannah: Dir selbst und ihr entgehst du nie!
Und das Auto surrt, rauscht... fährt immer weiter... Pre-deal längst hinter mir ... nähere mich Kronstadt... Dort wurde Vater geboren… Und die alte Mitzmotzer, Vater... Großvater ... Niemand, Nichts... alle tot oder im Nichtmehrhier ver-schwunden wie Mutter. Und Maria…?
2
Erstaunlich, wie man die alte Grenze zwischen der Wa-lachei und dem ehemaligen mitteleuropäischen Siebenbürgen sieht, mit Händen greifen kann! Wie trist die Landschaft doch bisher gewesen war, die Dörfer verkommen, grau. Jetzt alles viel ordentlicher, bunter, sauberer.
Weiter, immer weiter nach Siebenbürgen hinein... die Fahrt in meine Stadt, die es wahrscheinlich auch nicht mehr gibt; meine Stadt ist eine Geisterstadt; wohin ich fahre - es ist eine fremde Stadt geworden. Mitten durch eine Ab¬wesenheit: Nach Hause? Jetzt nach Hause, wo es Mutter nicht mehr gibt, niemanden von denen gibt, die ich noch in mir trage… Und von denen Hannah niemanden kennt. Wohin gehört Mutter, in ein fremdes, ein hier abgebrochenes Leben und fort in ein Unzuhause?
Beide sind doch aus ihrem (zerstörten?) Zuhause ge-flüchtet. Kann man das aber vergleichen? Und bin ich mit meinem Zuhause, das nie mehr wieder heil werden kann, nicht einsam wie ein Hund hier? Was könnte ich mit diesen beiden teilen? Hannah Kindheit und Stadt ist durch den Krieg zerstört.
Und Hannah, ihr durch Bomben zerstörtes Zuhause in Stuttgart? Ich habe es nicht sehen können! Nur die tiefen Verletzungen und Kinderängste aus den Bombennächten in ihr so oft gespürt… Und die Flucht mit ihrer Mutter durchs brennende Stuttgart… Damals… Und das neue Elternhaus im Schalenweg? Zur Miete…. Auch das gab es nicht mehr seit dem Tod ihrer Eltern. Diese Leere nur, das furchtbare „Entrümpeln“…
Und meine „Lebensumwelt, die wirkliche, die zu mir gehört hätte, wenn…? Ach, ich bin ja hier in aller Absenz: Die Absenz – mein Elternhaus. Nach Stunden endlich in Zuckmanteln, welch ein Name, tief im Hirn blitzt es auf, Nadesch, "Weinland". Es war einmal: Das Bild ... steht nicht vor mir... ich bin nicht da. Eine "Scholle" in die Hand nehmen? Felder bebaut, es ist gesät. Welch eine Wiederentdeckung: die Kontur der Berge. Und plötzlich er-schrecke ich: schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas. Wei¬ßen Speck und Brot im Mund.
Marienburg, die Kirchenburg von außen. Sie ist abge-zäunt, Trep¬pen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, der Pfarrhof aber ist leer. Auch nachts brennt kein Licht mehr hier. Der Blick, der da hinauf¬geht, die Treppe hoch, durch die Luft über die Mauer fliegt, ist wie abge-schnitten. Und da fiel mir der Traum dieser Nacht ein: Ich hatte geträumt, dass ich nach Hause wollte, das gelbe Gassentürchen war auch offen, sogar das Hoftor hinter dem Rosskastanienbaum, es war auch Licht zu sehn in der Diele, deutlich sah ich es durch den dicht gewachsenen Efeu, Herzblätter; doch als ich klingelte, die Klingel direkt über einem weißen Porzellanschild "Transsylvania Versicherung", da hörte ich das Klingeln drinnen im Vorzimmer und in der Küche, doch niemand öffnete, alles war totenstill. Ich ver-suchte auf meine Weise ins Haus zu kommen. Wo der Efeu an der Wand hoch wächst, an dieser mit scharfkantigem Mörtel verputzten Wand mit ihren tausenden kleinen Betonschüsseln drückte ich fest zu, die Handballen wurden dabei blutig, und wollte die Mauer durchdrücken, dabei wurde es kälter und kälter, und langsam, langsam verwandelte sich die Wand in weißen sauberen Schnee. Ich kam immer tiefer in diese Schneewand hinein, schrie, als wäre ich von einer Lawine verschüttet worden, und als ich versuchte, wieder herauszukommen, gelang das nicht, ich kam nicht mehr heraus, und auch hinein ins Haus kam ich nicht, langsam fror diese Schnee- und Eismauer zu, drückte mir den Atem ab! Und schreiend erwachte ich ...
3
Dämmer im Kopf, schon als Junge, den ersten Becher Wein, Dreikäse¬hoch, und reichte mit den Armen grade eben hoch auf die Tischplatte, da stand ein Weinglas, ich nahm es und trank es aus, mein erster Rausch, Nade¬scher Wein, mein Gott, das Künd, schrie die Oma, "Weinland", ha, und mit Großvater im Koberwagen, Pferde schnauben, Pferdeduft, sie äpfeln, ich darf kutschieren, Großvater zeigt es mir und zeigt auf die Kontur der Berge... Ja, wir sind da, in ei¬nem Jahr, in zweien, in hundert Jahren, in tausend, nahe am Herzberg die Kirchenburg von außen und abgezäunte Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, unser Pfarrhof, ich hatte da mal mit Großvater, dem Tierarzt, gestanden, kam zu seinen Patienten, den Pferden, Schweine quietschten, dieser pene¬trante Gestank der Ställe, Kot erinnerst du am ge-nausten, ach, die Made¬leine, dort der Stall, ach, da waren wir drin gewesen, aber der Koben ist leer, alles so leer, dass auch ich kaum begreife, einfach den Kopf ducke, Staub und alter Mist rieselt in den Nacken, Kitzel, stinkt, und du liegst auf den Knien. Nichts wirklicher als ein Schweinestall im Traum... Meine Leute aber hielten ihn für die größte Sünde, den Geruch, mein Hund nicht, mit Wollust saugt er ein an Welt, wo sie am stärksten nahe kommt, im Ge¬stank, weiche Materie, wälzt sich darin, der Schweinehund. Den mussten sie töten, ja, das Gewissen nannten sie in der Nazizeit so, sehr geschickt, es mit dem Analen zusammenzubringen, und mit dem Sauberkeitswahn. Wir halten sie uns fern mit den Augen, alles andere ist unfein. Gro߬vater pflegte über sein Dorf zu sagen: Augen schöne Fensterlein, Augen.
Ach, mein Dorf, ach, Denndorf. Da war ich mit Hannah auch gewesen, vor einigen Jahren war das gewesen: Aber da hängt jetzt ein Schleier davor wie der trübe Himmel da oben, die Augen: Vergeht es dir?
Damals 90, gleich nach der Revolution war ich mit Hannah über Schaas und Trappold auch nach Denndorf gefahren, wo ich vor vielen Jahren Lehrer gewesen war; ich wollte mich nicht zu erkennen geben; wir gingen zuerst zur Kirche und zum Kirchhof, viele Namen, die ich kannte. Der schöne große Pfarrhof, Gras wucherte im Hof, er war verlassen. Der Pfarrer der Nachbargemeinde versorgte die wenigen Sachsen. Auf der Hauptstraße sah mich eine ältere Frau mit einem Kind an der Hand durchdringend an, dann fiel sie mir mit einem Schrei um den Hals, „Herr Liehrer!“ Eine ehemalige Schülerin, die damals 10 gewesen war, sagte: „Hier, dies ist meine Enkelin.“ Und ich musste natürlich mitkommen, bekam zu essen und Tzuika zu trinken. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, „der Herr Liehrer äs kun!“ Sie begrüßten mich mit Tränen in den Augen. „Sie sind noch zur rechten Zeit gekommen, Herr Lehrer, in einem Jahr hätten Sie hier niemanden mehr vorgefunden. Nur sechs Familien wollen noch bleiben, alle, alle auswandern. Wir haben hier keine Zukunft mehr, die Kinder wollen nicht bleiben! Viele sind schon in Deutschland. Ja, vor zehn oder fünfzehn Jahren! Aber jetzt ist es zu spät! Wir sind kaputt, das viele Arbeiten nach der colectivizare, und der Nervenkrieg jahrzehntelang! Aber es wird dort in Deutschland eine große Umstellung brauchen“, sagen sie, „wir werden dort alle seelisch zu Grunde gehen… von hä aus der alden Gemien, der alten Gemeinde in die großen Städte des Westens…“
Als wir abfuhren, standen sie da und winkten, wein-ten; so werden sie auch beim endgültigen Abschied und für immer gehen, das Haus absperren, wozu noch? Ein letzter Blick ins Zimmer, auf die Scheune, den Hof, wo sie ihr Leben zurücklassen. Fort, nach Deutschland, wo sie fremd sind! War es Großvater nicht ähnlich ergangen, als er „für immer“ sein Baiergaßhaus verließ! Bei mir war es anders gewesen, ich fühlte mich frei, es war wie ein Rausch, kein Blick zurück, der Blick zurück kam dann jahrzehntelang nach, und hat auch jetzt kein Ende gefunden!
Und dann
Nach einem Jahr nach zweien
Vernarbt der Flüchtling in uns
Nachts zwischen zwölf und eins
Geht er manchmal noch um
Tastend die Hände verletzt
am Grenzpfahl
Irr ich kann es nicht fassen das Land
Hinter der Tissa der Theiß.
Und dann
nach einem Jahr nach zweien
Bricht das Herz
von der Stange
Über sich selber den Stab.
Und ich sehe diese langen Lakel vor mir, Väter meiner Schüler in Denndorf, als ich dort Lehrer war, da stand ich mit dem Misch, dem Gunnesch Misch, der so schön das Flügel-horn blasen konnte, im Schweinestall … auch er, wie fast alle sächsischen Wehrpflichtigen, war bei der SS, er aber war bei den KZ-Wachmannschaften gewesen. Und er sagte plötzlich und wie aus heiterem Himmel, als müsse er eine große Last loswerden: „Herr Liehrer, sängt ech dat do gesähn hun, kon ech nemmi schloofen! Herr Lehrer, seit ich das dort gesehen habe, kann ich nicht mehr schlafen!“
4
Nur noch einige Kilometer bis Schäßburg. Viel zu rasch geht alles. Die Distanzen sind so klein. Früher der Pfer-dewagen. Da brauchte man Stunden. Und jetzt das Auto... in der alten Kokellandschaft, der Wench, ja, Wench, was heißt Wench?
Am Ufer der Stadt zu, die man noch nicht sieht, sie ist hinter dem Berg mit den Friedhöfen. Hinter den Berg, denk ich, werde ich nicht mehr kommen; am Ufer eine verlassene Industrieanlage, früher Schussfahrt auf Schiern. Die Gegend war ja einmal dicht mit meinen Erinnerungen besetzt, mit je-nem Kind, das ich nicht mehr bin, das aber immer noch in mir ist. Schneegeruch? Was löscht da aus? Ich biege rechts ab, fahre an Viehställen entlang, ein Zigeunerlager. .. den alten Bezeichnungen nachfahren, die in meinem Hirn platzen: Hula Daneşului, Atelshill, Versunken. Vergessen.
Aber jetzt wären ich angekommen, hier im „Zuhause“ Mein Gott… Derhiem? Von der Albertstraße bog ich in die Holzmarktgasse ein; und ich erkannte mein Kinder- und Erin-nerungshaus wieder; grünverblichene Jalousien, wie alt-gewordene Augen, niedriges Gassentor, gelbverblichener Zaun, Farbe vom Wetter verwaschen, abgeblättert: unser Haus. Wieso steht es so vor mir wie eine Kreatur und wie ein Schlag ins Gesicht. Im Garten arbeitete ein Mann mittleren Alters, sah über den Zaun, schien misstrauisch. – „Wer sind Sie, was suchen Sie?“ Ich zögerte, stotterte, sagte meinen Na-men!
Freude auf seinem Gesicht? „Kommen Sie bitte herein, auch meine Frau wird sich freuen.“
Es ist nicht mehr Tabu, unser Haus. Früher: das Haus der Se¬curitate. Der ehemalige Folterkeller daneben, die Schreie, nachts, die frühere Landwirtschaftskammer, sie ist jetzt eine Klinik. Erinnerungen fließen, die Wand ist weg. Und da bricht Wirklichkeit ein, fließt wieder.
Ist sie zu stark, diese Wirklichkeit? Jeder Stein ist nah und doch so fern, der Garten, wo ich mein gemietetes Auto parke, komisches Gefühl, jetzt im Garten, wo der Birnbaum, der Apfelbaum mal stand, die Laube, der Zaun zum Senator Lang, jetzt mit dem Auto überfahren, die gleiche Erde, da ist jetzt eine Art Schopfen, ein Hühnerstall mit gackernden Hüh-nern, ein Hahn kräht, alles so eng und klein, und doch so fremd, was schimmert da durch? Das Küchenfenster mit dem Mauervorsprung, ich taste mit den Händen danach, der Mauervorsprung ist immer noch abgetreten, damals von mei-nen Kinderfüßen abgetreten, wir stiegen hier immer so zum Spaß ins Haus ein, und erhielten dafür Prügel, wenn Mutter uns dabei erwischte.
Ganz scheu ging ich ins Haus, Herr Agapie empfing mich, ging mir voraus, als würde ich mich hier nicht ausken-nen; Reise in die Nähe, ins ferne Land der Jahre? Die braune Eingangstür, das Schild Transilvania Versicherung immer noch da, der Klingelknopf der gleiche, die vier Marmortrep-pen, das Vorzimmer, der weiße Spiegel, alles noch da, die Tür zur Diele, der Tisch, die Holztäfelung, und die Nische mit der Holzwand, den Bänken, die aufklappbar waren, rings um den Tisch, wo wir meist aßen, mit den Eltern und Großeltern. Das Speisezimmer, der Kachelofen, die Kredenz, das Rauchereck, alles noch da? Wie ist das möglich? Nur – alles abgeschabt und alt. Armselig wirkte es auf mich. Wir setzten uns an den Tisch, Frau Agapie kam, begrüßte mich herzlich. Wir tranken Tee. Eine Tzuika lehnte ich ab. Zu früh. Fürchtete auch, meine Sinne zu betäuben. Frau Agapie hatte sich fein gemacht, geschminkt sogar, ihre dunklen Haare gekämmt. Sie sah mich noch neugieriger an als ihr Mann. Beide sind Lehrer an der Bergschule, er war eine Zeitlang Bergschuldirektor, konnte aber kein Wort deutsch. Die Töchter studieren in Klausenburg, eine sogar Germanistik. Ich musste erzählen.
„Italien?“ „Ja.“ „Und weshalb nicht Deutschland?“ Ich versuchte es ihnen zu erklären, sie verstanden es nicht, dass ich gewartet habe, also sozusagen in der Vorläufigkeit gelebt, mich sozusagen aufgespart. hatte, jahrzehntelang, um einmal wieder nach Hause zu kommen,
„Und jetzt kommen Sie also nach Hause?“ fragten sie verwundert. „Wissen Sie auch, was Sie hier erwartet?“
Ich erklärte ihnen, dass mich Mutter geschickt hatte, nach den Gräbern und den Häusern zu sehen.
„Die werden jetzt entschädigt, zurückgegeben…“
Sie sahen mich misstrauisch an: „Die meisten Häuser sind ja vom Staat oder von Privatpersonen gekauft worden, wir haben es auch gekauft, vom Herrn Machat, dem Sohn des Professors Machat. Und der hat es von Ihrem Vater gekauft, als Ihre Eltern auswanderten, samt den Möbeln.“
Ich beruhigte sie, es sei Nostalgie, es sei Neugierde, die mich jetzt habe zurückkehren lassen, und der Wunsch meiner Mutter. Und ich hätte mein Geburtshaus in der ehemaligen Baiergasse, Str. 1 decembrie 1918 zurückbekommen, das sei ein seltsames Gefühl….
„Oh, ja. Da, da.“
„Sie können aber hier bei uns wohnen“, boten sie mir an.
„Ja, gerne, ich möchte es ausprobieren, wie es ist, nach so vielen Jahren, hier zu schlafen! Ich danke ihnen von Her-zen, genau das wollte ich Sie bitten, wieder ein paar Nächte in meinem alten Elternhaus zu schlafen, zu sehen, was für Erin-nerungen da hochkommen. Ich möchte darüber schreiben!“
„Wir wissen es, wir haben davon gehört, dass Sie Schriftsteller sind. Und es freut uns auch, dass unser Haus jetzt seine Vergangenheit zurückerhält, zurückerhalten darf … jetzt nach der Revolution! Sie wissen es ja, wer vorher hier jahrelang gewütet hat, welche Leute, was für eine Institu-tion...“
„Ich weiß… die Securitate!“
Ich sagte, ich müsse mich jetzt verabschieden, meine besten Freunde erwarteten mich noch, der Herr Salmen…
„Ach, der domnule Salmen, der letzte evreu von Schäßburg, jaja, den kennen wir. Und auch die Doamna Edith, die Tochter vom Herrn Doktor, dem guten Arzt, ja, das waren noch Zeiten, als der Domnule Doctor mit seinem Instrumen-tenköfferchen durch die Stadt zu seinen Patienten radelte!“
Agapie gab mir noch den Hausschlüssel. Ich nahm ihn wie ein Geschenk, nein, wie eine Reliquie entgegen, und dankte überschwänglich. Agapie sah mich mit einem ernsten Blick von der Seite an.
5
Es ist fast wie ein Krankheitsgefühl, ein Summen im Ohr, mich sozusagen aufgespart. Empfinden von Rekonvales-zenz, hier zu sein, hier, wo in dreißig Jahren täglich meine Gedanken krankhaft wie bei einer fernen Geliebten in diesem abwesenden Kinder-Haus gelebt hatten, Bilder im Kopf, Erin-nerungen, nun wirklich hier sein, keine Vorstellungen nur, sich diese mit diesem Zimmer, der Diele, der Haustür, der Klinke, dem abgetretenen Mauervorsprung im Garten am Küchenfenster berührten, und immer wieder Szenen und Geschichten auslösten, Proust auf aktuelle, ganz verrückte Weise, Waise?
Summen, Erstaunen bei der Wider¬begegnung, jetzt, als ich das Tor öffnete, das gelbe Tor, wie niedrig es ist, alles kleiner als in meiner Erinnerung, vis-à-vis der lange Beton- und geflochtene Drahtzaun zum geheimnisvollen Filipescu-Garten, gleich daneben das hohe violette Haus des Dr. Filipescu, eines Arztes, man sah ihn nie, immer diese Stille, Verlassenheit des Gartens, das Haus, die Läden früher, wie jetzt auch, geschlossen... Ich ging die Holzmarktasse entlang zur ehemaligen Ecatarina Teodoroiu-Strasse, an der Ecke die Camera Agricola, auch sie früher Securitateunwesen, Schreie aus den Kellern,… ging die Straße in Richtung Burg, meinen ehemaligen Schulweg, dort das Heydlhaus mit der Scheune, wo wir Strohburgen, tiefe Gänge, Zimmer bauten. Gleich ge-genüber das Fielkschlösschen, ja, mit dem Türmchen, wo Max, der Max mit dem Luftgewehr… oh, die Schwarze Wand… dem Flobertgewehr, gewohnt hatte, und diese tragi-sche Liebesgeschichte mit dem deutschen Hauptmann, dem Meyer-Göring, und der Rosi passiert war, die sich vor den Russen versteckten, als die hier einmarschiert waren im Sep-tember 1944, ja, Die Eingeschlossenen von Altona in Schäß-burg, meiner Heimatstadt … du altes Zuhause, Gott erhalt dech Scheesprich… Weder Hannah, noch Maria passen hierher in den Raum meiner Erinnerung…
Und die Strasse dem Spital zu, ja, die Ecatarina Teodo-roiu, da hatte doch der Fuge gewohnt, der Busenfreund mit seiner freundlichen rumänischen Mutter… da gab es Palukes mit Marmelade. Und wie oft waren mir da die Erinnerungen hochgekommen, auch jetzt noch, auch heute noch: und das späte Erstaunen, wie da in einem Zimmer und einer Küche, die Hütte ohne Bad und die Eltern und der Junge samt einer größeren Schwester hatten hausen können. Waschschüssel, Plumpsklo, und Unter dem Schopfen, der Garten angrenzend ans Sanatorium Haas, und das winzige Gärtchen mit den wei-ßen Tabaksblumen, und am Brunnen, wo man Wasser holen musste, es gab keine Wasserleitung… Während wir, die „Rei-chen“, das alles hatten, ein ganzes Haus mit Strom, Gas, Was-ser, mehreren Bädern und mehreren WCs.
6
Dann ging ich über den Neuen Weg zu Adam und Edith.
Ich sah auf die Uhr, ich war andauernd stehen geblie-ben, es war nun schon spät, Salmen wartet, sicher wartet auch Edith mit dem Abendessen. Sie werden sich wundern, dass ich immer noch nicht da bin! Ich hatte ja angerufen, dass ich unterwegs sei. Hannah aber nicht mehr mitkomme.
Hoffentlich ist nichts passiert, ein Unfall…? Werden sie denken. Und ich legte noch zu, nahm mir vor, jetzt blind durch die Gegend zu gehen, sonst würde ich bis morgen früh nicht bei ihnen in der Hüllgasse sein. Und ging schnell über den Neuen Weg, stand nach acht Minuten schon vor der wackligen Toreinfahrt des von Regen und Wetter ergrauten „Blankens“, die Entfernungen sind winzig, anders als in meiner Erinnerung.
Die beiden leben in zwei kleinen Zimmern, es ist immer noch die Wohnung von Mariannes Vater, des Arztes. Adam ist der letzte Jude von Schäßburg, der auch die Synagoge betreut und den Jüdischen Friedhof auf der Steilau, vor vier Jahren waren wir, Hannah und ich, zum letzten Mal hier gewesen: Adam war schon damals alt geworden. Wir erzählten von unserer Fahrt, von Hermannstadt. Ich versuchte mit ihnen damals über ihre Erfahrungen hier zu sprechen. Aber sie lebten wie in einer Enklave, alles rauschte an ihnen vorbei. Dann versuchte ich telefonisch mehrere Leute zu erreichen. Und ich wunderte mich in diesen Räumen, dass es mir auch damals vorkam, als wäre ich nicht da! Es war alles wie absent. Taub.. Mein Gefühl erkannte schon damals nichts wieder. Als wäre alles abgeblasst. Die beiden kamen mit dem Bettzeug, verluden alles in unser Auto, kamen mit in die Schaasergasse. Mariannes Sohn hatte da eine Wohnung in einem alten Haus gekauft. In meiner Erinnerung gab es auch den alten Zebli in jener Gasse, den Schuster. Ich sah noch den wackligen Gang, ich brachte ihm als Kind die Kinderschuhe zum besohlen, jetzt steht da eine Textilfabrik. Ich öffnete damals das alte knarrende Hoftor, wir parkten im Hof, gingen die alte Treppe hinauf in die Wohnung, langer Gang, enge Küche, alles Schläuche, zwei Zimmer mit den zwei Fenstern zur Gasse. Ein eigentümlicher Geruch nach alter Kanalisation durchdrang alles. Naja, das Bad. Dann gingen die beiden wieder. Ein wenig enttäuscht wohl, weil wir außer den traditionellen „Spiegelheften“ für Adam, nichts mitgebracht hatten, wir dachten ihnen am Schluss Geld hier zu lassen, denn mit den Geschenkchen aus dem Westen war es jetzt vorbei. Hier kann man ja auch alles kaufen. Aber nein, sagte Hannah, stimmt ja nicht: Das Ange-bot ist immer noch armselig. Doch telefonieren konnte ich mit einer neu gekauften Telefonkarte mit Deutschland. Und auch ein Bankomat war in der Eingangshalle der Textilfabrik, frei zugänglich, der Pförtner ließ mich ein.
Hannah mit ihren empfindlichen Nase und ihrem west-deutschen Reinlichkeitswahn konnte sich schwer an diese Natürlichkeit hier, die Gerüche vor allem, gewöhnen. Fast wäre unser Besuch damals daran gescheitert, sie bekam jeden Tag Kotzanfälle. Ich weiß, noch Großvater war vor 70 Jahren im Streit mit dem Stadtarchitekten Jakobi wegen der Kanalisation gewesen. Auch das Wasser aus der Leitung stank nach Chlor, es war untrinkbar, ungenießbar. Früher war das anders, da tranken wir es gern.
Erinnerst du dich, Hannah, wie wir hier eingefahren waren, damals von Dunnesdorf her kommend, der Müll einfach in den toten Arm der Kokel gekippt wurde. Deponie ohne jede Abdichtung, alles abgelagert, Hausmüll bis zu hochgiftigem Industriemüll…?
Und dann wurden auch Hannahs Ohren strapaziert… Plötzlich begann ein Schwein jämmerlich zu schreien und dann zu röcheln, bis es aus war. Und Hannah begann zu wei-nen und zu schluchzen… Schweineschlachten, schreckliche Erinnerungen aus der Kindheit kamen hoch. Und ich erinnerte mich auch ein Besuch in einem privaten Schlachthaus; im Café am Entenplätzchen hatte mich bei einem früheren Besuch, ein viewer Sachs überredet mitzukommen, er wolle mir zeigen, wie die Stadt „erblühe“. Und dann musste ich in so einem Schlachthof bewundern, wie die armen Schweine quiecksend und furchtbar schreiend mit Äxten erschlagen wurden, weil die elektrische Hinrichtungsmaschine defekt war, mit der sie angeblich schmerzlos durch einen Starkstromschlag getötet werden konnten. Ich sah sie vor dieser Hinrichtung in einem Verschlag wie irr hin und her rennen, weil sie ahnten oder wussten, dass sie bald dran waren. Schweine sind die sensi-belsten und intelligentesten Tiere, dem Menschen am ähnlichsten.
7
Ich ging durch den lang gestreckten Hof, sah nochmals in meine Tüte, in der ich für Salmen Bücher und für Edith doch noch allerlei Sächelchen mitgebracht hatte, verlangsamte meine Schritte, wie armselig diese Mitbringsel mir erschienen, die für sie so wichtig waren, und ich erinnerte mich, wie fremdartig, wie aus einem fernen Paradies, auch mir diese Westsachen einmal vorgekommen waren, als ich noch hier lebte; jetzt freilich nahm auch hier Gottseidank dieser Glanz ab, wurde langsam zum unmöglich zu erfüllenden Bedürfnis; die Sachen lagen sogar in den Schaufenstern, doch niemand konnte sie sich leisten; ich ging die drei Treppchen hoch und stand vor Salmens Tür, klopfte… dann die große Begrüßung und Umarmung.
Der runde Tisch war gedeckt. „Komm, nimm Platz. Wie war die Fahrt? Der Flug? Was ist mit Hannah? Wie fin-dest du das Land?“ Salmen überschüttete mich atemlos mit Fragen, als müssten die vier Jahre, seit ich nicht mehr hier gewesen war ich mit Hannah das Land besucht hatte, aufgeholt werden. Zum ersten Mal war es 1990 gewesen, 15 Jahre nach meiner Ausreise, ich durfte vor der Revolution nicht einreisen, ein Militärgericht hatte mich zu sieben Jahren Haft verurteilt: wegen illegaler Ausreise mit Dienstpass! Und dann vor vier Jahren mit Hannah… da hatte sie diese schlimmen Erlebnisse hier gehabt… Und ich nehme an, dass sie nichtmal so unglücklich war, nicht mitgekommen zu sein.
Salmen war nochmals sehr gealtert; und Edith auch. Doch immer noch war er geistig voll da, seine Neugierde kannte keine Grenzen.
Ich sagte, ich könne mich nicht gewöhnen, hier zu sein, es sei immer noch schwierig, diese vielen Zeitschichten, die über meinem Gedächtnis liegen, abzubauen, es gelinge nicht.
„Ich weiß, ich glaube es zu kennen, nur … als ich bei euch war, habe ich das gespürt. Und jetzt soll das auch hier bei uns so sein; wir können uns nicht beklagen, wir sind arm, unsere beiden Renten reichen kaum, wenn ich die „Wiedergutmachung“ nicht erhalten hätte, ich nicht auch aus Israel Unterstützung bekäme, könnten wir glatt verhungern. Doch es geht! Ich weiß nicht, wie es die Leute hier schaffen, aber du siehst immer mehr Bettler und Straßenkinder, verzeih, neben den herrenlosen Hunden, alle wühlen sie in den Abfalltonnen! Jetzt sogar hier, nicht nur in den Großstädten, in Bukarest vor allem, ist es katastrophal; noch sind wir also nicht in jener Gleichgültigkeit angelangt, es ist noch immer alles sehr hart hier! Fast härter, sagen manche, als zu Zeiten Ceauşescus, weil alles offen ist, du darfst alles und kannst nichts! Aber ich wollte etwas anderes sagen, als ich 1944 aus dem Lager hierher kam, da gingen mir auch die Augen über, ich konnte mich an dies normale Leben einfach nicht mehr gewöhnen, und meinte zu träumen! Weißt du“, sagte er dann wie gehetzt, und alles brach wieder auf, man merkte, er hatte zu lange nicht mehr darüber gesprochen: “Jaja, hier hilft mir jetzt sogar die alte grausame Erinnerung, ich kann vergleichen, ich weiß doch, wie gut es uns in diesem armen, aber normalen Leben geht… der Morgen im Lager war immer am grausamsten, weil wir in die Wirklichkeit erwachen mussten: Unsh beeilen, Ordnung machen und dann die Angst vor dem Tag. Mit jedem neuen Morgen wuchs unser seelisches Elend. Wo ist unser Heim? Wo sind unsere Lieben? Die Wirklichkeit wurde uns immer bewusster, die Möglichkeit zu überleben immer unwahrscheinlicher. Unsere körperlichen Qualen wurden immer größer: aufgeriebene Füße, Wunden überall am Kör¬per.“
8
„Komm, Adam“, sagte Edith, „bitte, fang nicht wieder damit an, ich kann es nicht mehr hören. Weißt du, früher hat er nie darüber gesprochen, und jetzt ist etwas passiert, ich weiß nicht… aber er braucht es jetzt, ist´s das Alter?“
Ich dachte: armer Adam, jetzt kommt der andere Tod. Wie hatte nur Améry einmal gesagt, alles kann man in der Ju-gend ertragen, das Alter ist schlimmer als das KZ. Diente es ihm jetzt gar als Trost? Waren es seine tiefsten Jugenderinne-rungen?
„Ach, wisst ihr“, sagte Adam schnell, „seit ein paar Jahren kommt es bei mir hoch, nicht nur in Träumen. Ihr könnt es nicht verstehen, es hat aber wohl zu tiefe Spuren hinterlassen, und ich weiß nicht mehr, wie ich mich dagegen wehren soll. Immer wieder sehe ich es vor mir, auch dieses, diese erschreckende Ankunft: Wir durchschritten damals das Tor der Hölle im Monat Mai 1944, du warst damals hier, ein Kind von zehn Jahren, ich doppelt so alt – und diese Ankunft im Vernichtungs¬lager … Wisst ihr, es ist unvorstellbar… Riesige Baracken war¬teten auf uns. Sie sind heute noch dort. Tausend und mehr Leute wurden in jede Baracke hineingepfercht…“
Adam machte eine Pause. Und ich dachte… damals hier, damals hatte ich die schönste Zeit meines Lebens… Was war im Mai 1944 hier gewesen? Ich in der vierten Volksschulklasse. War Roland damals zu seinem letzten Heimaturlaub hier gewesen? ... im Mühlenham? Deer Mai ist gekommen… die Bäume schlagen aus/ daaa bleibe, wer Lust hat, mit Soooorgen zu Haus…? Auch unser letzter Mai?
Wir aßen schweigend, man hörte das Geklapper der Teller. Dann begann mich Adam über Italien auszufragen, wie um dem Eigentlichen auszuweichen. Wir sprachen über Be-langloses. Ich erzählte von unseren Segelfahrten im Sommer nach Elba und Korsika. „Aber was schreibst du jetzt?“ Und ich erzählte von diesem Roman „Transsylwahnien“, „in dem wir uns ja auch in diesem Augenblick befinden“, und woran ich auch hier schreiben wollte, „hier, genau in meinem Elternhaus am Holzmarkt. Und dann vor allem in meinem Geburtszimmer im Baruchhaus.“ Das beeindruckte Adam: „Welch Ein Bogen!!“
Und fast scheu sagte ich: „Adam, da kommt aber viel von der anderen Seite vor, du weißt…“
„Ich bin doch seit langem mit Edith zusammen, freilich weiß ich von euren Verwandten… Aber es ist jetzt die Zeit gekommen, wo beides zusammen-erzählt werden muss! Da sind deine Kindheitserinnerungen gefordert… nicht wahr? Worüber schreibst du jetzt?“
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„Ich bin genau da angekommen, wo das Schlimmste für uns Siebenbürger passiert ist, ab Mai 1944, ihr in Auschwitz, wir mit der Galgenfrist bis zum 23. August…
Es kommt mir fast blasphemisch vor, das zusammen-zubringen…“
„Aber nein, gerade diese Blasphemie hat ja Auschwitz möglich gemacht, diese „Familiarität des Bösen“ aus einer wahnsinnigen Naivität!“
„Ja, für uns gab es noch das Skopationsfest in jenem furchtbaren Mai der Vernichtung, vielleicht das allerletzte? Und Onkel A., der Töff, stand damals am Ettersberg, er war Wehrgeologe.“ Da mischte sich Edith ein, und wiegelte nach bewährter Familienart ab: „Nein, komm, lieber sehen wir die Familienfotos in den Alben an… ich hol sie…!“ Und sie schlug diese Familienalben auf: Unschuldig. Die Fronturlauber rührend mit den Kindern, ach so unschuldig-schön. Ostern, dann Pfingsten. Geburtstage. Die Zeit wie abgestanden, Begräbnisse kommen darin nie vor. Auch die Toten nicht. Das Sterbebett nicht. Geschweige denn die Arbeit dort. „Schau hier der liebe, lachende Ali, der Töff…“ „Ja, aber nicht an der Ettersberger Goetheeiche, auf dem Appellplatz…“ „Ich weiß“, sagte Adam bitter: „In der Rinde eingeritzt: JWG (Johann Wolfgang Goethe): Juden werden gehenkt, buchstabiert vielleicht ein Spaßvogel.“ Und Edith: „In Siebenbürgen nur noch vier Monate bis zum Einbruch des Chaos und des Bolschewismus.“ „Ja“, sagte ich, „mein Vater versuchte sich so zu entschuldigen: er sagte: hatten wir uns nicht nur gegen das Chaos gewehrt? Er stand im Mai noch an der Front, dann auf dem Rückzug. In der armen Armee des Heimatlandes, Gottseidank, die anderen waren alle in der SS. „Und diese anderen, die Reichsdeutschen, diese hoffärtigen und eingebildeten Typen mit ihren blitzblanken Sachen und ihrer Schokolade regen mich nur auf“, sagte Vater. Ich bin froh darüber! Und er bekam oft Streit mit ihnen. Hermann aber, der SS-Arzt in einem Frontlazarett gewesen war, erzählte immer wieder, wie er Vater an der Front getroffen hatte, da sei eine Krankenschwester gekommen und habe gesagt: „Herr Doktor, da draußen steht ein verlauster Rumäne und behauptet, ihr Schwager zu sein, soll ich ihn reinlassen?“ Da sei er hinausgerannt, habe „Sles“ gerufen: „Ja, was machst du denn hier?“ Und da habe Vater einen ganzen Tag in einem reinlichen Bett ausschlafen dür-fen.“
Der sonst so redselige Adam schwieg dann. Und ich verabschiedete mich bald. Doch die Bilder gingen auf dem Nachhauseweg in mir immer weiter. Ich sah Großvater ganz nah vor mir, wie er im „Tagblatt“ las, es lag immer auf dem Frühstückstisch neben der Zuckerdose, Grosvater las im hel-len Morgensonnenschein, der durch die Glasveranda strahlend den Raum überflutete. Und dort stand, dass man sich gegen das Chaos des Bolschewismus und des Judentums wehren müsse. Und den Roland, der auf Heimaturlaub da war, hörte ich mit seiner öligen Stimme sagen: „Früher trieb man den Gespenstern einen spitzen Pfahl ins Herz, heutzutage gibt’s Konzentrationslager. Das einzige Mittel gegen Kommunisten und Juden, ihnen für immer den Mund zu ver-schließen, sie an ihrer unheilvollen Tätigkeit wider unser Blut zu hindern. Wir verteidigten dort unsere Lebensform, unsere völkische Existenz. Die Zigeuner gehören mit zum Chaos.“
Roland begleitete damals als Wachmann einen Zigeu-nertransport…
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Nur zehn Minuten brauchte ich von der Hüllgasse zum Holzmarkt. Im ehemaligen Elternhaus auf dem Holzmarkt an-gekommen, setzte ich mich dann gleich an den alten Schreib-tisch und ließ die Erinnerungen nun aufs Papier fließen, schrieb sie gleich hier auf:
„Ich sah mich mit Mutter wieder in die Stadt gehen, zum Markt. Mutter summte ein Lied, als wir am Musikge-schäft unter dem Sandersaal vorbeikamen. Dann an Winter Schorrs Fleischerladen, da hängt ein halbes Schwein blutig am Fleischerhaken; daneben Ollahs Eisenhandlung mit Hämmern und Äxten. Die Melodie aber bleibt. Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn… Denk ich mit Schmerzen, weißt nicht wie gut ich dir bin! Weißt nicht wie gut ich dir bin! Geigen und Trompeten, Mandolinen und eine Ziehharmonika liegen im Schaufenster des Musikgeschäftes an der dicken Mauer. Kannst damit wunderbar spielen, blasen, flöten. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Liiindenbaum. Ich schnitt in seine Rinde so ma-a-a-nchen süßen Traum. Omas Stimmchen wieder, fat wie ein Ohrwurm und Flaschinettel, doch so weh als Gefüjhl, deckt alles zu.. Aber dazu: Vorwärts, vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren… Vor allem in der Morgenfrühe, frisch ist es heut, und die Blütezeit der Himmelsschlüsselblumen; sie schließen auf, wenn über den Feldern die Luft flimmert und glüht, Pimpfe aber sind im kühlen Wald; Waldlauf, Hornrufe, Trompete, Zeltlager. Und dann, wenn der Mond über den Berg kommt - Lagerfeuer. Flamme empor! Karree. Die Meldungen. Lager. Lager. „Von Granada“, sagte Mutter. Lagerertüchtigung. Lager. Lotterlager. Pfui. Und oben im Reich auf der Landkarte ebenfalls Lager, im Wartegau und Bromberg, wo Hermann als Arzt arbeitet. Und nicht weit da-von auch Roland in einem andern Lager, Wachmann, dann Sturmführer. Roland hatte Ja gesagt. „Deutsches Volk, inneres Gesetz neuer Weltordnung. Also Weltvolk. Große Weltwandlung, in deren kosmische Wirbel wir mit hineingerissen werden“, hatte er gesagt, ich fand das dann in einem seiner Briefe; und unser Ortsgruppenleiter hat es auch gesagt. Es stand ja in der Zeitung! Und der Hutmacher Lingner, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, hat es ähnlich gesagt. „Urgestein, eherner Fels eines neu entstehenden gesunden ertüchtigten Volkskörpers, der dem Chaos einer geschichtlichen Wende entsteigt.“
Alle waren sie von einem „Himmelssturz“ überzeugt. Abdi¬chtung und reine Haltung, Volkskörper ist alles. So die harte Aufgabe in den Konzentrationslagern, den KLs, Infekti-onsherde zu vernichten. Führer befiehl, wir folgen dir!
Und als wir an der Apotheke Zur Krone vorbeikamen, wo die Fritzi Capesius, die Wienerin, die Frau vom Vic, vor den Regalen mit den vielen Dosen und Schubladen stand, sie hatte eine Intellektuellenbrille auf, ahnte ich noch nicht, konnte es nicht ahnen als Kind, dass der Vic, ihr Mann, wie Roland auch an einer anderen Front, einer „verantwortungsvollen Front“ im KL in Auschwitz standen. An sich für sie ja fast „ein hygienisches Problem dort, bei streng fachlicher Betrachtung“, hatte Roland gesagt, genau so hatte er es gesagt, als er auf Heimaturlaub im Mühlenham war, von Tante Cäcilie bemuttert und mit der Bohnensuppe, „der Bienensupp, dä schmackt herrlich“, verwöhnt wurde (Menj Boch jubiliert!), Pfingstpredigt und am Kastanienbaum da blühn die Kerzen, holder, holder Frühling, komm doch bald! Omas dünnes Stimmen… Stahlhelm trug man. Im Sommer Käppi mit Totenkopf.
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Adam hatte eine merkwürdige Hoffnung, bis heute. In jedem Augenblick spürte man sie, wenn man mit ihm war, und vielleicht brauchte er diese Erinnerung auch angesichts des Alters und des Todes, der auf jeden wartet, um sich dagegen wieder zu wehren. Wenn er sprach, redete er von den Opfern wie von Heiligen, und wir wussten, wen er meinte: die vielen Toten, deren Tod – so setzte er immer sogleich hinzu, als dürften sie nicht einmal im Wort beziehungslos bleiben und verlassen werden – sie seien unser neuestes Tor zu Gott. Und dann zitierte er Verse wie diese: „O einer, oh keiner, o nie-mand, o du:/ Wohin gings da es nirgendhin ging?/ O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu/, und am Finger erwacht uns ein Ring. Verwerfung“, sagte er dann, „Verwerfung des Menschen, Verwerfung der sichtbaren Erde, aus der der Mensch gemacht ist, so dass nur der ihm eingehauchte Gottesatem übrig bleibt: Gott verwirft den Menschen durch die Katastrophe, sie verwerfen sich durch ihre Taten selbst, die Grenze wird durchlässig.“ Und er zi-tierte und zitierte immer mehr Verse wie diese: „schwer/ in den Untiefen lagernd, die Leiber/ zu Schellen getürmt, zu Dämmen, - die/ Furtenwesen, darüber/ der Klumpfuß der Götter herüber…“ Und er redete immer rascher und rascher, als müsse er ein Riesengewicht von seiner Brust wälzen.
„Viele kamen einfach durch den Lageralltag ums Le-ben“, sagte er: „Man muss sich das vorstellen, dies andauernd Gehetztwerden, von den ersten Pfiffen um vier an, wie ein Trancezustand der Ruhe, das Brüllen: Schnauzehalten, du Hund, du Arschloch, du Idiot, du Schwein… Pakpak, der Knüppel. Der Fußtritt. Kein Moment Pause. Und sinnloses Tun. So etwa Zerreiben von Ziegeln zu roter Schminke. Scheiß ja. Scheißkerl. Der Name haftet. Beschimpfung geht tief, lässt tief fallen. Diese verbale Repression, pausenloses deutsches Schreien der vulgärsten Typen, Kriminelle und SS. Im Frauenlager als Installateur, auch das war ich, überall schickte mich die Kampfgruppe als Verbindungsmann hin…
Wir schickten immer wieder Freunde unter Lebensge-fahr hinaus, einigen gelang die Flucht, andere wurden schrecklich gefoltert und gehenkt. Die, denen die Flucht gelang, sollten die Amerikaner bitten, doch die Eisenbahnlinien nach Auschwitz und die Vernichtungsstätten zu bombardieren. Wir wussten nicht, warum das nicht geschah, waren verzweifelt. Obwohl doch gleich danebenliegende Industrieanlagen von amerikanischen Bombern fast ganz zerstört wurden. Und weshalb auch die Partisanen die Eisenbahnlinien nicht gesprengt haben, konnte niemand verstehen, und das ist bis heute so! Wir waren damals und dort ratlos, entsetzt. Warum? Oh, warum nicht? Und unsere armen Menschen kamen täglich mit diesen Todes-Zügen an zu Tausenden, oft direkt ins Gas.“
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Adam ist alt und krank. Man spürt, wie es ihn an-strengt. Er atmet schwer. Macht eine lange Pause. Er gehört zu den letzten Augenzeugen. Und er bittet mich, das was er erzählt, auch aufzunehmen oder nachher aufzuschreiben. „Ja, tust du das?“ Ich versprach es. Und sagte ihm auch, dass ich an diesem Buch arbeite, in dem wir uns gerade befinden!
Adam ist noch erreichbar, auch wenn sein Kopf aus-sieht wie ein Totenkopf, tief in den Höhlen liegende schwarze Augen, die Lunge ist angeschlagen, das Herz, die zerschlage-nen Knochen sind nicht gut zusammengeheilt, er hat Knochen¬schmerzen, von den eisigen Wintern im Lager, bis zu 37° unter Null, Rheuma, Pneumothorax, er hat nur noch eine Lunge, die Tuberkulose in der andern Hälfte verkalkt, aber er lebt, er ist nicht tot, wie seine Freunde, seine Frau, seine Kinder, seine Eltern; Adam Salmen, der letzte Jude meiner siebenbürgischen Heimatstadt, lebt.
„Das Leben muss weitergehen“, sagte er. Und starrt vor sich hin. Wenn er im Zimmer ist, spürt man nur ihn, er füllt das ganze Zimmer aus, das ganze Haus; seine Anwesen-heit verändert den Raum. Alle verstummen, wenn er ins Zim-mer tritt.
Und wenn er redet, scheint es manchmal so, als rede er nur mit sich, als sei er anderswo, seine Worte sind kaum zu verstehen. Aber er hat seine Röllchen fortgeführt, auch nach dem Krieg.
Und Adams „Röllchen“ liegen vor mir, ich kann sie an-fassen, sie scheinen zu glühen, alles zu verbrennen, Feuer ohne Asche, ich kann darin lesen:
„Nun war es aber gelungen auf der Wiese, der gielda oder bazar gegen Margarine ein als Messer brauchbares Blechstück zu tauschen, sogar Papier und Bleistifte; wenn kein Zigarettenpapier oder Folien zu bekommen sind, schneide ich alte Schulhefte in Streifen und rolle sie. Ich bin aber auch dazu übergegangen, in eine alte Blechdose, die ich auch auf der Wiese tauschte, Papierblätter zu legen, mit winziger Schrift, die ich inzwischen beherrsche. Erstaunlich übrigens, wie die Organisacja funktioniert, sogar Bestechung von SS-Leuten, so dass szybung von draußen und Schmuggeln der von Einwohnern der Umgebung getauschten Dinge durch die filcung am Tor durchkommt. Die dann in eine melina, ein Versteck, wandern; meines ist ein Erdloch unter der Mauer, wo ein Ziegelstein fehlt, ich also jedes Mal die neu angeschaffte Ziegel heraushebe und ans Loch in der Mauer komme. Beim Sonderkommando ist´s nun einfacher, ich lege die Dose unter den Leichenberg, lasse sie einen der Toten halten, den ich mir merken muss, ich präge mir seine Gesichtszüge ein, dachte zuerst, wie makaber, doch das vergeht uns hier, sich mit so was aufzuhalten; dachte eher, dass er so noch eine Weile leben kann: in mir, meinem Gedächtnis. So hatte ich eine ganze Galerie von Totengesichtern in mir aufbewahrt. Jeder Tag ein anderes, als wäre es mit mein Zeuge. Sie halten ja dicht, die Armen, Vergangenen, Gemordeten.“
Adam wurde von einem Scharführer beim Schreiben ertappt. So kam er in die Hölle des „Sonderkommandos“ der Krematorien. Und dorthin, wo am Eingang zur Unterwelt „Ba-deraum“ stand… Und die Stufen hinab, hinab…
Ich sehe die Hand von Mutters totem Freund Vic, wie er zusieht, ja, den Befehl gibt: Ein Scharführer öffnet die Zyklon-Dose und schüttet dann den Inhalt ins Rohr, das Schreien fängt unten schon an, und er schüttet eine nächste Dose hinein! Duschen, der Wasserstrahl anstatt des Gases…
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Sind wir die Nachfahren jener Täuschung? Unsere Wirklichkeit nur vorgetäuscht? Reine unberührte Landschaft, Holzfeuergeruch, Bellen der Hofhunde in der Ferne, die Sterne ungewohnt groß und klar über der Breite, und ich fühlte mich glücklich. - Es war Nacht. Ich sah durch das Fenster in den Garten. Draußen der Schatten des Daches; vom Mondlicht, Scherenschnitte auf dem Gras, schwarze Flecken, einer hatte meine Figur, lag mit dem Fensterschatten unter dem Baum. … ein Toter? Und der Kontrast zu Adams Hölle ist fürchterlich… jenem Zustand entgehen? das gelingt heute auch im Kinderhaus nur selten. Ich rette mich immer wieder in solche Erinnerungen, die helfen ein wenig weiter…
Ein ähnlicher Kontrast blitzt in mir auf: Die Goetheei-che von Buchenwald, wo Goethe picknickte… Und unser Be-such vor Jahren in Weimar, als es noch die DDR gab…Gasthof Zum Elephanten, gegessen mit ganz normalen Spießern, alte, aber billige Suppe, eine Roulade, dachte dabei an Lotte, die Greisin. Und kamen auch nachher nicht weit mit dem Auto in Richtung Buchenwald; auf der Chaussee stellte uns ein Vopo; stand da breitbeinig auf der Landstraße und hielt das Westauto an, blätterte in unseren Pässen. Eine Kompanie der Roten Armee kam den Hang herab. Als wäre nun alles zurückgedreht erinnerungsfrisch wie aus dem Kopf gesprungen, Uhr zurückgestellt, und da ein Trupp Phantome, die das Jahr 45 hier zurückgelassen hatte. Nach einigen Steigungen erreichten wir den Ettersberg: auf dem Appellplatz Risse, schwärzlicher Pulverschnee, weite Betonfläche, Sausen des Windes, Schnitt ins Gesicht; Risse im Beton: scharfe Zacken, ein Baum, eine Buchengruppe abseits, Herzen in die Stämme geritzt, Liebessprüche (ich schnitt in seine Riindee....). Gipfel des Ettersberges, Berg umhüllt, Laub modert nassglänzend, Risse, kein Gras; Beton eiskalt, Schilder, ACHTUNG LEBENSGEFAHR! KOMMAN-DAN¬TUR¬BEREICH, OHNE ANRUF WIRD SCHARF GESCHOSSEN! Flugplatz für ganz andere Tote, die zum Abendappell angetreten sind. Schnee auf Beton, auf dem Appellplatz, Goetheeiche und Baracken, leergefegt der Flugplatz, eisiger Wind und gute Sicht weit ins Land hinab, das Dorf Hottelstedt mit rotem Kirchturm. Die Eiche näher im Blick. Entziffere die drei Buchstaben: JWG. Märzhimmel blass, Sonne kaum erkennbar über Thüringen. Onkel Ali, der Töff,. war einmal hier gewesen, blutjunger SS-Ingenieur, baute Stollen für den Durchbruch in die Ewigkeit, Tausendjähriges Reich; er ein Toter, ein Zeuge: liegt unten in Hottelstedt. Von jüdischen Häftlingen beim Aufstand am 13. April 45 erschlagen. Über dem Beton schaukelt trocknes Astwerk, sieh, Knochen, schöne Knöchlein brechen ab, Unterholz im Schnee, blendet. Über allen Gipfeln ist ja Ruh. Spürest du kaum einen Hauch. Goethe unter den Buchen, sein Spaziergang; an diesem Morgen zu einer Spazierfahrt geladen nach der Hottelstedter Ecke, westliche Höhe Ettersberg, zum Jagdschloss Ettersberg eingeladen. Der Tag überaus schön, zeitig in Weimar zum Jakobstore hinaus, oben auf der Höhe rasch weiter, zur Seite Eichen und Buchen sowie anderes Laubholz." Hier ist gut sein; Goethe ließ halten. Gebratene Rebhühner, frisches Weißbrot, Wein, feine goldene Schale im gelben Lederfutteral auf dem noch nicht vorhandenen Appellplatz, der ist jetzt fast nicht mehr da. Zeitschichten im Hirn, im Gewissen brechen sie erst auf. Zubetonierte Erde kein Hälmchen mehr in der Mondlandschaft, Risse versuchen durchzubrechen zur Erde, du reißt dir die Hand auf, blutig. Und immer noch steht Zeit still, reißt: zugleich: rast: weiter! Eiserne Öfen, Schienen, Bahrenwagen, wie ein Trog, man bäckt, da ist die Menschenform, grauer Staub, lang gestreckter Steinbau, eine Kammer, Betonbau und Pfützen, Betonboden abgetreten, massiv die Betontragbalken, vier Öffnungen, quadratisch..... alles viereckig, appellplatzartig, deutsche Kommandos, Ruh, Komma, fühlest du Komma kaum einen Hauch; im Faust und anderswo, wie Hier, gleiche Worte, das Komma, der Punkt, der Satz bricht aus, übergibt sich, kann nicht mehr, gleiche deutsche Worte und: Komma Strich fertig ist das Mondsgesicht... gewesen, ein Guckloch in die Betonwelt mit Menschen... dicht gedrängt, ganz kahl der Raum, nichts ist drin, kein Raum außer Raum, Leere zum Füh-len nicht gedacht oder zum Gutsein wie edel sei der Mensch hilfreich und gut; Menschen in der Kammer Beton, kantig schneidet er ins Fleisch, hart tot, der Boden hat Betonrisse, Deckel, oben ein Gitter, das körnige Präparat ... die eisenbe-schlagene Tür... Tür wie oft kommt Tür im Wilhelm Meister vor ... gar in Sämtliche Werke ... Wer wagt es noch, einen Grashalm etwa oder gar eine Blume auf der Heiden ... rot ohne Blut in die Betonkammern ... wo Herzschlag oder Augenlicht, Haut und Knochen nackt "saubergemacht" werden sollen? Auch die Nacktheit wird ausgezogen, auch der Leib, auch der wird ihnen ausgezogen, wehe, es lebt noch einer, regt sich, atmet... Linde, Appellplatz, Vögel im Geäst. Es gab den ORT, es gibt ihn noch. Dort war jedes Und und Oder mit dabei. Eine Sicht geht weit hinab nach Thüringen zur Oder. Der Tod hat seither ein anderes Gesicht. Wirf das Buch fort und lies! Hör, wie sie sprechen! Nein, es ist ein anderer, der da redet, den triffst du nie!
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Ich saß gedankenverloren da, als wäre es mir unmög-lich, in der Gegenwart anzukommen, das Bewusstsein dieser Präsenz hier auch zu halten, immer wieder brach die andere Gegenwart, in der ich jetzt lebte, durch … „Du bist doch hier, wach endlich auf!“ hörte ich Adam vorwurfsvoll sagen. Doch was tat er?! Wahrscheinlich sind alle Menschen kaum je wirklich in der Gegenwart und in der Außenwelt, nur einen Augenblick sind sie da, und schon wieder in Gedanken oder von Erinnerungen abgelenkt, ganz wo anders!
Adam erzählte von seiner Tätigkeit bei der Wider-standsorganisation Waadah in Budapest. Auch von jenem Besuch bei der Familie Mendel im Baruch-Haus, wo sie zusammen den Tikkun Chazot gefeiert hatten, erzählte er. Als wir uns noch nicht kannten, war Adam Salmen schon da, war in meinem Erinnerungshaus. Es gibt so seltsame Zufälle und Fügungen. „Berg und Tal kommen nie zusammen, Menschen wohl“, sagte er. Salmen ist fest davon überzeugt, dass all jene Gefahren damals nur besonders starke Gleichnisse waren, Zeichen für einen viel größeren Willen auf der Bühne der Welt. Und schon in unserer Bukarester Kellerpinte (unserer Stammkneipe "Bomba") hatte er mir geraten (denn schon damals schrieb ich an diesem Buch), es doch wenigstens zu versuchen, wenn es denn auf Deutsch sein müsse, das Exil in die Schrift einzubringen, utopisch im Satz, das Exil, als wäre es dem Tode voraus, aufzuheben. Daran maß er alles.
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Inzwischen lebte er ja schon länger unter Sachsen und mit Edith, kannte sich in ihren Seelen aus und war ver-ständlicherweise neugierig zu erfahren, was mit uns los war und auch heute noch ist.
Er sagte: „Diese Unentschlossenheit, die hast du geerbt, transsylvanisch angeschlagen, angekränkelt, sagte ihr ja, so bist du, mein Lieber, Grünauge, so sitzt du da mit zu kurzem Hals und fern der Heimat hier in der Heimat, das ihr Schessbrich nennt. Ja, brichts, brich die Schlehe, kombiniert aus deinem Namen und der Stadt! Warum bleibst du nicht bei uns und zu Hause?“
Manchmal kann er verletzend sein; er spürt jedenfalls die Ähnlichkeit, das ist klar. Hannah und Salmen, beide welt-gewandter als ich. Und was ich als Spott empfinde, das ist ja nur die kleine Distanz. Bin ich nicht auch, wie die meisten Siebenbürger, ein verletzlicher Bauer, schwerfällig und dünn-häutig, ein wenig naiv, leicht reinzulegen. Juden, Reichs-deutsche, Rumänen – alle viel weltoffener. Wir, die Klötze, vertrauensselig, sentimental, natürlich auch gerade und zuverlässig.
„Lass das Spintisieren“, sagte Salmen, Salmen, der mit den dunklen Augen, der mit den tief liegenden Augenhöhlen, wie ein Totenkopf, ja, sieht sein Schädel oft aus, uraltes Volk, man sieht´s ihm an, allen sieht man es an, auch Edith sieht man die Herkunft an, daraus haben die Braunen dann ihren Mord gemacht.
„Warum bemühst du dich nicht mehr um eure Häuser hier? Auch um die andern, nicht nur das „Baruchhaus“, das hast du ja schon…Es ist natürlich schwieriger als Ausländer, müsstest wieder die rumänische Staatsbürgerschaft annehmen! Hast ja nun sogar mit deinem Stiftungsvorhaben Schwierigkeiten, darfst nur Ehrenvorsitzender sein!“
„Du hast es doch längst für mich begonnen, hast es auch weitergegeben, an den Kollegen Morar… ein guter, ge-wissenhafter Mann übrigens.“
„Ja, der ist jünger, ich bin jetzt zu alt dafür, das musst du verstehen…“
„Meine Mutter hat mich gebeten, mich um die Häuser zu kümmern.“
„Na also“, sagte Edith.
Und dann ein langes Schweigen, sie wussten ja, dass Mutter tot ist; und Edith: „Ja, fast hätte ich vergessen, dass es sie nicht mehr gib. Denn es ist unfassbar, sie nie mehr errei-chen zu können, lieber hätte ich gefragt: Wie geht es ihr? Grüß sie von uns, ich komme so selten zum Schreiben. Man gewöhnt sich ja so schlecht daran, dass sie unerreichbar geworden ist; ich habe sie gern gehabt, sehr; und jetzt soll es sie nicht mehr geben…?“
Immer wieder hatte Edith angerufen, um zu fragen, wie es ihr ging, im Laufe der letzten Monate.
„Es geht ihr schlecht“, musste ich dann immer sagen: „sie ist in der Klinik. Ihr Herz macht nicht mehr mit.“
„Ach, ich mag sie sehr. Hoffentlich sehen wir uns noch einmal wieder!“
„Aber sie wird wohl kaum mehr kommen können. Warum fahrt ihr nicht mal nach Deutschland?“ sagte ich dann.
„Ach, weißt du…“, sagte Edith und hob die Schultern.
„Ich weiß, mein Lieber“, sagte Salmen, „ich kenne dich doch, wir sind anders, wir bleiben hier, wir fahren nirgends mehr hin, und wir wachsen hier unserer Erde zu… du "Wai-senkind" aber, du bist der geborene Besucher.“ Und Salmen zitierte eine entlarvende Gedichtzeile von mir... Der Grüne Wagen blüht mir, doch ich wollt ein Haus... Wirklich?“
„Spintisiere nicht“, sagte Salmen wieder etwas ungehalten. „Willst ein Haus? Naja, wer möchte das nicht? Habe mich auch ein Leben lang danach gesehnt, habe fünfmal meine Bibliothek verloren, fünf Staatsbürgerschaften gehabt, immer auf der Flucht. Das begann 1940 in der Bukowina, als die Russen etwas lange blieben, kam ich nach Siebenbürgen, nach Ungarn, nach Wien, nach Auschwitz, dann nach Bukarest, und jetzt bin ich Gottseidank kein Bundesdeutscher "Wiedergutmachungsjude", haha.
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Siehst du, was uns die deutsche Sprache alles beschert... wie genau sie ist!“
„Beschert oder befiehlt?!“
„Das deutsche Alphabet prügelte mir ein SS-Mann mit Lederpeitsche auf den Rücken, es steht immer noch da, willst du es sehn? Auf Deutsch befahl er mir, mich zu bücken, nie-derzuknien, den Kopf zu beugen. Auf Deutsch kam das Kom-mando: Feuer bei vielen Verwandten. – Aber lass das jetzt, Salmen“, überredete er sich: „Die Träume arbeiten für dich. Und du, Ich, weißt es auch. Hier, nimm das Nächstliegende, schreib und sprich von einem ganz besonderen Haus, sprich zum Beispiel vom Haus, das wie eine Frau sein soll, freilich – in jener anderen Sprache, der hassgeliebten hebräischen, unserer Sprache, die den deutschen Minderwertigkeitskomplex so tief berührt. Ihr könnt es nicht verkraften, dass wir nur zu Gast auf der Erde sind, dagegen kämpft ihr ein Leben lang an, es nicht annehmen zu müssen, Ritter, Tod und Teufel, diese gi-gantische Angst, weise sein, weise werden zu müssen, der trotzige deutsche Kindskopf, ich darf es wohl sagen, Templin, gestatte, ich weiß es auch aus der Literatur, aus den Volksmärchen sogar, aber auf meinem Rücken steht´s genauer und deutlicher noch, die immer noch nicht vernarbte Konsequenz. Unsere guten Rumänen hier, auch die Juden, die bei Gott keine Engel sind, sie haben gelernt, sind so lange geschlagen worden, Jahrhunderte-, Jahrtausende lang – bis sie den Tod annahmen. Und nun gehört auch ihr Sachsen dazu. Doch wollt ihr das nicht annehmen, desertiert aus eurem Schicksal in neue Überlegenheit, ins reiche Deutschland! Immer die Sieger, auch in der Niederlage! Die Weisheit der Verlassenen, Verratenen, Vergessenen nehmt ihr nicht an! Aber habt ihr sie, unsere Brüder hier zu Hause, nicht auch verraten und verkauft, verlassen, sag?! Du gehörst hierher, nicht nach Italien, in dein Ausweichquartier.“
„Ja, gut Adam, ich weiß es! Ich weiß es, ich nehme meine Schwäche an, diese Wohnung im Diesseits, sie ist friedlicher hier, eine Wohnung im Wind, wie der hebräische Buchstabe Beth. Ein Haus dieser Art hatte ich ein Leben lang; BETH, es ist ein Lippenlaut, ein Zeichen wie ein Urknall, frei-lich nur die Lippen, die aber aufgehen wie eine Rose, lach jetzt nicht, wie eine Rose oder wie eine weibliche Scham, um jemanden hier einzulassen in die Welt, einen Gast in diese Welt, die sichtbar ist, ein Haus, in dem wir wohnen können.“
... Und Salmen sagte auch gleich:
„Ich lebe jetzt in diesem "Kotez" hier, aber hier ist das andere Haus näher als im Westen. Die Stille, das Nichtsein von vorhin wird durchbrochen, es ist wie die Wiederholung des Schöpfungsaktes.
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Den ersten Abend in meiner alten Heimatstadt ver-brachte ich also mit Salmen und Edith in der Hüllgasse. Und erst spät kam ich wieder auf den Holzmarkt. Agapie hatte mir den Schlüssel gegeben; ein seltsames Gefühl, den Schlüssel zu diesem Haus zu haben, wo ein Teil von mir immer noch zurückgeblieben war. Ich fasste den Hausschlüssel fest an, er bewegte sich in meiner Hand wie ein aus tiefem Schlaf er-wachtes Lebewesen. Ich ging vorsichtig, um niemanden zu wecken, die fünf Treppenabsätze des Hausflurs hinauf ins Vorzimmer, wo immer noch die weiße Kleiderablage mit dem runden Spiegel stand. Jede Berührung brachte neue Erinnerungen, ja Träume hoch, so dass ich meinte, durch ein Dickicht von Eindrücken zu waten. Hier in diesem Vorzimmer handelte ein Traum, den ich nicht mehr vergessen kann... Die Stadt hatte sich ja mit Träumen vermischt, als gäbe es Substantive vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanzgraben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, Frühjahr, Regentropfen, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropfte ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse standen große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Güterzug mit Panzern vorbei. Ein Leichenwagen schien alles einzusammeln, Gras für Gras, und darüber flirrten die grünen und farblosen Libellen. Heiß der Stein. Und ich fuhr über die Brücke, das schwarze Auto blieb zurück, konnte nicht so schnell folgen, doch blieb es unbeirrt hinter mir, und einmal wird es mich einholen und mitnehmen oder überfahren…!. Ein schmaler Weg führte zu einem Haus, die Tür stand offen, ich trat ein. Da war das Vorzimmer meiner Kindheit mit dem Spiegel, ich sah hinein und sah dort einen Bekannten, Niemand; ich war also da. Nicht? Mit einem harten Schlag fiel die Haustüre zu, und ich erschrak gar nicht. Draußen hupte es unterdrückt, trockne Äste im starken Wind fielen vom Baum vor dem gelben Zaun, Staub wirbelte auf. Da kam aus dem Speisezimmer durch die Diele ein Fremder, er ging auf mich zu und sagte, ich müsse ausziehen. Ausziehen? Nein. mich ausziehen. Nackt sein vor dem Tod. Und schnell entkleidete ich mich und fühlte mich so nackt sehr leicht. Doch es war in einem riesigen Raum wie eine Turnhalle mit Kleiderhaken. Auf der Terrasse vor dem Haus standen schon andere Leute, ebenfalls so ausgezogen wie ich, zögernd standen die da, die Terrasse hatte kein Geländer mehr, nur der Maulbeerbaum sah über den Rand, man erkannte die Krone. Die andern sprangen einer nach dem andern in den Abgrund. Ich schaute ihnen nach, aber sie stürzten nicht, sondern sie schwebten...
Ach, dieser Traum vom Ausziehen... Doch das Nackt-sein nicht erregend sondern abgrundtief traurig... Und plötzlich wusste ich, wo ich mit ihnen gewesen war…
Ich ging leise, um niemanden zu wecken ins Herren-zimmer und legte mich ins Galabett.
Als ob mich auch heute wieder im Zwischenzustand von Schlaf und Wachen etwas angerührt hätte, das wie ein Buchstabe war. Sah dann, wie so oft, eine meiner eigenen Ma-nuskriptseiten vor mir, schien in ihr wie in einem Haus zu verschwinden, da gab es Türen und Fenster, Stiegen und Zim-mer, aber alles war sanft-unwirklich, löste sich auf, vertraut und quälend fremd zugleich wie alles hier in meiner alten Stadt! Ich stand im Hof, die Sonne schien aufs Dach des Schopfens, Klogerüche wurden spürbar, ich rutschte das schiefe Dach des Mendel Baruchhauses hinunter, die Ziegel waren heiß, ich pflückte neben dem Gras ein großes M. Salmen stand da und sagte: Siehst du, Muttersöhnchen, musst es nur umkehren, ist ein W wie Widerstand. Dann plötzlich ein Brand, hoch schlug die Flamme aus diesen Seiten.
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Und im Halbschlaf kamen dann wieder die Bilder... aus der Kinder- aus der Herrgottszeit ... Viele Beete, Levkojen, Stiefmütterchen, aber auch Spargel und Krautköpfe, Pe-tersilie, Möhrenbeete, Eiersuchen zu Ostern, die Eier in Büschen versteckt, Flieder, Pfingstrosen, Bajariesen. Warten auf den Heiligen Geist zu Pfingsten, Zittern, wenn die Dienstmagd Roszi den Rock hob. Oder Mariechen nackt in die Wanne stieg und wir am Schlüsselloch zusahen. Wenn wir ein Osterbild mit der Leica schossen, dann zwitscherte die schöne Minch: Achtung ... jetzt, da kommt das Vögelchen. Joi!!
Jetzt fehlte das Prickelnde ... ich fand nur eine kalte abweisende Wand, die Augen sehen zwar diesen Zaun, wo einst der Rappe des deutschen Hauptmanns stand, aber ich sehe alles wie durch mattes Glas; der Rappe wiehert, der Bur-sche striegelt mit einer harten ovalen Bürste den Pferderücken, der deutsche Offizier hebt mich aufs Pferd: ich reite. Vier Jahre später zogen Russen durch die Gasse, ein Major kam ins Haus, Mutter erschrak, aber der Major verlangte nur weiße reine Leinwand, ein Flintenweib hatte einen Jungen geboren, die Nachgeburt, das Blut da auf einem der kleinen Panjewägen, Stroh, Klappern, endlose Kolonnen von Panjewägen, die durch die Albertstraße zogen, arm; bei den Deutschen waren es Panzer, waren es Kradräder gewesen, die rasten da die schnurgerade Straße entlang, berührten kaum den Boden, flogen, sagte Mutter, durch die Kindheitsstraße, wo der Kastanienbaum fehlt, jetzt ist die Staubstraße asphaltiert; keine Bilder kommen, nichts regt sich; sie kommen beim Wachliegen nachts, das Kissen am Kopf, weich, ein Tier, das alte Schlaftier, und der Rost der Eisenstäbe und Gitter der Laube, an der zarte hellviolette Klematis hoch wuchs, rissiger Holztisch, sein Rund, diese raue Oberfläche an der Hand, sie kommt hoch, die Schaukel am Apfelbaum, niedere Äste im Beet, Astern, Löwenmaul gepflanzt nach der Schnur, Erdgeruch dick, und weiße Engerlinge, die sich winden, am Kopf bräunlich wie Zacken die Fresswerkzeuge, er wird mit der blitzenden Klinge der Schaufel halbiert, windet sich in der Furche des aufgegra-benen fettigen Beetes; wir lebten, wir waren da, Prickeln, die Angst im Bauch, in der Nase Schulbodengeruch, schwarz... Und in der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäu-sen, das Badezimmer...Und die Oma sagte: „Schön warm, graulst tea net, menj Jang.“ Nor, antwortete ich: Genau in die-sem Zimmer!
Ich hatte damals Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkel-heit als "Pelzkugel auf der Zunge", aber der Kopf dick, wächst wie eine Wasserkugel, die ich im Hohlraum am Gaumen und an der Zunge schmecke, der Kopf ist auf der Zunge riesen-groß, summt, er, auswärts gewachsen ein Ozean, der Wasser-geschmack.
Wie ein Säugling gefesselt. Es war heiß. Roszi in rotem Rock und schwarzem Leibchen an meinem Bett, wie sie mir Märchen erzählte, Märchen von den Nénis, die fliegen können, und sie hob den Rock hoch, um mir zu zeigen, wie man fliegt… Auf dem Kasten lag Vaters Violine, klirrte und summte, wenn ein Wagen auf der Straße vorbeifuhr, klirrte und summte wie in meinem Kopf. Ich ganz allein mit diesen Bildern, die nur mir gehören… Wo aber sind Hannes und Car-men? Und ihre Bilder…? Ich erschreckte sie, zitierte Geister und Enis, beschwor: „Anna, wo ist meine Rippe…“ Doch die waren ganz anderswo damals…
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Und ich konnte nicht anders, musste jetzt an diese Enis denken… Lichtbilder zu blitzen? (Ich hörte damals verständ-licherweise als Kind immer „Nenis“, Tantchen, Alte). Nachher zu Lichtgestalten geworden, ich sehe ihre Gesichter jetzt vor mir, vertraut, zum Weinen vertraut, aus dem Buch sehen sie mich an, aus einem Album. Fotos aus der Nähe geschossen in Allerherrgottsfrüh bei der Ankunft auf der Todesrampe. Ein Mädchen, es sieht meiner Kinderfrau Roszika ähnlich, sieht mich an; das Gesicht ist rund, um den blutjungen vollen Mund genau jener lebenslustige zugleich wehmütige Ausdruck, den auch Roszika hatte, und Anna ja, und ich kann diesen Blick nicht mehr vergessen, und sie sagte Lälkäm, Liebling… sie sprechen ja alle ungarisch, alle, Jo napod, ja, jo äschtet; es sind doch Ungarinnen wie Roszika, die vom Magyarország schwärmte und vom Admiral Horthy. Alle diese dunklen, schwarzen, dunkelbraunen Augen blicken ängstlich, stolz, alle aber zärtlich, doch vor einem frappierend fremden Hintergrund mit Bahngleisen und Güterwägen und dem Haufen Gepäck, das überall herumliegt, und diese geschniegelten Uniformen, grotesk diese Puffer der Reithosen in Stiefeln, und dazwischen die blauweiß Zebra-Gestreiften, die hier auch Dienst tun. Borowski, Adam Salmen? Unter ihnen? Und die eben angekommenen Landsleute aus Siebenbürgen Fünferreihen: Anna, Erschi, Rahel, Erszebeth, Maria, Susi, Mirjam, Virag - stehen wie vor einem unsichtbaren Halteseil, fest gebannt auf der Stelle, nicht weiter, nach einer Dreitagefahrt ohne Essen und ohne Was-ser…
Siebenbürgen. Das Paradies, wie wirklich ist es … glänzt Erinnerung wie Gold? In der Apotheke Zur Krone; ich weiß, dass auch ich damals oft an meinen Händen gerochen hatte; und rieb sie mit Speichel ein, sie dufteten dann nach Sperma; die Haut, das Haar nass, Regen, es trietschte, Haar strähnig, Wasser über die nackten Knie, es kitzelte und fror; und ich lief in die Apotheke, stellte mich unters Dach, um die Ecke war der Laden, das Geschäft A.V. Hausenblasz, wo mein Vater verkaufte, es gehörte meinem Großvater, der saß im «Kontor», schrieb, eine grüne Lampe brannte, die Registrier-kasse klingelte, und ich konnte wegen des Regens, der auf die Katzenköpfe des Marktes rann, kleine Bäche flossen von der Burg herab, sammelten sich und rauschten in den Straßengra-ben, in vergitterte Abflüsse, leh¬miggelb, - konnte wegen des Regens (eben schlug auch die Stundturmuhr), konnte nicht zu meinem Vater kommen, um die Ecke, und die bebrillte Fritzi Capesius, die Wienerin, die Frau vom Apotheker, rief mich in die Apotheke, und ein großer massiger Mann streckte seine Hände aus, sie rochen nach Formol, und darauf lagen Pfef-ferminzplätzchen, der Hauch frisch, kalt, wie beim Zahn¬arzt. Und im Paradies ist man eben eins mit der Umgebung, alles ist an meine Haut, an die Hände, an die Augen eng angeschlos-sen.
Mein Körper ist zerschlagen. Mutter fühlt meine Stirn, sagte: Du glühst ja, mein Junge, du glühst ja wie Kohle, glähst jo wä Kiel!
Es tanzt ein Bibabutzemann in unserm Kreis herum, diedeldumm. Schweißnass wälze ich mich im Bett. Habe einen Wickel um den Leib und muss schwitzen. Die Uhr tickt. Und es summt im Raum. Viele Stimmen aus dem Speisezimmer. Einer erzählt ausm Reich. Licht kommt näher. Der Kopf wird dick wie eine Schweinsblase und wächst und wächst; ob sie jetzt bald zerplatzt? Ein Wassergeschmack wächst, eine Was-serblase ist innen, das Ohr weich, auf weichem Hasenfell, ein Tier, eine Katze in mir schnurrt und zirpt, eine große Muschel wie die auf Omas Spieluhr, die klimpert los: Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein küüühles Grab... Und das Zimmer wird rund, zirpt, im Blut wühlen die Tiere, und dann galop-piert Vaters fuchsrotes Pferd durch den Kopf, redet wie Fallada, da du hangest... und das Pferd dampft wie der rote Kupferkessel im Badezimmer, Brüderchen und Schwesterchen kochen im heißen Wasser...
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Nichts, Nichts ist vergangen… wo Liebe bleibt, wirkt! Trost, dass eine Veränderung der Vergangenheit nicht unmöglich ist? Jetzt, auch durch dieses Buch? Wir gehen eben über die Bachbrücke... Baden-Gehen? Und ich sehe sofort ein Foto vor mir: drei Mädchen, darunter auch Mutter, knien im Gras, Capesius massig hinter ihnen, und macht ein segnendes Zeichen über ihren Köpfen… Es war Vic-Zeit… nur zehn Jahre später …
Mir wird es warm ums Herz, jetzt wenn ich schreibe, Mutters Foto vor mir, und wenn ich dies junge Mädchen da am Fenster des Baumgartenhauses im Mädchenzimmer vor mir sehe, verträumt und ein wenig wie im Dunst verschwindend, oder in Licht getaucht, unbewegt, ein offenes Grammophon, vielleicht spielt es gerade: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein/ in den siebenten Himmel der Lieeebe… Mich gab es noch nicht, wo ich war? Wo sie jetzt ist! Fürs Kind leicht zu verstehen „Äm Porl“, im Teich, woher dann der Storch dich „aufklaubt“ in den Schnabel nimmt und zur Mutter mit dir fliegt, klar, bei mir war´s das Baruchhaus, das Gassenhaus. Und es wird mir so sehr bewusst, wie dieses Foto von Mutter als junges Mädchen alles zusammenfasst, was man zum Rätsel denken kann, nur durch mich, meine Augen, mein Gefühl, und wie sie mich dann in einem anderen Foto als Winzigling nach der Geburt in den Armen hält, DA, ohne dass ich irgendetwas sagen oder denken könnte, genau so we-nig beim anderen Foto, wo Mutter mit mir auf der Bachbrücke ans andere Ufer geht, ich höre das Klappern der Bretter, vor mir die junge, zwanzigjährige Minch, in die ich damals verliebt war, als Neunjähriger, und Großvater in Hut, Anzug und mit Spazierstock im Vordergrund, den Blick dem fließenden Wasser zugewandt, auch er längst tot, nur noch im Foto hier im Licht?
„Aber ich sage es dir:
Es gibt noch den Fluss mit den Kieseln
Und Wellen wie Sonntag,
Gebimmel, wie soll ich es sagen,
das alles lag vor unserer Zeit,
lag im Nebel der Frühe,
war die nahe Landschaft einer Paradieseszeit.
Sag mir, wie kommt diese Sprachlosigkeit
hier in den Fluss (wir sehn ihn nie wieder!)
sag mir, wie fällt denn der Fluss ab zum Himmel?
Hörst du sie? Es ist sieben Uhr früh
Klappernde Milchkannen
Schon wieder die Stimmen
Ganz fern wie durch Nebel hörbar
Am Küchentischblech aber die Reindl
Weißschäumende Milch.
Alles war früher zu nah,
Und jetzt ist die Zeit wieder da:
DU, dass es mir heute
Den Atem verschlug
Als ich den Boden betrat.“
Damals war ich ein glückliches Kind … genau zu jener Zeit als das geschah… war ich zehn Jahre alt! Ich sah mich selbst als Kind auf dem Holzmarkt. Roland, Ali, auch der Vic waren im Speisezimmer. Rauchend. Klavierspielend. Re-dend. Direkt aus Auschwitz waren sie ins Speisezimmer getreten… Ali aus Buchenwald. Jede Berührung hier brachte neue Erinnerungen, ja Träume kamen hoch, so dass ich meinte, durch ein Dickicht von Eindrücken zu waten. Hier in diesem Vorzimmer handelte ein Traum, den ich nicht mehr vergessen kann... Die Stadt hatte sich mit Träumen vermischt.
Nachts aber habe ich im Schlaf geschrieen. Und hörte wieder die alte Frau Weiß, die Weißnäherin, die auf dem Zu-schneidetisch, auf dem überall ´Spännadeln´ lagen und Stoff-reste, Schnittmuster für die Ewigkeit radelte, auch das Braut-kleid, wie sie sagte: „Es ist eine scheene Hochzeit gewesen. Aber aus war´s, dann, da starben alle Kinder… Da konnte gar niemand mehr und niemand heiraten, nie mehr Nie.“ Und sie wackelte dabei wie gewohnt mit dem greisen Kopf, hatte nur noch zwei Zähne im Mund. Die Singernähmaschine surrte da-zu ziemlich laut. Und sang… bevor sie sich ausziehen musste und in die Gaskammer ging…
Und dann sah ich viele Papierröllchen vor mir, selbst wie kleine Körperchen, die weiteten sich aus und ich konnte durchgehen wie durch einen dunklen Gang, und ich irrte durch Adams Röllchen, hörte auch seine Stimme.
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Und ging dann im Traum mit dieser Stimme über einen ganz normalen Friedhof; Tausende von Namen, Daten. Aber die Asche… Die Asche in der Weichsel., in der Sola…Grosse Haufen, Berge von Asche. Ein Kilo Asche pro Mensch, die sind ganz wo anders, nicht auf dem Friedhof. Und erwachte aufgeschreckt von einem hohen Summton wie fünfundsiebzig Stunden vor dem Tod. Stehe mit trocknem Mund auf, ging in die Küche, um Wasser zu trinken, musste durch die Diele… und wieder kamen die summenden Bilder…Genau in diesem Zimmer war es, genau hier im Speisezimmer, nein, es war in der Diele, September 1944 war das gewesen, wir schon unter den Russen.
Auf der Gasse waren damals lange Trauerzüge zu se-hen gewesen, die sich langsam durch die Stadt bewegten, zur Stadt hinaus auf die Steilau. „Sie begraben eine grünliche Sei-fe“, hieß es damals. Seife mit den Initialen RJF.
Alles scheint wie in Asche und Rauchgeruch getaucht, auch der Geruch der Blumen, der Maiglöckchen, des Jasmin… Und das so schön flackernde Feuer im Backofen oder in der Küche, ein Holzanbau, wo Oma kochte, mit den Mägden hantierte.. dieses Feuer…flackernd, gab schwarzen Rauch manchmal aus dem Kamin ab, wo sonst der Uhu saß…, schlugen in meinem Traum Flammen hoch in den Himmel und röteten die ganze Gegend.
Adam sagte: „Weißt du, mein Leidensgefährte und Freund, Dr. Mauritius Berner, der Arzt und Freund auch der Baruchs, der hatte seine Ordination in Târgu-Mureş, Ma-rosvásárhely, er hat seine Frau und seine drei Kinder in Birkenau für immer verloren, er hat einen Bericht verfasst, der sehr genau beschreibt, was damals geschehen war, auch in der Stadt selbst, ich habe ihn hier, er hat die ganze Leidensge-schichte beschrieben, und bei ihm kannst du es nachlesen …Hier, die Berichte, die ich alle aufbewahrt habe, inzwischen sind alle Augenzeugen tot, ich bin der einzige, der noch lebt.“
Und ich las in den „Röllchen“ angespannt im Morgeng-rauen die große Schrift des Dr. Mauritius Berner: „Da wurden eines Morgens, eines kühlen frischen Morgens…“ (Und ich fühle auch jetzt genau diesen frischen Morgen zu Hause, und die klare Harghita ist zu sehen, blau… genau an dem Tag hatte ich, der Zehnjährige sie gesehn, nur 50 Kilometer von Târgu-Mureş ist Schäßburg entfernt… ich sah die Harghita blau in der Ferne …) Und Mauritius Berner sah damals wohl das gleiche wie ich: „…die Hargitha war klar zu sehen, da wurden Plakate geklebt und der Ausrufer ging durch die Strassen und rief, es sei Juden verboten, unter Androhung sofortiger Inhaftierung, den Verkehr jedweder Art mit Christen zu pflegen. Juden ist es unter Androhung sofortiger Inhaftierung verboten, Christen zu grüssen, Grüsse zu erwidern, mit ihnen zu sprechen, mit ihnen Korrespondenzen zu unterhalten, ihnen Gegenstände zu übergeben oder von ihnen entgegenzunehmen… Juden ist unter Androhung sofortiger Inhaftierung verboten, öffentliche Plätze zu betreten – Theater, Kinos, Restaurants, Cafés, Schulen, Parkanlagen, die Post, das Rathaus oder die Bibliothek. Die christliche Bevölkerung ist angewiesen, gegen Juden Anzeige zu erstatten, die einen der vorgenannten Orte betreten.
Und am 3. Mai 1944 um 3 Uhr früh kamen dann die Lastwagen, Polizisten und Gendarmen vor die Häuser der Ju-den gefahren und vermittelten den Befehl: Binnen 20 Minuten müsse jede jüdische Familie mit 50 kg. Gepäck das Haus verlassen. Der hahnenbefederte Militärpolizist überwachte das Aufladen unserer Möbel und Sachen auf den Bauernwagen. Hausrat, Lebensmittel, Bücher. Holz. Es musste schnell gehen, denn in zwei Stunden hat die Stadt judenfrei zu sein.
Die Nachbarn glotzten. Viele hatten die Roll-Läden heruntergelassen.“
Und Dr. Ladislaus Szücs, ein anderer befreundeter Arzt aus Târgu-Mureş, Marosvásárhely, schrieb (alle, alle schrieben sie…): „Die Deportation der Juden begann (…) Unter Frauen- und Kindergejammer haben wir uns fertiggemacht. Inzwischen hat eine sich durch die ganze Stadt windende Kavalkade aus der jüdischen Bewohnerschaft der Stadt gebildet… eskortiert von ungarischen Polizeischergen (…) Ich befand mich mit Hedy in der Reihe neben unserem Rabbiner Dr. phil. Franz Löwy, einem hochgebildeten Theologen und Europäer. Er zitierte den `morturi-te-salutant´-Spruch dem Polizisten, der ihm mit ´Leck mich! ´ antwortete (…) Als wir an der katholischen Kirche vorbeikamen, drehte sich der Rabbiner zu uns und sagte: Seht ihr, wenn auch unser Planet von Kirchtürmen wie ein I-gel bespickt ist, konnte die Religion bis jetzt das Tierische im Menschen nicht besiegen.
Ich erwiderte: Bitte, Hochwürden, die Tiere nicht zu beleidigen, denn die töten ihre Artgenossen nur unter Zwang.
Ich ging mit festem Schritt, an dem uns anstarrenden Pöbel vorbei, der uns in dichten Reihen meist teilnahmslos anglotzte. Ich sah lediglich eine ärmlich gekleidete Frau, die ihre Tränen ab¬wischte.“
Und Dr. Berner schrieb dazu: „Die bisherigen Wochen waren schon ein Drama, aber jetzt begann das Kalvarium. Wir wurden in die halbverfallene Ziegelfabrik gebracht, obwohl es auch bessere Vorschläge gab. Hierher zogen 6.000 Personen ein.“
Und Dr.Ladislaus Szücs: „Die meisten, wie auch wir, bauten sich aus Bettlaken ein Zelt. Um die Ziegelfabrik erhob sich ein Wall aus jahrzehntelang ange¬häuftem Ziegelschutt, eine gute Möglichkeit für die schaulustigen Arier, der amei-senhaften Tätigkeit der Verdammten zuzuschauen. Für die Kranken war in der Synagoge der Stadt ein Notkrankenhaus eingerichtet worden, wo wir Ärzte täglich unter sehr pri-mitiven Umständen Dienst leisteten. Da traf ich meinen Onkel Izsak, der dann noch auf dem Transport im Waggon starb, den her¬vorragenden schlaksigen Internisten und den schon bejahrten Dr. U., der noch im Krankenhaus Selbstmord beging. In einer Ecke traf ich unsere ehemalige Nachbarin, die Ehefrau des Bankdirektors und engagierten Sozialisten J. H., die - wie sie mir angab - noch nie in einer Synagoge gewesen war. Zwar war die Bewachung mangelhaft; trotzdem hat niemand zu flüchten versucht, wobei manche - wie wir auch - ahnten, was auf uns zukommt. Der Name »Auschwitz« wurde schon hie und da flüsternd genannt. Wie eine Zwangsjacke hatte sich die Passivität unser bemächtigt. Wir waren eine kopflose Herde auf dem Weg zur Schlachtbank. Lag es vielleicht am Fehlen der aktiven jugendlichen Jahrgänge? Wer weiß es? Heute kommt es mir grauenhaft vor, wie wir uns ohne Widerspruch fügten. Ich kann selber mein damaliges Selbst nicht mehr verstehen.“
Und schließlich das Zeugnis von Ella Salomon: „Im Ghetto damals diese furchtbare Enge. Das ganze private Le-ben lag offen: Kochen auf dem Platz, Schlange stehen vor der Toilette, Familien beim Abendessen, beim Waschen, beim Zu-bettgehen, Frauen, die ihren Babys die Brust geben, Väter die weiter ihren Söhnen die Schrift beibringen.
Ein Pochen an der Tür nach Mitternacht. Polizisten. Der Vater hatte sich am nächsten Morgen mit einem Ruck-sack am Tor zu melden. Wir waren wie erstarrt. Alle Männer zwischen 18 und 45 wurden von ihren Familien getrennt. Es blieben nur die Alten, Psalmen singend.
Und dann wurden eines Tages Tische aufgestellt. Ein schnauzbärtiger Gendarm hinter dem Tisch. Jeder Fetzen be-schriebenes Papier war abzugeben. Die Juden gehorchten vol-ler Angst. Lange Schlangen, Menschen mit Büchern und Do-kumenten unter dem Arm. Es waren Gebetbücher, Bibeln, Schreibhefte, Notizbücher, Schulhefte, und Geburtsakten, Taufscheine; manche hatten Fotos, Familienalben, Pässe, der Talmud, ja, die heiligen Thorarollen. Eine Art soziale Nackt-heit wurde hergestellt, die Identität wurde uns genommen. Berge von Papier. Heiratsurkunde der Eltern, der Grossel-tern…
Am Nachmittag das Furchtbare. Wilde Flammen aus den Bücherstapeln, dunkle Rauchsäulen, ja, kleine Rauchsäu-len, später waren sie viel, viel größer und sie stanken; anfangs nur Asche- und Russpartikel in der Luft und dieses Knis-tern im Freien. Dort eine Thorarolle… Folianten, in Leder ge-bundene Psalmenbücher, dort auch ein Tefillin, Gebetskap-seln, und die Bilder meiner Grosseltern, das Heiratsfoto mei-ner Eltern, Asche. Asche. Als spürte ich sie im Mund: Asche.
Davor der Rabbi mit der Totenklage: Wehe der Generation, die mit ansehen muss, wie ihre Thora zu Asche verbrannt wird. Él malej Rachamim. Und zerreißt seinen Mantel. Alle Männer zerreisen ihren Mantel.“
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Ich las alles so, als wäre es ein Alptraum, konnte es nicht glauben, dass dieses alles in der Zeit meiner glücklichen Kindheit geschehen sein soll! „Erwachte“ dann "wirklich" in diese Zeit des neuen Jahrtausends; tausend Jahre seit damals?
Es war also spät; ich rieb mir die Augen, und war froh und erstaunt hier im alten Herrenzimmer zu sein; wachte ich oder träumte ich? Nein, ich war da, ich ging ins Bad, duschte, und frühstückte; die netten Lehrer sind in der Schule; sie ha-ben mir im "Speise¬zimmer" schön ge¬deckt. Damast. Ich bin "Ehrengast". Im Kühlschrank finde ich wie früher Butter und Milch. Ein Pferdewagen rollt eben vorbei. Und ich denke dar-an, dass sich ins Vergangene kein Bogen schlagen lässt, zu 1944 nicht und zu 1950 nicht, als wir noch hier wohnten. Der Abgrund unübersprungen, es ist alles anders, unauffindbar im Wirklichen, wo ich jetzt bin, hier die Wand, das Fenster, es ist mir klar, es ist nicht mehr dieselbe Wand, nach fünf Jahren wechselt auch der Mensch sein Zellkostüm, es ist ganz neu; ob das auch die Mauern, die Bäume, der Himmel tun; diese Gasse, dieses Zimmer…? Doch auf der Zeile gehe ich hinüber, auf der Zeile, es muss nicht die Marktzeile sein, die es nicht mehr gibt, nein, hier, genau hier, gehe ich gut hinüber… fast unverletzt.
Worte fal¬len mir ein, und ich „sehe“ sie auch, hier jetzt: Speisezimmer. Gelber Kachelofen, aber der summt nicht wie früher; die Glas- und Schiebetüre zum Herrenzimmer ist offen. Alles noch da, die Vorhänge, das Rauchereck, sogar das alte Spiegeltisch¬chen meiner Mutter, braun, an das ich fasse, als wollte ich so den `Durchbruch` erzwingen, die Zeit zusammenfallen lassen in einer Fin¬gerberührung. Kindermagie?
Obwohl sich die Agapias rührend be¬müht haben, alles so zu erhalten, wie es einmal war (weshalb eigentlich?) - liegt über allem eine fremde Schicht von Unerkennbarkeit; die Jahre, die At¬mosphäre; es sind nicht nur die Nägel, von Securitateleuten, die einmal hier gewohnt hatten, in das Furnier der Schiebetüre geschlagen, oder die Parketten, die von ihnen mit Linolöl eingelassen worden waren, nun schwarz wie ein Schulboden aussahen, nein, es liegt auch in mir selbst... "Zu Hause" in der Holzmarktgasse...? Frei, nicht im Irrenhaus, nicht in Agliano in der Fremde? Oder in einer Zelle?
Etwas hat sich in mir ver¬ändert: Die Angstwand ist weg. Die gibt es nicht mehr. Diese Kluft, die¬ser Abgrund zu unserer Kindheit, Capesius, der Feuerschein über der Land-schaft oder später die Folterer hier; Capesius, die Securitate gibt es nicht mehr; im Kopf aber, ja, da ist sie noch da, diese Wand, wie die lange vergangene Zeit, die eine Mörderin ist wie der Tod … Es ist unmöglich, unter diesen Umständen „zu Hause“ zu sein. Es gibt keine Rückkehr, es gibt nur noch die letzte, die allerletzte Heimkehr…
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Und jetzt blitzte es mir, wie ein anderes Feuer durch den Kopf: Mircea! Ja, klar, deshalb hatten sie mich doch da-mals in Bukarest geholt. Ich sah das schmale Gesicht, die in-telligenten leuchtenden Augen Mirceas vor mir. Bei Gertrud, Ediths Schwester, in ihrer kleinen Mansarde am Rosettiplatz im siebenten Stock. Ich saß mit Mircea etwas abseits auf ei-nem Sofa in der ärmlichen Mansarde. Mircea hatte ein paar beschriebene Blätter seiner Aktentasche entgenommen; ich las und erschrak: es waren Satiren auf den Diktator. Ob ich es wagen würde, die harmlosesten vielleicht, irgendwie in der Zeitschrift, wo ich damals Redakteur war, „unterzubringen?“ meinte er. Ich sah mich um und sagte flüsternd: „Ja! Aber ich müsste mehr davon sehen. Um im Versteckspiel mit der Meta-pher die Zensur hinters Licht führen zu können!“ Zum Glück aber hatte ich dann keine der Seiten mit mir genommen. Am nächsten Morgen schon kamen SIE, war Mircea von ihnen verhaftet und mit dem Auto, verhängte Fenster, nichts mehr war zu sehen gewesen… abgeführt worden…
Und damit begann auch meine Angst- und Verhörspha-se mit „IHNEN“.
Es war ein Abend gewesen, auch diesmal mit Adam, in unserer Lieblingspinte, einem fensterlosen Kellerraum. Adam Salmens Gesicht vor mir, Adam mit der runden Omabrille, wie eine doppelte Lampe die dunklen Augen. Adam. Auch er erzählte gern. Und dichtete. Schrieb. Auch unter Lebensgefahr - die „Röllchen.“ Und so war er seelisch am Leben geblieben. Nur so kannst du mich jetzt noch vor dir sehn, Herr Genosse! So alberte er mit dem tödlichen Ernst. Doppelbödig seine podolisch-jüdische Intelligenz. In den Augen immer ein kleiner Schalk. Wir tranken aus Wassergläsern Moskowskaja Wodka. Er erzählte von Eliade, „was, du kennst Pe strada Mântuleasa nicht?“ und dann flüsternd: „Du mußt die Geschichte unbedingt lesen, es ist so, als wäre es deine und Mirceas Geschichte!“ Und Adam sah mich komisch von der Seite an: „Da ist ein Held, der andauernd Geschichten erzählt, die SIE zu entschlüsseln versuchen, die Geheimpolizei¬philologen…“ „Die Geheimpolizeiphilologen?“ „Ja. Du kennst sie noch nicht?“ Und wieder sah er mich an, als wäre ich ein Baby. Und so war das, als wir dann hinaustraten auf die Straße, wer hatte mitge-hört? Plötzlich kam ein Mann auf uns zu, schrie uns an: „Ich habe genau gehört, was ihr geredet habt, ich zeig euch an, ich ruf die Polizei!“
Immer wieder kommen diese Szenen mit Mircea hoch... mit den Manuskripten ... seinen Satiren. Eine Woche nach Mirceas Verhaftung holten SIE auch mich. Das Verhör am Anfang, das Verhör. Du zitterst. Du schreist. „Ich weiß nichts“, schreist du. „Du weißt“, brüllen sie dich an. „Wir wissen es, dass du es weisst, red, du verdammtes Schwein! Wo ist dieses dreckige Buch, wo ist das Manuskript von Mircea Palaghiu? Er hat alles gestanden, er hat alles ge¬sagt, wir wissen alles, hier...“ Und der Knollengesichtige zieht eine Schub¬lade auf, „hier, siehst du dieses Protokoll, da steht alles schwarz auf weiß: steht; bestätige es und du bist frei. Frei! Wo hast du es versteckt, das Drecksmanuskript. Dein Freund ist längst dort, wohin er hingehört: du weißt, die Hölle, der Kanal, du, sein Komplize, du weißt. Die Hölle der Kanal. Du, sein Komplize, Staatsverrat, rede oder du darfst ihm Gesell-schaft lei¬sten.“ Und so war es dann, auch ich kam für eine Zeit in diese Wahnsinns-Mühle… Und die Narbe am Unterleib, die manchmal noch brennt, sich zu bewegen scheint, zeugt immer noch davon… wie ein Bauchschuss war´s… nein, nicht im Verhörraum geschah es, es war unten im Keller, da wirst du für das Verhör präpariert … von Mitgefangenen…
In der Nacht holten sie mich also in den Keller… zwei Stiefeltritte in den Bauch, ein Schlag mit einer Eisenstange, Schnitt mit einem Messer… das reichte, es war „der Nach-tisch“, wie einer höhnisch und grölend sagte… nachdem sie mir die Zigaretten auf dem Arm ausgedrückt, mich einmal auch hochgezogen hatten, die Peitsche, ich höre, ich spür das Klatschen… der Bauch war aufgeschlitzt.. Ich verlor das Be-wusstsein in rasendem Schmerz… Und erwachte in einem Krankenzimmer … zusammengeflickt…
Zur Folter gehörte auch die Scheinerschießung: In den Gefängnishof an die Wand geführt, gefesselt, Augen unver-bunden, das Stehen, das unendliche Warten… dann das Kom-mando, und… da, ein kleiner Vogel, der nicht mehr aufflog, in der Luft auf der Stelle surrend blieb, der Regentropfen auf meiner Wange, das Rauschen der alten Bäume im Sommer-haus… War dieses also die „Freiheit“, die „Befreiung“… höhnte Vater…
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Doch hatte Vater nicht auch immer wieder gesagt: „Nun waren wir frei, als die Roten kamen und uns alles wegnahmen, da war der Plunder weg, der Besitz, der uns ein Leben klang gequält hatte. Und ich ging gern weg aus dem Geschäft, wo mein Vater mein Chef war, und ließ mich im Staatsgeschäft anstellen… Wir waren plötzlich leicht und frei, auch wenn wir Angst hatten und der Verlust wehtat, ein ganzes Lebenswerk… verloren… wir verloren, aber wir waren ja schuld, hatten mit dem Teufel mitgeheult, und was hatten wir in der Ukraine gesucht? In Stalingrad, am Don, vor Moskau. In Kiew. In Odessa.“
Als wir den Krieg verloren, wurde alles fremd. Und Vater hatte mich einmal gefragt: „Und was würdest du sagen, wenn wir den Krieg gewonnen hätten…?“
„Um Gotteswillen…“
„Aber wenn…“
„Um Gotteswillen…“
Es war nicht mehr unsere Stadt. Wir hatten Angst auf den Strassen. Und ich weiß noch, wie wir mit Hannes, dem damals kleinen Hannes in den Baumgarten gingen, liefen die Purdis und andere Halbwüchsige mit laut knallenden Peit-schen hinter uns her und schlugen auf uns ein, das tat weh, wir hatten tiefe Striemen am ganzen Leib, bluteten, sie droschen auf uns ein. Wir hatten Sterbensangst… wir waren ja vogelfrei. „Hitlerişti“, Hitleristen riefen sie uns nach, so hießen wir. Und stimmte es etwa nicht?
Über diesen Graben sollte ich jetzt springen? Nachdem alles nach 89 „normal“ werden soll… normal? Nach Europa? Zu Kapital und Besitz und Profit und West, wilder Kapitalis-mus?? Zu spät!? "Normal" zu werden! Nein, es ist eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Ein Emig-rant in Pension bin ich jetzt, und ins weiße Zimmer einer Ans-talt gehöre ich. Nullnullnull… So alles überstanden, so über-lebt. Und wann kommt die große Liebe, die mich noch einmal rettet?
Zu spät, alt geworden im Warten…!“
Und er: „Warte ab, sieh, was mit dir geschieht, block nichts ab… habe Geduld… Alles ist möglich… auch nach-her…“
„Wann nachher? Nach dem Tode etwa? Soll ich dann mit dieser Liebe im Bauch, im Herzen, wieder wie früher se-hen lernen, riechen lernen? Mit hier einmal gefühlten jungen Sinnen … Ganz, ganz frisch, alles wieder heilen können?“
Aber könnte das überhaupt jemand? Es bindet sich nichts mehr, fällt aus dem Augen¬blick, Alltagsgefühl: über-schwemmt alle Erinnerungen, die wie durch einen Abgrund der Zeit getrennt von mir sind….
Und jetzt? Nur die Namen sind da: Filipescu, der Nach-bar, Kuales, der mit dem Wolfshund, Bellen nachts, Blumen-namen: Kle¬matis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses zergeht es, macht glücklich? Die Namen allein sind geblieben, wecken wie die Gerüche starke Gefühle. Ich kann sie mitnehmen, ich brauche gar nicht hier zu sein! Diese Kluft lässt sich nie mehr überbrücken. Meine Erinne¬rung stammt aus einem andern Jahrhun¬dert, gar Jahrtausend? hier, meine Kindheit: Diktatu¬ren hatten den Zeitbruch und die Vernichtung der Wahrnehmung und der Fähigkeit glücklich zu sein durch Wachtürme und Stacheldraht wie in ei¬nem Indianerreservat erhalten, die Zeit mit Fahnen und Gewehren umstellt und so angehalten. Jetzt fließt sie wieder, und alles verwirrt sich.
Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht mehr mög-lich. Das Wesent¬liche der Vergangenheit verschließt sich, das Außergewöhnliche scheint nun verschwunden; was jetzt da ist, das Herrenzimmer, die Gasse, sind in eine fahle Normalität getaucht und wie verlassen, nur Trümmer, Relikte - es ist wie eine Stadt nach einer Überschwemmung, da ragen die Reste aus dem Schlamm hervor. Wenn ich die Augen schließe, das Gedächtnis aufbricht, nah, wie ein Traum und unschuldig wie jedes vergessene Erleben... fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein, die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen, am Zaun entlang in ihrem Beet neben der Laube, bis hin zum Kompost und den Abfalleimern in der Gartenecke zur Landwirt¬schaftskammer, Camera Agricola, vor der es mir grauste, wo aber damals die Familie Mãrgineanu wohnte, zwei Töchter und ein älterer Sohn; aber wenn ich die Augen öffne, ist nichts mehr da. Echo des Zeitbruches, jahrelang nur in der Phantasie. Durchbrach den Boden des Bewusstseins und es lag jahrelang irgendwo im Dunkeln. Furcht, es könnte durch diese Begegnung vernichtet werden. Weiterleben wäre dann unmöglich. Eine endlose innere Wüste wäre da.
25
Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde; nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich noch spürbar. Wie es wirklich war, ist weniger wichtig. Aber die Hausfrau in meinem ehe-maligen Elternhaus fand es sogar richtig, sich zu entschuldi-gen, dass es den Kupferbadeofen nicht mehr gebe. Und dass die Tür zugemauert worden war, die Tür vom Schlaf- zum Ba-dezimmer, dafür gebe es ja eine Türe aus der Küche ins Schlafzimmer. Sie zeigte mir die blaue Bemalung mit den gol-denen Sternen in der Diele. „Die ist geblieben“, sagte Frau Agapie, „die ist uns kostbar. Nur die Diele musste abgetrennt werden vom Treppenhaus, das hinauf in die Mansarde führt, dort wohnt eine andere Partei…“ „Partei?“ „Ja, Sie haben recht, Worte sind Gefühle, manche machen Angst, ja, Parteien, anders besetzt?“
Das Haus ist geteilt. Wie das Gedächtnis, denke ich.
Die netten Agapias lebten, so schien es mir, in der Wüste meiner eigenen Empfindungen.
Die Zeit also so lang abliegen lassen, unbewegt, bis sie sauer wird auch in den Gegenständen, einem unendlichen fa-den Warten? Oder gibt es die Aura nicht, verfaulte Zeit, auch in den Mauern, den Läden, den Stühlen schwingt nichts. Es nimmt mich nicht auf. Was heißt noch "zu Hause". Die Dinge sind kaputt, auf dem Weg zum Abfall, ihre Zeit ist vorbei, und keine neue Zeit? Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern vor ihrer Ausreise nach Deutschland gezwungen wurden, wieder in dieses alte Haus einzuziehen, es gab da ein Gesetz der Rückgabe, der halben Wiedergutmachung, immer wieder, als hätten die Machthaber den besten Instinkt, als hätten sie immer nur in der Angst vor dem Jahr 1989 gelebt, und das "Normale", um die Revolution zu vermeiden, unter Kontrolle wieder eingeführt! So hatten meine Eltern mit meinen beiden Geschwistern und deren Kindern hier in diesem Zimmer ver-sucht, "wie früher", Weihnachten zu feiern; „die Möbel, die Vorhänge, die Bilder, die Lieder waren die gleichen, sogar der Christ¬baumschmuck war der gleiche, und doch wirkte alles wie gestellt, wie eine arme Kulisse“, erzählte Mutter, „es gab eine untergründige Vernich¬tung, die uns und auch die Dinge so verändert hatte, dass sie wie gestorben erscheinen.“
Und wir, sind wir dann auch schon längst tot? Die Biographie dieses Hauses und die seiner Menschen war bru-tal unterbrochen worden.
Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet das Modell des kleinen Welt-Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt den Ge¬danken dazu mit ihrer Langsam-keit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die Wirklichkeit gibt es nicht mehr.
Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, freilich, dahinter dehnt sich ein im Vergessen wachsender Abgrund, und die¬sen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen?
Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so dass man gut damit leben konnte, nicht-lebend?.
Nein, das tat anders weh, nicht mehr weh, zu spät, zu verborgen, fast überkam mich Gleichgültigkeit da, in mir trage ich jenes andere Schäßburg, das es nicht mehr gibt; ich fahre ja sowieso bald wieder fort; ihr könnt hier mit diesem mir Fremdem weiter leben!
Und dann war jenes, das es nicht mehr gibt, doch immer wieder da: Wenn ich die Augen schloss, den Stundturm schlagen hörte, war es, als hätte ich einen Schlag erhalten, Erinnerung war zu nah, und ich murmelte: Gott erhalt dech Scheszbrich!
Mutter … ich sah an der Wand dein unbewegtes Ge-sicht wie ein Film über das ziehen, was unsere Augen uns als real vorspiegeln, da war ich dazu entschlossen, das, was es nicht mehr gab, in den Höhlen der Erinnerung aber noch da war, etwa das Stadthaus an der Kokel, wo damals bei eurer Heirat das mit Blumen bekränzte Auto gestanden hatte, wie-derauferstehen zu lassen.
Denn auch im Ausland kam sie immer wieder, diese Stadt, immer wieder, wie unter Zwang, als hätte ich dort wirk-lich etwas Unersetzliches, Kostbares verloren, das nirgends anders zu bekommen war alz än asem Scheßbrich. So heißt der Ort, und hier sollte mein Vater, die Mutter immer noch leben? Niemand würde es mir glauben, mein Bruder oder meine Schwester schon gar nicht – wenn, ja, wenn es die vielen Erinnerungen nicht gäbe, von denen unsere alte Stadt Schäßburg, die so leer wirkt, dicht besiedelt ist; Vater lebt immer noch hier, wie Großvater oder die Ami hier leben, und natürlich alle die andern, dazu mußt du gar nicht auf den Bergfriedhof gehen, die liebsten Toten findest du doch in dir selbst, samt ihrer vertrauten Stimme! Doch nein, alle tun so, als gäbe es sie nirgends mehr, vielleicht noch auf alten vergilbten Fotografien!
Toskana? Camaiore? Agliano? Gar Lucca? Wie fremd es doch klingt!
V
1
Wann aber hatte dieses Verschwinden begonnen? 1939 begann das große Töten. Und zu Hause die Idylle. Die un-glaubliche Naivität, ja, Infantilität. Und dazu eine Ahnung des sich vorbereitenden Unheils. Ich habe im Schopfen einen Stoß Familienbriefe gefunden. Auch einen Brief der armen Friederike. Nach ihrer Hochzeit 1939 beschrieb sie Tallo, ihrem Bruder, der in Berlin-Charlottenburg Hoch- und Tiefbau studierte. ihre neue Wohnung: „Die Tapeten sind orangen-rosa wie die Blüten. Die Vorhänge im Wohnzimmer und die Möbelüberzüge in einem matten Grün. Im Schlafzimmer zitronengelbe Vorhänge. Es ist entzückend. Doch wenn ich an die Rechnungen denke, wird mir ein wenig bang. Ich habe es früher sehr schwer gehabt, nun ist alles abgefallen… Doch es sind schlimme Zeiten. Aber unsere Sorgen sind klein und überschaubar. Eri (das ist Mutter) klagt über Rückenschmerzen, die drei Rangen (das bin ich und meine Geschwister) rauben ihr den Lebensnerv, solch ein Radau täglich, sie kann es nicht mehr aushalten. Die zarte Eri wirtschaftet in der großen gekachelten Küche, im Garten, und nebenan lärmt die Löwische Tuchfabrik den ganzen Tag, immer das gleiche Geräusch, als wären Drachen in der Luft, die mit eisenbeschlagenen Zähnen klappern. Ami möchte, die Eri solle endlich mal ins Sanatorium zu Dr. Müller, es ist ja ganz nah, nur über die Neue Brücke. Und sie soll unbedingt ein Kindermädel nehmen, zusätzlich zu Marischka, der Dienstmagd. Eri hat sie dann auch genommen, diese Magd aus dem nahen Szeklerland, Roszika mit einem heftigen Liebesschmerz im Leib. Das hatte Eri gerade noch gefehlt!
Ungarische Dienstmädchen, Eri hatte ja zwei, Marisch und Roszika, die kamen am Sonntag in ihrer Tracht mit den Burschen zusammen, schmusten und mehr. Und eines Tages heulte die eine, und auf die Frage, was denn sei, hieß es: A djermek schiert! (Das Kind hat geweint!) Es stellte sich he-raus, dass Roszika ihr Kind erstickt und auf den Mist geworfen hatte. Höllenqualen. Sles befahl: Keine Polizei. Und der Doktor Piz Markus stellte einen Totenschein für das Würmchen aus und die arme Sau kam davon!“
2
Friederike an ihrem Tischchen mit Blick auf den Tan-nenwald, schrieb an Tallo nach Berlin, Englische Straße 1, links. Weihnachten näherte sich. Tannen auch vor dem Fens-ter, oh, es duftete, Nadeln allüberall. Die Ami im Schlafzim-mer hatte das Nähkästchen auf dem Schoß, nähte, flickte und sang: Weißt du wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Him-melszelt … Gott der Herr hat sie gezählet … Da zittert etwas Fernes in diesem Lied, Amis Stimme ist traurig, sehnsüchtig und lieb zugleich. Und drüben sitzt Friederike und schreibt. Sie sitzt in der ehemaligen Räuberhöhle von Vater, der nun OVater heißt, weil er drei Enkel hat. Friederikes Blick geht über den mit Katzenköpfen gepflasterten Hof, über dem Hof ein Stück dunkelblauschwarzer Himmel, alte Ziegeldächer, funkelnde Sterne in der beginnenden Winternacht. Draußen auf dem wackligen Gang hört man Georgs Schritt, der aus dem Werk, dem Elektrizitätswerk, wo er Beamter ist, nach Hause kommt, die Tür öffnet und einen frischen Duft von Kälte reinbringt. „Nun bin ich schon vier Tage eine sehr glückliche, vergnügte junge Frau.“ schreibt sie: „Wo die Fässer mit Prudner Wein standen, ein großer Wäschekorb, steht jetzt Georgs weißer Schreibtisch, an dem ich sitze. Die Wände blassgrün mit einem ganz losen Blütenmuster… Hier aber in der ehemaligen Kammer sind Mäuse aufgetaucht. Mich schaudert. Dabei gibt es gar keine weißen Mäuse, nur weiße Ratten. Es sind die überstrapazierten Nerven…Stell dir vor diese Ratten, die könnte im Schopfen oder im Keller unter dem Gassenhaus, wo jetzt die Juden Baruch wohnen, dann eklig gedeihen; stell dir vor, du gehst Äpfel holen aus dem Apfelkeller von den Hurten, wo Batull und Goldparmäng lagern, die schönsten sind für Weihnachten, für den Baum und mit Wachs eingerieben, ja, und da springt dir eine große weiße Ratte ins Gesicht oder gar auf den Bauch, an die Beine, beißt zu, weh soll das tun, puh, du weißt ja, wie mich ein fast übernatürlicher Schrecken gepackt hatte, als im Schopfen unter den alten Weltkriegsillustrierten und den Feldpostbriefen eine Staubwolke aufstieg – ein ganzes Mäusenest mit quieksenden Mäuschen von Vater aufgestöbert beim Ordnungmachen. Ich habe da geschrieen, bin fast in Ohnmacht gefallen, und habe schlecht geträumt. Übrigens, nun hat Vater in seiner Räuberhöhle hier nebenan aufgeräumt, es herrscht beispielgebende Ordnung. Aber jetzt ist ja sein Instrumentenschrank im Vorzimmer. Es stinkt dort schrecklich nach seinen Tierarztmedikamenten. Nun bin ich neugierig, ob er diesen Winter die Instrumente, die nur ver-packt wurden, überhaupt einräumt. (Aber schweig. Diesbezüglich bitte keine Bemerkung. Du weißt, wie empfindlich er ist. Und er könnte einen seiner jähzornigen Wutausbrüche bekommen. Bitte, lieber Tschudi, bitte, nicht!“)
3
„Na, schön“, sagte Adam sarkastisch: „Das war euer Leben damals. Auch 1940 dann nicht anders. Jedenfalls bis November nicht! Und 1941, 1942, 1943? Zu Hause so fried-lich, auch wenn eure Männer… na ja… Bei uns aber? Am 5. Juli 1940 begann es, da zogen rumänische Truppen des mit Deutschland verbündeten Antonescu-Regimes bei uns in Czernowitz ein. Es wurde geplündert und gemordet. Schon am 6. Juli kam die berüchtigte Einsatzgruppe D unter SS- Bri-gadeführer Ohlen¬dorf, dessen Art der "Aktivität" wir aus dem Film "Holocaust" kennen. Viele Juden mussten am Ufer des Pruth selbst ihr Grab schaufeln und wurden dann am Graben-rand erschossen. Tragen des Judensternes wurde uns zur Pflicht. Gemacht. Ich trug ja auch einen. Und ein Ghetto ent-stand. Ich habe das alles miterleben müssen. Die Deportatio-nen nach "Transnistrien" in das rumänisch verwaltete Gebiet der Ukraine zwischen Dnjstr und Bug begannen. O ja, unsere guten Rumänen! Celan musste in Czernowitz Zwangsarbeit leisten. Die Antschels versteckten sich bei Bekannten. Doch die Mutter weigerte sich sich weiter zu verstecken, sie meinte, niemand entgehe dem eigenen Schicksal. Und packte die Rucksäcke. Der Sohn versuchte ihren Fatalismus zu bekämp-fen. Vergeblich. Der Sohn versteckte sich weiter. Die Eltern aber, die in ihrer Wohnung mit ge¬packten Rucksäcken warte-ten, wurden im Sommer 1942 in Vieh¬waggons an den südli-chen Bug deportiert. Und ich war mit ihnen. Wir kamen zuerst in einen Steinbruch, "Cariera de Piatră" genannt, schließlich nach Michailowka, in ein russisches Dorf mit Lager. Hier wurde Pauls Vater erschossen, im Herbst 1942. Die Mutter schrieb es dem Sohn. Der liebte die Mutter sehr. Den zu strengen Vater mochte er nicht. Nur sehr selten geht der Va-ter in seine Gedichte ein. Einmal schreibt er über seinen Tod.
... wenn die Scholle, die rostige, birst, wenn schneeig stäubt das/ Gebein/ deines Vaters, unter den Hufen zer-knirscht/ das Lied von der Zeder.
Die Mutter war Köchin in der Mannschaftskantine von Michailowka. Celan damals Zwangsarbeiter in der Moldau, im Lager Tăbăresti, erfährt dort dann im Frühjahr 1943 von einem geflüchteten Bekannten, dass auch die Mutter durch ei-nen Genickschuss umgebracht worden war. Davon wird er nie mehr los¬kommen. Er schrieb damals:
Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel./ Meiner
Mutter Haar wird nimmer weiß./ Löwenzahn, so grün ist die Ukraine./ Meine blonde Mutter kam nicht heim.
Seither Schmerz und Schuldgefühle, die sich steigerten, als deportierte Bekannte und Freunde nun heimkehrten, die aus der Hölle berichteten. Sein Freund Weißglas sagte auch, dass es ihm gelungen sei, seine alte Mutter zu retten. Das Schuld¬gefühl, dass er sich selbst in Sicherheit gebracht hatte, seine Eltern aber in den sicheren Tod gegangen waren, ließ Paul nicht mehr los. Auch dann nicht, als er ohne Reise¬dokumente mit sowjetischen Militärwagen seine Heimatstadt für immer verließ, nach Bukarest kam, dort bis Ende 1947 blieb, und dann mit Hilfe ungarischer Bauern nach Ungarn und nach Österreich flüchtete, schließlich nach Paris. Sein langes Exil hatte begonnen. Er zählte sich von nun an zu den Toten. Das Leben erschien ihm als Alptraum, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Dem Überlebenden schien es, als er¬warteten ihn die Ermordeten, als müsste die Trennung über¬wunden werden, um diesen unnatürlichen Zustand wieder gut zu machen. Vor allem die tote Mutter ließ ihn nicht mehr los…“
4
Der Anfang vom Ende kam damals. Es war der 22. Juni 1941.
„Ja“, höre ich wieder die Stimme von Roland: „Weißt du, zwischen dem 19. und 21. Juni 1941 war bei uns viel los, ich erinnere mich noch genau, es war erhebend. Die Bann-spielschar gab ihren Bunten Abend mit Liedern und Volkstänzen und dem Komiker Pancratz. Die Klavierschule Rechner-Plattner schenkte uns am 19. ihren erfolgreichen Vorspielabend. Ja, ja, genau. Es war ja unsere Jugend. Und so schöne Zeiten! Der Musikverein feierte; es gab den Tätigkeitsbericht für das Jahr 1940; ein Jahr, in dem unsere Volksgruppe gegründet worden war, du weißt, der Andreas Schmidt, unser Volksgruppenführer… Das Bischof-Teutsch-Gymnasium hatte seine Abschlussfeier für 235 deutsche Schüler und 8 sonstige. Im Corso-Kino lief der Film Herz, mo-dern möbliert mit Theo Lingen, im Apollo Was will Brigitte. Ich erinnere mich noch genau, habe ein fabelhaftes Gedächtnis. Von den Apotheken hatte die Engel-Apotheke Dienst (bis 28. Juni). Eine Luftschutzübung wurde abgehalten: Sirenengeheul – aber kein Ernstfall.
Niemand wusste, dass der Führer in derselben Nacht keinen Schlaf finden konnte: Es stand auf dem Spiel: sein Le-benswerk; seines Volkes Existenz, die Existenz ganz Euro-pas, ja, der Welt. Den Atem wird die Welt anhalten, wenn im Morgengrauen des 22. Juni mehr als drei Millionen Soldaten auf seinen Befehl zum Angriff gegen die Russen antreten, die größte Streitmacht aller Zeiten: Zwischen Finnland und dem Schwarzen Meer mit: 1200 Flugzeugen, 3500 Panzern und 7400 Geschützen. SEIN einsamster und schwerster Ent-schluss.“
„Der 22. Juni war dann turbulent auch in unserer Stadt“, hörte ich nun Vaters Stimme ganz nah, und erschrak, sie war noch sanfter als zu seinen Lebzeiten:
„Ich ging wie jeden Tag morgens ins Geschäft, auf dem Weg hörte ich, dass es Krieg mit Russland gebe. Die öffentli-chen Gebäude in der Baiergasse waren schon mit Staats- und Hakenkreuzfahne beflaggt. Ich wunderte mich sehr, dass eini-ge Leute freudig erregt zu sein schienen, und dass immer mehr Leute auf der Straße zu sehen waren; auch an vielen Privathäusern wurden schon die Fahnen gehisst: Um halb zwölf Uhr Mittags begannen alle Glocken zu läuten ...
Ich sah eine Kompanie Soldaten zum Marktplatz mar-schieren, man hörte das Deutschlandlied und die Königshymne, und wir standen vor dem Geschäft und sahen zu. Die Leute sangen mit, einige freuten sich sehr.
Zu Hause aber war die Atmosphäre gespannt, Ich hatte die Einberufung zu meinem rumänischen Regiment nach Râmnicul-Vâlcea erhalten, und Mutter weinte; Onkel Roland und Onkel Hermann waren schon im Reich in der SS; und es war sträflich, man richtete sich wieder auf, als am Abend die-ser Kerl, der "Führer" im Radio sprach, er schrie zwar ein we-nig, doch die Erwachsenen waren dumm und so alle tief ergriffen, sogar ich konnte mich nicht ganz entziehen.... wir saßen vor dem kleinen erleuchteten Fensterchen zur Welt in Großvaters Schlaf- und Esszimmer vor dem Telefunkengerät und man hörte ihn schreien: Deutsches Volk! National-sozialisten! Von schweren Sorgen bedrückt zu monatelangem Schweigen verurteilt, ist nun diese Stunde gekommen...“
Und draußen marschierten die Schüler der oberen Klas-sen des Gymnasiums mit ihren Professoren immer noch vor-bei. An der Spitze die Blasia, die Ich hatt´ einen Kameraden spielte! Und man hörte Sieg-Heil-Rufe auf den Führer, auf Marschall Antonescu und S.M. den König Michael I.
Das aber war erst der Anfang. Nur wenige Monate da-nach kam nämlich sehr bald jene schwere Zeit, wo allen das Lachen und Jubeln verging, wo es WHW und Eintopf und schwarz¬umränderte Traueranzeigen gab, und Heldenmütter und Heldensöhne. Und weißt du, ich sehe jetzt alles vor mir: Ich und die junge Minch, deren Fredi als rumänischer Ober-leutnant auch an der Front war, zwurnten, weinten oft, und sangen in der Küche: Es geht alles vorüber…“
5
Unvergesslich bleibt auch mir, dem Kind, wie du, Vater einmal nachts plötzlich da warst, auf der Durchreise, stankst nach Tabak und Schweiß, Roszi, die Széklermagd schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Joi as ur!“ alles so übernächtig, und du so gerührt, murmeltest „Kändchen, Kändchen“ und strichst mir sanft über den Kopf.
„Ja: Ich wusste ja nicht, ob ich euch je wieder sehe... jetzt ging es an die Ostfront... so war das!“
Und ich, das Kind, sehe mich mit verträumtem, völlig abwesendem Gesichtsausdruck auf dem Albertsträsser Kinder¬richttag 1942 im Sandersaal, scheu, timid, ein Einzelgänger¬kind, aber dann auch als „Wastel“, der seine Geschwister kom¬mandierte, schikanierte, und ihnen Gruselgeschichten erzählte, sich an ihrem Bibbern erfreute. So einer war ich also. In der Schule, der Knabenschule mit dem großen Hof und der Turnhalle, der steilen Treppe in die Klassenzimmer, beim Lehrer Finf, so genannt, weil der jetzt alle Finf kommandierte, und uns mit dem Rohrstock die Kniewel heiß schlug, Au, Au. Bitte, bitte nicht! In der Schule glänzte ich nicht, hatte in der ersten Klasse mein schlechtestes Zeugnis der ganzen Schulkarriere, Mutter heulte, weil sie solch ein Idiotenkind als Ältesten zur Welt gebracht hatte! Ja, ich war immer absent, nie dabei, wusste nie, worum es ging, verträumt, weggetreten. Eben ein Maku! Und meine Kniewel waren oft rohrstockheiß.
1941 war einer der kältesten Winter des Jahrhunderts, - 35°, und Vater in Russland, er kam mit seiner rumänischen Autokolonne bis nach Stalingrad in jener Eiseskälte. Und 1943 zurück… 1944 dann wieder zu Hause, schon Monate vor dem 23. August, dem „Zusammenbruch“ wie das bei uns hieß… 1944 in der schlimmsten Zeit der ganzen Menschheitsgeschichte.
… die Fotos… auch von Roszika gibt es ein Foto. Es gibt auch ein Foto von Roszi, Mutter und mir aus jener Zeit des Massensterbens und Mordens. Es ist wie ein Traumfoto - komisch, denn dieses Foto oder das, was auf dem Foto zu se-hen ist, habe ich einige Male geträumt: Mutter steht am Hoftor neben dem Baruchhaus, hat eine merkwürdige Tellermütze schief auf, irgendwie gebirgsjägerähnlich; ich laufe mit froh erhobenen Armen auf Roszi zu, die im Vorder-grund des Fotos steht, sie hat eine grobe Wolljacke an, ihren roten Széklerrock, Sandalen, lacht lustig, fast so lustig wie ich, und breitet die Arme aus, um mich dort einzulassen, in die Arme zu nehmen, und laufe da in vollem Schwung rein, bin unterwegs, immer noch unterwegs auf jenem Foto, wo Mutter am Tor steht, bereit auszugehen, mich an der Hand zu nehmen … ich aber laufe auf Roszika zu. Warum?
Sieh, da streckt Roszika, die Kinderfrau, ihren Schopf zum Fenster hinaus in den Duft des großen Gartens. Zu sehn sind von oben, vielleicht war´s Frühjahr 1942: Die Blumen-beete mit violetten Spitzbuben, wie große Maulbeeren, dann Narzissen, Primeln, Pfingstrosen bis hinab in die Gartentiefe. Unter den hohen Tannen mit dem Steintisch gibt’s ein Ge-heimnis. Eine geriffelte Kaffeetasse steht noch vergessen da; sie bleibt in meinem Gedächtnis stehen bis auf den heutigen Tag. An Spargelbeeten geh ich vorbei bis zum Steintisch; Spitzen der Spargel, auch sie geriffelt, violett stoßen sie aus der duftenden Erde hervor, kommen aus der Tiefe; unendlich ist der Weg an den Gerüchen entlang.
6
Und dort auf der Rampe, nur zwei Jahre später, sahen alle wie Roszi aus, hatten ein Kopftuch auf, und alle sprachen sie ungarisch. Joi, hova menjüng… hova… Der Blick auf die Fünferreihen ist fast unmöglich. Die Todgeweihten, die nur noch etwa eine halbe Stunde leben dürfen. Und ich denke an meine Kinderfrauen. Alle hatten sie Kopftücher auf.
Einer fotografiert auf der Rampe. Wer ist es? Ein Blick, jener Blick, der sucht, der nie aufhört, der nie mehr findet, was er sieht, nie gefunden hat, dazwischen hängt der Abgrund wie eine Trugbrücke, der Blick schlägt zurück, steht, er weiß nicht, was dahinter geschieht, was geschehen ist, nach dem Licht Bild. Und alles brennt. Keinen Blick mehr gibt er zurück, der Apparat, der nahm sie in sich auf, gab sie niemals mehr wieder heraus, verschloss sie, bewahrte sie in der Vernichtung? Letzte Stunde. In einer Stunde werdet ihr euch wieder sehn! Niemals mehr auf dieser Erde wird eine Kindheit ihren Blick aufschlagen. Sie starb erstickt. Und auch das Wort zerbrach mit uns. Es war vergeblich, nur der Tod ist wahr. Alles andere ist Lüge. Erfahrung aber blieb. Sieh, wie das Fenster dieses Blatt hier verbrennt.
Wenn wir abends beim Essen sitzen, fliegen und schwirren Motten um die Petroleumlampe, das Licht zieht sie an. „Alle sind aus ekligen Raupen entstanden wie die Maikä-fer“, sagte Großvater.
7
Wir gingen fast jeden Tag in die Stadt einkaufen oder uns zu zeigen, ich war ja auch schön angezogen, Tirolerhosen. Und als erstes kam die Fikkatante, ich murmelte nur verschämt, „Sgett, Sgett.“ Mutter wurde wütend, „komm, sag doch wie ein echter deutscher Junge: Heil Hitler, reiß den Arm hoch… so!“ Noch wütender wurde sie da in der Baiergasse, wenn wir unserem Führer begegneten, dem Kreisleiter und Essigfabrikanten, und ich nicht das Ärmchen hochriss.
Dabei hatte der Ortsgruppenleiter nichts Strammes, er hinkte, zog einen Fuß nach und war nur Philosoph, wie Mutter sagte. Daniel aber spottete, da sei doch ein rausschauender Pferdefuß, und ich meinte damals, es seien die Gäule des Honnesbatschi aus Pruden, der immer den Wein brachte. Dann klärte mich Daniel auf, das war in der Klavierstunde während des Etüdenspielens und beim Ticken des Metronoms, dass der Teufel einen Menschen- und einen Pferdefuß habe, woran man ihn erkennen kann. Vielleicht sei der Essigfabrikant, unser Ortsgruppenleiter, der Philosoph, deshalb so höflich, damit man über seinen hinkenden Pferdefuß hinwegsehe. Es sei fast wie eine Bitte, und er brüllte auch nie, wie sein brauner Vetter, der Andere aus´m Reich. Ob der oft sonnenbaden gehe, fragte ich, und alle lachten.
Mutter aber sagte, es sei nicht schön, über die körperlichen Gebrechen anderer zu spotten; Daniel sei ein alter Griesgram und unser Führer der wichtigste und gütigste Mensch, den man achten und verehren müsse. Er redete vom Hartsein, der Andere aber schrie aus dem Radio…
Zu all diesem Männlichen und Hartsein und Zähne-zusammenbeißen, das immer wichtiger wurde, gehörte auch dies Keuchen und Stechen, das mir so Angst machte, so dass ich einen dicken Knödel im Hals hatte, sich alles in mir bis zum Hals zusammenzog, und ich bibberte und wie am Spieß schrie, wenn das mit den Prügelorgien kam, und es kam im-mer, schon vorher, wenn ich merkte, dass es losgehen würde mit dem Riemen, dass der Hintern rauchen sollte, meinte ich, dass dies mit dem Pferdefuß, der mich dann trat, dass es weh tat, mit dem Pferdefuss zusammenhängen musste. Ich war ja erst sieben. Wurde im Sommer dann acht.
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Ich versuchte jetzt Vater zu hören, mit ihm zu reden. Doch Vater hörte mich natürlich nicht, hörte mich gar nicht, genau wie früher auch.
Mir aber war es klar, dass dies mit den Prügeln nicht nur ihn betraf… als Kind seiner Zeit… dass alles zu den Er-wachsenen, vor allem zu den Herrn Männern gehörte, auch dieses Keuchen von Vater, wenn er mich prügelte, „bis ich Wasser verlangte“. Dieses Schreien auch des Großvaters, der die arme Ami kujonierte, die schrie er manchmal an, dass sie bis ins Herz hinein erschrak; sie war doch so sanft und sang oft Opernarien, so schön und tremolierend, wie ihr Bruder, der Mischonkel; sie sang diese Arien aus´m Freischütz, den der Generalmusikdirektor sonst mit dem Gesangverein ein-studiert hatte. Und nun brauchte man ihn nicht mehr, den Direktor Schlüter, in diesen schweren und ernsten Zeiten musste man andere Lieder singen, wie Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. SA marschiert in ruhig festem Schritt“. Und so wurde der Generalmusikdirektor und sogar Hermann, der als frischgebackener Arzt diese Übersiedlungsaktionen mit der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft begleitete, in den War-thegau gebracht, dort um- und angesiedelt.
Und noch mehr hing der Pferdefuß auch mit den Ba-ruchs und den Mendels zusammen. Einmal, da ging ich mit Georg und Vater die steilen Treppen zum Gang des Baruch-hauses hinauf, wir hatten ja die Schlüssel, gingen den wackli-gen Gang entlang, gingen über die Himmelstreppe zum Dach-boden hinauf: da, wo ich schon als Zweijähriger das ange-wärmte Holz des Treppchens angefasst, gefühlt hatte, als wär´s das erste Mal, es ist in meinen Fingerspitzen bis auf den heutigen Tag da, sonnenwarmes Holz, und dann das rötliche verrostete Eisen des Geländers, ich spielte, und ein Schiewer drang mir rein ins Fingerchen, ins Fleisch, es tat weh, ich rannte heulend zu Mutter in die Küche, ja, dort hören wir Stimmengewirr, dort, wo früher unsere rote Stehlampe gestanden hatte, der rote Tisch, und ich in die Fassung reingefasst, ein Stromschlag mich wie ein furchtbarer Blitz durchzuckt hatte, ja, da hörten die Mendels und die Baruchs Feindsender, deutlich das Pausenzeichen von BBC. Und Georg, der auch Onkel Nok hieß, sagte zu Vater: „Du, Sles, die müssen wir eigentlich anzeigen.“ Und Vater unheimlich ruhig: „Nichts da. Nichts wird angezeigt, lass die Leute in Ruhe.“
Vater war zwar wie alle in der DM (der Deutschen Mannschaft!), doch überzeugt von der Sache war er nicht ge-wesen. Er war genau so entsetzt, wie viele, als die jüdischen Freunde und Bekannten eines Tages das Trottoir schrubben mussten. Auch das „Kauft nicht bei Juden!“ brachte er nicht an der Tür des Geschäfts an. Doch es gab damals brutale Judenverklopfer unter uns, auch Väter meiner Kinderfreunde, die auf der Strasse vor der Konditorei Martini Juden blutig schlugen. Aber wieso haben sie sich überhaupt schlagen lassen, wieso haben sie sich nicht gewehrt?
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Adam sagte: „Es haben sich viele gefragt, wieso es denn möglich war, dass die Menschen alle so lammfromm und ohne Gegenwehr in die Gaskammern gingen. Weißt, du“, sagte er, „es gibt eine Erklärung: Die meisten Menschen, die von der Rampe in die Krematorien kamen, waren sich ja nicht bewusst, dass sie in die Gaskammern kamen, so wehrten sie sich nicht. Doch auch jene, die es wussten oder auch nur ahnten, dass ihnen ein grässlicher Tod bevorstand, waren wie gelähmt. Es schien ja völlig unmöglich, Widerstand zu leisten, stell dir nur die Massen von Menschen vor, die zu Fuß zur Gaskammer gingen, Frauen, Alte, Kinder, wenige jüngere Männer. Und jede Auflehnung brachte allen Prügel, ein, auch den Kindern. Schmerzen und Demütigung, Und ich glaube, die meisten die es gekonnt hätten, sich zu wehren, verzichteten darauf, um die Kinder und Frauen und Alten zu schonen. So konnte die SS Hunderttausende wie Schafe zur Schlachtbank und ohne Gegenwehr in die Gaskammern trei-ben.
„Und doch gab es Widerstand“, sagte er, „sogar einen Aufstand: Leider fehlen genaue Angaben über die weiteren Vorbereitungen dieser mutigen Tat. Auch die Namen der lei-tenden Männer des Aufstandes sind nicht bekannt. Es werden erwähnt Jaakow Handelsman und Joseph Warszawski als die Leiter des Aufstandes. Andere vermuten, dass die Führung aus griechischen Ju¬den bestand, Offizieren der griechischen Armee. Weitere Quellen nennen andere Namen und Einzelheiten. Da es keine Überlebenden des Aufstan¬des gibt, ist es unmöglich, hier völlige Klarheit zu gewinnen.
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Weißt du, und eine Qual war das andere Deutsche, die schönen Volkslieder, die ihr ja auch gern in Schäßburg gesun-gen habt, und so damit marschiert seid. Am Sonntag gab´s im Block zwei Stunden lang diese Qual. Meist unaufhörlich vom primitiven SS-mani, der eifrig mitsang, auch Kapus und blo-kowy betrieben:
Schwarzbraun ist die Haselnuss
Schwarzbraun bin auch ich, bin auch ich,
Schwarzbraun ist mein Mädel mein.
Gerade so wie ich. Hollari, juwi, juwi, hi vallerra.
Hollari, juwi, juwi, hi
Wehe, einer sang nicht mit, Knüppelhiebe sausten auf seinen Kopf, auf den Mund, ins Gesicht. Schreien, Brüllen. Weinen. Bitten. Doch es musste weiter gesungen werden. Die meisten bewegten die Lippen einfach, rissen auch den Mund auf beim Hollarie, was am einfachsten war. Manche legten polnische Worte unter, so Czy was cholera wydusi- Die Cho-lera soll euch holen!
Auch Lori… Lori, Lori, schön sind die Mädchen von siebzehn achtzehn Jahren, was vor allem die deutschen Lehr-truppen bei euch sangen, 1940, daran erinnere ich mich noch genau... Und beim Appell-Stehen beim Ausmarsch, beim Einmarsch von der Arbeit gab´s den Befehl: „Ein Lied!“
Am schlimmsten waren die Späße, die zabawy SS-manów, so sah ich einmal zu, wie mit Millionären (neucugan-gy mit sechstelligen Nummern) das grässliche Eiermahlen (Rührei) gespielt wurde. Sie schleppten jeder einen Haufen Ziegeln, doch wurden Häftlinge gezwungen: „Du, komm her. Wirf jetzt deine Ziegeln, eine nach der andern auf den Kopf dieses Schweins dort! Aber Dalli, sonst bist du selbst dran.“ Und der Verängstigte, ein Junge noch mit frischem rotem Ge-sicht, erst vor einigen Tagen hier angekommen, warf! Er traf nicht immer, jedes Mal bekam er eines mit dem Knüppel übergehauen, dass das Blut strömte. So zielte er besser. Und das Opfer wurde mit der Pistole in Schach gehalten, durfte sich nicht wehren, nicht weglaufen. Meist lag es schon nach zwei Treffern mit blutendem Kopf am Boden, röchelnd, nach Atem ringend. Manchmal schreiend. Und der Junge warf noch fünfmal, bis die Hirnschale geplatzt war und das Hirn heraus-spritzte, der Häftling endlich sein Leben aushauchte.
Sport aber. Strafsport. „Gymnastika karna. Rolln! Tan-zen! Drehen! Hüpfen! Federn! Im Froschsitz. Nieder! Auf! Nieder! Auf! Hinlegen! Aufstehen! Kniebeugen!“
Dazu der Redeschwall, berüchtigt war Moll mit seinen Beschimpfungen: „Drecksau, Drecksack. Arschloch. Sauhund. Schweinehund. Blöder Hund. Krematoriumsfigur. Bei Frauen: Dumme Gans. Alte Hexe. Alte Ziege. Scheißladen. Stinkende Votze.“ In aller Öffentlichkeit. Da fühlst du Scham. Fast wie bei Exekutionen. Der Wille, durch Wörter zu erniedrigen, zu quälen. Und immer musste der Häftling mit Jawohl antworten. „Hau ab!“ Dann der Fußtritt. „Drecksau und du Hund!“ Noch dazu!
Dabei musst du dir vorstellen, dass man sich monate-lang nicht waschen konnte. Krätze, Ungeziefer. Läuse vor al-lem. Der Hungerdurchfall der den Gestank unerträglich mach-te in der Baracke. Und nachts alle, auch die Toten, von Ratten angegriffen, angefressen wurden. Die waszraumy fast immer verschlossen und außer Betrieb. Und keine Brunnen.“
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Ach ja, und zu Hause schlug der Kuckuck, mehrere gleichzeitig. Wie schön! Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holzkuckuck, der schlug viertelstun-denweise den Tod an, wie schön, und idyllisch, es gab also auch diesen Tod, unseren, idyllischen? ohne dass wir es wussten. Er verneigte sich davor, bunt, der Kuckuck. Und beim Sommerhaus der echte Kuckuck aus dem Wald. Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung. Wie lange noch? Und im Baumgarten das Paradies, keiner wusste. Man fürchtete die Fledermäuse. Sie schwirrten im Rauchfang. Ums Dach unter den alten Rusperbäumen. Sie könnten sich im Haar verfangen. Und die Mäuse, oh, man hat-te selbst ein schwarzes Loch, feucht, da konnten sie rein. Ent-setzlich. Wer sich gehen ließ, war ihm verfallen. Das Liederli-che. Das Grauen. Wehe wenn die Abwehr versagt. Soldaten sind Soldaten, in Worten und in Taten. Sie kennen keine Lum-perei...
Mutter ist die kleine tapfere Soldatenfrau. Und singt. Sie sitzt auf der blauen Veranda und schreibt einen Brief an Vater an die Front: „Hannes marschiert mit aufgepflanztem Stock an der gefällten Eiche vorbei und singt: Soldaten sind Soldaten, in Worten und in Taten.
Köstlich, denn eben legt Hannes an: Sturmangriff. Und dann übt er Parade, marschiert mit geschultertem Gewehr und singt wieder: Soldaten sind Soldaten. wir lachen über ihn, denn er ist ja so drollig. Großvater nennt ihn nur Dick, weil er wie eine Kugel aussieht, den Bauch aber so lustig einzieht. Brust raus, Bauch rein!
Mächel habe ich ins Kino mitgenommen, es lief zuerst die Wochenschau über den Ostfeldzug:
Was meinst Du, wie ihn das beeindruckt. Seither spielt er mit dem Panzer, den Ali ihm aus dem Reich mitgebracht hat, nur noch Blitzkrieg. Auch Flugzeuge malt und zeichnet er. Denn in der Wochenschau waren Stukas zu sehen. Eine Luftschlacht“, so schrieb Mutter an Vater an die Front. Wie Hundertausende (Millionen?) andere Frauen .
Nach dem Kino gingen wir zu Großvater und zu Friederike, die ja gleich um die Ecke wohnten, gingen am Gassenhaus vorbei, durch den Hof und die Stiege hinauf, es roch nach Medikamenten, und dann über den wackligen langen Gang in die Küche. Dort stand Tante Friederike schon am Ofen und kochte das Abendessen. Und über die Mendels, die im Gassenhaus wohnten, sagte Tante Friederike zu Mutter , während sie im Topf rührte: „Die sind mir unheimlich.“
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„Sonntag. Jagen in den Beskiden bei unserem Rittmeis-ter Fabritius“, erzählte Roland: „Und Trudi brät im Ofen dann wieder den Hasen-Sonntagsbraten. Sieh den Rauch. Man riecht immer diesen süßlichen Geruch. Verbranntes Fleisch. Verbrannte Haut, verbranntes Haar.“
Weizenfeld golden, die Kornblumen blau, wie die Au-gen der Frauen beim Lieben. Kornblu¬menblauuuu…Mädel mein, sag nicht nein. Heute wollen wir marschiern, einen neu-en Marsch probiern. Echter Mann, der die Kornblumenblauen verdient Vor der Kaserne vor dem großen Tor. Und wie ein Flaschinettel höre ich’s immer noch, solang ich lebe… Gehöre ich dazu? Und Rolands Stimme wieder: „Diese schöne Verbindung auf allen Gebieten, auch dem der Religion zwischen unserem Siebenbürgen und dem Reich, machte es ja möglich, dass ich nun auch DORT Religion unterrichten durfte… Ich war ja immer skeptisch, was das Christentum betrifft, und nun gab es etwas, dem ich ganz klar zustimmen konnte, und das hing mit der Reinigung des Christentum von allem Jüdischen zusammen. Ein Volk kann ohne Religion nicht existieren. Und erst jetzt hatten wir endlich eine Religion.“
Religionsunterricht? dachte ich dabei beim Zuhören, und begann die tieferen Gründe dieses Wahnsinns zu verste-hen: Na, da sieh mal an... Wer kommt da hoch? Petrenz, der Lehrer, "Herr Professor", ja, der Religionslehrer Teutsch, ließ uns in Reihen antreten, wenn wir den Katechismus nicht aus-wendig hersagen konnten ... vor der Bank haute er mit dem Rohrstock auf den gespannten Hintern ein, "Flaisch“, Fleisch verlangte der, und so sauste die Rute herab oder der Rohr-stock, witsch... dass es raucht, heiße Hosenböden, vielleicht weil alle Versuche, mit dem Anfangsunrat in einem Hirn fertig zu werden, gescheitert waren, an der eigenen, wie an der Außennatur wohl… die Sonderkommandos, wie der Turnlehrer auch, der uns stundenlang Kniebeugen machen ließ, auf dem Tisch meist, bis wir herunterfielen… arbeiteten mit dem Körper, in Turnhallen auch in den Auskleideräumen, am Grabenrand aber unter freiem Himmel standen sie nackt und zitternd vor dem Erschießen da…
Mit dem Wort beseitigte man auch gleich die Träger, die armen Körper, die armen Menschen, die zufällig Juden waren… die Eiterbeule Europas. (KZ-Dr. Klein, Siebenbürger, hingerichtet, Gottseidank in Lüneburg 1945).
Unsere Existenz ist eben immer und überall eine tödli-che Existenz. Heiße Hosenböden noch harmlos, auch wenn das tief hinein schnitt, das "Wort" sollte nicht vergessen werden. Mädchen bekamen die Schläge auf die "Kniewel" .Hier also wurde der irdische Vater mit jenem anderen "himmlischen Vater" vollkommen vertauscht, und eine bessere Garantie zur Einhaltung der mores gab es gar nicht! ("Ich will dich mores lehren, du Limmel!")
„Viel furchtbarer zu gleicher Zeit auf dem Bock im La-ger“, sagte Roland, „das kannst du dir nicht vorstellen.“
„Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es?“
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Was aber hat Scham, was hat der Körper, was hat Eros mit Religion zu tun?
Adam wiederholte sich, er konnte es wohl nie mehr vergessen: „Scham. Ja. Die Scham überfiel uns oft schon während des normalen Lagerlebens: Überall, nach Selektio-nen, nach öffentlichen Prügelstrafen auf dem Bock, nackte Frauen hochgestellt …“
Adam hielt inne und sah nach diesem Satz durchs Fenster in das Gärtchen, als wäre diese Idylle unerlaubt, und unerlaubt das wirkliche Kraut, die Blumen, die Bäume, unsere Hand, mein Gesicht, seines, das doch die Menschheit dort verloren hatte, wie auch Tiere, Blumen, den Himmel, alles! Und hielt sich mit den Blicken dort an jener gelben Rose fest. Wie ein gelber Stern sah sie aus. Dann sah er mich an, als erwarte er eine Antwort….
„Ja“, sagte ich. „Stimmt, auch meine Leute kennen das Schuldgefühl nicht; es gibt eine innere Wand. Und doch, weißt du Adam, Roland und der Apotheker gehören zu mir, wie ich zu ihnen gehöre. Weißt du, dass ich den Apotheker in Göppingen besucht habe…“ Adam sah mich wieder ungläubig und fassungslos an, als wüsste er das nicht, dann sagte er: „Den, den hast du besucht?“ „Ja.“ Und er lachte laut auf, es klang wie ein Schrei: „Und was hat er gesagt?“ „Nach neun Jahren Haft wirkte er wie ein Zombie. Doch seine Frau, eine Halbjüdin verteidigte ihn…“ „Eine Halbjüdin?“ „Ja, eine Halbjüdin aus Wien.“ „Das ist ja unglaublich. Ja.“ Und dann sagte ich zu Adam, dass ich das eigentlich Unglaubliche sagen möchte, dass sie, die Täter, nichts gemerkt hätten... Sie tun es, aber sie wissen es nicht!“
. „… ein Abgrund trennt auch uns“, sagte Salmen leise; seine näselnde hohe Stimme, mit diesem typischen singenden Tonfall hatte sich verändert: „Ich habe das nie begreifen kön-nen, dass sie morden und dann nach Hause gehen konnten, um die Frau zu tätscheln, mit den Kindern zu spielen, den Hund zu füttern oder den Kanarienvogel. Stille Nacht zu singen bei rauchenden Kaminen. Bei uns war es anders, wir lebten auf einem völlig anderen Planeten. Die Scham, ich sagte es schon, überfiel uns, überall, nach Selektionen, nach öffentlichen Prügelstrafen …Qual, weil wir das alles fassbar wirklich erlebt hatten, das Unmögliche, wir dachten meist, aus einem Alptraum nicht erwachen zu können.“
Dann machte er eine lange Pause.
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Gelblichbraune Fotos vor mir, Heimaten, in denen alte Aura aufscheint, mich hineinzieht, als gehörte ich zu den vie-len Toten: Großvater als stolzer k. u. k.-Offzier, Friederike und Mutter als Röschen und Vergissmeinnicht, Oma in Tracht, „aufgebockelt“ mit kostbaren Nadeln, Spangen, Perlen und Stickereien: Bürgertracht, in der Hand das Gesangbuch mit Elfenbeindeckeln und einer Rose aus dem Jahre 1887, mit niedergeschlagnem Blick, züchtig und ein wenig unsicher, neben dem selbstbewussten herrschsüchtigen Mann in Schwarz und mit Bärenfellmütze. Von den Vorfahren meines Vaters kein Zeichen, sie waren schwächer.
Auf dem abgeschabten uralten Ledersessel saß die Ami und sang unter dem lustigen Lampenschirm mit Glasperlen-mähne, auf der Kredenz die Spieluhr mit gedrechselten Mar-mor¬beinchen, lauter Melodien: Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühühüles Grab.
In der Klosterkirche aber sangen sie aus dem Gesang-buch:
Er will uns dadurch ziehen/ zu Kindern, die da fliehen,
das, was ihm nicht gefällt. / Er will den Trotz uns
brechen, den Eigenwillen schwächen/ und töten böse Lust der Welt.
Und im Stundturmmuseum, gleich neben dem Paulinenloch, dem Geburtshaus des Vlad, hing ein großes Bild des Marsyas. Und der Großvater sagte, sieh, der Richter, der muß die abgezogene Haut des ungehorsamen Sohnes, den er verurteilt hat, tragen!!!
Und im Musikverein sang die Ami mit ihrer schönen feinen Stimme, die mich weißt du wieviel Sternlein stehen ge-lehrt hatte, sang sie das Gesangbuchlied:
Und wenn ichs recht erwäge,
sind es nur Liebesschläge,
womit er uns belegt; nicht
Schwerter sinds, nur Ruten,
mit denen er zum Guten
die Seinen züchtiget und schlägt.
Innen – die feuchte Stelle? Alle mühsam beherrscht.
Mein Gefühl widerspricht sehr oft meiner Haltung, die richtig zu sein scheint. Dabei gehört mein Gefühl zu jenen Liedern, die uns doch in die Irre geleitet haben… Deshalb, auch deshalb bin ich ja hier, um mir Klarheit zu verschaffen.
„Die es nicht geben kann… entweder das eine oder das andere! Und du willst beides mischen.“
Das war die Stimme meines Vaters, die dies sagte.
Dann aber schien es, als käme die vertraute Stimme Mutters wieder, die mir sagen wollte, ich solle nicht noch ein-mal umkehren, sondern weiter, immer weiter gehen. Sie ließ sich meine Frage gefallen:
„Aber wohin?“
„Du siehst, es müssen immer einige Tage vergehen“, sagte sie: „bis die Zeit zur Antwort da ist, etwas passiert, der Umgang in Gedanken mit dir und den wieder auftauchenden alten Zuständen zum drängenden Ereignis wird.
Sings doch mal ungeniert: Siebenbürgen Land des Se-gens, Land der Fülle und der Kraft … Oder lass es Oma in deinem Ohr singen, und unterdrück die Tränen nicht, sondern spür einfach wieder das flimmernde Sommersonnenlicht über den Kornfeldern…“
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„Aber sie haben ja dieses Gefühl und dieses Lied auch nach Auschwitz mitgenommen bei rauchenden Kaminen ge-sungen… Unsere SS-Burschen…“
Keine erhellende Antwort darauf. Nein, gar keine. Stil-le. Totenstille!
Und ich dachte ganz erstaunt, denn in aller Wirklich-keit konnte ich Mutter ja nicht sehn, nur im Ausgesparten, im Unbekannten hier, schien sie eine Lücke zu füllen, die mich sonst verrückt gemacht hätte! Wahrscheinlich werden so Kräfte in mir bewegt, die sonst stumm geblieben wären. Doch Tod und Todeswissen gehört dazu.
„Stell dir dies vor“, hatte Adam einmal gesagt, „es ist etwas was auch Walter Benjamin glaubte: „Das Ergriffen-werden vom Schönen ist ein ad/plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Und mehr als Sterben ist nicht möglich, auch unter den grausamsten Umständen nicht. Und sogar Adorno hat es gewagt, so etwas zu sagen. Und es hänge auch zusammen mit einer Ahnung in der Kindheit, mit Aas, Hundefängern, widerlich süßem Verwesungsgeruch… Wie das Anale und der heimliche Sex…“
War es also dann doch die ungeheuerlichste Verdrän-gung des Natürlichsten, das zur Katastrophe als Ventil geführt hatte? War nicht alles angeblich im „Dienst“ der Erhaltung der Art? Alles „Schmutzige“, „Unanständige“, „Grässliche“ wurde verborgen, ins ängstliche Flüstern, ins Tabu und tiefes Geheimnis verbannt.
Unsere Magd Roszika zeigte mir, als ich ein Kind war, auch zum ersten Mal, was eine Frau ist, samt schönem weibli-chem Mondgewächs. Seit ich so erweckt worden war, sah ich dann regelmäßig durchs Schlüsselloch, wenn die schöne junge Tante Minch badete und nackt in die Wanne stieg. Ich sah etwas Weißschimmerndes, Schönes und etwas Schwarzes… Und machte keinen Unterschied, Marisch und Roszi waren mir mit ihrer großen schwarzen Mitte noch lie-ber.
Doch das war Sünde, musste verheimlich werden, we-he, es erwischte mich jemand. Und ich hatte dabei auch ein schlechtes Gewissen.
Ich höre noch, wie die arme Friederike erzählte, dass der Paul und der Franzi auf den ungarischen Mägdeball ge-schlichen seien. „Jaja, die sind quasi ausgerissen. Erinnert ihr euch nicht? Und sind mal ins fremde lockende Gebiet überge-wechselt.“ Und Mutter hatte auch gleich ihre Erinnerung dazu: „Sonst sind wir ja kaum mit den Anderen in Berührung gekommen, wir waren hermetisch abge¬schirmt … schon gesellschaftlich, jaja, das war ein Berührungstabu.“
Und als ich sagte: „Der Franzi und der Paul sind ein-fach ausgerissen, weil sie sich auf dem ungarischen Mägdeball ganz schön saftig betätigen konnten.“
Kam dazu der Chor:
„Na genau. Jaja.“
„Weil die Ungarinnen viel freier waren als die Sächsin-nen. Die braven Sächsinnen haben doch alle um ihre Jungfernschaft, ihr Tauschobjekt gebibbert.“
„Awer Mächel!“
Aber es gab ein Ahnungswissen, dass da etwas ver-schwiegen wurde, und dazu gehörte auch der Tod. Das an-scheinend Banalste und Direkteste wird meta-physisch, im Anfassen ist das Rätselhafteste da. Und bedenkenswert ist doch, dass die Hunde am intensivsten dort interessantes Leben wittern, wo es uns chemisch ganz direkt als Materie erreicht, also am stärksten stinkt…
Ich war damals an dieser „Stinkstelle“ vorbeigekom-men, bei der Einfahrt nach Schäßburg, beim Türmchen auf der Steilau kommt man daran vorbei, wo zuerst der Judenfriedhof, dann die Budaren und Hingheren und Hundefänger hausten, - immer waren es die Aussätzigen, die Zigeuner, unweit des Schlachthofes, oh, Großvater war doch Schlachthofdirektor -…, die dieses Verbotene, Grausige, ein schreckliches Geheimnis verwahrten, abgeschoben an den Rand ins Unsichtbare, finster Grausig-Unberührbare… Tod und Schmerz, und Verwesung…an der Kokel wohnten sie… Mit einem dünnen Draht und einer Schlinge fingen sie die armen winselnden Hunde ein und sperrten sie in einen Drahtkäfig…um sie nachher unter noch schrecklicherem Winseln und Heulen, bis auch das verstummte, zu erschla-gen…
Dieses Ahnen des Kindes kam von weither und ging ganz nah, ganz nah zum eigentlichen Grund…
Bei Adorno las ich erstaunt: „… was ihn einmal aus den Worten Luderbach und Schweinstiege anspringt, wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegelsche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm überlegen zu versa-gen.“
Der Tod also. Gott ist ja der Tod, nach Hegel… Und die correspondences sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen sondern Data der Vorgeschichte. „Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben, das durch die Verwesung hindurch, aber nur durch sie ist, lebt und immer wieder ist!“
Das alles wurde den Armen, Vergasten gestohlen. Manchmal denke ich darüber nach, dass es doch eigentlich gar nicht sein kann! Haben sie sogar dort im Todesmoment jeder für sich etwas Heiliges erfahren…? Und dieses nach der furchtbaren Gewalt noch im Übergang? Im Todesmoment geschenkt bekommen?
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Es war mir klar, wir gehen andauernd mit Abwesenden um, was reden wir da dann überhaupt von „Toten“, es gibt ja keinen Unterschied! Wie die „Toten“ in meiner Erinnerung auch! Und die erstrecht; sie ließen mich keinen Augenblick allein. Und im Internatshof schien es mir, als sähe ich plötzlich auch Paiz, meinen alten toten Schulfreund. Er kam auf mich zu und sagte: „Was suchst du denn hier?“
Paiz machte sein griesgrämlichstes Gesicht, er hatte immer noch die alte Schülermütze mit dem einen Goldstreifen auf, mager war er geworden... in meinem Kopf war er zum zweiten Mal da: Wie betend auf einem Foto vor der blauen Veranda des Sommerhauses; wir gingen damals in die erste Volksschulklasse. Hans, sein Bruder, auch er nun fast nur aus Licht hier, auch er tot, stand hinter ihm und sagte: „Dass wir uns doch noch mal wiedersehen...?! Das ist doch seltsam, nicht?“ Seine Stimme hatte wie früher etwas nur mühsam zu-rückgehaltenes Aufbrausendes.
„Komm“, sagte ich zu Paiz, und auch sein Bruder Hans kam mit, obwohl der sich hier kaum mehr auskannte... wir gingen den alten Schulweg zurück, und waren nach einer Weile wieder an jenem „Punkt“ unter der Burg, kamen am armseligen Häuschen der "Besorger" des Lehrmann-grundstückes vorbei.
„Weißt du noch, wie wir hier unter der Burg Schlitten fuhren, auch über die Treppen...“, sagte er mit einer ganz fremden Stimme. „Freilich weiß ich es. Am schönsten aber waren unsere Ausflüge zum Burgstadel, wenn wir die Flug-zeugmodelle starteten, Jungvolk und Ikarus mit deinem On-kel Roth Totz ...“
„Den habe ich wieder getroffen“, sagte Paiz, der kann sich an nichts mehr erinnern, er ist ja auch schon so lange tot.“
Und dann standen wir vor dem „Schlösschen“. Und ich sagte, „kennst du die Geschichte vom Röschen?“
„Freilich, als die Deutschen 1944 hier abzogen, blie-ben einige Wehrmachtsangehörige zurück, da gab´s einen deutschen Hauptmann, der hatte sich ins Röschen verliebt?! Ja, sicher war das so. Und sie versteckte ihn, brachte ihm täglich zu essen, brachte ihm die neuesten Nachrichten. Und sie liebten sich... Dann wollte der Mann doch raus, und nach Haus. Seine Geliebte aber wollte ihn nicht verlieren und erzählte ihm von Tag zu Tag schlimmere Gräuelgeschichten. Auch, was ihm zustoßen könnte, wenn sie ihn erwischen. Würden, es gäbe da so einige Fälle, wenn sie ihn verhaften und einsperren... dann an die Wand stellen, die Bol-schewiken, die kennt man ja…Eines Tages war auch er nicht mehr da, er erhängte sich am Fensterkreuz des Kellerfensters mit seinem Hosenriemen ...?“
„Aber wann war das?“
„1945, glaube ich.“
„1949 dann oder 1950? gab´s nach dem neuen Gesetz die Enteignung, naţionalizare hieß das. Da haben sie uns aus unserem Holzmarkthaus hinausgeworfen, und wir mussten in die Gartengasse zu den Flechtenmacherischen übersiedeln. Wir bekamen zwei Zimmer in der Mansarde mit einem Waschbecken. Das Treppenhaus diente als Küche. Kein Bad. Die Großmutter, die Mitzmother, so nannten wir sie, war dabei, wir drei Kinder und die Eltern. Dazu kamen noch die Kostkinder… alles in zwei Zimmern und einem engen Treppenhaus, das zur Küche umfunktioniert wurde…
Und da hatte ich dann einen anderen Schulweg, ich ging jeden Tag über den Neuen Weg und den Friedhof zur Bergschule. Du weißt, was damals auf dem Friedhof passiert war…?“
„Ja, Kötsch, wir fanden ihn auf unserem neuen Schul-weg. Er hatte sich auf dem Grab seines Vaters erschossen. Unglückliche Liebe zu Katja. Dabei war er doch so ein Witz-bold. Er war, glaube ich, Inspizient bei der Aufführung des "Revisors" von Gogol, und da hatte ich mitgespielt, ich war einer der drei Kaufleute, und Kötsch gab mir einen Stuhl in den Arm, und aufgeregt wie ich war, ging ich mit dem Stuhl im Arm auf die Bühne, Kötsch hatte ihn mir wie einen Säug-ling in die Arme gelegt, und in der Aufregung nahm ich ihn mit auf die Bühne.“
„Katja hatte eine Hauptrolle…“
„Kötsch ging nach der Aufführung hinauf zum Berg-friedhof, in der Tasche hatte er den Revolver seines Vaters, und er erschoss sich auf dem Grab seines Vaters. Ich werde es nie vergessen, wie er gekrümmt da lag ... mit dem Gesicht in der weichen Blumenerde ...“
„Der Schuldirektor und auch andere Lehrer hielten Vorträge über den Jugendselbstmord. Wie leicht man sein Leben als Jugendlicher wegwerfe, da man noch ganz in der Gegenwart lebe, die Zukunft noch nicht in Sicht sei, die man durch Suizid verliere.“
„Doch, sag mal, Paiz, wie ist das denn im „Jenseits“ ei-gentlich? Was macht ihr den langen lieben Tag.“
Ich hätte das nicht fragen sollen, als ich mich umwand-te, ihm ins Gesicht sehen wollte, war da nur noch eine erschreckend spürbare Leere, ein kalter Hauch wie ein Abdruck, als gäbe es in der Luft ein unsichtbares Loch... kam so ein kalter Hauch auf mich zu, dass ich erschauerte... Und ich konnte nun Paiz auch nicht mehr sehen... Hatte ich ihn denn überhaupt gesehen, oder war es nur so ein Anwesenheitsgefühl gewesen...? Hatte er nicht noch kaum hörbar geflüstert: „Wir sind ja nur in eurer Erinnerung… solang ihr noch lebt, leben wir auch…!“
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Das Sichtbare ist auch hier wie eine Kulisse, wie ein summender Alptraum: eine arme Idylle. Und wie mager und arm auch die Erinnerung… als wäre ich damals nur halb wach gewesen, verdämmernd... makend, wie das bei uns hieß. „Im-mer liegst du im Braten“, sagte dann Mutter. Ich war kein gu-ter Schüler, immer abwesend, gelangweilt in diesem Summen der Schulstunden... Und jetzt: Um mich das vertraute Rumä-nisch, Ungarisch, manchmal noch Sächsisch, klingt wie aus weiter Ferne: Viele Zigeuner. Kinder betteln. Restaurants, Kondito¬reien, Geschäfte überfüllt. Auf der Hauptstraße eine bunte Menschenmenge, westlich gekleidet, auch Autos, doch im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben. Langsame Zeit fließt hier noch zäh durch die Stadt. Und sie ist zugleich von etwas Unsichtbarem zerstört. Die Leute. Die Häuser. Mir gegenüber eine ältere Frau mit ihrem Neffen: die Frau, von bundes-deutscher Aura schon umhüllt wie von einem Tarnmantel, sagte: „Oben in Deutschland, da gibts das "Aufbaudarlehen", zinslos, die Rückzahlungsraten, die zieht man von deinem Konto ab, da spürst du nichts. Oben in Deutschland, da be-kommst du, wenn du zwei Kaffeepakete kaufst, das dritte ge-schenkt.“
Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu träumen, aber ich bin nicht da. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen; das zweite Mal ist es etwas Anderes. Und doch, wie hatte sich al-les in den letzten Jahren verändert. Noch vor einigen Jahren der Leer¬klang. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters eine Ko¬ndi¬to¬rei. Auch da sah ich und erkannte Einzelhei-ten. Es gab damals nur einen unbe¬schreib¬lichen trüben Saft zu trinken, sonst nichts. Und alles so klein und verkommen, stillos öde und unbewohnbar. Woran lag das? Auch in Klausenburg, in Bukarest war es so gewesen. Graue Masse. In einem Sparkassenraum kam ich mir wie in Afrika vor. Keine Heimatgefühle konnten hochkommen. Es war anders, als ich mich erinnern konnte. Sonntag, ein früher Morgen oder Ostern schienen hier nicht mehr möglich zu sein. Auch die Käuzchen, die ich in der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl.
Und jetzt war alles verändert. Die Banken innen schön neu, sauber, gelackt wie in Deutschland, in Italien auch. Doch ging alles gen Westen ins noch Fremdere…
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Ich war sicher viel zu früh zu Bett gegangen; hier im weißen Zimmer vermeide ich es, und geh lieber noch nachts im Hof spazieren. Auch um von diesem andauernden Schrei-ben auszuruhen.
Die Agapias sind im Nebenzimmer, dem Speisezim-mer, dort sehen sie Fernsehen, sie haben sogar eine Schüssel, es wird hier überdurchschnittlich viel ferngesehen; die Schie-betüre war zu. Ich saß wieder im Herrenzimmer und schrieb. Da hörte ich eine innere Stimme etwas anderes dazwischen funken, und es entwickelte sich wie so oft schon ein Selbstgespräch; aber was heißt hier "Selbstgespräch", es ist doch der Großvater, der schon seit 1946 Tote, jener Ver-traute-Unvertraute, Sanfte aus Bistritz, ich kann seinen Blick nicht mehr vergessen,... er hatte mich nach oben gerufen, wollte mir Briefmarken zeigen und sie mir schenken... ich ging mit ihm die Treppe hoch... auf dem letzten Treppenabsatz brach er zusammen, sank ganz langsam in die Knie, dann mit dem Körper auf die Treppe und sah mich an... ich schrie und rannte die Treppe hinab... Sie hatten ihm am gleichen Tag sein Geschäft enteignet... ihm das Geschäft weggenommen... sein Lebenswerk... Es war ein Schlaganfall, sein dritter... und nach wenigen Tagen starb er... Und jetzt war er die Stiegen aus seiner Mansardenwohnung, wo er mit der Mitzmother lebte, herabgekommen, als wäre nichts ge-schehen, man sah ihm gar nichts an, er hatte ein leicht gerötetes Gesicht wie immer, und er war vielleicht zum Abendessen in die Diele gekommen, eben schlug auch die Kuckucksuhr acht; er hatte dann, wie so oft früher, die Tür aus der Diele ins Herrenzimmer geöffnet, und mit seiner mil-den Stimme gesagt: „Dieterchen, frälich bän ech hä, frälich!“ Sagte das aus großer Zeitdistanz: „Tea salt dech net erfehren (sollst dich nicht ängstigen)!“
Und dann war der Milde wieder viel blasser zu sehen. Roland verdeckte ihn fast, stand vor ihm, redete schnell und hastig, war wohl auf Heimaturlaub, ach, nein, er war kaum zu erkennen und nicht in Uniform, von einem seltsamen fahlen Licht umgeben:
Doch in ruhigem Ton schien Großvater zu sagen: „Schau, lieber Enkelsohn, jetzt sind wir doch da, und können gar nicht sagen wie lang ... Sterben ist traurig, ist doch auch eine Erlösung... En Erliesung, dat son ech der... messt nichen Angst hun... Jaja, auch dein Vater wird es dir sagen, wenn er zu dir kommt! Du musst keine Angst haben und nicht soviel schreiben, du schreibst ja nur, weil du Angst hast. Aber es ist schön, dass du wieder lieben kannst, das ist wichtig, das ist das wichtigste auf der Erde… ?“
„Jede Liebe ist von Gott gegeben, auch die Liebe zu dieser Stadt, – eine Vorbereitung auf das Leben nachher. Lie-be ist Leben für immer! Mach dir nicht zu viele Gedanken.“
Und dann war er samt Roland, den ich doch noch so viel fragen wollte, verschwunden, wie heute Vormittag Paiz, alle nichts als Hirngespinste? „Du halluzinierst ja, die Erinne-rungen sind hier zu stark und werden wirklich, pass auf dich auf…!“ würde Adam sagen; alle diese lieben Besucher von früher, Vorfahren? jetzt wie in Luft aufgelöst... oder so stark in mir?
Vielleicht müssen wir härter werden, sachlicher, um das alles ertragen zu können! Zugleich auch weicher, jedenfalls ganz anders, als es unsere Trägheit, dies Dahindämmern befiehlt.
Und die Agapies sitzen immer noch vor dem Fern-Seher, es ist das Große Vergessen der Welt und des Himmels...
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Kies. Knirschen. Stille. Nur dies Geräusch. Und ein Vogel dazu. Eine Glocke. Bei diesen Geräuschen sind die Erinnerungen kaum zu bändigen: Das Kinderhaus, Großvater und Vater vor den Steintischen, sie tauchen vor mir auf, und der ganze Film, komisch starr jedoch: Beide und auch Mutter dann, Hannes und Carmen und die Minch im verwaisten Gar-ten, viele Brennnesseln und die ersten Spargelspitzen. Violette Spitzbuben und Krokusse. Und Mutter ruft wieder einmal: „Kommt schnell zum Essen, Kutt zem Essen, ihr Fratzen… Onkel Roland äs hä, uch der Alionkel, der Töff senj vun der Front kun!“ Se wällen erzielen“, sagte Mutter stolz.
Wann war das gewesen, ja, gewesen und immer noch da, wann? Die Kinderzeit kennt keine Jahre. 1942, 43? Oder 1941? Sie kamen beide so stramm in Uniform mit dem Toten-kopf vorn auf der Kappe. Schritten über den Kies. Saßen wir in der Laube, saßen wir auf den Gartenbänken? Roland erzählte von seinem Sonderauftrag, er begleite einen Zigeunertransport nach Polen. Und dann müsse er nach Straßburg mit einer wissenschaftlichen Aufgabe… Material für Obduktionen zu einem Professor… Köpfe vor allem. Mehr darf ich nicht sagen… Köpfe? Und fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft, streckte dann wie irre einen Arm aus, als wolle er etwas geben und zugleich wegstoßen, machte dann eine sonderbare Wegwerfbewegung, die er von seinem Vater, dem Organisten, geerbt hatte, als müsse er etwas von sich schieben… den Vater? Dazu Blumengerüche, fauliges Wasser in Vasen, Zypressen. Immer ist es in meiner Erinnerung dort Frühling oder Sommer. Seltener Winter mit Schlittenfahren, Skifahren und so, und sehe mich selbst mit Skikappe und Schal, ein Bübchengesicht, immer ein wenig blass und angestrengt, und immer absent, immer wie nicht da, verschüchtert, abseits und wie ein Kindergeist. Erstaunlich, dass ich überhaupt etwas erinnern kann. Viel, sehr, sehr viel ist mir entgangen, fast nichts habe ich bemerkt, damals. Ich bin ein so schlechter Erinnerer; und die Freunde müssen mir oft erzählen, wie es gewesen war. So hatte ich auch einmal als bester Skilangläufer alle besiegt, und es völlig vergessen… Der Thot Erwin hat es mir dann erzählt. Wie, du kannst dich nicht mehr erinnern? Nein… Und kann auch das mit Roland kaum mehr erinnern, Mutter hat es mir erzählt… Vergessen? Obwohl es da war, und mit Roland ganz nah… Aber auch Roland erinnert es nicht, eine Familienkrankheit? Oder ein-fach Verdrängen und dann die „Ökonomie des Gedächtnisses“… „Man darf sich nicht zu sehr belasten“, sagte er… jenes, auch die Schüsse… „Im Block August 1944. Adam weiß es, ja, damals: „Die Zelle ist wieder voll. Wieder die Kommission. Dieselbe Prozedur. Nur drei bleiben in der Zelle zurück. Plötzlich wird’s dunkel. Sie haben eine Decke über den Luftschacht gehängt. Schritte. Ein leiser Knall. Die schießen mit Schalldämpfer. Schritte, ein Knall, immer wie-der, immer wieder. Heute sind es viele. Hastiger laufen sie, bevor der dumpfe Knall einsetzt. Sie müssen sich im Wasch-raum nackt ausziehen, dann wird einer nach dem anderen von Jakob und dem feschen Polen zur schwarzen Wand geführt. Schritte, ein Knall. Kein Wort. Kein Schrei. Unheimlich ist es in der dunklen Zelle. Als ob uns die Decke überm Fenster auch noch die Luft genommen hätte. Vor einer Viertelstunde waren wir hier noch neun beisammen.“
Und dann sehe ich den Bergfriedhof vor mir, dieses Letzte Zuhause im Blick. Well de Grieß Gloock, die Große Glocke eben erklingt? Wieder, aber immer seltener, wird je-mand hier begraben; predigt am Grab der Pfarrer Johannes Halmen? Auch der Tod ist ausgewandert, müsste er sagen. Warum, naja wegen des vorher auch von uns Deutschen mil-lionenfach gesäten Todes. Das vergeht nie.
Es muss dann in aller Herr¬gottsfrühe gewe¬sen sein, als ich an diesem Tag erwachte, denn es dämmerte erst, und die Gegen¬stände draußen und auch im Zimmer schienen alle noch unfertig zu sein; doch ich war wa¬cher als sonst am Morgen, hatte das gute Gefühl, zu Hause zu sein; und bin es nun doch auch, oder? Es war die Küche im Großel¬ternhaus, die Große Kokel war zu hören, die vor dem Fenster stark rauschte. Es war ein grauer Tag, November oder Dezember, vielleicht bald Weihnachten, und Tante Friederike, die auch schon lange tot ist, stand am Herd. Doch ich wunder¬te mich überhaupt nicht. Die Milch lief gerade über, und Tante Friederike unterbrach ihren leisen Gesang mit einem Schrei, wischte die Herdplatte auf und sang dann weiter. Sie sang: O wie ist es kalt geworden, und so traurig, öd und leer, kalte Winde wehn von Norden, und die Sonne scheint nicht mehr. Ihre Stimme, auch das Hah¬nenkrähen von draußen klangen unwirklich und aufreizend weit entfernt, wie Stimmen morgens um fünf. Und Großvater, der andere Tote, sagte zu mir: „Was stehst du da wie ein Tokki, du Maku, geh auf den Gang und schau nach, ob das Wasser noch steigt!“
Ich verzieh es ihm, weil er ja nicht mehr war...
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Ein Tag brach an, und es war schon zu viel geschehen. Jene, die kommen müssten, waren immer noch nicht da. Und die Ungeduld wächst. Endlich hörte ich die Stimme meiner Mutter, die kam von unten aus dem Hof. (Wollte sie mich fra-gen, ob ich nach den Häusern und Gräbern gesehen hatte?!) Im Morgengrauen trat ich dann auf den Gang hinaus, einige blasse Sterne waren am heller wer¬denden Himmel zu sehen; sonst war es fast noch dunkel; ich fröstelte, zog den Mantel enger um mich, und erkannte plötzlich, dass der Gang in der Luft hing und die Treppe verschwunden war. Jemand muss sie abgerissen haben, dachte ich. Großvater stand ne¬ben mir, sah prüfend in den Hof und sagte, da sei sicher der neue Haus¬besitzer daran schuld, und man müsse mit ihm einen "neuen Ton" fin¬den. Dann holte er aus seinem tierärztli¬chen Instrumentenschrank ein kunst¬voll zusammen¬gelegtes Hanfseil, knüpfte daraus eine Strickleiter und ließ sie hin-unter in den dunklen Hof. Ich stieg über die Strickleiter vorsichtig hinab, doch anscheinend nicht vorsichtig genug, denn ich versank bis zur Brust im glucksen¬den Wasser der Kokel und begann vor Kälte zu zit¬tern. Mutter stand auf der dreistufigen Treppe der Familie Baruch, stand da mit gerafften Röcken, und stieg in einen grünen Jeep russi¬scher Bau¬art. Ich kam nur mit großer Mühe in diesen Wagen, andere Fahrgä¬ste saßen schon da und rauchten ein ordinäres Kraut.
Der Jeep fuhr los. In der Ferne tauchte die weiße Sil-houette der Karpaten auf, und Mutter, die hinter mir saß, rief: „O schau, Kurt (das ist mein Vater!), wie wunderwunder-schön!“ So fuhren wir mit bestem Gewis¬sen eine Weile durch die Gegend dem Sonnenaufgang zu. Bald gieht de Sann af. Erst nach einer Stunde Fahrt klopfte mir meine Mutter unsanft auf die Schulter und rief mah¬nend: „Aber du musst jetzt zurück nach Deutschland, mein Junge, die Pflicht ruft!“
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Heute ging ich am Bachufer entlang, wo einst der Hein-rich Höhr, unser Naturkundelehrer in einem Schlösschen ge-wohnt hatte. NaturKunde? Hätte er mir erklären können, was mit all diesen Geistern eigentlich los ist, oder gehört das ins „Iwernatierliche“, wie Mutter sagte!? „Höre auf damit, da fürcht ich mich!“ Ob sie jetzt besser Bescheid weiß, sich nicht mehr fürchten muss? „Doch solang du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde“, würde Onkel Daniel zitieren und sagen: „Solange es nicht eine wirkliche Natur-Kunde gibt, die alles einbezieht, werden immer wieder diese schrecklichen Dinge passieren… Roland, mein Sohn…“
Und es roch nach Hirschgeweihen und Kraut im Vor-zimmer des Naturkunde-Lehrers, der nur Käferarten und Botanisiertrommeln kannte, beim alten Ernst Heckel studiert hatte, der alle Welträtsel ein für alle mal gelöst hatte! Dimpig nach alten Büchern roch es bei ihm, und im Garten war ein Bienen¬wolf zu sehen, prachtvoll gefärbter Tertiärvogel, und lebt immer noch, zu hören aber war ein Halsbandfliegenschnäpper, der warb wohl, der Niedliche, sah aus, als wäre er eine Art Schrift: schwarz-weiß, der muss sich vom Eichrücken oder von der Breite hierher verirrt haben. Und über die Scheibe kroch ein winziges Insekt, "eine der 4763 Käferar¬ten, 402 Varietäten, 324 Abänderungen", meinte ich den Heinrich zu hören!
Ich bin jetzt mit diesen Bildern ganz angefüllt wie mit einer heftigen Liebe, schweigend, wäre Hannah dabei gewe-sen, hätte sie natürlich keine Erinnerungen von hier gehabt, und ich hätte geschwiegen, denn ich hätte bei ihr kaum ein Echo ausgelöst, auch wäre es mir zu mühsam gewesen, auszu-holen, ihr etwas über diese Bocete, diesen Totengesang zu sagen, und wie der mit dem Tertiärvogel zusammenhing und der roten Erde; und sie hätte sicher auch die Orend-Neni nicht sehen können; dazu war ich doch selbst noch so beschäftigt, diese Erinnerungen zu verstehen, geschweige denn diese schwierigste Legende, die mit den Vampiren, zu begreifen... die zu ernst ist, um die Geld- und Tourismusverrücktheiten des Tourismusministers Agathon nicht für totale Blasphemie und Geldmacherei und Ausverkauf an¬zu¬sehen ... Wenn er den Landsmann Dracula, der ist ja auf der Burg im Haus des Altfrauenheims geboren, im Jahre des Herrn 1431, mit einem Park auf der Breite ehren und als größte Sehenswürdigkeit Transsylvaniens verkaufen wollte, packt einen Siebenbürger die Wut. Als würde ich hier nun alles neu sehen, wie zum ersten mal, jetzt ist der Weg as-phaltiert, dachte ich. Und ich sah, was es nicht mehr gab: Früher war es ein zweispuriger Karrenweg, in der Mitte mit Gras bewachsen, Staub, Pferdeäpfel, Kuhfladen, Bremsen klebten an den Pferdeärschen, die Luft flimmerte durch die Schwei߬gerüche...
Undramatisches Verschwinden, wie die vom Urwald überwachsenen Dörfer und alten Mayastädte? Ich sah hier jetzt den stark abfallenden Abhang zum Bachufer, der bisher mit Akazien bewachsen gewesen war, jetzt ganz kahl wie eine Wüstenei, und stinkender Schutt und Müll, dass ich mich angeekelt abwandte. Kein Mensch. Kein Tier, lautlose Stille. Nur oben, rechts wo der Gemüsegarten mit den Paradeisstauden, dem Ägrisch, den Ribisel lag, früher in der Kinderzeit Tante Friederike emsig schaffte, nur ein Betonbau, eine Garage und zwei weiße gebrauchte BMWs. Ich ging den schönen alten Fahrweg hoch, was, halluzinierte ich, auch da nur Asphalt, und keine alte Holzbrücke mehr mit alten Rusperbäumen im Blick.
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Aber auf Schritt und Tritt ist da ein Toter, dort sieh, da steht er und ruft "Hopp Hoppp", der Mischonkel, der Schlawi-ner, der alte Schiffsarzt? Und gleich kommt auch der Töff mit heller froher Stimme, kommt eben mit dem Fiaker vom Bahn-hof, hat das Abi, die Prüfungen bestanden, ist nun in Berlin, wird Tiefbauingenieur... Hopp Hopp, dann sitzt man auf der Veranda, ich sehe sie und höre sie durcheinander reden, die Ami, Georg, er starb als Russlanddeportierter in Frankfurt an der Oder an Wassersucht. Der Großvater, Friederike, die Zarte, mein anderer sächsischer (oder slowakischer, oder habsburgischer?) Vater, der Stalingrad lebend überstanden hatte, starb an Spätschäden... Pneumothorax...
„Es gehört viel Phantasie und Unabhängigkeit dazu, wieder ein Kind zu sein“, höre ich Onkel Daniel zu Roland sagen, ist der jetzt so geläutert? War es Vater, der in mir sprach oder beide? Sagte: „Jetzt mit erwachsenem Verstand und erwachsenem Wissen ist es die Qual des Bewusstseins, solange man lebt.“
Bin ich einer, der jeden Augenblick so beginnen kann, als gäbe es den gelebten Augenblick nicht mehr, den wir da-mals kannten, auch im Zustand des Älterwerdens, mit dem Abnehmen des Lichts, der Farben, der Gerüche, der Land-schaften und Menschen, um so langsam hin zu ihnen zu kom-men, die auf uns warten in einem anderen Licht?
… gerade dieses Abnehmen und das Näherkommen je-nes Nichtseins, das mit dem Abnehmen des Lebens einen Pro-zess begonnen hat, bis zu jener heilsame Leere, ja, zum Glück der Körperlosigkeit in den grenzüberschreitenden Zustand des großen Ernstes führt, den sie alle annehmen mussten, den ich annehmen muss, wo jener große Ernst auch das Schreiben und Denken übertrifft, dass wir zögern, da es absurd, nicht nur paradox ist, zu glauben, dass unsere größte Sorge ausge-rechnet mit dem größten Glück zusammenhängt, wir also wirklich wahnsinnig sein müssen, um es zu begreifen? Oder wir sind wie Tiere gefangen…“ Und hatten die Ägypter recht mit ihrem Totenkult, dass es keinen Tod gibt, nur den Übergang? Und wir schon hier im Leben den Toten in uns haben, die Absenz, ihren Osiris, die schöne bunte Welt immer nur eine Illusion?
Und das Verhalten, kein Gedanke, das Haar
bleibt hier, die Haut, und alles, was du siehst,
das legen sie in frische Erde, sichtbar
sie, und ihr Geruch, die gelbe Decke
und alles, was du hier geglaubt,
wird so begraben, darüber
wächst das Gras, die Blumen
welken schnell, wie diese Augen,
gesehen hat noch niemand, dass
sie sehen könnten, was unsichtbar
geschieht, vorbei die Macht der Zeit.
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„Aber ist nicht alles noch da?“ Fragt die Stimme Va-ters…“
„Freilich ist es da! Denn was fällt eben jetzt hier ein? Das große Vorher, als noch alles heil war. Der Hohlweg im Baumgarten mit raschelnden, dürren Blättern, randvoll gefüllt, darin Waten, Geruch, mürbe Erde… Blatt zerbröselt, und ein Holzweg fällt ein, aber den gab es ja gar nicht mehr! ... Laufen der Kinder, den heißen Boden spüren unter nackten Sohlen, holprige Wege, unter dem Nussbaum ein Sandhaufen, und ein Astloch, da vergruben wir Sand, bis das Loch zuwuchs... in Jahresringen, und eben fährt der Verwandte, es ist Norbert, Bubi nannten sie ihn bis ins hohe Alter, auch er einer der Toten, fährt als Gymnasiast auf grünem Rad surrend den Weg hinab. Da leuchtet nachts surrend die Fahraddynamolampe, Scheinwerfer. Wir aber hockten unter zwei Felsbrocken, die sich aus der Felswand gelöst hatten, fiel er jemandem auf die Füße, mir vielleicht jetzt so spät auf den Kopf, darunter sind sie begraben... die Erinnerungen.
„Eben. Und von hier aus gesehen“, sagte Vater leise, ist freilich Gedächtniskunst, Anamnese, das wichtigste, doch im-mer nur eine Minimalie… Es müsste schon die Akasha Chro-nik sein… Menschheitsgeschichte. Freilich: Das Kindheitsge-dächtnis ist auch musterhaft und für alle da… Aura, ja, Stim-mung das Wichtigste..“
„Ist es nicht der Kairos, der Einfall des All-Einen ins Kindergedächtnis, als wäre es ewig?“
„Und willst es fest halten…“ „Ja“.
Und da mischte sich plötzlich Paiz ein, der tote Inge-nieur:
„Mnemotechnik ist wichtig. Ohne Erinnern wäre Nichts. Einiges davon erinnere ich auch, vor allem das Loch und den Sand.“
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„Ja, alles nur ein winziger Ausschnitt dessen, was ist, und doch wie das Meer in einem Wassertropfen: Den Weg hi-nauf dem Haus zu da ging es an einem Lindenbaum vorbei, und seltsam, dass ich es wieder beschwören kann, mit diesem Satz: Da saß ich mit einem Säckchen um den Hals und pflückte Lindenblüten für den Tee. Warten, ja, warten auf den Ästen sitzend. Heute sind sie abgesägt. Und Mutter lobte mich. Ein Kinderparadies? Unten am Steinplatz aber der Fiaker, Brr. Hoh. Pferde, wie nah, wie anders, ein Leben, da-mals, das, was jetzt die Autos sind, waren die Pferde für uns, welch ein Unterschied! Und aus dem Fiaker stiegen die Mitzmo¬ther und der Bistritzer Großvater, klein mit Stock, Brille und Hut, die dicke Warze unter dem milden hellblauen Auge, die Mitzmother mit Sonnenschirmchen, ächzend, fettleibig den Weg hinauf, die Steigung am Lindenbaum, vorbei, ich höre ihr zittriges Stimmchen, wehmütig: Ich schnitt in seine Rii¬inde, so manches süße Wort. Ah, das bleibt. Und hinter ihnen Erszi, die Magd aus dem Széklerland, mit einem riesigen Henkelkorb, da gab´s Ess¬bares, frische Kipferl vor allem, Semmeln, Yoghurt, Mineral¬wasser, Borsék oder Wasser aus Homrod, wo wir als Schüler einmal auf einem Harghita-Ausflug badeten, Sauerwasser an der Haut, prickelnd, altes, ver¬fallenes Holzbad mit Holzkabinen, faul schon, und auf den faulen Brettern mit nassen Füßen, Spuren, ein Sprungturm aus Balken, im Wald alles, halb zuge¬wachsen, gut vorstellbar die Mitzmother mit gestreifter Badekappe, Bade¬anzug mit Rüschen, oben und unten eng geschlossen, quergestreift. Juch¬zend, die Oma, kreischend vor Angst und Vergnügen.
Aber in allem schon die geometrischen Formen dessen, was ist: Das Herz schlägt mir höher, wenn ich an den "Dra-chen" denke, an sein Dreieck, es blieb mir, Gottes Auge und der behaarte Ausgang zur Welt. Mein Kinderdrachen aber, wir nannten ihn: Alf, zusammengeklebt aus Packpapier, in der Schnittwarenhandlung Großvaters, mit Kleister aus den Resten und Stützen für Stoffballen, kleinen Leitern aus Hölzchen zusammengeklebt, die Schnur war lang im Frühling, der Himmel hoch mit Vögeln, doch alles war für immer schon vergangen, nur wussten wir es nicht. Und später das Denken beim Abschied und beim Tod: "... an Weggang/ Abflug/ Aufstieg? Uns gehört der Rest des Fadens, und dass wir ihn kannten.“ Mein Kinderdrachen, zusammengeklebt, ihn gibt es nicht mehr.
Ich höre Mutters Stimme, so ist sie wieder da, wie Großvater ja auch, kein Tod, Nie Tod: diese Nähe, so, als lö-se sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, und Vater, lebt ebenfalls wieder: Er hat eine helle Sommerhose, helles Hemd und helle gestrickte Weste an, spannt dir einen Bogen, setzt einen Rohrpfeil ein, oben von der Terrasse schießt du ihn in den Schleifengraben hinüber zur Lehmkeule, oder hoch in den blauen Himmel. Er kommt zurück. Als wär´s ein Erwachen: Und jetzt bist du wieder dort, für Augenblicke auf dieser Terrasse, kannst das Haus sehn, den Maul¬beerbaum, schmeckst die blauschwarzen Beeren. Dort gegenüber, dort hinter dem Maulbeerbaum, und Seidenraupenspinner, „Arachne“, sagte Daniel, der Organist, damals, die Spinne der Welt ganz winzig nur… und musst an ein anderes Überleben, an einen anderen Tod jetzt denken: die Purdis, die Ziganie, nicht alle entkamen den Transporten, Jani nicht und Janos nicht, nur Puşcaş entkam den Todestransporten. „Doch unser Tschiripik war dort, weißt du, dass unser Tschiripik dort war. Wo? Im Zigeunerlager von Birkenau,“ sagte Daniel.
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Und heute? Überzieht Staub die Disteln und Gräser ne-ben den Reifenspuren? Kamille und Täschelkraut dünn und ledern? Nein, ich gehe jetzt auf einer asphaltierten Straße, muss ja auch sein, wie hätten die Autos der Anwohner hier auf solch einem alten Karrenweg für Ochsenwagen fahren können, wo überall der Käbesch, die pflatschige Kuhscheiße lag? Kutschen mit den Großeltern, oder der K.-Großvater, wenn er zu seinen Patienten auf die Dörfer fuhr, wurde doch mit einem Pferdeleiterwagen abgeholt, hier, genau hier an der Tornatz, dem alten Holzhaus, wo ich jetzt stehe: Nein, das gibt es nicht mehr, jetzt ist es ein richtiges, aber verkommenes Haus. Erkenne ich etwas wieder? Hinter dem Vorschein des Jetzt sind meine Erinnerungen verdeckt, zubetoniert, in Gefahr, von diesem Schein des Wirklichen ausgelöscht zu werden? Keine Stimmung mehr, Nichts? Oder ist das nur Kinderei? Nein, ich weiß, ich rette jetzt hier auf dieser Seite jenen alten KarrenWeg, Weg weg, den es nicht mehr gibt! Haben wir das Verlorene in uns behalten? Ja… Denn ich „sehe“ meinen „toten“ Vater, er kommt aus der Stadt, er führt sein grünes Fahrrad an der Hand, riecht nach Tabak, schiebt das Bizzikel, ich darf mit schieben.
Und ich muss an Mutters Worte denken: “Wenn du nach Schäßburg fährst in deine Kinderstadt, wird es nur Ge-fühle vergeblicher Erinnerung geben!“
Wie recht sie hatte: „Du schlägst dich mit deinen Träu-men an ihrem Vergangensein an - alles ist abgestanden, liegen geblieben der Schmerz... Und die Zeit liegt verstreut im schmutzigen Kokelsand…“
Und es schien mir doch, als würde ich hier nun alles neu sehen, und wie zum ersten Mal; aber warum kommen ausgerechnet hier im Normalen, wo die Securitate keine Rolle gespielt hatte, also nur gewöhnliches Zeitvergehen gewesen war, alles wie vom Tode gezeichnet vor. Und es kamen da all jene, die vor mir gewesen waren, alle Toten; und sie tauchten mich ins Unbe¬wusste ein, dass ich ein wenig Frieden finden konnte in dieser Anspannung, es selbst zu tragen, was ich nicht mehr war.
Als wäre auch hier ein Bombardament gewesen, und hätte alles in Schutt und Asche gelegt, auch den alten Schop-fen, den Hof mit den Katzenköpfen, die Tannenhecke, den Nussbaum auf der Terrasse, den Eichplatz auf der Terrasse, die Nische mit der Bank. Als ich Hannah 1990 das Haus ge-zeigt hatte, das Grundstück, wir bis hinauf zum Malerwinkel gegangen waren, und wir sogar, mehr Spaßes halber, unter zwei Apfelbäumen nach dem sagenhaften Familienschatz, den Cocoşei, den Goldmünzen gegraben hatten, war alles noch wie früher gewesen. Wie ein Bild dessen, was nach 89 noch alles zerstört sein wird, erschien mir das arme Sommerhaus, in dem ich keine Nacht hätte schlafen können, meine Erinnerungen wären da an den Betonwänden abgeprallt. Nein, unmöglich, dies zerstörte Haus wollte ich nicht! Und ich werde das auch Mutter sagen! Mutter? Und erschrak. Aber das ist es ja. Ihr Tod fasste nun genau alles zu-sammen, was es nicht mehr gab, wie eine Chiffre. Und denke, wie schön doch die Agapies noch das Stadthaus erhalten hatten, Schuldgefühle empfanden, wenn sie auch nur das Kleinste verändert hatten! Und dabei war das ganz und gar nicht möglich, weil „die Zeit“, dieses Rätselwesen, samt allen Geschehnissen, die sie ausmachen, selbst die Aura löscht und gelöscht hat. Ich erinnere mich wieder an das traurige Weihnachtsfest, das meine Eltern und meine Geschwister nach dem Wiedereinzug in unser Haus, mi den gleichen Gegenständen, Möbeln, Vorhängen bis hin zum Christ-baumschmuck gefeiert haben, und alles nur als Leere und als „Staffage“ empfunden hatten.
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Am Schlimmsten empfand ich, was den Verlust der Ausstrahlung betrifft, unser Sommerhaus. Von einer Ärztin der salvare, der Ersten Hilfe, ihrem Mann, zwei Kindern „be-wohnt.“ Wir traten ein. Außer einem Tisch überhaupt keine Möbel. Alles lag am Boden herum. Im Schlafzimmer, es war total verdunkelt, saßen zwei Halbwüchsige auf elenden Mat-ratzen, kein Bett im Schlafzimmer, da saßen die Kinder der Ärztin und glotzten um zehn Uhr Vormittag Fernsehen.
Ich meinte, Vaters Stimme zu hören, diese Nähe in die-ser Fremde jetzt, so, als löse sich die harte Kontur der anwe-senden verdreckten, schmuddligen Dinge auf, als strahle wie-der eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, da ruft die Stimme wieder: Er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein, oben von der Terrasse schießt du ihn in den Schlei¬fengraben, oder hoch in den blauen Himmel. Als wär´s ein Erwachen: ich schmecke die blauschwarzen Beeren.
„Nur derjenige lebt, der sich von der Erinnerung be-freit“, höre ich meinen Vater sagen. Aus. Und vorbei? Ach, nein, nur ein schöner, noch fühlbarer Albtraum. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren, ich hatte mich „aufgespart“, wofür, für diese Bruchbude?
Das Rätsel dieser Erinnerungs- und Lebensvernichtung, hier ja nur im ganz Kleinen und Engen ist zu komplex, um das Wort „Diktatur“ oder mit Norbert Elias auch Vernichtung durch den „Prozess der Zivilisation“ begreifen zu wollen… Vielleicht gibt es innere Hinweise bei Proust… Oder diese Vernichtung ist so intim und normal unbegreiflich wie der Tod.
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Und sehe jetzt plötzlich wieder zwei Tote vor mir, die ich nie mehr erreichen werden kann… Mutter und im Hinter-grund Friederike in einem weißen Morgenkleid, das ist ein schlechtes Zeichen... Und sie redet wieder wie früher, erzählte ja gern, nur ihr Gesicht ist so blass: „Kamm, mer gohn hiemen“, sagte sie. Und sie ging voraus. Wir gingen über die alte Holzbrücke bis zum Sandplatz und dann die steilen Steintreppen am großen Hühnerstall vorbei ins Rote Haus, wo wir wohnten, bis das neue Haus gegenüber der Ziganie fertig wurde. Sie hatte wie immer ein Morgenkleid an, und ihre Augen blitzten. „Cha, menj Jang“, sagte sie, „enzt äs, jetzt ist gerade auch der Amerikaner, der Mischonkel, da“, sagte sie: „komm schnell, er wird uns besuchen, du weißt doch, men Jang, Amis und Tante Cäcilies Bruder ist zu Besuch, der Schiffsarzt, einer, der nur mit Millionären zu tun hatte auf Lu-xusdampfern, der Misch erzählte uns vorhin, dass auf der letzten Kreuzfahrt ein amerikanischer Milliardär an einem Herzinfarkt verstarb, und da hat er, der Schiffsarzt ihn einbalsamieren müssen, stell dir das vor!
Das war schon beim Frühstück. Der Mischonkel be-diente sich auf der blauen Veranda, die fast wie eine Lugesch war, und wo man beim Frühstück saß, aß vom Lakes, denn die Ladwerch, das Pflaumenmus, schmeckte ihm nicht, und er schmatzte.
Ja, der Mischonkel saß auf der blauen Veranda und er-zählte. Und wenn er erzählt, kommt niemand zu Wort, nicht einmal das Mundwerk der Tante Cäcilie ist ihm gewachsen!
Hörst du ihn, mit seiner sonoren, ein wenig lispelnden Stimme? Er erzählte unmögliche Geschichten, die sich wirk-lich zugetragen haben sollen. So habe sich in Neapel eine ita-lienische Opernsängerin in den Grafen Teleki verliebt, dabei sei er ein Phantom gewesen, und habe so am Leben bleiben wollen, indem er der Sängerin Blut trank.
„Awer Misch!“ protestierte dann die Ami. Wollte ihm solche Geschichten untersagen. Die jungen Frauen aber riefen: „Erzill, Mischonkel, Erzill!“ Und er erzählte die grausigsten Geschichten weiter, am Schluss aber schloss er immer mit einem Arienfragment: „Innamorato, mio cuore tremante. Voglio morire!“
„Diese Dauerflucht aus der Wirklichkeit“, höre ich Mutter sagen: „Auch seine Reisen waren nichts anderes, er ist bis nach Australien gekommen, er war viel in New York, oft in Triest, und dort hatte er auch einen unehelichen Sohn, der Julius hieß. Ach, es war ja typisch für ihn, dass ihm das alles nichts ausgemacht hat.“
„Ich würde ihn gern kennen lernen, mit ihm sprechen! Geht das…?“
„Nein, das geht nicht!“
„Warum nicht?“
„Bei ihm geht das nicht! Er hat sich nach seinem Tode vielleicht aufgelöst, er hatte keinen festen Kern. Auch das war ja typisch für ihn, es hat ihm alles nichts ausgemacht. Er hat es einfach weg geschoben! Und unsere gute Grießi, meine Großmutter, seine Mutter, fuhr mal nach Triest, wo auch sein jüngerer Bruder, der Willonkel, der dort die Militärakademie besuchte, Offizier werden sollte, krank war, Misch studierte Medizin damals. Sie hatte sich einen Passierschein verschafft, sie war eine sehr tapfere und energische Frau. Und als sie nun da bei ihrem Sohn war, da tat sich die Tür auf und es stürmte ein kleiner Junge herein; die Grießi warf nur einen Blick auf den Jungen, drehte sich mit strafendem Blick dem Schwerenöter zu und sagte nur kurz: „Awer Misch!!“
Der arme Julius trat in der Familie nie in Erscheinung, der Mischonkel hat ihn einfach unterschlagen. Und schna-pode behandelt. Das war scheußlich. Der Julius, Sohn einer Triestinerin! Er wollte ihn nicht anerkennen. Aber der fuhr dann jedes Jahr nach Rumänien, pflegte und versorgte den Hansonkel, den jüngeren Bruder vom Misch, der krank war. Und geizig war der Misch auch noch. Wenn er von seinen Weltreisen ins kleine Schäßburg kam, da hatte er erst am Bahnhof die Idee, er müsse nun seinen Nichten etwas schenken; und da gab es am Bahnhof so einen Ständer mit Schundliteratur, dort kaufte er schnell ein Buch als Mitbringsel. Seiner Nichte brachte er Die kleine Dagmar. Die Ami konfiszierte das dann sofort. Und wenn er von seinen diversen Bräuten in den Häfen erzählte: „Wießt tea, det Fritzi, dat hat ech scher franjdert. Weißt du, die Fritzi, die habe ich fast geheiratet, die hat mich fast rumbekommen! Dat hat mech scher ämeränk bekun -.“ (Großes Gekicher und Gelache. Vor allem Großvater lachte herzhaft schallend). „Mer hadden schien de Möbel bestallt. Awer ech hat mich dron doch schniell aus dem Stuuw gemacht. Wir hatten schon die Möbel bestellt, aber ich habe mich dann doch schnell aus dem Staub gemacht!“
„Ein schöner Kerl war er ja, aber voller Neurosen und Ängsten. „Fritzi, sagte er zu meiner Mutter, net wohr, hegt kit nichen Besack.“ Und wenn dann doch ein Besuch kam, dann verschwand er durch die Hintertür und ab in den Wald, um ungestört zu sein. Nun hatte man damals den Stadträuber Ma-jorkowitsch gesucht, ausgerechnet auch in unserem Steilau-wald, die Gendarmen waren hinter ihm her. Und wenn der Mischonkel dann so durch den Wald wanderte, begann er Ge-spenster zu sehen; er war leger angezogen, weiße Hose, blaues Hemd, Tennisschuhe. Und plötzlich hörte man ihn dann von oben aus dem Wald rufen: „Hopphopp, Fritzi, äs de Bienesupp fertig. Ist die Bohnensuppe fertig? Wäßt ihr“, sagte er dann nachher, „et kamen plötzlich zwin Polizisten, und ech docht, nett datt dä mich hoppnien, datt dä dinken, ech wer der Majorkowitsch. Ich dachte, dass die mich festnehmen, meinen, ich sei der Majorkowitsch.“
Ein Horror war´s für ihn, wenn er wegmusste, als hätte er Platzangst. Er musste ja seine Urlaubstage teilen zwischen uns auf der Steilau und Tante Cäcilie im Mühlenhamm. Da war er schon ganz krank, wenn es hieß, morgen müsse er in den Mühlenhamm. Er war lieber bei uns. Und ein wenig autis-tisch, wie er war, fiel ihm jede Veränderung furchtbar schwer: „Sall ech na wedder än en ander Bäd, ech halden dat nett aus. Uch des Driem do. Soll ich denn wieder in ein anderes Bett, ich halte das nicht aus. Und dann diese Träume dort.“ Vor den Träumen hatte er ständig Angst, ging ungern schlafen, der Arme. Manchmal ließ er auch einen fahren. „Tea Misch!“ sagte dann die Ami. „Awer wat, do hot doch nor der Stahl gekerzelt. Aber was, da hat ja nur der Stuhl gequietscht.“
Er hat an der Börse spekuliert. Und verloren. Zuletzt hat er in New York gelebt. Aber das ging nicht besonders. Er war schrecklich empfindlich und oft gedankenverloren, kaum geeignet für das Großstadtleben. Und er hatte ständig vor irgend etwas Angst, alle Dinge rückten ihm auf den Leib, und vor jeder Berührung grauste es ihm. Immer gab´s Krach, wenn man seine Bettwäsche wechseln sollte. „Ihr seid ja verrückt“, sagte er dann: „kaum habe ich mich an einen Polster gewöhnt, nehmt ihr ihn mir schon wieder weg.“ Ebenso genial ging er mit seinen Hemden und mit seiner Wäsche um: „Kaum hat man sich an ein Hemd gewöhnt, reißt ihr es einem schon vom Leib. Ihr seid ja fanatisch mit eurer ewigen Putzerei und Wascherei.“
Er war hochintelligent und begabt. Er konnte zehn Sprachen. Und er sang Opernarien auf Italienisch à la Caruso. Ich höre ihn noch heute, sehe ihn, wie er dasteht und singt. Aber er war eben auch furchtbar nervattich. Nachts wie ge-sagt, hatte er Alpträume, schlug richtige Schlachten im Traum, er flog, da kamen die Ungeheuer, alle weichen Dinge krochen ihm angeblich tief in seinen Leib, in seinen Kopf rein; daher gab es auch Streit, wenn er seinen Pyjama wechseln sollte, vor allem, wenn die Pyjamas aus Barchent waren, ihm Hautausschläge verursachten, Allergien, so dass es ihn entsetzlich juckte.
Und wie gesagt, der Mischonkel dachte nur an sich. Hat auch seinen Sohn, den Julius, verleugnet. Roland hat dann diesen Sohn später wieder entdeckt. Roland hat Sinn für Ahnen- und Familienforschung; er ist schon ein Familienathlet, ist davon überzeugt, dass Ahnenforschung das wichtigste überhaupt sei, was es für uns geben kann! Er war auch der erste, der sich einen Ahnenpass machen ließ! Mit den Runen. Merkwürdig, vielleicht ist Roland doch kein Familienathlet. Aber er ist gar nicht aus der Art geschlagen, wie der Mischonkel. Doch etwas Gemeinsames haben sie ja trotzdem, sind beide nervattich, Willi, sein Bruder, war sogar mondsüchtig! Er lief bei Vollmond um den Küchentisch und rief: Ech sterwen, ech sterwen, ech sterwen! Wir hatten alle Angst davor! Er war dann wie ein Gespenst ganz blaß und übernächtig!
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Doch Sorgen machte uns allen der Tallo, der Töff, der mit den vielen Spitznamen, der blassgesichtige Jüngste, ein Kriegskind war er, wie meine Mutter sagte, „lasst den Armen, sekkiert ihn nicht, er ist ein Kriegskind“, war blutarm, hatte schreckliche Prüfungsängste als Abiturient, und fiel dann auch durchs Bac, hatte wie gelähmt vor der Prüfungskommission gesessen und kein Wort herausgebracht. Alle, alle waren sie nervattich, sogar die andere Seite, der Bistritzer Großvater…
Alle haben da etwas Verschupptes, vor allem aber Tan-te Cäcilie hat das, dies Hysterische, die Rederitis und das Sprunghafte. Und Gertrud, meine Cousine, die doch in Buka-rest mit diesem Mircea, dem armen Teufel, der sich aus dem Fenster gestürzt hat, gegangen ist, die ist genau so überschäu-mend und neurotisch-nervattich.
Der Mischonkel aber, der war amüsant, der war köst-lich. Hast du es nicht erlebt, wenn er vorzeigte, wie man tanzt, das war oben auf der blauen Veranda im Baumgartenhaus: „VaterVaterta, Pass, jetzt, hallo, so! Wäßt ihr, isi hun mer än der Danzsteangt gedanzt: TaraVaterta, Paare jetzt! Kamm, mer sellen et probieren.“ Und die Ami protestierte: „Misch, ech bidden dich, mach net esi en Komedie mät den Känjdern!“ Und er: „Na kitt en Zwickipussi.“ Und davor hatten wir Angst, Friederike und ich, wir sträubten uns, konnten das nicht ausstehn, wenn er uns in den Arm nahm und uns schmatzend auf den Mund küsste“, sagte Mutter: „Ekelhaft, wie ein Reptil“.
Kaiser Franz Josef hieß sein Schiff, Heimathafen Triest. Hast du diese alten Fotos gesehen, köstlich: Kaiser Franz Joseph im Hafen. Kaiser Franz Joseph im Sturm. Kaiser Franz Joseph auf hoher See! Köstlich, diese alten verblichenen Aufnahmen.“
„Wann war das gewesen?“
„Naja, das kann so 1934 zur Zeit deiner Geburt gewe-sen sein!“
„Und da gab es wohl große Temperamentunterschiede zwischen dem Michschonkel und dem Großvater??!“
„Ja, das musst du dir vorstellen, wenn der Mischonkel sich produzierte. Der Großvater sah missbilligend auf den un-beherrschten verweichlichten Schwager herab. Dieser Kosmopolit und Weltenbummler, schon ganz undeutsch in seiner Art; der Großvater aber diskutierte mit Oberbaurat Jacobi über die Stadtsanierung. Geriet in Eifer. Dabei ging es vor allem um die Kanalisation, die nicht anständig durchgeführt worden war. „Wollen wir“, sagte Großvater, der ehemalige k.- und k-Offizier, der für absolute Ordnung und Ordentlichkeit und Anständigkeit war, sagte es ärgerlich: „die unterhalb des Galtbergs und des Knopfes gelegenen Häuser in der Unteren Baiergasse, der Hinter- und Schaasergasse und teilweise am Marktplatz vom Grundwasser befreien und verhindern, dass die Schmutzwasser das Innere der Stadt, besonders im Winter, in ekliger Weise verunreinigen? Und wollen wir die Ausbreitung der Kläranlagen mit ihren durchaus nicht einwandfreien Ausflüssen in die Kokel, den Hundsbach, als Ziel setzen, so werden wir in absehbarer Zeit nachholen müssen, was wir sonst fast umsonst bekommen hätten, wäre der Zufall des Krieges nicht gewesen und damit die enorme Geldentwertung. (Der Umtausch der Kronen in Leu brachte fast 60% Verlust!)“
Von Großvater weiß ich, dass der Oberbaurat Jakobi, an den dieser Vorschlag gerichtet war, nicht sehr begeistert war: Er nahm einen Schluck, sah den Obertierarzt freundlich an und wies darauf hin, dass ja einiges vom Magistrat geleistet worden sei, „so ist es ja nicht, alter Freund.“ Auch ihm beleidige der unangenehme Geruch in der Stadt oft die Nase, vor allem im Frühjahr und im Herbst, wenn der Grundwasserspiegel sich hebe, aber schließlich sei die Neuregelung der Feldhut, die Verlängerung der Burg-promenade, der Bau der Stierstallungen – „was dich, Karl, ja besonders ehrt“ – dann die Asphaltierung der Park-, Bahn- und Schaasergasse, sowie dann der Martin Eisenburgergasse und der Albertstraße, eine Leistung der Stadt.
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Was dem Großvater am meisten Sorgen bereitete, das war unser Tallo, der Töffti. Der war doch sonst so forsch, wenn er "die Männer" des Coetus beim Skobationsfest, bei den Aufmärschen mit der Blasia streng anherrschte: „Wer spricht da im Glied!“
Aber sehr ungeschickt, abwesend war der Tallo. Lag oft im Braten. Und die zogen ihn dann auf, die älteren Geschwister; vor allem dieser Fratz, die schnippische Eri, sonst ja seine Lieblingsschwester, die Schnuck, aber auch der sarkastische Hermann, sonst verträglich, der Hamuker, zog ihn auf. Und dann wettert unser Töffti los, stampft mit den Füßen auf, leicht unartikuliert wütend, als hätte ihm jemand seine offnen Nervenenden berührt. „Er ist ein Schwieriger“, seufzt der Tierarzt. Trabt schnaubend und prustend davon, wenn sie ihn ärgern, trabt über die Katzenköpfe des Hofes in die Baiergasse, manchmal mit der Agnethler Kleinbahn, die der Richtung Post zu faucht und pfeift, um die Wette, es kaum schafft; da hat er wenigstens einen "Überlegenheitsspaß", sagte er.
So gemütlich ist ein Schässburger Frühnachmittag. Und dem Jungen kommt wieder sein sonniges Lachen, wenn er die dunkelblaue Mütze mit den Oktavafarben abnimmt und Bekannte grüßt; verraucht ist der Zorn af des Schkäpsen, seine Schwester und det Schwenj, seinen nüchtern überlegenen Bruder. Was die sich einbilden! Als er ins Lager zog... Gut, dies Lager zur Ertüchtigung … gegen dies Weiche und Verträumte in uns, sehr gut. Zum futtern nach schwerer Arbeit, also Bewässerungsgräben ausheben bei Trappold, gestählter nackter Oberkörper, "Arbeitsmänner" marschieren mit geschultertem Spaten in Reih und Glied, haben ein fröhliches Lied auf den Lippen.
Heute wollen wir marschiern,
einen neuen Marsch probiern,
übern grünen Westerwald
ja da pfeift der Wind so kalt...
Oh, du schöööner...
Vor allem dieser kleine Affe, die Eri, verspottete ihn, Kinder sind ja grausam: sie ist so ganz anders, als hätte sie den Veitstanz, lacht sie und quieckt, flettert und macht alle nach, ist ein Irrwisch; Tallo hatte seine Initialen (Karl W. K.) auf die nach Vorschrift eingepackten Lebensmittel ge-schrieben: „K.u-K.-Bonen.“ Die Geschwister gaben ihm alle möglichen Spitznamen, Töffti, Tallo, Ali. Und unser Irrwisch spottete: K. und- K.-Bonen, kaiser-königliche Bohnen, und führte dazu einen Indianertanz auf.
Dabei sollte diese Göre wissen, was wir Männer leis-ten, denkt der arme Töffti: Das greift ans Herz, Lied und Vogelstimmen, und gesunde Oberkörper, wie die Zukunft leuchtet auf dieser Lichtung. Kameradschaft. Gemeinschaft, da gehört jeder dazu, sogar die Stupsnase, das hässliche Gesicht, das Schielen, die hervorstehenden Backenknochen – all das wird geläutert, wenn der Mann in der Formation erscheint, hier im Spiel wird sogar die Säufernase plötzlich rein¬ gewaschen vom Morgen, alles Jüdische, alles Asiatische ver¬schwin¬det. Vielleicht geerbt? Jede heimliche Schuld der Ahnen, die einer im Blut mitzuschleppen hat als vielleicht unglückseliges Erbe, das ihn unrein, minderwertig machen könnte. Manche sind vielleicht kör¬perlich etwas behindert und leiden seelisch unter den unglückse¬ligen transsylvanischen Depressionen, wohl ein Erbe unserer jahr-hunderte¬alten Inzucht.
Unbeschreiblich tief greift es ins Gemüt, das es auf-wühlt, so dass die Tränen locker sitzen: Heil, heil, heil möch-test du immer rufen: als Teil dieses zuchtvollen Einmannwe-sens, das wir sind, wenn wir soldatisch stramm und nicht in der Masse, dem Sauhaufen stehen, wenn es in uns hineingreift wie ein tiefer heiliger Gehorsam, mitschwingend im Herzen, nicht im trüben, nein im geläuterten bewussten Willen, der gestählt alle deine Glieder durchdringt, und du dich straffst, spürbar im Marsch, wenn es deine Beine hochreißt, wenn es dich dabei durchrieselt im Entzücken, dazuzugehören im Rhythmus des einen Taktes, den kosmische Wellen zu durch-zucken scheinen, unbeschreiblich in der Größe, unsichtbar im heiligen Mitmarschieren für die Idee, Teil der Idee.
Auch der Strom dieser Reden aus dem Reich, der uns durchgießt, der uns erhebt, ist unbeschreibliches Entzücken, erhoben zu sein, ein Sein zu sein, als solches: ein Sein hocherhoben im Strom des Deutschseins, wir, sonst ausgeschlossen in der fernen Heimat, nun zum Reich und zu seinem Führer und zu seinem Volk zu gehören.
So dachte Tallo, auch Hermann, der Nüchterne, begann so zu denken, vor allem aber Roland lief es kalt über den Rücken, wenn ihn diese Idee ergriff, dann spielte er wild auf dem Klavier ... Wagner vor allem, aber auch die Marsch-lieder!
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Erstaunlich, dass sich in einem Verschlag des Holz-markthauses noch Fotos und Fotoalben und alte Zeitungen befanden, Agapie zeigte sie mir stolz, ich könne sie natürlich mitnehmen, wenn ich wolle. Ich wollte. Und ich sah begierig diese alten Fotoalben an (sie waren bei der überstürzten Aus-siedlung vergessen worden), las Zeitungen, las vergilbte Familienbriefe aus alten Kartonschachteln, aus Schuh- oder Schokoladeschachteln und Koo-i-noor-Büchsen; nahm Fotos aus einer Blechdose, auf der Kinder mit Tschakos und Holz-schwertern hintereinander hermarschieren; abgebleicht freilich die Dose, mit Kratzern auf der Farbe, daraus zog ich wie beim Zaubern das bekannte braunblasse Großvaterbild hervor: Karl K. saß als kaiserköniglicher Offizier auf einem Schimmel, war ein Herr, saß aufrecht im Sattel; auf einem Klepper neben ihm der Bursche; Galizien 1917. Winzige Negative in der Koo-i-noor-Schachtel, oder Faschingsfotos aus den dreißiger Jahren, gelblich, die Umrisse kaum erkennbar, wie Geisterbilder – schwebend, leise Stimmchen schienen hörbar zu werden, schienen hervorzukommen, auch die Figuren wurden lebendig; im Zimmer ein Rumoren wie zu Hause: Ich sah das Herrenzimmer am Holzmarkt, es muss 1934 gewesen sein, Frühjahr, Mutter mit dickem Bauch auf dem Eckdiwan. Ich muss wohl im Kommen gewesen sein – um sie herum die Großfamilie, Onkel Ali, der Töff, im dunklen Anzug mit Gerda, der Nichte der Mitzmother, auch sie elegant, als die Jüngsten in der Familienrunde hocken die beiden auf dem Boden, Töff und Gerda nun schon lange tot, tot auch mein Vater, der hinter ihnen saß, eine dicke Hornbrille entstellte sein Gesicht; dann Franzonkel, Hildetante, die Bistritzer Verwandten, Großvaters Geschwis-ter, Friederike ganz jung und mit Konch, die Heidelischen, Gustitante und Hermannonkel traut vereint nebeneinander; am grünen Kachelofen lehnte Rozsika, die Székler-Magd, nur ein Schatten ist von ihr zu sehn; auch die Bibliothek ist nicht erkennbar. Alle sind tot, außer ... dem damals noch ... Ungeborenen...
Mutter aber ist immer da; ihre Stimme ist zu hören, wenn ich schreibe, denn sie erzählt, sie hat ja immer noch ei-nen Ungeborenen vor sich; ihre Stimme ist ein wenig hek-tisch:
„... Die Gartenwege sind schön gekehrt und geharkt. Auf dem Verandatisch liegt die blaugepunktete Decke, und auf dem alten blauen "Glaskasten" meiner Mutter, der Ami, steht im dicken Tonkrug ein großer Feldblumenstrauß. Ami hat die Riesenportion "gefüllte Ardei" eben fertig und schickt Marischka, das ungarische Dienstmädchen, mit der "Bremer Speise" - Creme in den Keller. Harry, der Schäferhund, liegt schläfrig vor der Verandatür. Plötzlich spitzt er die Ohren, und schon ertönt vom jenseitigen Bachufer Tante Cäcilies melodisches "Hopp, Hopp", der Familienbegrüßungsruf. Und bald gibt es eine stürmische, lautstarke Begrüßungsszene. Ja, das ist die geliebte Tante Cäcilie, wie immer in ihrem weißen Kleid, den Florentinerhut mit schwarzem Samtband auf dem Kopf, ein Wortschwall in unnachahmbarer Schnelligkeit ergießt sich zur Begrüßung über alle. Ruhig, still daneben Onkel Daniel mit seinen gütigen blauen Augen. Dann ihre zwei Söhne, Roland und Reinhard.
Nach der Begrüßung werden die Badesachen hervorge-holt, und schon geht es hinunter zum Schaaser Bach. Unter dem Wehr, am "Dusch" erfrischen wir uns. Nach dem Bad es-sen wir Himbeeren im Gemüsegarten und schütteln den Som-merreisapfelbaum. Auf der Terrasse, unter den alten Eichen ist dann die lange Familientafel gedeckt. Jeder nimmt seinen Platz ein, der Großvater begrüßt die Gäste, und Tante Cäcilie sagte ein Gedicht auf: Immer hat sie ein Goethezitat parat. Al-le sind ergriffen und gerührt. Aber bald gibt man sich den leiblichen Genüssen hin. Die "gefüllten Ardei" werden aufgetragen.
Ergriffen und gerührt. Soo schön. aber dann hebt das "Tschawalles" an: Alle reden durcheinander. Tante Cäcilie am schnellsten, zungenfertigsten. Man kann sein eignes Wort nicht verstehen, brummt mein Vater. Diese schlechte Fami-lienan¬gewohnheit. Warum schreien sie? Unbeherrscht. Keiner hört dem andern zu. Wie ein großes waberndes Wesen umgibt die Großfamilie alle, zieht sie in sich hinein, diese Atmosphä-re der Nähe auf der Eichterrasse an den reichlich gedeckten Tischen – ist dick zum Schneiden, mit den Händen fassbar, und man bewegt sich sicher in dieser Umgebung, im kühlen Schatten, in diesem Element des glücklich Vertrauten: Alles ist so einfach und schön geordnet wie die Schüsseln auf dem Tisch. Und doch - warum schreien sie alle durcheinander. Als wären sie gefährdet, als müssten sie ertrinken oder sich gegen irgend etwas selbst behaupten? Es ist so, als wären sie alle mehr, als stände ihnen mehr Selbstbewusstsein zu, als sie bekommen, als sie hier jedenfalls brauchen können. Oder ist es ein Rausch, dieses Zusammensein, in dem man das tägliche leise ziehende Unbehagen, diese leise
Angst vor dem Kommenden vergessen kann?
Die Männer sind ruhiger. Als hätten sie sich an eine Ahnung von etwas Unvermeidlichem längst gewöhnt; man ist hier so schön geborgen, und doch ist es so, als wäre dies alles nicht mehr ganz wirklich; der Nussbaum, die Terrasse, der Blick auf die vertrauten Konturen der Burg, die Buner Berge, die Nähe hier: die Tannen, der Huflattich zwischen den Stei-nen – alles ist schon wie längst vergangen, wie stehen geblie-ben, wir: auf einer kleinen Insel.
Vater sagte manchmal: „Seit dem verlorenen Krieg von 1918 und dem Zusammenbruch der Monarchie ist nichts mehr so wie es war.“ Ich denke an Joseph Roth oder Stefan Zweigs „Welt von gestern“… alle, alle sind sie an diesem Leid, dass jene Welt untergegangen ist, zugrunde gegangen, mancher durch Suff oder Selbstmord. Keiner wusste, dass der Teufel Rettung anbot und zum neuen und endgültigen Untergang dieses Lebens hier führte und zum Tod so vieler, auch aus dieser Runde. Und Mutters Stimme ist zu hören:
„Der Himmel bedeckt sich plötzlich mit dunklen Wol-ken, es ist drückend schwül, konnte nicht regnen. Dann end-lich sausen dunkle Schatten lautlos über die Erde. Ozonduft, Frische. Erste große Gewittertropfen. Schnell die Stühle hi-neintragen.
Und als wir dann gemütlich im Sommerhaus auf der Veranda sitzen, meinen wir zu träumen. Krachend schlägt der Blitz in der Nähe ein.
„O Jessas, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“, ruft die Ami erschrocken, als könnten sie die Worte schützen wie ein Zauberspruch.
Ja, es sind ferne Heimaten in uns, Wolkenstreifen, wir denken immer, es könnte jeden Augenblick etwas Schlimmes geschehen.
Und Roland sitzt am Fenster und sieht auf die Silhouet-te der Burg, die zwischen den tief hängenden Regenwolken und den Regenstreifen gerade noch zu erkennen ist: Es schüt-tet. Es trietscht; durch den Hohlweg schießt schon gelbes Lehmwasser, die Wege sind kleine Bäche.
Roland fühlt sich einsam, verlassen.
Und Vater versucht, das Gespräch wieder zu beleben. Aus dieser Stimmung heraus redet er laut in den Raum, die Worte wie schwere Brocken. Wieder politisiert er, kann es nicht lassen:
„Und tatsächlich ist es so, als sei hier nun seit 1918 al-les tiefste Provinz. Das war doch anders, als wir noch zur Mo-narchie gehörten; als sei man jetzt vom Weltgeschehen abge-schnitten. Budapest oder Wien waren auch weit; ja, aber Bu-karest – die neue Hauptstadt, es kommt mir vor, als wäre sie gar nicht vorhanden.“
„Sie wollen uns verschwinden lassen, einbauen in ihren Staat“, Roland ist wieder sehr erregt. „Das wird ihnen aber nicht gelingen.“
Er steht wie elektrisiert auf und trommelt an die Schei-ben: „Die neuen Minderheitenverträge werden nicht eingehalten. Und wem gelingt´s schon, in den Staatsdienst zu kommen wie früher. Was sollen wir noch hier?“
Schon während des Mittagessens, als er seine dreißig Zwetschgenknödel hinunterschlang, übermütig rief: „Menj Boch jubiliert“, hatte er sich über diese Unverschämtheit, die sich „die Walachen“ leisten, ereifert.
„Jaja, die haben wieder führende Parteigenossen verhaftet und dem Buchhändler Ambrosius verboten, "Mein Kampf" und andere wichtige deutsche Bücher im Schaufenster auszustellen. Stell dir das nur mal vor, nachdem doch die Bewegung im Reich solch einen grandiosen Sieg errungen hat!““
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Ich sehe das vergitterte Fenster wieder vor mir... Aber in mir klingt es, dieses transsylvanische Tschawalles ... und bin etwas gerührt... als wäre ich dabei gewesen ... man hatte bei dem Geschrei nicht viel von diesen Männersachen gehört, die Worte waren versickert. wie von einem großen Wesen, einem Kobold, werden alle, aber vor allem die Frauen befallen; eine leichte Hysterie liegt in der Luft, als könnte jederzeit einer wirklich anfangen zu toben, zu weinen, sich die Kleider in Fetzen zu reißen. Aber nichts geschieht.
Auf der Bücherstellage von Eris Vater lagen die dünnen bräunlichen Hefte. Das letzte Heft enthielt diesen Aufsatz vom ehemaligen k. u. k.- Rittmeister Fritz Fabritius aus Hermannstadt, und Onkel Daniel wetterte gegen ihn, man werde ja sehn, was aus dem grässlichen Schwulst werde. Böse war Onkel Daniel auch, weil Roland in die Arbeitsmannschaft der Nazis eintreten wollte, sich dauernd bei denen herumtrieb und „ungeheuer bombastisches Zeug von sich gab. Dieser Finsterling von einem Rittmeister, Fabritius hieß der, ruiniert doch die Sachsen“, so Onkel Daniel.
Doch komm zurück in die Gegenwart, sage ich mir jetzt… Wann war das gewesen? Jetzt haben wir die Jahrtau-sendwende hinter uns… Das ist ein gewaltiger Sprung! Daz-wischen liegt mein Leben und das Grässliche des Zwanzigs-ten Jahrhunderts, des Mörderjahrhunderts. Ich bin immer noch da! Und heute gab es wieder einen Abend mit Adam Salmen. Salmen sagte, er habe bis heute die Sachsen nicht verstanden. Sein Ausflug nach Deutschland vor einigen Jahren als "Wiedergutmachungs¬jude" sei gescheitert, nach einem Jahr sei er wieder zurück in seinem Schäßburg gewesen, die Sachsen aber lebten heute alle in Deutschland; wo sie auch hingehören!? Und er, der Jude, lebe nun auf ihrer berühmten „Scholle“ … und verteidige sie?
„Ich hatte keine Lust auf Deutschland“, sagte er, und sein totenkopfartiges Gesicht wurde noch knöcherner: „Ich wollte nicht so wie jener werden, der in einem kleinen, von Bäumen umstandenen Haus als größter Clown lebte, den Deutschland je besessen hatte, der Clown, der sich dafür ent-schieden hatte, zu ihnen zurückzukeh¬ren aus den Krematorien, die sie für ihn gebaut hatten. Nun ja, das wäre vielleicht tatsächlich eine Art Garantieschein gegen die Hölle, wenn es überhaupt etwas Schrecklicheres geben sollte als das Werk ihrer deutschen Hände. Sie schrieben ja auch über mich Artikel“, sagte er, „sie interviewten mich, wie jenen anderen Juden, den Schriftsteller, der in Ostdeutschland lebte, dem sie Auszeichnungen verliehen hatten und Freundschaftsurkunden. Und der vergalt es ihnen. Er lächelte den Fotografen zu aus seinem selbstgeschaffenen Sarkophag, aus der toten Musik und der verloschenen Welt, und besuchte gelegent¬lich sogar ihre Partys, wo er gemeinsam mit ihnen über die deutsche Teilung stritt.“
Nein, das wollte Salmen nicht. So kehrte er zurück in die Armut. Lebte hier im armen Schäßburg einigermaßen ru-hig, auch wenn er noch oft nachts im Traum schrie. Wir gehören zusammen, jene, die zusammen waren, auch ihm erging es so, er wurde aufgeschreckt aus der roten Idylle: „Als ich erfuhr, dass meine Tochter Stefi am Leben war, stürzte mein selbstgebautes Kartenhaus in sich zusammen. Alles geriet durcheinander und wurde unverständlich.“
Salmen saß in Gedanken versunken da und stellte Fra-gen, die niemand beantworten konnte, auch Edith nicht. Selbst Dr. Heini Blau nicht, sein guter Freund, ebenfalls Advokat.
„Ich bekam Gefühlsausbrüche, wie ich sie noch nie ge-kannt hatte: Ich begann mich nach jemandem zu sehnen, des-sen Gesichtszüge ich vergessen hatte, nach meinen Leuten sehnte ich mich“, sagte er. Und Edith tat so, als müsse sie et-was Dringendes in der Küche erledigen und ging hinaus... Salmen aber bemerkte es kaum, und ich dachte plötzlich an Celans Konflikt, als er sich mit Französinnen einließ, und weiter an seine jüdischen Mädchen denken musste.
„Ich sandte Stefi einen Brief an die Adresse, die ich er-halten hatte“, sagte er. „Ich erzählte ihr von mir, von ihrer Mutter und ihrer Schwester. Ich schrieb, dass ein glückliches Lächeln auf ihren Gesichtern gelegen habe, als ich sie auf ih-ren Tod zugehen sah, und dass sie deshalb gewiss glücklich seien an dem Ort, an dem sie in Rauch aufgegangen, so leicht und flugbereit dann in den Himmel gekommen waren. Als ich keine Antwort erhielt, schrieb ich wieder und immer wieder. Ich schrieb, dass Gott geschwiegen habe, dass die gute Welt damals 1933 gestorben sei, dass Europa, das Christentum, das Judentum, der Mythos, Griechenland, die heiligen Schriften, Augustinus, die Zivilisation, die europäische Kultur, das Rö-mi¬sche Reich, der Humanismus, alle an einem Tag unterge-gangen seien. Auch diesmal bekam ich keine Antwort.“
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Als ich dann von Edith und Salmen wieder über den Neuen Weg und die Ecatarina Teodoroiu auf den Holzmarkt kam, nahm ich im Holzmarkthaus die Schachtel mit den Fotos, als müsste ich endlich jenen anderen, den guten Zustand mit meinen Sachsen finden, doch daraus wurde wieder nichts, nur meine Kindergefühle hingen, ja, glangelten im Leeren: Verwackelte, im Gelbton verschwimmende Geisterfotos, Mutter im Dirndl, Vater im weißen Hemd mit Krawatte; immer diese Krawatte; einen Staubweg zwischen großen Wiesenblumen entlang gehend, mit Freunden. Er in schwarzen Trachtenstiefeln, später dienten diese Stiefel bei der Feuerwehr und in der DM, der Deutschen Mannschaft – Fallschirmjäger sollten sie bekämpfen. Also entlang gehend einen Staubweg, an Wiesen vorbei, Kornblumen, Mohn, Margeriten, oder auf einer Staubstraße stehend, einige Ausflügler auf Lastwagen, andere wieder rauchend und redend auf einer staubigen Landstraße. Wenn es regnete, platzten Sternchen im Staubmehl. An großen Wiesenblumen entlang gehend, unter Regenschirmen, laufend, sie im Dirndl, er im weißen Hemd mit Krawatte, immer trug er Krawatte, als hätte sie ihm Halt geben können, mehr noch vielleicht gaben die hohen Schaftstiefel Halt. Zwischen großen Margeriten stehen sie, der Geruch von Waldluft kommt mit einem östlichen Wind von der Breite, Hochplateau, tausendjährige Eichen.
Oder ein Faschingsfoto: Sie, mit ihrem Freund Rob, Vaters glattes schmales Gesicht ist ihnen zugewandt, melancholisch schaut er zu ihnen hinüber. Über ihnen hängt ein großes Bild, ein Kornfeld, roter Mohn, die Jesusjünger, Evangelisten, der Heiland einem Gewitter zugehend. Friederike sitzt am Boden des Fotos, nicht des Wandbildes, das im Foto hängt.
Friederike frech rauchend beim Fasching. Sie hat ein Kleid jener Endzwanziger an, hockt auf dem Boden unter dem großen Bild mit Jesus und den 12 Aposteln in Korn und rotem Mohn. Georg ist noch nicht dabei, damals hatte sie noch ihr Leipziger „Liebchen“, so sagte man´s auch für einen Mann bei uns, mit dem sie zehn Jahre lang Briefe wechselte. Aber der Heimat treu und dem Vater, blieb sie im Lande, hatte zusätzlich noch Angst vor der Fremde und der großen Stadt im Reich. Hinaus durften nur die Männer. Aber es rumorte in ihr, ein dauerhafter Schaden blieb zurück. Schaden auch durch die lange "Anständigkeit", der lebenslangen, der sauer gewordenen, bis in den wuchernden Körper hinein, bis zum Tode, seit sie Abschied genommen hatte von ihrer verzauberten Seele, die keinen Leib haben durfte.
Doch gab´s Tanz auch im Sommer: Mulatschak, Murri nannten sie die Partys, legten sich in der Früh, wenn sie mit viel Alkohol im Bauch nach Hause kamen, unter die Bäume, Sles und Georg, Friederikes Verlobter, schüttelten zuerst Äp-fel, die süßen Goldparmäng, Birnen, blaue Pflaumen und lachten. Oben am Himmel stand fahl der Mond und der Große Wagen. Wildes Gezwitscher der Vögel war zu hören. Sie la-gen im Tau, in den Wiesenblumen, müde, angeschwipst und jung, Sles und Georg ...
Ach, wie komme ich heute hier in diesem weißen Zim-mer wieder zu ihnen, zu Georg, zu Vater, zu Friederike, die es in der Außenwelt alle nicht mehr gibt, die es aber in mir gibt. Unentwegter Dialog mit allen, die nicht mehr sind, mir so nahe waren, die ich gern hatte, es ist ganz so als ob sie noch am Leben wären; und als könnte ich wieder alles ungeschehen und gut machen hier... Gedanken... Sprache… als Auferstehungsinstrument... nur Friederike hatte die zu gewiss artikulierte Sprache ganz am Ende ihres Lebens verloren, kurz vor ihrem Krebstod sich im weichen Singen der Luft gefunden, sie spreche gerne mit ihren Blu¬men, sagte sie, als sie noch lebte...
Friederike hatte Angst vor sich selbst und hatte kurz vor ihrer letzten schweren Zeit schlimme Depressionen gehabt; Großvater hatte sie kurz vor seinem Tode auch, diese Depressionen. Die geistige Kraft nimmt ab, der Körper mit seinen Schmerzen überschwemmt alles, da ist jeder völlig sich selbst ausgeliefert. Die Initiative fehlt.
Wir wollten damals mit Friederike nach Staufen fahren, sie kam nicht mit. Auch mit Vater war jene Fahrt auf der Kaiserstraße unsere letzte Fahrt gewesen. „Es ist reizend von dir, mich einzuladen“, hatte sie gesagt, sie lobte gern, als wollte sie immer nur noch Gutes tun, bis zum Schluss.
Sie hatte Angst vor den Leuten. Als wir sie fragten, wohin sie denn fahren wolle, da sagte sie: „Heilbronn.“ Dort wohnten viele Freunde aus der alten Heimat; sie wäre gern hingefahren; dann aber hatte sie abgesagt, abtelefoniert mit müder Stimme. Sie saß im Sessel vor dem Fernseher, und ihr liebes, zartes Gesicht schien durchscheinend und aus Wachs zu sein. Sie sah schon wie tot aus und hatte tief liegende schwarzumränderte Augen. Mein ganzes Stützgerüst, der Knochenbau schmerzt, sagte sie, die Füße sind wie Blei, die Füße `glangeln´, ich habe keine Kraft mehr. Als wir dann doch Richtung Staufen losfahren wollten, hob ich sie fast ins Auto, trug sie mehr, als dass ich sie stützte. Sie atmete schwer. Ist dir nicht vielleicht der teure Pelzmantel zu schwer? „Ach, es war ein Sonderangebot“, sagte sie, „ich leiste mir noch etwas, so lange ich noch kann. Wer weiß wie lange.“ Das war vor fast drei Jahren; sieben Jahre lang starb sie. Die Operation in Tübingen war vor sieben Jahren gewesen. Die Eltern waren damals erst ein Jahr in Deutschland. Sie hatte Abschied von zu Hause genommen, das war vor weiteren zehn Jahren gewesen. Seither eine merkwürdige Spätreife. Der Lehrmeister Tod begleitete sie. Und sie klagte über dieses dumpfe Gefühl des ´Ausgeronnenseins`.
Und das steht nun alles da wie ein Blick, der nicht ver-gehen will, wenn ich Mutters oder Friederikes wirkliche Stimmen vom Tonband höre: „Wir sind ja aus der Zeit, Mä-chel, wir haben uns nicht ausreden können… wie das heute an der Tagesordnung ist“, sagte die Kranke. Ist Krebs eine Seelenkrankheit? In mich ist der Ton dieser Stimme unvergesslich tief eingedrungen: „Ich fühle, wie es in mir nagt“, sagte sie, „wie meine Gefühle so ganz durcheinander kommen. Ich kann nicht mehr denken, ich habe so keine Klarheit mehr. Und ich habe Angst.“ – Sie hustete fast un-unterbrochen, `verdämmelte´ sich, und ihr feines Gesicht war aufgeschwemmt und hatte große dunkle Flecken. Mutter ließ sie nicht einmal mehr abwaschen, kaum einen Handgriff tun! Es war kurz vor Weihnachten und andauernd klingelte das Telefon. Es war eine gereizte vorweihnachtliche Stimmung im Haus, Vorweihnachts-Vorbereitungsstimmung... Nervosität. Alle diese Einladungen kosteten Zeit, Kraft, dieses Stehen in der Küche, dann der Stress des Zusammenseins. So gingen die Feste, So ging das Leben dahin.
Weihnachten… und am neunten Januar starb sie. In ih-rer letzten Nacht konnte sie noch friedlich schlafen, denn alle ihre Kinder und Enkelkinder hatten diese letzte Nacht in Frie-derikes Wohnung verbracht.
VI
1
Mai? Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus? Diese Glücksgefühle, als wäre ich wieder ein Kind zu Hause. Welch ein Mai! 1944!? Ein Mai wie jeder andere?
Frau Dr. Gisela Böhm, geboren am 30.Mai 1897 in Sighişoara/Schäßburg. Ohne religiöses Bekenntnis. Verwitwet. Kinderärztin, die am Pfingsttag 1944 mit ihrer Tochter auf der Rampe in Birkenau ausgeladen wurde, sagte am 23. Mai.1962 vor dem Landgericht Wien aus: „
Bei der Ankunft in Auschwitz wurden die Männer von den Frauen getrennt, die Kinder blieben bei den Frauen. Dann mussten wir an einer Kommission von SS-Leuten vorbei marschieren und. wurden wir in marschfähige und nichtmarschfähige Personen auseinander geteilt. Es wurde mitgeteilt, dass die Nichtmarschfähigen mit Lastwagen in das Lager gebracht werden. Der Kommission gehörte Dr. Victor Capesius an, der mir von meiner Heimat her gut bekannt war…“
Ach, unser Capesius zu Hause im Mai. Auf Heimatur-laub, es war der letzte. „Er, ein Weiberheld“, sagte Mutter.
Es war Mai. Ja. Alles blühte und grünte. Und die Stund-turmuhr holte aus, der Trommler schlug gerade Zwölf, und dann war es fünf nach Zwölf, Onkel Daniel, Andreas´ guter alter Vater, saß im Speisezimmer vor dem Bösendorfer, rauchte sogar genüsslich, spitzte den Mund, als wollte er küssen oder pfeifen und sagte, der Biedermeier habe ein köstliches Leben möglich gemacht, vor allem in Wien, von seinem Vater, dem Dichter, wisse er es, damals habe der Garten sanften Frieden ausgestrahlt und sei von Efeuhecken umgeben gewesen. Und habe abwechselnd nach Leim und Terpentin, nach Rosen, Flieder, Maiglöckchen, nach Gamaschen, Leder, Formol, Vaselin. Kampfer. Lisol gero-chen.
Und eine Frau geht ganz weiß zwischen Levkojen und Primeln, hebt ihre sieben Röcke, es duftet, wenn sie ihre schwarze Blume zeigt.
Oder diese Tomate, die ich essen wollte: ihre Feige, die ich küssen wollte. Fruchtfleisch, daran meine Lippe, der Mundgeruch, wie nach Fäulnis. Rauschen des Blutes, Moleküle, Blutkörperchen pochen ins Ohr, Zellen und Atomträume, Milchstraßen von Neutronen ein großer Lustschrei, die große Hoffnung in jedem, guter Hoffnung? (Viele schwarze Blumen auf der Rampe, viele schwangere Mütter auf der Rampe, und allen rauschte das Blut, alle hatten Atome, Moleküle auf der Rampe, Zellen… Bald nur noch Rauch!)
„Der Klavierakkord dazu durfte nicht fehlen“, sagte On-kel Daniel, und schlug einen schwarzen Akkord an. Und sehr hastig sagte er: „Noch 25 Sekunden haben wir, bis wir zu Asche werden: Schreib nicht soviel, genieße, schlag in deinem Herzen pausenlos Akkorde an und koste sie! lebe! Lebe sie, in der rauchfarbenen Seele, die die Gestalt der Hyazinthen, Reseden oder des Gemüsegartens hinter dem Haus annimmt. Keine Herbarien bitte! Das ist gesammelter Staub...“
Ich fragte Adam: „Wie war das damals in unserem so glücklichen Mai 1944 wirklich?“
„Für uns Sonderkommando-Häftlinge gab es keinen Ausweg“, sagte Adam: „Schon am 2. Mai 1944 erreichten zwei RSHA-Transporte mit insge¬samt etwa 3800 ungarischen Juden Auschwitz-Birkenau und am 15. Mai 1944 - also nach einer Pause von zwei Wochen - begann schlie߬lich Eichmanns »Blitzaktion«. Drei Güterzüge aus Ungarn wur¬den an diesem Tag gleichzeitig an der »neuen Judenrampe« zwischen den Krematorien I und 11 von der SS in Empfang genommen.
Von diesem Zeitpunkt an lag ununterbrochen eine dichte Qualmwolke über der Todeszone und in der Luft hing der durchdringende Geruch von brennendem Menschenfleisch. Tag für Tag trafen durchschnitt¬lich zwei bis drei RSHA- Transporte mit deportierten Männern, Frauen und Kindern aus Ungarn ein. Der ehemalige SS-Unterscharführer Oswald Kaduk, der im Frankfurter Auschwitz-Prozess zu lebens¬langer Haft verurteilt wurde, erinnerte sich in einer Aussage sogar daran, dass an manchen Tagen morgens um 10.30 Uhr schon fünf RSHA -Transporte mit ungarischen Juden hintereinander auf den Glei¬sen standen.“
2
„Du sollst nur das Schöne sehen! Warum zerstörst du mit dem Tod dein Leben!?“
Am Morgen das Rauschen der Dusche; als wäre es das erste, das allererste Wasser von zu Hause als Kind, Wasser hat ein eigenes Gesicht, das sich auf der Haut formt, im Ohr, das sich verformt in mir, als würde es in den Bildern wandern, vor allem in den Augen. Und Haut, pergamentartig, mu-mifiziert. Todes¬bewusstsein, wie Menschen im letz¬ten Krebs-stadi¬um, bewussteres Leben, dachte ich... oder dort: neben dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift: darauf Bad in Lettern, ganz gewöhnlich, man kann es lesen, es beru-higt. Lesen, wie sonst: Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhal-len. Auch die Kleiderhaken, lange Bänke, wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper. Auch Roland hatte in unserer alten Turnhalle geturnt, ebenso Tallo. Und im Lager dann sah Roland die Nackten im Vorraum zum "Bad", wo sie ihre Kleider ablegen mussten, sich die Nummern "merken" sollten, wie bei der Garderobe, die Kleider auf Kleiderhaken und Bänken, weiß schimmerte das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an der eigenen Hand...
Roland aber sah in ein Buch. Das hatte er immer vor sich, vor allem aber bei einer Denk¬pause, zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in Gedanken, darin äh-neln wir uns sehr, er lesend, um nicht hinsehen zu müssen. Und Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf den Lippen, man marschiert eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer ein wenig schwächlich. Er hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben alles, hoben auf. Er wusste jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte, dass er einmal für all dieses hier, wo er reingezogen worden war…, geradestehen musste…?
3
Helles, scharfes Frühlicht fiel mir ins Gesicht. Drau-ßen pfiff schrill die Wusch, unsere Kleinbahn, die fauchend dem Markt zufuhr. Es war sechs Uhr morgens.
Meine auf den Stuhl hingeknüllten Kleider sahen mich wie ein merkwürdiges Tier an, das Augen hat. Fahles Sechs-uhrgefühl. Im Bett; sich schnell noch einmal umdrehen. Da schnarcht die Oma, einer zieht die Luft in regelmäßig blasen-den Lauten durch den Mund ein.
Mutter musste schon ganz früh aufstehen und zum Markt gehen. Auf dem Weg traf sie Karlonkel, und sie gingen zusammen durch die Mühlgasse, am neuen Markt vorbei und dann zum Hesshaimer-Spezereigeschäft. Karlonkel kaufte mit einem riesigen Henkelkorb ein. Er hatte schon ein Röllchen Franckh-Kaffee im Korb, deutete darauf und sagte in höchsten Fisteltönen zu Mutter : „Erika, sieh, ist‘s nicht hübsch.“ Dabei verzog er seinen großen Mund bis hinter die Ohren. Bei Hesshaimer stellte er sich vorn in die Schlange. Das machte er immer so. Von hinten hörte man empörte Stimmen: „Aber Herr Professor, Sie müssen sich doch als Letzter anstellen.“ Er grinste breit und sagte: „Aber sehn Sie’s denn nicht, Frau Weiß, da steht doch schon einer.“
Im Speisezimmer saßen sie unter großen gelben Lampen zusammen, sie erzählten sich die letzten Nachrichten des Mundfunks. Ich liege wieder einmal krank im Bett. Roszi putzt die Fenster, steht oben auf der Leiter, mit Lauge und durchweichtem Zeitungspapier, es stinkt schön, die Fenster schäumen – da schneide ich ein Kartonschlösschen aus, mir Erkerchen und Türmchen; das Pappschlösschen hatte Onkel A., der Töff, noch schnell, letzter Heimaturlaub, aus dem "Reich" mitgebracht. Schau, das Schlösschen ähnelt der Villa Fielk von gegenüber, sagte Mutter erstaunt.
Ich liege im Bett (vielleicht ist es der Magen). Und schneide aus. Pappschloss. Das mit Gummiarabikum zusam-mengeklebte und gekleisterte Erkerchen, Rauchfänge, Türen und Treppchen. „Mächel, das hast du aber schön gemacht“, lobte Mutter . „Ein rüchtiges Spukschloss“, sagte die Oma, die zur Tür des Speisezimmers hereinkam und „heiße Mülch mit Honig und Mineralwasser“ brachte. „Gegen die Verkühlung und Haiserkait.“ In Pappe also alles auf seine Maße gebracht, wie die Soldaten, die ich schon früher ausgeschnitten hatte, sieben waren es, Armleuchter – aufgereiht zum Herabklappen auf einer Latte. Darauf schoss man mit der "Waffe" wie auf Spatzen.
Dann kam der Großvater von seinen Patienten, diesmal war´s Schweineimpfen. „Es ist ja schrecklich, was diese Volksverräter tun“, sagte er am 20. Juli, das hatte er schon ge-sagt, als er wie jeden Morgen auf dem Lokus seine Zeitung, die "Südostdeutsche", las:
„Attentat auf unseren Führer. Gott hat ihn aber ge-schützt! Er blieb am Leben. Zwei Tag später: die Treuekundgebung für unseren Führer! Am 23. Juli 44 fand die auf dem Sportplatz vorgesehene Treuekundgebung wegen regnerischen Wetters in der Kirche statt, die bis auf den letzten Platz gefüllt war. Als innigen Dank an den Herrgott für die Erhaltung unseres Führers Adolf Hitler, der beim Attentat seine gnädig schirmende Hand über ihn gehalten hat.“ Dann hörten die führerbegeisterten Schässburger auf der neuen Orgel mit Meisterhand gespielt: Wir treten mit Bitten vor Gott den Gerechten. Darauf betrat Pg Hans Eck das Pult: „Wellenschläge im Leben der Völker und des Einzelnen gehen auf und ab. In Adolf Hitler ist die Sehnsucht der Jahr-tausende. Und nun haben verräterische Hände des eignen Bluts nach ihm gelangt. Aber es gelang nicht. Das Schicksal hat uns den Ew. Führer erhalten, obwohl die Bombe nur zwei Meter weit von ihm entfernt explodierte. Nach kurzen Augenblicken aber hat der Arm der Gerechtigkeit diese Feiglinge hinweg gefegt. Es gibt Berge und Täler in der Deutschen Geschichte.
Wir sind die Hehren - / Macht Platz, macht Platz!/ Rei-cher an Ehren/ Strahlt nirgends ein Schatz/ Als der der Ah-nen/ Uns segnend vererbt.../ Platz den Germanen/ Oder ihr sterbt!“
4
Und Vater sagte: „Es war in der Woche des Johannista-ges, als des Täufers Enthauptung gedacht wurde und jeder wusste, dass an diesem Tag alles möglich ist, dass sogar die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben, die Erde wieder durch-sichtig werden kann, Geister und Dämonen fliegen in dieser Nacht.“
Die Leute flüsterten damals, auch meine Eltern und Großeltern flüsterten, denn es stand in jenen Tagen der sowjetischen Offensive vom August 44 plötzlich die Zeit still. Mit ihrem Durchbruch zwischen Huşi und Kischinew hatten sie alles gestockt, was bisher gewesen war, auch der Tod hatte sich von uns abgewandt zu ihren Gunsten. Die gesamte 6. Ar-mee, die halbe deutsch-rumänische Armeegruppe Wöhler (deutsche 8. und rumänische 4. Armee) und die rumänische 3. Armee wurden damals in fünf Tagen eingekesselt und weitge-hend zerschlagen. Bis zum 30. August 1944 konnte die Rote Armee nach Bukarest und Ploieşti vorstoßen.
Wir bekamen damals wenig davon mit. Obwohl es stär-kere Verluste als in Stalingrad gab.
Ich erinnere mich an ein abgestürztes deutsches Post-flugzeug vor der Steilwand der Wench an der Kükülö. Die Pi-loten ganz klein geschrumpft, verkohlt, zusammen gepresst von der Wucht des Aufpralls, Flug und Aufschlag, Heulen. Der Rumpf hatte sich in den Acker gebohrt. Wir rannten zur Unglücksstelle: Alles war weiß und pechschwarz zugleich, so das Auge völlig geblendet, ein Loch war zu sehen. Die Erde, die Sonne schien untergegangen. Glas, Leder, Aluminium. Die Erde war verwandelt, stillgelegt.
An jenem Tag kam auch Vater wieder nach Hause. Ich rieche noch den Tabak, Vaters Zigaretten, scharfe Kriegsziga-retten. Er hatte um den Mund einen weichen Zug und Tränen in den Augen, er war heimgekehrt. Aus dem Krieg heim-gekehrt. Lebte. Tränen, die langsam über die Uniform¬jacke kullern. Keine deutsche Jacke war´s. Eine harm¬lose rumäni-sche Jacke. Und Mutter vor ihm, vor dem nach Krieg riechenden Mann. Weinte. War stumm. Stand da. streichelte ihn, die Hand da dauernd am Arm, fuhr darüber, als müsste sie noch mehr wissen durch die Berührung, war er „denn 'wirklich' da?“ „Nein, es ist mein Geist“, lachte er. „Joi Istenem, as ur.“ Von Kessel zu Kessel sei er gewandert. Die habe er umgehen müssen oder er sei auch mitten hineingera-ten, „manchmal gefahren durch Schnee, Dreck. Viel Blut. Und arme erfrorene Leichen. Dann aufgetaut. Das war nicht auszuhalten manchmal. Wenn der Tod auftaut. Manchmal an ihm vorbeigefahren, er oft an ihm.“ „Wer war´s, der Mann mit der großen Sense?“ „Nein, ein ganz anderer, der schlug einfach ein. Oder wie Mücken, tuuuiii, die Kugeln. Der sanf-teste aber ist wie Schlaf, fällst um im Schnee, träumst und erfrierst. Kein schönerer Tod. Winter. Russischer Winter. Die Kleidung, Mantel auch, dünn wie Regenwasser. Da hat er sich auf den Tod erkältet. Die Lunge, die Atmung rasselnd.“
War er ein transsylvanischer Schweijk? Keine Vettern-wirtschaft, wenn er meinte: „Meine sieben Mann habe ich heil nach Hause gebracht. Wir schossen immer nur über die Menschenhöhe (Köpfe) hinweg! Und machten uns dünne. Ein Verdrücken war´s. Klar? Bei den Deutschen unmöglich so was. Hätten mich längst an die Wand gestellt, wärst du gestanden, gewesen, wenn ja, egal wer. Wehe dem Menschenfreund. Befehl ist Befehl.“ Mutter schämte sich, wenn er so undeutsch sprach, tat. „Kurt, um Gotteswillen. Hör auf. Auf.“ Hören. Wen? Wer?
Dieser Vater wusste wenig von V1 und V2, dieser unse-rer allerletzten Hoffnung. Alle wussten etwas. Wie nicht. War doch von Braun, Schüler unseres Oberth, Hermann, konstruiert worden. Großvaters Jagdfreund. Hatte Rakete zuerst berechnet in Schesz-Brich und in Mediasch, beides Transsylvania. Wienicht, süße Heimat. Samt Hymne. Und schon immer hoch hinaus, war´s doch zu eng hier. Schon der Feuerwerker Konrad Haas hatte es dreihundert Jahre vorher in Hermannstadt probiert; wir, nach den Chinesen. Die aber vor allem Knallfrösche. Lustbarkeit. Wir aber ganz ernst. Aus dem Spiel wird Ernst. Die Rakete zu den Sternenräumen. Ehrlich. Sie sollte also helfen, dass nicht alles aus sein wird. Aus? Nie mehr wieder?
Nicht mal dies Wegbleiben der Monika, jener treuen Wolfshündin, die Onkel Fredi aus dem Krieg mitgebracht hat-te und die den Kopf immer so schief hielt, weil ein Granat-splitter ihr bei Odessa die Sehnen und Nerven am Hals zerstört hatte, konnte ich begreifen:
5
Das war in diesem Sommer 44 gewesen, da hatten ja Va-ter und Fredi abgerüstet. Und die Monika war nun im Baum-garten bei uns, sie lag immer an der Verandatür; und dann kam der Tag, an dem sie erschossen werden sollte. Wir standen an der Bachbrücke, Fredi hatte eine Pistole in der Hand, Monika saß auf ausgebreiteten Zeitungen und winselte, sie ahnte wohl etwas, ihren braunen Blick, so treu, den konnte niemand aushalten, auch Fredi nicht, er schoss zweimal, es stank nach Pulver, nach Verbranntem, nach warmem Blut und nach verbrannter Haut wie bei der Eichhörnchenjagd mit Großvater. Fredi hatte eine rauchende Pistole in der Hand. Und Hannes weinte, aber auch Fredi hatte Tränen in den Augen. Wir gingen über die Holzbrücke, der Bach rauschte, gurgelte, rieselte über die Steine, ein Fisch sprang unter den Weiden, Erde war heiß, ich sah einen Ameisenhaufen, kleine, viele emsige Tiere, manche, die roten vor allem, beißen. Aber Monika sollte tot sein, nur eine große bunt schillernde Fliege auf ihrem Kopf, die Schnauze und die Einschussstellen blutig. Wir ließen sie liegen und liefen davon. Nachmittags sollte sie begraben werden.
Doch schon mittags war sie wieder an der Verandatür. Sollte das Rumänen-Märchen Jugend ohne Alter, Leben ohne Tod doch stimmen? Und auch Großvater würde bald wieder mit einer Flasche versuchen, Wasser aus einem versiegenden Brunnen, den er doch angelegt hatte, hoch zu ziehen, "fast trinkbar" würde er sagen! Nein, er würde nicht wiederkehren, sagte Vater, er lebt nur noch in unserer Erinnerung. Und viel-leicht oben beim lieben Gott. Auch die Monika hatte sich nur mit ihren letzten Kräften hierher geschleppt, Fredi hatte sie vor Mitleid und Aufregung nicht tödlich getroffen. Eine lange Blutspur zeigte ihren Weg vom Bach bis zur Tür ihres Herren. Und ich erinnerte mich an den Film Krambambuli. Fredi spot-tete zwar, als ich sagte, ich würde bald fort gehen: „Ja, Hän-schenklein. Aber um deine Fee zu finden, musst du deinen Vater bitten, dir seine alten Waffen, auch die Leutnantsuni-form, die er als Junge getragen hat, abzutreten, damit nun du hineinschlüpfen kannst, denn versucht hat er es ja auch wie wir alle!“ Der K.-Großvater aber, der eben ein Pferd an seinen Tiergalgen festgebunden hatte und es untersuchte, meinte, „du musst eben versuchen, mit den Tieren zu reden, vor allem mit Pferden, denn in jedem könnte der Herr Pegasus stecken, der einzige, der dich über die Wolken trägt, rasch wie der Wind, das himmlische Kind.“ Mutter aber riet mir, wenn ich abends nicht einschlafen könnte, mir eine schöne Wiese vorzustellen, auf der ich sofort einschlafen würde. Oder auch selbst ein Märchen zu erfinden, das dann wahr wird, weil ja nur etwas erzählt werden kann, was einmal gewesen war. Das Pferdchen aber, das ich damals tatsächlich fand, war so, wie es das Rumänen-Märchen schildert. Und mit seiner Hilfe fühlte ich mich wirklich manchmal der Wirklichkeit überlegen, so dem Tod entkommen und konnte die Welt auflösen.
Vater und Fredi also waren da, alle Rumänen hatten ab-gerüstet.
Und im August waren sie ja umgeschwenkt, kämpften mit den Russen.
Nicht jeder, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat, fühlt es so; es gibt Leute, die mit Autos oder mit Jachten ans andere Ufer kom¬men, und sie bemerken es kaum; es ist nicht einfach, die Distanz, die Fremd¬heit zu bewahren. Zu anstrengend ist es, weiterzuleben – seit Au¬gust 1944... Au-gust, jener letzte Sommer, da war ich zehn.
6
Morgen¬sonne blendete damals durch die Äste des Nuss-baumes. Morgengeruch. Alles noch selbstverständ¬lich nah wie der Geschmack eines Apfels, wie Wind, Re¬gen, Schnee, Sonne: wie die an¬gewärmte, wie die nasse Erde. August. Schaukel am Batull¬apfel¬baum, dahinter geöffnet ein Schlaf-zimmer¬fenster. Durchs Laub und Ge¬äst fielen dumpf die Äpfel. Es war ja Kinder-, also Paradieseszeit, letzte Sekunden. Mutter stand im geblümten Mor¬genrock unter dem Ap¬fel-baum. Und in der Ferne eine Glocke. Baumlan¬ger Milchmann, klap¬perndes Kannen¬blech. Stand neben uns sagte: „Stiţi doamnã - vin ruşii.“ „Kuurt“, schrie Mutter erschrocken, „die Russen kommen.“ Vater kam raus¬gelaufen, er hatte keine Pyjamajacke an, der Oberkörper nackt, sein Fleisch rosig und weiß. Sagte der Milchmann: „Im Radio kam´s!“ Und hin¬ter dem schwar¬zen Bart bewegten sich rote Lip¬pen, kleine Ungeheuer; „im Radio, nachts, der König... seine Rede. An mein Volk.“ Die Erwachse¬nen flüsterten dann den ganzen Tag. Sie hatten verwapelte, blasse Gesich¬ter und gingen ins kleine Großeltern¬schlaf¬zim¬mer, um sich zu be¬sprechen. Radio. König. Milchmann. Russen. Um¬ge¬schwenkt. Sie glaubten zu träumen. Ist es denn die Möglichkeit? Ein ho¬hes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aus¬setzen der Zeit... Als wär´s - plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Alles fiel ins Was¬ser, obwohl alles so geblieben war, wie vorher auch.
Und jetzt im gleichen Zimmer, hier. Es ist mir, als gehör-te ich nicht hierher, ich, der „Fremde“, vor allem mein Schrei-ben nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, als hätten einige Schässburger Klassenkameraden Recht, mir mit Antipathie zu begegnen, weil ich so gespalten bin, die Aura von damals in mir trage, jener bin, und zugleich der Andre, der Fremde. Ein Verräter also? Der die Erinnerung zerstört?
Erinnerung, einerseits die Identifikation mit jenem Jun-gen, der die Kindheit als Glück erlebte, andererseits die Dis-tanzierung von diesem Ich. Die Erinnerung bleibt doch als Bild zumindest, nur das Gefühl… ja, das ist verschwun-den… Unter den Weihnachtsbaum hatte mir Onkel A. einen Miniaturstuka gelegt: Denn wir fliegen, denn wir fliegen gegen Engel-Land. Engelland Ahoi. Und ich rannte um den Baum und ‚flog‘, ja ‚flog‘, Wwwwwwww, Wwwwwww. Die Kluft zwischen dem erzählten und dem erzählenden Ich ist nicht überbrückbar: einerseits die vorbehaltlose Übereinstimmung mit dem Jungen, der im Glück lebte, andererseits die Abgrenzung von dem „Kindernazi“ der der Junge auch war. Der Vater war es, der den Elfjährigen daran hindern musste, sich noch unmittelbar vor dem Ein¬marsch der sowjetischen Armee jenen Pimpfen anzuschließen, die sich im Hof der Bannführung in der Hoffnung versammelt hatten, ins letzte Aufgebot aufgenommen zu werden: Ich heulte und warf mich wütend auf den Boden: „Ech wäll awer änd Feld. Ech mess änd Czärkes“, schrie ich. Das hilflose Pendeln zwischen dem Jungen und dem Templin, dem Gegensatz von Verstand und Gefühl – taucht auf beim Hören der Lieder aus der Kindheit. Nur das Lied, nur daran kann ich mich erinnern [...], wie die blauen Dragoner, die reiten, das steht auch heute noch, ist Gegenwart, wenn ich es wieder singe, ein Kind werde, weder Kitsch fürchte noch den Kindernazi, es zieht, es hat mich wieder, ich wehre mich dagegen mit dem Kopf, aber mein Gefühl spricht darauf an, immer noch, wie auf alle diese Lieder [...]. Mögen Wut und Verbitterung auch im Vordergrund stehen, das blanke Entsetzen angesichts der von meinen Leuten, auch von Onkel A. begangenen Verbrechen, die Lieder bleiben in mir und rühren mich!
Und unser Kronen-Apotheker, der SS-Sturmbannfüh¬rer und Au¬schwitz¬apo¬the¬ker Dr. Capesius, hat mutig und tapfer mit einer Kompa¬nie Freiwilliger versucht, sich bis zu uns durchzuschlagen - als "Befreier". Großartig, alle Achtung. Aber es war dann doch nicht ge¬lungen, die asia¬tischen Horden standen dazwischen, riesiges Menschen¬ma¬terial.
Waren die Russen dann eine „Befreiung“? Auch das ja wieder nicht, und die Gefühlsverwirrung wird riesengroß, bis heute bleibt das in mir.
Nein, keine Befreiung, sondern eine Mischung aus sehr verschiedenem „Los“, in medias res tatsächlich ein „Zusam-menbruch“, wie das meine Leute nennen, der Null angenähert, dem Nichts.
Und ich habe es abgelehnt, im Wirtschaftswunderland eine falsche Identität zu erschleichen, jene, die ja darauf auf-baut, dass wir mit dem „Reich“ ein Herz und eine Seele waren, das ja schuld war an unserem Verschwinden. Da ist das neutrale Italien schon besser, auch wenn ich mich oft frage, was ich dort zu suchen habe?
Leben als Gespenst, in einem Ausweichquartier in Aglano, alieno, Italien.
Und die Schicksalsmomente damals? Es bleiben die Tat-Sachen dieses Verschwindens: Die Angst vor allem… Die Bilder: die klei¬nen Russenpanjewägen - fuhren hin¬über ins Unbekannte, in die drohenden Gefahren für die Rotarmisten, auch wenn sie siegreich waren, polternd, rumpelnd. Aber es waren nicht mehr dieselben Brücken; auch der Fluss - es war nicht mehr der¬selbe Fluss.
Alles schien schon wie aus der Welt gefallen, fremd und unheim¬lich, umgeben von Stille; so war´s, als wäre ein heftiges Uhrenschlagen mitten in den schrill¬sten Tönen des Zeitfadens abgerissen: rasendes Po¬chen des Herzschlages - und dann nichts mehr. Nichts. Ein Unnennbares scheint durch uns durch, als wären unsere Augen geheimnisvolle Fen¬ster... Und in diesen Tagen die vielen Begräbnisse... vor allem in der Corneşti.... klagende Frauen, schwarze Kopftücher... Kerzen... Weihrauch Geruch... ein Pope in silber¬¬besticktem Messgewand sang, das Ge¬sicht des To¬ten hochgestellt. Doamne miluieşte, milu-e-eşte, la căsuţa ta cea nouă, nu te ninge, nu te plouă. In das neue Haus, in das sie dich le¬gen, fällt kein Schnee und fällt kein Regen.
„Sie sind mir so fremd, die Rumänen“, sagte Mutter. „Und schon die Sprachen, unser Sächsisch und Deutsch, und ihre sanfte, fast mystische Sprache, die Kla¬ge¬schreie jetzt bei Begräbnissen, wir weinen und schweigen; alles so verschie-den!“ Und doch, jener Tod, der für alle kommen sollte, hatte uns das gleiche Schicksal beschert.
Der König... ich erinnere mich an den ehemaligen Kö¬nig Michael samt Frau und Tochter im Januar 1990 im Französi-schen Fernsehen. Auch er im Exil. Er ist eine Kindheitserinnerung, er kommt mir vertraut vor, damals war er 25, jetzt ist er über 80. Keine Leuchte. Er spricht langsam, müde und schlecht Französisch, der Hohenzoller.
Am 23. August 1944 hatte er im Radio mit "An mein Volk" den "Zusammenbruch" angekündigt, vier Jahre später wurde er aus dem Land gejagt. Emigrant. Im Radio, nachts, der König... seine Rede An mein Volk. Die Erwachsenen flüs-terten dann den ganzen Tag. Aussetzen der Zeit... plötzlich eine hastige Ewigkeit. Oben auf dem Wiesenhang, wenn die Nacht einbrach, blies Onkel Georg, den sie sechs Monate spä-ter nach Russland verschlepp¬ten, blies in die Nacht hinein wieder und immer wieder den uns bekannten Trompeter von Säckingen: Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. Ich sagte zu Hannah, ver-suchte es ihr zu erklären: Wie ähnlich diese Vergeb¬lichkeit, doch dem abgrundtiefen rumänischen Nu a fost să fie: "Es hat nicht sollen sein" ähnelt. Es gibt im Rumänischen etwa 10 Optative. Im Lateinischen, aus dem das Rumänische her-kommt, nur einen, dazu einen geliehenen. Eine Wunschform wie den "Presumtiv" gibt es in keiner andern Sprache: Va fi fost să fie, ist kaum übersetzbar: Auferstehungs¬hoffnung der längst vertanen Gelegenheiten und des Lebens, denn es wird da etwas gewesen sein werden, was noch kommen müsste. Genau wie bei mir jetzt im Altwerden auch…
Auf dem Familienfoto stand die Zeit still. Und ging bis zum Dezember 1989 nicht mehr weiter. Und nun? - Der Kö-nig, kommt, nun kommt der König wie¬der, heute? Eugène Io-nesco, der Rumäne, Dichter des Absurden, meinte, der alte König wäre über das Vakuum hinweg auch für uns noch am Le¬ben. Dabei hat er doch "Der König stirbt" geschrieben.
Der KÖNIG, der ganz Andere, der steht für das Fehlen-de. "Im Nichts - wer steht da? Der König. Da steht der Kö¬nig, der König. Da steht er und steht." (Paul Celan). Ort, der jedem schien, wo aber noch niemand war. (Ernst Bloch). Beide ebenfalls schon lange tot! Gefühle gehen langsam und besser die Zeitspanne hinab, und kommen ins kommende Nirgendwo nach Hause, das so wahr ist, wie mein eigner bevorstehender Tod. Und werde das Sommerhaus ganz sicher nicht kaufen, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, die¬ses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirk-liche zu holen. Ins Wirkliche?
7
Vater war damals, am 23. August 1944, dann in die Stadt gefahren. Er fuhr wie der Blitz mit dem Rad den Weg hinab. Das grüne Rad surrte unheimlich: am Lindenbaum vorbei. Kein Lied. „Und wie ich in die Albertstraße einbiege“, erzähl-te er dann, „sehe ich den Dr. Leonhardt, und der ruft mir nach: Wir sind umgeschwenkt!“
Als Vater zurückkam, trieb er alle ins Zimmer: „Keiner darf das Haus verlassen!“ Drüben auf dem Neuen Weg fuhren schon deutsche Panzer auf und richteten drohend ihre Rohre auf uns. Es kann zu Kämpfen kommen. Ich heulte und warf mich wütend auf den Boden: Jetzt müssen wir kämpfen! Flink wie Windhunde. Tapfer vor allem. Die Zähne zusammenbei-ßen, wenn ein riesiger Russ mit seinem Bajonett auf dich zu-kommt, wild gefletschte Zähne und Schlitzaugen, wie man es auf den Plakaten sieht. Mächel, du feiger Hosenscheißer, so wird Poma, der Jungzugführer fluchen, wenn ich feige mich drücke.
„Jetzt aber setzt es was! Keine Rede, dass du ins Lager gehst. Nichen Ried. Wastel. Stand af, stand esi furt af.“
„Koppel und Schulterriemen. 50 gr. Zucker, 2 Kilo Brot, 300 gr. Honig. Und drei Kilo Haumichblau“, ruft die juckige zwanzigjährige Minch, die kurz auch aus dem Heulen heraus lacht!
Den Rucksack fürs Pimpfenlager haben sie mir konfis-ziert. Da war ja schon alles gepackt gewesen, kleine Leinen-säckchen hatte mir der Großvater liebevoll und sachgerecht eingepackt, genau nach Liste und Vorschrift.
Wenn der weiße Flieder wieder blüht! Ein paar weiße Flugzeuge waren am Himmel zu sehen, und ich steckte an-dauernd den Kopf zum Verandafenster hinaus, lief zur Tür. Und die Oma jammerte: „Komm zurück, sofort roin, dü schüssen, dü erschüssen das Künd, Kuurt, dü wördn noch das Künd erschüssen!“
Ist es nicht so, dass alles, was ich als „Fremder“ ge-schrieben habe, auch dieses Buch, eigentlich gar nicht hierher gehört, hier nichts zu suchen hat? Das Kind orfeigt mich…
Die Russen zogen in endlosen Kolonnen mit Panjewägen durch die Albertstraße. Im Sommergarten, Steilau hieß das, ein Paradies, ja, da gab´s weiter Familienfeste. Doch Angst ging um, und nichts mehr blieb so, wie es vorher gewesen war: Wir saßen an solch einer Familientafel, weiß -gedeckt, blaue Kaffeetassen und Kannen darauf, aber alles war fahl, stand still. Das Durcheinander¬gerede, alle diese Stimmen wurden fremd, abgetrennt von den Gesichtern und Mündern. Tante Cäcilies Mund sehe ich vor mir, er bewegte sich wie gewöhnlich mit enormer Geschwindigkeit, war nur ein großes Loch, die Worte aber standen nun abgetrennt davor und alle, sogar mein Vater da am Tisch: Starr wie Gliederpuppen, mit abgehackten Bewegungen, angetrieben von einem unsichtbaren Mechanismus. Leblose Starre, und gespenstisch die Eichbäume auf der Terrasse, dazwischen flattern Geräusche vom Hof, und vor mir die Uhr. Es war eine schmerzhafte Anspannung, als müsste jeden Augenblick etwas Schlimmes geschehen.
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Am großen Tisch in der Diele aber, wo sie unter der ge-lben Lampe zusammen saßen, erzählten sie sich die letzten Nachrichten des Mundfunks. Sie munkelten wieder, unser Hauptmann Meyer-Göring sei nicht mit den Deutschen abge-zogen, sondern halte sich im Keller der Villa Fielk, nur ein paar Häuser weiter, versteckt, gemeinsam mit Röschen, wegen ihr sei er da geblieben. Soll auch passieren, brummte Vater, der entsetzt war, weil der arme Meyer-Göring nun dort in sei-ner Kellereinsamkeit seiner Liebsten völlig ausgeliefert war.
Alles haben wir überstanden, Türken und Tattern. Väter und Vorväter. Dies aber nicht. Die Russen nicht. Nein, die nicht.
Da saßen sie zusammen und berieten. Alle saßen sie zu-sammen, sie waren auf den Holzmarkt gekommen, in die Gär-ten waren sie gekommen, nur fort aus der Innenstadt, denn dort war´s passiert: Ohne Voralarm, ohne Alarm, ohne jede Warnung... etwas Schreckliches, wie ein Weltuntergang, ja, ja, damals neunzehnhundertvierundvierzig im späten Sommer.
Diese alten Geschichten... kochendes Wasser soll vom Himmel gefallen sein... „Ich war beim Bügeln“, sagte Friede-rike, „da hörte ich einen furchtbaren Knall, ein Getöse, alle Fenster klirrten zum Zerspringen. Und ein großer Stein fiel vom Himmel auf den Gang, rollte in die Küche, zuerst dach-ten wir, es sei das Wasser, die Kokel sei nun schon oben angekommen, aber es war eine Bombe vielleicht, eine schwere Bombe vielleicht, aus heiterem Himmel abgeworfen, von einem flüchtenden Stuka vielleicht; aber keiner hat ihn gehört oder gesehen. Eigentlich unmöglich, dass es überhaupt ein Flugzeug gewesen sein könnte. Überhaupt keine Bombe vielleicht.“
Die Russen waren seit Monaten überall, die Rumänen auch. Die Herren der Luft und des Wassers, der Erde... Sollen denn alle großen Opfer, alles, alles soll umsonst gewesen sein? Das stolze Deutsche Reich zusammengebrochen wie ein Kartenhaus? Nicht zu fassen. Alle standen vor dem Nichts. In Hermannstadt soll der reichsdeutsche Stadtkommandant die deutschen Männer zur Verteidigung aufgerufen haben. Gott-seidank war es nicht dazu gekommen, sie wären doch alle massakriert worden. Sonst verhielten sich die Rumänen ja ab-wartend. Freundlich. Nein, der Stoß, der musste von außen kommen.
Ich ging manchmal zu Max, der im Garten der Villa Fielk wohnte. Mit dem Luftgewehr hatte er früher auf Spatzen geschossen. Freilich, jetzt war auch das aus. Das Luftgewehr hatte Max vergraben müssen und die Spatzen saßen ungestört scharenweise auf den Leitungsdrähten und Masten vor dem Haus. Früher waren sie lustig zwitschernd davongeflogen – übers violette Lehrmannhaus, wo die blonde Doris dann ihr Köpfchen neugierig rüberstreckte. Oder sie flogen über das Haasische Sanatorium bis zum Elternhaus des Raketenerfin-ders Oberth. Und flogen sogar in den Filipescu-Garten und auf unser Dach in der Holzmarktgasse. Max hatte einen Freund bei sich. Sie flüsterten von unserem todesmutigen Volksgruppenführer, der hinter den sowjetischen Linien in Siebenbürgen abgesprungen sei, um eine Partisanenbewegung hinter der Front aufzubauen. Wehe den Russkis! Und jetzt müsse man nur auf die Großoffensive der Unsrigen warten, die vermutlich von Neumarkt, wo die 8. SS-Kavalleriedivision stehe, und von Klausenburg organisiert, vorstoßen werde. So heiße es. Man solle nur ruhig Blut bewahren und abwarten. Er selbst wolle natürlich auch mitmachen, sagte Max. Er habe neben seinem Luftgewehr auch einen Karabiner im Keller vergraben.
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Und der Deutsche saß im Keller. Und jeder hatte in sich einen Deutschen versteckt.
„Rose nährt die Angst in ihm“, bemerkte Onkel Daniel einmal böse: „Setzt ihm die tollsten Mundfunkgeschichten in seinen dort unten im Dunkeln gefangenen Kopf. Und bringt ihm Zeitungen. Rare Dinger. Man weiß nicht, ob es stimmt.“
Sie sollen musiziert haben, heimlich im Keller. Damit der arme Junge nicht zugrunde geht. Und Hornung stellte bereitwillig sein Cello zur Verfügung, und sie, die Rose C., die zuerst nur die Noten hielt, sonst eine poetische Natur war, lernte Blockflöte blasen unten im Keller, weil es das Ein-fachste ist. Die deutsche Seele geben wir nicht auf!
Zuerst hatte er darauf vertraut, der Hauptmann, und dann hatte er es seiner Rosi auch gesagt, dass ja nun selbstverständlich der Karpatenbogen als starke Verteidigungslinie von der Wehrmacht gehalten wird. Und alle Welt wusste: Lange vor dem 23. August 1944 waren dem Volksgruppenführer von Berlin feste Zusagen gemacht worden, dass bei jedem Angriff der Roten Armee, auch wenn dabei von Rumänien oder Ungarn Schwierigkeiten gemacht werden sollten, der Karpatenbogen unter allen Umständen gehalten wird. So wurden ja auch keine Evakuierungsmaßnahmen geplant, gar durchgeführt!
Dann aber munkelte man von dem katastrophalen militärischen Zusammenbruch der Südostfront; und die Unbeweglichkeit der Reichsführer sah jeder.
„Sie lassen uns im Stich, es ist alles aus, nichts ge-schieht“, murmelte auch Vater, der Meyer-Göring nachts be-sucht hatte. Aber Mutter durfte das freilich nicht wissen. Und Vater tat es mit schlechtem Gewissen: „Was geschieht mit den Kindern, wenn mir etwas zustößt?“ dachte er.
So ging der Übervorsichtige dann nicht mehr zum Deut-schen, obwohl ihn der Hauptmann bitten ließ, ihn wieder zu besuchen. Er befürchtete wohl selbst, dass ihn Rose mit ihren hysterischen Gräuelnachrichten noch verrückt machen würde! Sie sagte zum Beispiel, einige Minister hätten Selbstmord begangen. Ja, viele bekannte Rumänen aus dem Altreich, auch Minister, hätten sich schon nach Südsiebenbürgen abgesetzt, da sie annahmen, dass sie im Karpatenbecken vor einer Sowjetinvasion durch die deut-schen Truppen geschützt seien. Und nun drohte ihnen die Verhaftung. Das war die Wahrheit.
Und Onkel Töffti? Seine interessanteste Tätigkeit blieb das Stollenbauen mit den Häftlingen, dafür war er nach Bu-chenwald bei Weimar versetzt worden... 1945 im März. Er war ja Tiefbauingenieur: Stollen bauen und darin die Bunker, da sollten die Geheimdokumente des Reiches aufbewahrt werden... für alle Zeiten, ein ganzer Papierberg im Kyffhäuser, und das Papier erblühe nun, Testament für die nächsten 1000 Jahre.
Nun hatte es uns aber gnadenlos erreicht! Und die Ver-gewaltigungen und Erschießungen, die Aushebungen began-nen…
Wir saßen gefangen in der Nähe, in den Häusern, die noch fest schienen und schützten, vor den Folgen.
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Die arme Ami träumte, vom Himmel sei kochendes Was-ser gefallen und wollte alles verbrühen. Dann aber wieder Schnee. Und Hagel. Oh wie ist es kalt geworden und so trau-rig wüst und leer… Friederikes Stimmchen zitternd… Doch am Nachmittag stand ich mit dem K-Großvater am Kokels-trand. „Es ist unser Untergang“, murmelte der Großvater. „Wozu haben wir unseren Blutzoll entrichtet? Besteht nicht sogar die 1. Kompanie der Leibstandarte Adolf Hitler nur aus unseren Leuten, aus starken Naturen des südöstlichen Him-melsstriches.“ Dann aber besann er sich, sah mich an, fühlte meine Stirn, denn mein Gesicht war ihm verdächtig vorge-kommen, wie ich da stand mit allzu glänzenden Augen und geröteten Wangen. „Du glühst ja wie Kohle, tea glähst jo wä Kiel. Tea messt esifurt änd Bäd. Du musst sofort ins Bett! Der Junge ist anfällig, das hat er von mir.“
Ich schrie: „Nä, nä, ech wäll net änd Bäd“ und rannte davon. Dann musste ich aber doch ins Bett. Und Hansonkel, der gute Arzt … nein, kein Phenol… neinnein…und kein Röntgengestank… es ist der mit den feinen Händen, der Bruder von Ami, der kam und klopfte mich gründlich ab. Angina. Etwas mit dem Hals, der war plötzlich ganz ge-schwollen und tat weh. „Der Jang kan jo nor noch pespern… ja nur noch flüstern… Prontosil nehmen, und sofort einen Wickel, und er muss kräftig schwitzen, Hände schön unter der Decke, menj Jang, bis zum Hals zugedeckt… de Siel aus dem Leiw schwießen… am besten die Seele aus dem Leib, aus dem Leiw“, sagte der gute Hansonkel… der Hausarzt. Haben alle Ärzte so feine helfende Hände? Und sie ließen mich allein bis zum Ersticken, saßen in der Diele. Nur die Uhren schlugen in allen Zimmern, und so summte es in den Ohren und klopfte. Und wieder öffnete sich die Badezimmertür, ich rief: „Vater, bäst tea et“, aber anstatt Vater kam nur ein Dunstgespenst aus Licht herein… leise sich öffnende Tür und kam immer näher… Dort ersticken… Ich stieß einen gellenden Schrei aus, und sofort kam Vater reingelaufen. Sie strichen mir beruhigend über die schweißnasse fiebrige Stirn, und ich schlief ein. Am Morgen wurde Marisch in die Apotheke Zur Krone geschickt… Rezepte abholen… Husten-sirup, Aspirin, Prontosil, und auch eine Injektion. Und hinter der Theke stand nach dem Klingeln der Tür die feine Frau Fritzi Capesius, Wienerin im weißen Mantel, und ratschte, und war die Frau vom Vic. Marisch sagte „Jo napod.“ Und zeigte die Rezepte.
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Der Vic aber war weit weg, bei den Soldaten, aber nicht an der Front. Und hatte einen schweren Dienst, er, der gute Apotheker¬onkel, der immer „Janger“ zu mir sagte.
Wir aber – unter den Russen. Alles war aus und vorbei. Und alles wollten die betasten. Raubereien, viele. Dawai Tscheas. Die Uhr weg. (Also fast symbolisch!) Und alles stank nach Mahorka.
„Da hat der Moldovan, der rumänische Feldwebel in Uniform bei uns geschlafen“, sagte Mutter: „Da aus dem Ro-ten Wirtshaus kam er. Der hat seine Uniform ausm Fenster ge-hängt. Das sollte die Russn vertreiben. Und da sind mal Wei-ber, Flintenweiber, bei uns aufm Holzmarkt durchgezogen. Und eine hatte einen kleinen Jungen geboren. Da kamen sie und wollten Windeln haben. Und Leintücher. Wickelten das Würmchen da hinein. Die sind einfach reingekommen, haben die Türen aufgemacht und auf Russisch nach Wickelzeug ge-fragt.
Und auch in unser Geschäft kamen die Russinnen, woll-ten sich Unterwäsche kaufen, Kombinés und so. Mit Rubel. Die haben wir dann bei der Nationalbank umgetauscht. Und diese Sowjetfrauen haben sich auch Büstenhalter gekauft. Und am Samstag war ein grosser Russenball im Stadthaussaal. Und diese Russinnen wussten nicht, was sie mit den Büstenhaltern machen sollten, und haben sie über die Blusen, sozusagen zur Dekoration übergezogen. Wir haben uns krumm gelacht. Und so haben sie getanzt und gejohlt. Und Wodka floss in Strömen. Und Nachts gab es dann die Orgien…“
Und wir hofften auf die V1 und V2. Ihre Raketenform ist stramm-zärtlich. Von unserem Professor Oberth, mit dem ich korrespondierte, er war ja Großvaters Jagdfreund, weiß ich, dass die V 2, erste ballistische Fernrakete der Welt: A 4, ab 1933 in Peenemünde entwickelt, auf einem elektrischen Leitstrahl rund eine Tonne Sprengstoff ins Ziel befördern konnte, Reichweite 400 km. Fluggewicht 12,9 t. Flog mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in der Stratosphäre; direkte Abwehr (Flak, Jäger und so) – aussichtslos.
Die Lage katastrophal. „Klar: Das A und O – den Staats-streich vom 23. August“, sagte Vater erbost, „hatte man von deutscher Seite vorher nicht sehr ernst genommen. Diese Idioten glaubten, ihn gleich durch eine deutsche Division niederschlagen und eine neue nationale Regierung einsetzen zu können. Auch dieser Andreas Schmidt, er befand sich gerade in Berlin – wollte alle zuständigen Stellen auf den sich anbahnenden Umschwung in Rumänien hinweisen. Versuchte seit dem Juli dauernd Hitler direkt und persönlich Vortrag zu halten, da er stichhaltiges Material vom englischen Nachrichtendienst (über rumänische Vertrauensleute) vorzuweisen hatte. Saß da und tat nichts. Die Berichte Killingers und General Gerstenbergs verhinderten das. Dieser Killinger, der andere Idiot, Gesandter nannte sich der, wiegelte dauernd ab. Hat ja dann die Konsequenzen gezogen, sich erschossen.“
Als es klar wurde, dass alles aus war, sah Meyer-Göring an der Wand dauernd Rotarmisten laufen, sah etwas, was er in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte, außer im Signal oder in einer Vorstellung, die ihm Rose, sein Liebchen, im Keller auf-baute. Das war schon eine Welt im Kopf. Das war der Nähr-wert des Giftes, fast so gut wie alle Giftschränke zusammen. Aus lauter Lieb, verfluchter Hund.
Dabei zitterte sie genauso wie er vor Angst, es könnte etwas passieren. Und wie er sich da ganz ohne Netz und Seil sein Dauerkino aufbaute, das war toll. Und Rose erzählte ja nicht nur Gräuelgeschichten.
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Dr. Capesius, der Vic, vor dem Schwurgericht in Frankfurt:
„Am 25. August 1944 habe ich meine Reise nach Rumä-nien angetreten, nachdem Rumänien am 23. August 1944 mit den Achsenmächten gebrochen hatte. Am 22. September 1944 bin ich wieder in Auschwitz gewesen. An diesem Tag ereigne-te sich ein Zwischenfall mit dem weiblichen Funk-tionshäftling Eva. Sie hatte während meiner Abwesenheit erfahren, dass sie möglicherweise als Angehörige eines Kommandos, das zu viel wusste, vernichtet werden sollte. Es handelte sich um die Kommandos, bei denen die Intelligenzler unter den Häftlingen beschäftigt waren (Schreibstuben und ähnliches). Als ich wieder erschien, sagte sie, „Gott sei Dank, Haupt¬sturmführer, dass Sie wieder da sind. Jetzt weiß ich, ich werde leben.“ Ich habe dann mit den Ärzten in der Baracke über Eva gesprochen. Ich habe den gesamten Vorfall betreffend eventuelle Vernichtung der jüdischen Häftlinge bei den Schreibstuben und ähnlichen Institutionen erörtert. Dem weiblichen Häftling Eva und auch meinen anderen Funktionshäftlingen in der Apotheke ist auch tatsächlich nichts passiert.“
Heute habe geträumt, verwirrend am gleichen Ort des Traumes, im Geburtszimmer, da treten wir die ganze Familie ein, doch es ist nicht mein Geburtszimmer, sondern ein Flüchtlingsheim in Nürnberg. Da sitzt die eben im „Reich“ angekommene Familie. auf ungemachten Betten, und alle trinken aus kleinen Reblausfläschchen Tee. Und Roland ruft: „Achtung! Wir feiern hier Geschichte mit einem blauen Auge.“ Vater, der auch auf dem ungemachten Bett sitzt, stößt mit mir an und sagte feierlich: „Familienfest oben!“
„Ich kann Tee in Wein verwandeln. Wie Jesus Steine in Brot. Wasser in Wein. Schließlich Reblaus“, sagte Roland, der Religionslehrer. Der Wein rinnt ihm übers käseweiße Ba-bygesicht. Er tönt: „Was aber bleibet, stiftet der Apparat. Und hält ein farbiges Glanzfoto von einem Wachturm hoch, das wird immer größer und größer und nimmt wie eine Wandtafel den ganzen Raum ein. Und in der linken Fotoecke sitze ich, fast am Rande, mich hinausbeugend über die zulässige Gren-ze, zulässigen Rahmens, weiß im Gesicht, abwesend, merk-würdig geisterhaft, zum Verwechseln ähnlich im Gesicht mit Onkel Roland. Zwischen uns sitzen Vater und Mutter und werden immer kleiner, sie halten sich fest an der Hand, als hätten sie Angst zu verschwinden, sie sind erst seit kurzem im neuen zu Hause, also OBEN angekommen.
„Wir haben die Katastrophe doch noch überstanden, sagte Vater leise.“
Und um Mutters tief eingezogenen schmalen Mund be-merke ich einen neuen Zug.
Doch das Wirkliche UNTEN bleibt, bleibt für immer: Dass es nun nur noch den anderen Gehorsam geben soll, die-sen irdischen hier unten nicht mehr? „Hitler kaputt“, sagten die Russen, obwohl er 1944 ja noch nicht tot war. Und Adam sagte oft: „Das Schweigen erst bringt uns hinüber…Und bei uns heißt das tikkun. Sie aber sind in Rauch aufgegangen, und das ist ein Tor.“
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Der alte Mendel Baruch hüllte sich schon am Nachmit-tag in seinen Kaftan und ging in die Kleingasse, ging in die Synagoge. Er betete dort, immer wieder fühlte er sich wie befreit und erlöst, da er wieder öffentlich beten durfte, ohne Angst um sein Leben. Und auch auf der Strasse durfte er sich wieder ohne Angst zeigen. Jetzt verkriechen sich die Sachsen, dachte er. Komm Sabbathbraut, lass uns entgegengehen der Königin. Freilich, die Russen… abends ist es nicht ungefährlich auf die Strasse. Dem Buchhändler Ambrosius hat ein besoffener Rotarmist vor dem Hotel Stern mit seiner Maschinenpistole eine Salve ins Bein gejagt, das musste amputiert werden. Der schoss einfach so ohne jeden Grund. Doch Krieg ist Krieg. Und wir sind jetzt hier frei.
Und der Alte schloss die Augen, die Tränen rannen ihm über das bärtige Gesicht; hat sich doch auch die Braut Israel im Exil die Augen ausgeweint. Und jetzt sind es Tränen der Freude.
Er ist sehr fromm, der alte Mendel, der Schläflockenjude in seinem Kaftan; die letzten Strahlen der Sonne sind hinter der Breite verschwunden; und von der katholischen Kirche her hört man Siebenuhrgebimmel. Mendel ist in sich versunken, er spürt das Friedliche, er spürt wie die so lange erwartete Friedensseele in ihn eingeht; und zuhause ist schon der Tisch gedeckt, die Menorah leuchtet. Im Speisezimmer liegt über allen Dingen und über den Gesichtern seiner Lieben ein mystisches Licht, flackernder Kerzenschein; sie fassen sich an den Händen, die Frau, die beiden Töchter und die alte Mutter gehen mit ihm um den Tisch.
Die Angst im Herzen, wenn man nicht weiß, was morgen sein wird, hat abgenommen. Aber die Freude der Befreiung ist gedämpft. Aus dem Székler-Zipfel sind Freunde, der Schwa-ger, die Schwester, die Nichte nach Auschwitz verschleppt worden. Der Schwager ist tod. Doch Gisela und Ella leben, Gottseidank und sind in Sicherheit in der Apotheke von Capesius. Das Böse hat, seit es die Millionen Toten gibt, zugenommen. Das Ende aller Tage muss nahe sein. Friede sie mit euch, ihr Engel des Friedens.
Und dann spricht der alte Mendel das Gebet:
„Bereitet das Mahl des vollkommenen Glaubens
Zur Erfreuung des heiligen Königs,
Bereitet das Mahl des Königs.
Dieses hier ist das Mahl des Feldes der heiligen Äpfel
Und der Kurzmütge und der Heilige Alte
Siehe, sie kommen mit ihr das Mahl zu feiern.“
Dann wird die Hühnersuppe gegessen. Und die Fleisch-klöße. „Wir sind wie durch ein Wunder gerettet worden, der Herr hat uns behütet. Aber die Brüder, die noch dort sind! Und hat der Feigl nicht eine grünliche Seife gebracht, gibt’s da drei Buchstaben drauf RJF steht. Stefi hat es gestern Frau Friederike gezeigt, als sie zum Klavierüben drüben war, im Speisezimmer vom Herrn Doktor, und hat geweint und geklagt. Und die Frau Friederike hat ganz entsetzt auf Stefi gesehen, hat immer wieder gesagt: „Aber das ist ja nicht möglich, das ist nicht möglich, nein, liebes Kind, das kann nicht sein, dazu sind deutsche Menschen nicht fähig. Nein, Stefi, das glaube ich nicht.“
Und wir wissen es, nicht alle Deutschen sind böse, unsere Sachsen schon gar nicht.“
Als der Hahn aus dem Nachbargarten um Mitternacht krähte, war es Zeit, den Tikkun Chazot zu begehen, die große Klage. „Ob es noch stimmt, dass der Höchste, gelobt sei Er, um 24 Uhr ins Paradies eintritt, er glaubt es ja. Und dass alle Bäume dort dann singen und sich von der Nordseite her ein Sturm erhebt, ein Funke aus der Kraft des Nordens, in der Nä-he des Polarsterns und des Schleifengrabens, dass es das Feuer ist, die richtende Gewalt des Gesetzes, unter den Flügeln des Erzengels, dessen Ruf auch der Hahnenschrei weckt, dass um Mitternacht aber eintritt, der Zeitübergang; dass dann das Gericht keine Gewalt mehr über uns hat? Ist jetzt alles vorbei? Alles? Nein, der Galuth ist nicht vorbei, in Deutschland sollen immer noch Öfen rauchen. Und niemand tut etwas, um die Armen zu retten. Und man hört vom furchtbaren Ort Bergen-Belsen. Kann man es glauben“, denkt der alte Mendel, „dass es ein Zeichen ist, dass der Messias kommen muss, die Tage gezählt sind, dass sie schon da sind?
Und jetzt treiben sie sogar Schacher mit den Armen: Dr. Capesius., unser Apotheker, soll meine Cousine, die in Aus-chwitz ist, gegen seine Familie austauschen wollen, als ginge es um Geiseln.“
Und in dieser Nacht klingt ihre Klage bis hinaus auf die Gasse und in den Hof mit dem Kopfsteinpflaster. Um Mitter-nacht, noch vor dem Hahnenschrei, hatte sich der Alte und die ganze Familie erhoben, sich angekleidet, sie waren zur Tür zwischen Diele und Schlafzimmer gegangen, hatten die Schuhe ausgezogen und das Haupt verhüllt.
Aus dem Küchenherd nahmen die vier Frauen weinend die Asche und rieben sich mit ihr die Stirn ein, genau an der Stelle, wo die Hoffnung ihren Sitz hat, wo die Tür ist zu Ihm, wo am Morgen die Teffilin angelegt wird, die Gebetskapsel, denn sie sind alle fromm, und jetzt drängte es sie in dieser Nacht, den Tikkun Rachel, den Tikkun der Klage zu begehn, den Kopf tief gebeugt und die Augen zu Boden geschlagen und sich am Leide der tief gefallenen Königin, des Antlitzes Gottes in der Welt, der armen Schechina zu beteiligen; die dunklen Augen am Boden, sie am Staube abreibend, wie Sein Wohnen hier in der Welt, gelobt sei Er, die Menschen-Rose, die im Staube liegt.
Und als der Hahnenschrei aus dem Nachbargarten ertönt, und die milde Septembernacht sie umhüllt, öffnen sie die Fenster, um diesen Lufthauch auch in sich einzulassen, als wär´s die endlich angebrochene freie Zeit der Gnade bis zum Morgen, wenn auch die Mörder schlafen, die Welt schläft und träumt bis zum Morgen, wenn das harte Licht wieder weh tut, das Gericht seinen Lauf nimmt: Die Gesichter lösen sich jetzt in der Nacht zu einer neuen Anordnung der Seele. So saß der alte Mendel Baruch bis zum frühen Morgen am Dielentisch und las in der Thora. Die Frauen gingen schon nach einer Stunde schlafen.
In jener Nacht ging der alte Mendel erst um vier Uhr früh zu Bett. Der Hahn hatte zum dritten Mal aus dem Nachbargarten gekräht. Stefi lag auf dem roten Sofa und schlief, der Vater strich ihr sanft über den Scheitel.
Inzwischen wussten alle, dass der Apotheker Dr. Cape-sius dort war. Wer hätte das gedacht, sonst ein so höflicher Mann. Und jetzt. Und will diesen Austausch. „Über die Frau Zielinsky. Ein Brief. Seine Frau, die Fritzi, eine der unseren. Ihre Mutter. Aber wie, wie soll man das machen können? Es ist unmöglich, der Mann ist naiv, verrückt, wie alle.“
Mendel ging zu Bett. Aber er konnte nicht schlafen, lag da mit offenen Augen. Sah sich am Fluss, an der Kokel im tiefsten Ufergebüsch an einer Krümmung, stilles Wasser, hat dort als Kind oft gebadet., an dieser Stelle Angst gehabt vor der Schlange Samech, die hinab zieht in den Strudel ganz tief, du ertrinkst in einem Schacht, da drückt es auf deine Brust, du kannst nicht atmen, erstickst, schreist um Hilfe, gurgelnder Laut... ineinander verkrallt noch die Kleiderhaken-Nummer im Kopf. Oben vom Dach durch den Rost kommt ein körniges Präparat. Übereinander liegen sie die Toten nackt, ganz unten die Kinder, die Alten neben zwei hartrissigen Betonsäulen … die Duschräume von innen, oben wurde ein körniges Präparat eingeworfen die Kleiderhaken-Nummer sollten sie sich mer-ken. Frauen versteckten ihre Säuglinge in den Kleider¬haufen, gingen singend zum Lobe des Höchsten in die Kammer, der Messias ist nah, kleine Kinder jammerten, vom Sonder-kommando beruhigt, gingen die kleinen Kinder, oft mit einem Spielzeug im Arm, in die Kammern.
„Wenn wir am tiefsten gefallen sind, stehen wir am Übergang.“
Schweißnass wälzte sich der Alte im Bett und erwachte. Helles, scharfes Frühlicht fiel ihm ins Gesicht. Draußen pfiff schrill die Kleinbahn, die fauchend dem Markt zufuhr. Es war sechs Uhr morgens.
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Mit Adam Salmen war ich heute in der Stadt. Salmen ist ein Neffe von Mendel Baruch, also ein älterer Cousin von Stefi und Mirjam, aber er ist in der Bukowina aufgewachsen, und wurde dann von Wien aus, wo er Jus studierte, nach Aus-chwitz deportiert.
Ich hatte ihm von dieser Angst in meiner Kindheit er-zählt, da wagte ich nicht durch die Kleingasse zu gehen; „was glaubst du, was für unsinniges Zeug die Mägde erzählten. Es wurde sogar gemunkelt, dass die Juden Christenkinder essen.“
Salmen lachte nicht und sagte: „Dann musst du unbe-dingt mal meine Synagoge ansehen, damit du die Angst ver-lierst.“
Wir gingen also durch die Hüllgasse, wir kennen ja Sal-mens und Ediths kleine Wohnung… nah am Neuen Weg, auch da wieder bekannte Häuser, am Haus des ehemaligen Kreisleiters Pomarius vorbei, da hatte der Turnlehrer Kraus gewohnt, dann kamen wir schon zur Knabenschule, vis-à-vis das Atelier des Fotografen Lurtz, der alle unsere Kinderfotos aufge¬nom¬men und entwickelt hatte, doch vorher schon bogen wir links ab, gingen die Katzenköpfe hinunter in die Kleingasse und standen vor dem nach Osten ausgerichteten Bau mit dem Davidstern am Giebel und den drei Rundfenstern der Fassade; Salmen schloss auf, und ich stand nun zum ersten Mal in unserer Synagoge. Salmen verwaltet sie, er, der letzte Jude von Schäßburg, zeigte mir den Altar, die Bundeslade und stolz die Thora; der Raum im Verhältnis zu dem, was ich empfand, recht klein, um das Ungeheure hier unterzubringen. Wie eine Puppenstube wirkte er dagegen… und doch... und doch…
„Ja, weißt du, sie ist 1904 erbaut worden, erst damals entstand hier eine jüdische Gemeinde, die Leute kamen zu-meist aus Galizien, sie wohnten auch hier in der Nähe des Gotteshauses, aber es gibt das rituelle Bad und das Schlachthaus für das koschere Fleisch nicht mehr; für wen auch… für mich etwa?“ Und Salmen lachte herzhaft. „Damals gab es schon 300 Juden hier, und so wie ich kamen nach dem Krieg dann wieder viele refugiaţi, die Flüchtlinge aus der Bukowina und aus Bessarabien, wir waren vor den Russen geflohen. Jetzt bin ich allein, der letzte Rabbiner hieß Adler und ist 1984 nach Israel ausgewandert.“
„Betreust du auch den Friedhof?“
„Ja, freilich. Er war ja von der DJ, der „Deutschen Ju-ged“ und andern Radaubrüdern in der Nazizeit besudelt, die Grabsteine umgeworfen worden.“
„Stimmt es, dass dann nach dem Krieg die grünliche Sei-fe feierlich begraben worden war?“
„Ja, das stimmt. Es waren ja schlimme Zeiten, und viele unserer Menschen sind nie mehr wiedergekehrt, Asche geworden… auch ich habe meine Frau in den Gaskammern verloren.“
Salmen wandte sich ab. „Ja, es ist unerträglich, diese hallende Leere, und das Gewöhnliche dieses Augenblicks“, murmelte er… „Weißt du, ich höre die Gebete… hier… und dort.
Komm. Ich zeig dir jetzt etwas Erfreulicheres“, sagte Adam: „Ich bin der Überlebende. Weißt du was das heißt? Und weißt du, dass damit sofort alles aufbricht? Diese Ruhe, diese Stille ohne Gläubige…Ich habe das Gefühl, sie zu ver-ra… zu vertreten. Der Raum ist voller Toter, und ich gehöre eigentlich zu ihnen!
Ich bekomme ja aus Israel, um Mittel für den Friedhof und die Instandhaltung der Synagoge zu haben, Carmel-Weine und Cognac, die verkaufe ich. Doch es ist zugleich ein Trost wider die Einsamkeit“. Er zeigte auf einen Stapel Kisten. „Hier, diesen Cognac schenk ich dir, direkt aus der Synagoge...“ „Ja, aus dem Tschawalles, wir Sachsen haben ja viele Ausdrücke von euch übernommen.“
„Ja, überhaupt gab es ja eigentlich keine Spannungen zwischen Juden und Sachsen bis ins unsinnige Jahr 33. Es gab eine Art minderheitliche Solidarität hier.“
„Außerdem redeten die meisten Juden deutsch, gingen in die deutschen Schulen und wurden Ärzte oder Rechtsanwälte, gehörten also auch zur gehobenen Schicht der Stadt.“
„Es gab nur wenige Paiklesjuden. Ja.“
„Aber weil es viele Schulfreundschaften gab, mehr als mit den Rumänen, ergab sich nachher dann wie im Fall von Capesius, der ja vor dem Krieg auch Bayer-Vertreter gewesen war, ergab sich die absurde Situation, dass Capesius auf der Rampe bei der Selektion, als die Ungarntransporte auch aus Siebenbürgen nach Auschwitz rollten, Bekannte, ja Freunde zu selektieren hatte! Ich habe ihn in Göppingen besucht, er hat mir das erzählt.“
„Du hast ihn besucht?“
„Ja. Und auch aufgenommen. Er sagte, als die Baruchs, Mendels, Schlingers und Böhms dort ankamen, da habe er sie ja gleich erkannt, durfte es aber nicht zeigen... Aber weißt du, was er als Ursache angab, warum er das mitgemacht habe? Er stellte sich vor, Frontdienst gegen die Russen zu leisten. Hätte ich denn gewollt, fragte er, ´dass der Russe rüberkommt´?“
„Unglaublich… Doch ohne gute Ausrede – kein Verbre-chen! Aber der Russe kam trotz heldenhaften Widerstandes rüber…“
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Inzwischen hatten ja die Höllenbrüder braun die Hosen langsam voll. Zwei Probezüge waren von ihnen freigegeben worden, zwei: Einer über Bergen-Belsen, 360 Personen wur-den gerettet. Und ein anderer mit 1300 Menschen, sie alle frei, frei, frei und am Leben.
Roland war dabei gewesen bei dem Jubel, es gab also sogar zwei Züge in umgekehrter Richtung, und eine umgekehrte Selektion, jedoch nicht auf der Rampe. Was taten sie, es sei grässlich gewesen:
„Es mussten ja gesunde und gut aussehende Leute sein. So nahm man einige standrechtlich zum Tode Verurteilte, die frisch aus Kattowitz zur Schwarzen Wand und zum Erschießen in Birkenau ankamen, Boger machte sich den Spaß, und ließ sie alle zuerst zur Schwarzen Wand führen, mit dem Gesicht dem Tode zu….
Doch sie kamen in die Schweiz. Rotes Kreuz. Gerüchte darüber gab es genug. Auch im Lager das Sonderkommando im Umraum des Todes, die am freisten waren und sogar ein verstecktes Radio hatten, BBC hörten, manchmal in strenger Vorsicht. Ein auch für die SS verbotener Raum des Todes:
Aber die Gerüchte wucherten. Es wurde gemunkelt, Hit-ler sei gefangen, Himmler habe die Macht an sich gerissen und wolle nun seine Haut retten, mit den Alliierten verhandeln, Häftlinge aber galten ihm als Pfand und Geiseln. Bereit sei er unter gewissen Bedingungen, viele herauszuge-ben.“
Ja, in¬zwischen habe man den Naziwahn ausgenützt, sagte Salmen: „Diesen Wahn, es gebe eine Jüdische Welt-macht, hat man als List an¬gewandt, und die Waadah gab sich nun als Zentrale dieser "Weltmacht" aus. und es war sogar noch leichter, als zu Zeiten der Abwehr, die in Budapest seit dem Sommer in den Händen der SS lag. Der SD überwachte sowohl Eichmann als auch die Canarisleute, aber mit dem Leiter dieser Spezialstelle, dem Hauptsturmführer Klages, hatten wir gute Beziehungen, weil wir mit Himmler, der das Ende nahen sah, eben ins Gespräch ge¬kommen waren, der hatte ja sogar über Schellenberg in der Schweiz versucht, mit den Kollegen vom gegnerischen Lager und über seinen Masseur, der Kersten hieß, Kontakte zu den Alliierten zu knüpfen, was aber misslungen war. Keiner wollte sich die Hände schmutzig machen. Nun blieb nur noch die Jüdische „Weltmacht.“ Das war unsere Chance. Es gab seit diesen Zügen in der amerikanischen Botschaft der Schweiz den Abgesandten Roosevelts, D. McClevland, der die Leitung des War Refugee Board übernommen hatte. Und er sollte verhandeln, wenigstens zum Zweck, den bebrillten Mörder in Berlin hinzuhalten mit leeren Versprechungen. McClevland hatten wir auch gebeten, doch die Eisenbahnlinien nach Auschwitz und die Vernichtungsstätten zu bombardieren. Wir wussten nicht, warum das bisher nicht geschehen war, obwohl doch gleich danebenliegende Industriean¬lagen von amerikanischen Bombern fast ganz zerstört werden konnten. Denn dann könnten diese Züge mit unseren Leuten doch gar nicht mehr im Inferno landen. Aber weshalb auch die Partisanen die Eisenbahnlinien nicht gesprengt hatten, weshalb nicht? fragten wir damals entsetzt. Weshalb bombar-dieren unsere Freunde denn nicht? Warum? Oh, warum nicht? Und unsere armen Menschen in diesen Zügen…
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Und wir? Die Anderen? Unser Untergang? Es war August. Aber es war nun viel zu spät für unsere Wun-derwaffe. Und man hörte, die Amerikaner seien die ersten gewesen, die einen Vorgeschmack auf die Apokalypse geliefert hatten. Am 6. August 1945, also ein Jahr später…. Großvater las die Nachricht in der Zeitung, er konnte sich aber unter jenem Lichtblitz nicht viel vorstellen. Auch der Name sagte ihm wenig, Japan war weit. Trotzdem nahm er in jenen Tagen seine Bibel, als wäre sie zuständig, und strich sich einige Stellen aus der Offenbarung an.
Vom Tode seines Sohnes Ali wusste er noch nichts, auch über Georgs Hungertod in Frankfurt an der Oder wusste er nichts. Keine Nachricht, obwohl beide schon seit einem halben Jahr tot waren. Sie lebten weiter an der Familien-Fotowand über dem klobigen Schreibtisch. Im Innern des Schreibtisches gingen die vielen Aktenbündel in einer flächigen Zinkkassette auf, Münzen, dazwischen eingeschoben das grünlich netzartige Zwischen¬fach für das Papiergeld, es zeigte kaiser-königliche Münzen mit dem Kopf des Franz Joseph, dann den Michael des König¬reiches Rumänien. (Später, ab 1948, kam das billige Nickelgeld der Volksrepublik hinzu, mit Wappen – aber ohne Kopf.) Vor der Fotowand die unförmige, wie eine Frucht geformte alte Messinglampe. Die Fotowand erinnerte sich, auch wenn niemand mehr dabei war: Nahe am Fenster zum verwilderten, unkrautreichen Garten des Nachbarn hing das ovale Porträt der Großmutter, dies milde Gesicht, auf der Brust eine weiße Schleife mit großer Goldbrosche, die Ami; und nicht weit von diesem Gesicht das erste Foto der Kriegstoten...
Und ich hörte die Stimme Mutters: „Die Internationale und die russische Hymne erklangen auf unserem Marktplatz. Stell dir das vor – die Internationale! Und auf der Villa Franca stand russische Flak. Und Verwundete mit Mongolengesichtern auf dem Bahnhof in langen Reihen.
Onkel Daniel sagte, es sei freilich ein Mangel an Gast-freundschaft, unsere friedlichen Jungs aus Russland so raus zu schmeißen, dann gar hier bei uns in unsere Heimat so ungebeten einzudringen, die Russen doch sonst ein so gastfreundliches Volk!
Als die Internationale und die russische Hymne auf dem Marktplatz erklangen, auf der Villa Franca russische Flak auffuhr, ich Verwundete mit Mongolengesichtern betreuen musste, im Mädchenlyzeum, auf dem Bahnhof, als die Kölnisch Wasser und Brennspiritus tranken, uns die Uhren abnahmen, dawai tscheas – Uhr her!, sagte Onkel Daniel: „Aha, nun gut, die andere Zeit ist da. Der Heilige Geist in neuartiger Form.“
Alle waren verstört, als sie hörten, vor allem der K.-Großvater war verstört, wütend sogar, als Daniel einen einzi-gen Satz sagte: „Wir wollten die Roten erledigen, dann haben sie uns erledigt.““
Das blieb, das war mal ein Wort. Und Daniel machte sich weiter Luft: „Der Hass auf die Roten, die Angst vor den Armen: Wir wollten sie erledigen, dann haben sie uns erledigt. Klare Sache. Wir waren ein Volk von Bürgern und Bauern, wir Sieben¬bürger Sachsen, ja. Dass sie Gold und Besitz bei uns suchten, war doch normal. Ja, dass jene, die uns Jahrhunderte lang in Häusern und großen Höfen, in schönen Gärten bedienen mussten, Milchmänner, Tagelöhner, Erdarbeiter, mit Vor¬namen nur angesprochen und mit Du, nun die Wut überkam, ist doch menschlich, nicht wahr? Dass sie sich die Geschäfte, die Häuser beibogen, die Gärten, die Höfe dieser arbeitswütigen Sachsen.“
Bei Alarm wurde der kleine Hannes grün und gelb im Gesicht und weinte. Minch bekam Durchfall. Ich zitterte am ganzen Leib und wollte nichts essen!
Und Mutter erzählte: „Wir Frauen mussten den Verwundeten, die vom Bahnhof kamen, die schmutzige Wäsche waschen. In früheren Klassenzimmern des Mädchenlyzeums waren Betten in langen Reihen aufgestellt, ein Lazarett, da lagen Kirgisengesichter, die waren freundlich, aber die Frauen hatten eine Sterbensangst vor ihrer Wildheit; und in der Zeitung hatte man sie als Affen gesehen; jeder Verwundete… der da lag, war ja ein Bolschewik.
Und dann gab es auch diese Vergewaltigungen. Herman-n¬onkel und Gustitante waren von zwei Rotarmisten in Schach gehalten worden, während der dritte seelenruhig die Hosen runterließ und sich über die weinende Tochter, die arme Ge-rda, hermachte. Und dann kamen auch noch die anderen bei-den zum Zuge. Das hat die Arme nie vergessen können!
Großvater aber, der ehemalige k. u. k.- Offizier, wurde rot im Gesicht als er das hörte, wollte seinen Revolver holen …“ (Hatte er den überhaupt noch?) das Jagdgewehr? Ja, hat er die nicht genauso wie Telefon und Radioapparat abgeben müssen?
Die Frauen aber schrieen entsetzt: bleibt hier, Karl, bleiw hä, gang net! Denk doch an die Kinder! Sie werden euch alle umbringen!
So blieben sie also, zitternd vor ohnmächtiger Wut und Scham. Und dann kamen auch die Drei von drüben, kreide-bleich und stumm. Am nächsten Morgen musste die arme Ge-rda ins Spital, sie haben ihr gleich eine Waschung und Desin-fektion gemacht.
In diesen Tagen gab es viele Begräbnisse... vor allem in der Corneşti... klagende Frauen mit schwarzen Kopf¬tüchern... Kerzen... Weihrauch Geruch... ein Pope in silber¬besticktem Messgewand sang…“
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Und die Erinnerungen flossen, Bild für Bild… wie sonst als Kind hier war ich erwacht, hatte die schlechte Luft im Schlafzimmer gespürt, das heiße verbeulte Kissen am Kopf. Der Wecker hatte geschnarrt – Schmerz des Frühaufstehens. Und ich war wieder ein Kind: Vater stand auch auf, er musste in die Stadt. Ich durfte mit.
Aber ich sehe die Überschwemmung der Kokel noch nicht, unter der Maria-Theresia-Brücke schießt das Wasser noch nicht durch. In den Häusern sind die Wände noch nicht nass und feucht, das gelbe Erdreich löst sich noch nicht auf, man kann davon noch nichts erkennen – erst das nächste Jahr wird es zeigen, langsam wird sich alles auflösen. Jetzt, im Spätherbst 1944 sind nur die Gesichter fahl, die Leute schlei-chen niedergedrückt und wortlos durch die Straßen, grüßen kaum, manche flüstern, der Mundfunk ist verbreitet, es sind die einzigen Nachrichten, Gerüchte über Gerüchte, davon lebt man. Und wieder hat die Oma davon geträumt, dass kochendes Wasser vom Himmel fällt, statt Regen. Und auch die Steine des Trottoirs am Marktplatz sollen sich aufgelöst haben. Ich taste mit den Händen vorsichtig an ihren Kanten entlang und Vater wird böse: „Du machst dich ganz dreckig, Junge!“ Dann versuche ich es mit den Füßen – alles noch fest. Nichts ist zu bemerken, nur die Leute haben Gesichter wie zehn Tage Regenwetter.
Aber als Mirjam, unser Nachbarmädchen, dem alten Mendel, dem Rabbi, davon erzählte, sagte der nachdenklich, wie es seine Art ist: „Ja, Fluss oder Stein, all dies hat mit dem Ende zu tun, hat mit dem vorletzten Buchstaben der Welt zu tun, mit dem Schin.“
Dann ging Vater mit seinen langen Schritten und ich mit kleinen Schrittchen an der Apotheke Zur Krone vorbei. Sie war gesperrt, die Apotheke, auch unser Geschäft im gleichen Gebäude der Gewerbebank war gesperrt. Doch Vater nahm den Schlüssel, öffnete, ging von hinten rein, durch die Tür der Bank mit den automatischen geräuschlosen Türöffnern, dann öffnete er das Wertheimerschloss, ging mit schnellen Schrit-ten am Klo vorbei, und dann zu den Büchern im Kontor, nahm das Hitlerbuch an sich und einige Schriftstücke und Zeitungen, verstaute sie vorsichtig in einer großen Aktentasche und hatte es dann, nachdem alles wieder gut gesichert war, sehr eilig, die Baiergasse hinab zu kommen ins Stadthaus und in den Garten am Kokelufer. Dort sah er sich um, nahm dann das Hitlerbuch und alle Schriftstücke und Zeitungen aus der Aktentasche und warf sie in hohem Bogen in die Kokel. Schlamm drüber!
Und auch Vaters rumänischer Hauptmann war da, der ihn vor der SS gerettet hatte, sie zogen nun gegen die Deutschen, gen Westen, auch er, der kleine Hauptmann mit seiner Kompanie. Er wollte Vater etwas Gutes tun, und sagte: „Te îmbraci in uniformă română şi vii cu noi. Ziehst jetzt eine rumänische Uniform an und kommst mit uns.“ Ja. Es sei besser, Vater kämpfe jetzt gegen die Deutschen. Das sei gut für alle Zukunft. Du kommst auf die andere Seite der Front. Aber Vater wich zurück, wie vor etwas Verbotenem. „Nein, nein“, sagte er. „Danke. Ich bleibe jetzt bei meiner Familie, die braucht mich.“
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Großer Raum. Eine Orgel. Gesang. 1945. Hört ihr die Große Glocke? Der Bischof auf der Kanzel. Onkel Daniel an der Orgel. Hört ihrs: Jesu, meine Zuversicht?
Die Große Glocke, von drei Männern gezogen. („Da tönt voll Ernst, da tönt voll Macht vom Berg die Glocke dro-ben.“)
Auf einem Wandmedaillon, schildartig, verzierte Rand-leiste: „Auff dien grosz Martr Sterben/ Und Leydn/ Kommn wir o Herr zu/ Dir bescheydn.“
Wir waren am Ende. Keine Auferstehung. Peenemünde hatte versagt, dies Fischerdorf auf der Insel Usedom, wo ja auch Großvaters Jagdfreund, unser Raketen-Oberth, gewesen war – schließlich hatte er die Rakete erfunden – und sollte seine Erfindung weiterführen bis zur Wunderwaffe V 1 und V 2, was er auch gern getan hätte. Bevorzugt wurde aber dann sein Schüler von Braun. Das werden die Siebenbürger der Obersten Heeresleitung nie verzeihen, die hat den falschen Mann gewählt.
Ich saß im Baruchhaus in der Stube, wo ich geboren wurde, am neuen Schreibtisch und schrieb:
Alle, die mit den Deutschen kämpften, blieben weiter an der Front. Für Führer und Reich. Auch wenn bei uns in Schesz-Brich ein seltsamer Frieden herrschte. Unter den Rus-sen.
Es geschah etwas, was wir auch in unserem heutigen Wohlleben gar nicht mehr nachfühlen können: Im Januar 45 wurden alle jungen Sachsen und Sächsinnen nach Russland verschleppt. Auch Georg wurde deportiert. Befehl des russi-schen Stadtkommandanten, sich zu stellen. Wie früher die Deutschen ihre Juden bestellt hatten – Befehl des Stadtkom-mandanten.
Friederike erzählte, wie es gewesen war:
„Als die Bekanntmachung des russischen Stadtkom-mandanten und der Polizei publik wurde, handelten alle genau so wie vorher, ohne Widerrede und ohne Rücksicht auf ihr kleines Leben, eben so wie wir es gewohnt waren, genau so (ohne Räcksicht af as klien Liewen), blind auch der neuen Obrigkeit gehorchend. Und die Baruchischen lachten über uns und sagten noch, wenn man euch auffordert, morgen in der Früh auf dem Marktplatz zum Erschossenwerden anzutreten, seid ihr vollzählig und pünktlich da. Aber sie, die Juden, hätten es ja genau so gemacht. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich, so dass dieses Unglück zwischen uns geschehen musste. Dieser Wahnsinn, stell dir das vor! Und da war doch der junge Roth, der Sohn vom Friseur, der hatte sich ja wie alle übrigen auch gestellt, wä menj Georg uch. Wie mein Georg ja auch. Um ein Uhr mittags mussten sie sich in der Mädchenschule versammeln, dort war der Sammelplatz; sie wurden bewacht von rumänischen Polizisten und von Russen, aber man hätte sie gar nicht bewachen müssen, sie wären sicher nicht weggelaufen, sicher nicht! Und als man den jungen Roth nicht aufrief, alle wurden aufgerufen beim Appell, nur er nicht, da meldete er sich wie in der Schule und sagte: Bitte, mich hat man nicht aufgerufen. Oder hat er es vielleicht auf Rumänisch gesagt?! Ich weiß es nicht. Ja, wir, wir waren schon ganz schön dumm; ich packte Georg den Rucksack, zuerst hatten wir noch Mittag gegessen, und es war vorgeschrieben, was man mitnehmen durfte, es gab eine Liste dafür, und ich sagte zu ihm, als die alte Spieluhr auf der Kredenz anfing zu spielen, du weißt ja, dieses Üb immer Treu und Redlichkeit, dies Mozartlied war auf der Walze, die Ami hatte das so gern, man muss ja jetzt nach so vielen Jahren lachen, obwohl mir jetzt die Tränen kommen, da sagte ich, dass es ja schon dreiviertel eins sei, und sagte noch, Georg, tea messt dech beellen, du musst dich beeilen, sonst kist tea noch ze speet. Und er: Jaja, ich gehe schon, behät dech Gott, menj Läwet uch de Känjder. Behüt dich Gott meine Liebe, dich und die Kinder! Und ich komm bald wieder, ich bin ja gesund. Ja, und er nahm den Rucksack vom Tisch, schnürte ihn sorgfältig zu, ging zur Tür hinaus, über den Gang ging er, Georg, mein Mann, ich sah ihm nach, er ging die Treppe hinab, tauchte im Hof nochmals auf, ging durch den Hof, am Tor wandte er sich nochmals um, winkte mit einer Hand, ich sah die Hand ganz oben, ganz oben sah ich seine Hand, seine liebe Hand, und er verschwand dann auf der Gasse und kam nie mehr wieder.
Einige hatten sich versteckt, unter anderen auch dein Vater, manche änderten wie Fredi ihren Familiennamen, heirateten Rumänen, du kennst ja die Geschichte vom Leutnant Popescu, der die Gret geheiratet hat, die schon in der Schule war, er holte sie raus, fragte, ob sie einen Verlobten habe, naja, sagte sie, der ist noch bei der SS. Der blutjunge rumänische Offizier geng mät em straks zem Standesamt, ging mit ihr stracks zum Standesamt, und sie kam als Doamna Locotenent Popescu wieder heraus, er wünschte ihr noch viel Glück, und nach dem Krieg können wir uns wieder scheiden lassen. Es kam aber nicht mehr dazu, er kam aus dem Krieg nicht mehr zurück, und die Gret war nun rumänische Kriegswitwe, sie wartete noch anstandshalber das Trauerjahr ab, und heiratete dann ihren Franzi, der gesund von der SS wieder nach Hause gekommen war. Und sie bezieht noch heute ihre rumänische Offizierspension, obwohl sie längst in Westdeutschland lebt, in der „neuen Heimat.““
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„Januar 45 war ich freilich noch im kämpfenden Berlin. Und mit der V 2 sollte es nun so weiter gehen. Ich war ja noch dabei in jenem Zentrum des eingekesselten Großberlin“, so Onkel Hermann: „Dann kam der 2. Mai. Ein leichter Regen ging nieder, jenseits des Nollendorfplatzes erste weiße Fahnen. Frühlingsduft, Rauch, Geruch von Blut und Schweiß, wir stiegen mit weißen Armbinden über die Trümmer. Hatten uns sorgfältig Kragenspiegel und Rangabzeichen abgetrennt. Ergaben uns den Russen“, erzählte Hermann: „Wir hoben die Hände hoch, ergaben uns einer Gruppe Rotarmisten, die lä-chelnd abwinkten. Die Uniformen von SS und Wehrmacht sind gleich feldgrau. Ich war SS-Unterarzt, also Unteroffizier, und bei der Kontrolle – die untersuchten zuerst jeden nach Blutgruppenzeichen – fanden sie mein Zeichen nicht, das war mein Glück, ich hatte keines. An dem Tag, als bei unserer Einheit diese Operation vorgenommen worden war, konnte ich mich drücken“, lachte er leicht gequält auf. „Ja“, sagte er: „Mer bekamen alsi den Passierschenj, sätzten es än den Zach, in debn Zug, und kamen no enner langen Fohrt drun än Te-meschburg auf dem Bahnhof un. De Let sachen as un, als wä-ren mer Giester. Als wären wir Geister, also Gespenster, ja, so sahen uns die Leute an, ein Häuflein deutscher Soldaten fast ein Jahr nach dem Zusammenbruch. Und prompt nahm uns dann auch eine russische Patrouille hopp. Wir zeigten aber unsere Zapiska, das Papier, vor, die schüttelten die Köpfe und ließen uns ziehen. Im Zug sahen uns die Leute an, als wären wir eine Befreiungsarmee, die Rumänen, die hatten jetzt von der Befreiung und den Befreiern genug und hätten sich wohl gern zurückerobern lassen. Zu Hause in Schäßburg angekom-men, drückte ich mich die Wände entlang, von Hauseingang zu Hauseingang, als gälte es, mich in einem heimlichen Stra-ßenkampf zu bewähren...
Kam dann in meinem Elternhaus an, ging durchs Hoftor, über die Katzenköpfe am Baruchhaus vorbei, im Hof schlugen die Nachbarn die Hände über dem Kopf zusammen, unsere Gysi machte Kulleraugen und rief: Joi a Doktorur. Und nur ein Baruchmädchen, ich glaube, es war die Mirjam, machte ein sehr erschrockenes Gesicht. Friederike sah mich vom Gang, wurde ganz rot vor Aufregung und lief mir entgegen, auch meine Mutter war inzwischen alarmiert, und es fand eine große Begrüßung statt.
Zuhause aber herrschten noch echt rumänische Zustän-de. So hatte die Polizei nach einigen Tagen von meiner Ankunft Wind bekommen, oder die brauchten noch Menschen für einen neuen Transport in den Ural. Im Januar 1945 waren Abertausende unserer Leute verschleppt worden. Jedenfalls kam ein Zivilist zu uns in die Baiergasse und sagte zu meinem Vater: Sa poftiţi cu fiul Dumneavoastră la poliţie, kommen sie bitte mit Ihrem Sohn zur Polizei. Und da hat mein Vater gesagt: Mein Sohn ist nicht da. Und der Zivilist ist gegangen; doch nach einer Stunde kam er wieder und bestand darauf: Ich muss Sie jetzt mitnehmen, machen Sie sich sofort fertig. Und wie der auf unserem Gang am Wohnzimmerfenster entlang geht, in die Küche, um mich festzunehmen, bin ich zum Haupteingang hinaus, wir hatten ja zwei Eingangstüren, zuerst ins Klo und dann auf den Holzmarkt zu Sles. Und da hat mein Vater wieder gesagt: Mein Sohn ist nicht da, und der Zivilist musste wieder unverrichteter Dinge abziehen.
In der Holzmarktgasse bei Sles und Eri war eine rumäni-sche Kommission, die wollte sich die Wohnung ansehen und enteignen. Ohne zu wissen, was da los war, kam ich in das Zimmer herein. Und da sagte dieser Rumäne, ich weiß nicht, wie er hieß, wir kannten uns von früher: Ah, domnule Doctor, aici sunteţi! Ah, Herr Doktor, hier sind Sie! Sie hatten mich ja gesucht, die Siguranţa. Aber der von der Kommission war ja nicht für mich und meine Verhaftung zuständig.
Und später, da kam einer, sah mich von der Gasse zum Tor herein gehen, zwinkerte mir zu und sagte: Sie müssen so-fort zur Polizei. Ließ mich aber hineingehen. Ich sagte zu Va-ter: Jetzt verschwinde ich; zu den Russen geh ich auf keinen Fall, das kenne ich. Und habe dann nachgedacht, was ich jetzt tun könnte, bin dann zur Krankenkasse gegangen und habe die gebeten, mir einen Einlieferungsschein zu geben.
Ein andermal kam zu meinem Vater einer vom Cerc, vom Wehrkreiskommando, mit einem Pferd zur Behandlung, Vater war ja ein angesehener Tierarzt. Ein Sachse war es, und ich frage ihn: Was machen Sie da beim Cerc? Und der sagte: Ich war ja auch in Deutschland bei der SS, aber wir sind min-destens zehn SS-Sachsen jetzt beim Cerc. Der Oberst beschäf-tigt uns.
Ich musste mich sowieso beim Cerc melden und bin mit meinem Vater am nächsten Morgen zu denen gegangen. Und da hat der Oberst Popa gesagt: De îmbraci în uniformă romînă, ca porcii ăştia dela Siguranţa să nu te prindă.. Du ziehst eine rumänische Uniform an, damit dich diese Schweine von der Sicherheit nicht finden, so hat er wörtlich gesagt.
Da bin ich tagelang als Schreiber durch die Stadt gewan-dert, so gegen Morgen. Früh um acht habe ich dort meinen Dienst angetreten, und es waren meistens Sachsen oder Un-garn da, die auch alle draußen und außer Landes gewesen waren. Und überall in den dicken Büchern stand: Dat desertor. Als Deserteur erkannt. Daneben ein großer Stempel: In sensul convenţiei romîno-germane din 1943 a fost incorporat in armata germana. Entsprechend des deutsch-rumänischen Abkommens von 1943 wurde er zum deutschen Heer eingezogen. Auch Geheimschreiben gingen durch meine Hände, in denen stand, die Sachsen und Schwaben, also die hitlerişti, versuchten mit allen Mitteln, jetzt wieder über die Grenze zu kommen. Man sollte sie auf keinen Fall wieder hereinlassen.“
„Was war das für ein Abkommen?“
„Nun, das war ein Geschenk des Volksgruppenführers Andreas Schmidt, ein Staatsabkommen zwischen Berlin und Bukarest. Es bedeutete praktisch, dass alle Deutschen Rumä-niens ihren Wehrdienst freiwillig bei der SS abzuleisten hät-ten. Von Freiwilligkeit war zu dem Zeitpunkt freilich kaum die Rede. So kamen fast 70.000 unserer Leute völlig ahnungslos und unter Zwang in den Schwarzen Orden und leider als Wachpersonal auch in die Lager wie mein Bruder Tallo und Roland.“
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1945 und 1946 läutete sehr oft die Große Glocke der Bergkirche. Viele kamen nicht wieder, und für jeden läutete die Glocke.
Es läutete also ganz tief die Glocke. Als die Nachricht von Alis Tod kam, weinte sich Mutter die Augen aus, tage-lang. Töff fiel bei Weimar am 11. April 1945; die Todesnach-richt aber kam erst ein Jahr später an.
Neun Mann sollen es gewesen sein, in einem Weggra-ben, das Gesicht im Gras, vielleicht schon Blumen. Die Blumen aber hatten keine Köpfe mehr, Stängel nur, und auch die zerfetzt. Tau? Töff war sechsundzwanzig Jahre alt, als er fiel. Lager oben auf dem Ettersberg. Lager, kein Todeslager wie bisher, und doch: Dort oben Wanderers Nachtlied unter einer Linde, am Appellplatz, Vögel singen im Geäst; eine Sicht geht weit hinein nach Thüringen.
Und genau an diesem Tag kam auch die Nachricht von Georgs Tod, auch sie kam ein Jahr später; auch Friederike weinte sich die Augen aus, und lebte nachher kaum mehr, war Kriegswitwe und Mutter.
Die alte Todeskunde, auch sie gilt nun nicht. Keine Er-fahrung ist annehmbar.
Georg war in Frankfurt an der Oder an einem Hunger-ödem langsam verlöscht. Wie eine Kerze, sagte sie, wie eine Kerze verlöscht, Georg.
Es folgte Schlag auf Schlag. Zwei Jahre später die eigentliche große Enteignung.
Ich sehe es noch so genau vor mir: Der S.-Großvater war wie jeden Tag gegen neunzehn Uhr mit Vater aus der Firma A.V. Hausenblasz, unserem Geschäft, nach Hause gekommen. Sie hatten ihm das Geschäft enteignet. Er bewegte sich lang-sam, mühsam, müde, ein wenig schlurften seine Schritte auf dem Asphalt; neben ihm Sles, sein Sohn, der ihn manchmal sogar untergefasst hielt und mit gebremsten Schritten besorgt neben ihm herging.
Die Kuckucksuhr schlug, der freche Holzvogel kam aus seinem Häuschen. Der Großvater ging die knarrende Stiege hinauf, er blieb auf jedem Treppenabsatz stehen, atmete schwer, ich neben ihm, konnte es kaum erwarten, oben zu sein. Großvater wollte mir etwas sehr Wichtiges zeigen, „eine Überraschung“, ein Buch. Nein, Briefmarken waren es. „Mit Briefmarken kannst du die ganze Welt kennen lernen, Mächel, du kannst sehr weit weg sein. Man kann auch im Brockhaus lesen und weg sein.“ Großvater war in Budapest gewesen und in der Kaiserstadt Wien. Preßburg, Prag. Die ganze Monarchie. „Die größte Reise aber geht anderswohin, weißt du, dazu ist die Erde zu klein“, sagte er leiser als sonst.
Auf dem letzten Treppenabsatz, bevor er den Fuß auf den Boden des kleinen Korridors setzte, brach er wie vom Blitz getroffen zusammen, er fiel auf die Knie, und ich fing einen Blick aus seinen wasserhellen Augen auf. Ich schämte mich, weil der Großvater so schwach vor mir auf dem Boden kniete, stumm, mit bittendem Blick da vor mir auf den Knien rutschte, sich festhielt am Treppengeländer, und ich war so erschrocken, dass ich nicht schreien konnte, keinen Mucks von mir gab, dastand und den Großvater anstarrte, der nichts sagte, gar nichts, immer tiefer und tiefer einknickte, und plötzlich schrie ich gellend durchs Treppenhaus, „der Ota äß gefallen, hie laat…“ Rannte die Treppe hinab, sturckelte fast, raste hastig in die Diele. Und dann kamen sie alle gelaufen, Sles und Mutter und auch die Minch halfen Großvater ins Bett.
Aber er lebte nicht mehr lang, es zehrte, es nagte an ihm. „Sein Lebenswerk“, sagte Vater, „ist ruiniert, das hat er nicht verwinden können, das nicht. Es war ja diese Sache mit der Komman¬ditgesellschaft, da hatte er die alte Firma umgewan-delt, umbenannt. Sie hieß nun Firma Elegant, da gab es rumä-nische und jüdische Teilhaber, um in diesen schweren Zeiten zu überleben. Aber auch das war dann gescheitert, es hat auch nicht lange gehalten, es gab eine. schleichende Enteignung. Das wollten sie ja, das wollten sie. Die hätten uns am liebsten ausgerottet. Und unsere jungen Leute immer noch in Russland. Aus und vorbei. Die ganze Lebensarbeit. Aus bitter armen Verhältnissen. Sich hochgearbeitet. Aber jetzt? Alles aus und umsonst gewesen...“
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„Sommeranfang, ein schöner, wolkenloser Juni 1948. Da ging eines Tages das Schreckensgerücht um“, erzählte Mutter: „Frau Flechtenmacher kam zu uns herauf und sagte: Um Gotteswillen, sie nehmen uns alles... Und sie sind in jenem schönen Juni zum Beispiel zu unserem alten Freund Wacke in seine Mühle gekommen und haben ihm befohlen, die Schlüssel vom Geldschrank herauszugeben; er habe in seiner Mühle nichts mehr zu suchen. Und bei den andern war´s ganz ähnlich: Sie können nach Hause gehen, hat man ihnen mitgeteilt, so als würden sie Guten Tag oder Grüß Gott sagen. Sie können nach Hause gehen, die Firma gehört Ihnen nicht mehr, die Firma ist nationalisiert, sie gehört jetzt dem Volk. Und sie haben dann auch schreckliche Dinge gemacht, dieser Pöbel. Sie haben sich zum Beispiel den Herrn Flechtenmacher gegriffen, abgeholt, der war Prokurist bei der Firma Hesshaimer; Joi, furchtbar, ich sehe ihn jetzt noch vor mir, totenblass durch die Straßen gehen, begleitet von einer johlenden Menge von Mob und Fratzen, Halbwüchsigen und Gassenjungen begleitet, so gingen sie also nebeneinander her, ein merkwürdiges Paar, der distinguierte Herr Flechtenmacher hochaufgerichtet, blass und voller Scham, und die Lenjel-Neni, die alte Gemüsehändlerin, die johlende Menge hinterdrein und unter Pfeifen der Gassenjungen über die Neue Brücke und bis in die Baiergasse und durch die ganze Stadt.
Ich bin schnell vom Fenster weg, es war ja an dem Tag Kaffeekränzchen bei der Pasketwitsch Geri, meiner Freundin im Elektrizitätswerk, ging schnell vom Fenster weg, konnte es nicht mit ansehen, denn ich kannte ja die beiden als ehrenhafte Leute. Vor allem den Herrn Flechtenmacher. Einen mussten sie herausgreifen, zur Schaustellung. Dabei war er doch so ein distinguierter Herr, mit einem Achtung gebietenden Auftreten.“
Und auch die Juden wurden dabei nicht verschont. Sal-men hat es mir erzählt. „Ja, weißt du, Dr. Mendel, der Bruder von der Dr. Ella Böhm, war ja mit dem Ministerpräsidenten Ion Gheorghe Maurer eng befreundet, und so wurde der Men-del in Bukarest stellvertretender Direktor einer Bank und war dann in die "Ana-Pauker-Affaire" verwickelt, kam so ein vol-les Jahr in Einzelhaft; er fiel einen Tag nach der Entlassung in Schäßburg auf der Straße tot um. Und die Brüder Baruch wur-den auf der Straße mit einem Plakat "Ausbeuter, Klassenfeind" von einer johlenden Menge herumgeführt; sie waren die ersten, die dann von Israel abgekauft wurden. Sie leben aber auch schon lange nicht mehr!“
Es war auch ein trauriges Weihnachten, trauriges Os-tern und Pfingstfest gewesen; der Schnee schien dünn, nicht fallen zu wollen, das Frühlingslicht und das Grün, das Licht anders als sonst, die Bäume kleiner, die Häuser, auch die Menschen schienen fahl, wie überlebt.
Augenöffnung? War dies der Himmelssturz, von dem der große Adolf immer gesprochen hatte und der heldenhaft zu vermeiden sei, indem man andere ins Jenseits beförderte?
Ich schätzte meinen Vater, weil er bekannte:
„Wie ein Stein fiel es mir von der Seele, als der ganze Plunder weg war, der uns so belastet hatte, ein ganzes Leben, schon die Väter und Vorväter verbraucht hatte.“
Und er, er habe ja nie etwas besessen, er sei immer nur Angestellter gewesen. War´s denn für die Ewigkeit, das Blei-bende? Von dem die Großväter immer sprachen, für das sie ihr Leben geopfert hatten? Auch im Kopf sollte die Welt stillstehen. Noch auf dem Totenbett, umgeben von zwanzig Enkeln: Grund, Haus, Hof. Und der Patriarch machte sein Testament. Ein Leben voller Macht über andere als das Höchste der Güter und Gefühle?
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Ich erinnere mich: Vater kam eines Tages aufgeregt nach Hause und sagte nervös: „Wir müssen sofort packen, in acht-undvierzig Stunden muss unser Haus geräumt sein: Enteig-nung. Hier zieht die Sicherheitspolizei ein.“
Wenn kein Möbelstück, keine Vorhänge, keine Teppi-che mehr in den Zimmern sind, klingt alles hohl. Die Schritte hallten wider, und man spricht miteinander wie über sehr weite Entfernungen...
Kein Eintauchen mehr in die Morgenfrühe wie bisher, nichts mehr frisch wie am Anfang; so kannst du also nichts mehr beginnen – als wäre nichts mehr offen, aber irgendwo kräht da ein Hahn; ein Flüstern ist zu hören: Lass uns leben oder so ähnlich, und ich streiche übers Blech, Küchentisch-blech; drüben im Schlafzimmer ein Husten des Großvaters und ein Knarren des alten Ehebetts … als wären sie alle krank. Es riecht nach Kampfer und Vaseline. Der Großvater holt sein Gebiss aus dem gerippten Wasserglas vom alten Nachtkastel, und auf dem Gang draußen Schritte und Klappern von Kannen, das muss der Milchmann sein. Er kommt, er klopft, tritt ein, sagte „Bună dimineaţa“, gießt blaue Milch in die bereit stehenden Reindl, als wäre nichts geschehen: Schtzschschtss, kleine Blasen auf der Oberfläche, Licht drin, wie winzige Regenbögen drum herum und ein Streifen Sonne auf dem Fußboden. Komisch, träume ich?
Der Milchmann? Die Kraftehann. Alles Arme.
Aber den ärmeren Schichten, den Purlotzen, denen ging es nach dem Zusammenbruch doch besser; zum Beispiel dem Milchmann, nicht wahr?
„Freilich“, sagte Vater: „der hat dann studieren können, ist Agronom geworden.“
„Das wäre ihm doch früher nicht möglich gewesen. War doch gerecht, oder?“
„Na ja, ausgleichende Gerechtigkeit war´s schon. Das stimmt... Aber Onkel Fredi haben sie damals verhört. Gegen zehn oder elf Uhr nachts sind sie gekommen, haben an die Tür gepoltert: Deschide! Aufmachen! Man hatte eben Angst, geholt zu werden.“
„Etliche Jahre ist das so gewesen“, sagte Mutter, „dass man nachts immer, wenn es geklingelt hat, Angst hatte, geholt zu werden. Plötzlich standen Milizmänner vor der Tür. Man hat gezittert. Und dann sind auch solche geholt worden, von denen angenommen wurde, dass sie Gold hatten.“
„Wie bei dir, Vater?“
„Ja, das ging bis zu unserer Ausreise, über dreißig Jahre lang.“
„Aber das Klavier mussten wir verkaufen, als man uns hinauswarf aus dem Holzmarkthaus“, sagte Mutter: „Wir ha-ben es einem Richter, einem Dr. Stanciu verkauft. Also, der Richter kam und hat dieses Klavier gekauft. Und wir bekamen 15.000 Lei dafür. Damit haben wir dann unser Winterschwein erstanden. Das war´s, was vom Klavier blieb. Das haben wir verfressen.“
„Aber nach zwei Wochen musste der Richter eine Erklä-rung abgeben“, sagte Vater. „Dieser Richter musste erklären, woher er das Klaviergeld hatte, unser Schweinegeld also, denn es hieß, das Geld stamme von horrenden Bestechungsgeldern solcher Leute, die ihr Eigentum behalten wollten. Es hieß also, dieser Richter sei nicht ganz koscher.“
„Jedenfalls, aus dem Klavier ist ein Schwein gewor-den?“
„Ist ein Schwein geworden. Damit haben wir euch in jenen mageren Zeiten ernähren können, ein halbes Jahr lang ungefähr.“
„Schrecklich traurig…“
„Aber seht ihr“, wunderte ich mich, „wie ich das in mei-ner Erinnerung vermischt habe, mit Leer-Klängen und so, das waren die leeren Zimmer, als wir hinausgeworfen wurden aus dem Holzmarkthaus, und zugleich war es ein Klavierklang, eine Leertaste...Und ihr musstet euch sicher einen inneren Ruck geben, um etwas so Kostbares wie das Klavier her-zugeben…“
Wie wichtig war es doch in sächsischer Umgebung, dass jeder auf seine Sachen „sorgte“. Alle hatten große Angst. Es könnte etwas abhanden kommen, gestohlen werden. „Die Rauber sind überall“, sagte die arme Marie-Tante furchtsam. Tief saß diese Angst und verriet alles. Wenn etwas Wertvolles oder auch weniger Wertvolles unauffindbar war, nicht an sei-nem Platz lag, hatten es entweder die Kinder verschleppt, da-für verdienten sie Prügel, oder die ungarischen Dienstmägde Roszika, Erschi oder Anna hatten es sich unrechtmäßig angeeignet. Da wurde wenig Rücksicht auf Ehrgefühle ge-nommen. Die Mitzmother vor allem war gross im Beschuldigen. „Die stehlen ja wie die Raben“, sagte sie gelegentlich: „Und müssen der Polizei angezeigt und eingesperrt werden.“ Einmal beschuldigte sie sogar Onkel Fredi, er habe ihr eine goldene Brosche gestohlen. Ich sehe ihn noch, den blonden Mann mit der hohen Stirn und dem gewellten Haar, der ein bubenhaftes, wenn auch ein wenig trockenes Lachen hatte, wie er an der Tannenhecke des Sommerhauses auf eine Birke zugeht und schluchzt, weint, ein tiefer röhrender Ton im Stakkato, etwas Schreckliches für mich; so etwas hatte ich noch nie gehört.
Die Oma aber stand in ihrem langen braungestreiften Schlabberrock, ihr scharfes Profil mit den graublauen Augen, mit hartem Ausdruck um den Mund, an der Verandatür und sah ungerührt der Szene zu, entschuldigte sich nachher auch nicht, als dann die Brosche gefunden wurde, sich Fredis Un-schuld klar erwiesen hatte. Sogar die Marie-Tant, Fredis Großmutter, wurde böse. Sie schickte mich, nervös geworden, zum Bäcker. Ich solle nicht so lange tandeln, sagte sie, und ich dachte, sie sieht doch aus wie die Witwe Bolte oder die Tante des Hans Huckebein mit dem hochgehobenen Konch und der Schleife da, vielleicht noch wie die Fromme Helene, nur etwas zahnlos, klapprig das Gebiss im Glas. Alle Erwachsenen erschienen mir wie Bösewichter oder nervöse Drachen, die nichts anderes bewegte, als ihre Macht, die ihnen nun genommen worden war. Auch beim Bäcker Moritz an der Ecke, dem sie das Geschäft gelassen hatten, eine Klitsche, spürte ich es wieder: Der Herr Moritz, massig und mit einem „schlechten“ Fuß, der hinkte, bekam einen Wutanfall, weil irgend jemand ihm versehentlich auf die Zehen getreten war, als er hinter seiner Theke fluchte, so gräulich, dass ich mit meinem schwarzen Russenbrot und den paar Semmeln die Flucht ergriff und die Albertstraße hinab rannte.
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Das neue Volk schien vorerst aus Zugezogenen und Zi-geunern zu bestehen, aus „Purligaren und dem Mob“, wie Großvater sagte. „Dagegen hatten wir uns im Namen des Ewi-gen und Bleibenden immer gewehrt“, sagte er. Er machte sich ziemlich viele Gedanken darüber, saß über seiner Bibel, las und schrieb; meist mit grünem oder rotem Stift schrieb er al-lerhand auf blau liniertes Schreibheftpapier, und das mit einer winzigen Zitterschrift, er legte es dann zwischen bestimmte Seiten seines Alten Testaments, und bevorzugte dabei das Buch der Prediger, das von der Eitelkeit der Welt handelte. Er trug ja auch Verantwortung für einen minimalen Erhalt dessen, was es hier in unserer Stadt, also auf Erden, solange es uns noch gab, auch weiter geben konnte, schließlich war er Kirchenkurator des Presbyteriums am Entenplätzchen, dem der Stadtpfarrer Wagner vorstand, war uns doch von allen unseren Einrichtungen nur noch dieser Ort und dann die alte Bergkirche im gotischen Wehrbaustil, einmalig so in der Welt, geblieben, die über der Stadt thronte und jeden Blick beherrschte; dann die Klosterkirche auf der Burg neben dem Stundturm, sowie die winzige Siechhofskirche, früher mal Trost der Aussätzigen; und nicht weit davon entfernt, die maßstabsgerechte genaue Nachbildung der Bergkirche mit kleinen Ziegeln, kleinen verglasten Spitzbogenfenstern, dem Turm mit Blitzableiter, geplant und ausgeführt vom jungen Architekten Frank.
Am Attraktiv¬sten aber war der Bahnhof unweit der Siechhofskirche und des Bergkirchenmodells, der war wie eine Schleuse, ein Tor nach draußen, da gab´s erregende Mo-mente wie im Theater oder im Kino. Dort ein Zischen des Dampfes, in Dampfwolken, dem Rauch, garz an der Zunge und im Gaumen, spielten sich Dramen ab, waren Tränen zu sehen, dort weinten die Menschen fast wie auf dem Friedhof, seltener waren die Umarmungen mit Lachen, wenn Heimkehrer kamen. Der kleine, ehemalige k. u. k. Bahnhof mit den verschnörkelten schmiedeeisernen Perronstützpfeilern war der Ein- und Ausgang zur Welt.
„Als unser Haus requiriert wurde“, erzählte Vater, „ha-ben sie genau wie bei den Enteignungen einen Zettel, eine Art Bescheinigung hinterlassen, diese Kommission… Im Namen des Volkes oder so ähnlich stand darauf.“
„Das war ja bei meinem Vater, dem K.-Großvater, auch der Fall, als sie ihm das Stadthaus wegnahmen“, sagte Mutter. „Und auch das Baumgarten-Haus auf der Steilau. Eigentlich hätte das ja aber nicht weggenommen werden dürfen, weil es extravillan lag, also nicht dem Stadtgebiet angehörte, das Baumgarten-Haus, Gärten, Meierhöfe, Grundbesitz außerhalb der Stadt durften nicht enteignet werden.“
„Und was das Stadthaus betrifft, haben sie das Haus erst nach 1950 enteignet, also völlig illegal“, sagte Vater. „Aber sie haben den proces verbal, das Protokoll, einfach an den proces verbal von 1948 angeklebt, als die Nationalisierung noch legal war.
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Der K.-Großvater ging langsam, eine weißliche Tschis-likappe auf dem glatt rasierten Kopf, mit seiner gelben schweinsledernen, schon arg abgegriffenen Aktentasche durch die Gassen von Schäßburg. Er hatte in säuberlich ge-ordneten Mappen seine Beweise, Pläne der Häuser. Eines in der Hüllgasse, das alte rosarote Stadthaus mit dem ovalen Schlafzimmerfenster: Blick auf die Burg, die Steilauhäuser. Und dann hatte er die Listen mit den Unterschriften, darin bestätigten ihm die ehemaligen Tierhalter, die Mieter und die ehemaligen Dienstboten, dass er nie ein Ausbeuter gewesen war.
„Soll ich mich etwa von euch erhalten lassen“, sagte er stolz: Vor ihm zwei dicke Mappen, Papiere, hand- und ma-schinengeschrieben, von leicht zitternder, venendurchzogener Hand mit bräunlichen Falten und Fält-chen.
„Wir haben freilich immer gutnachbarliche Beziehun-gen gehabt zu den Armen und den Fremdnationalen. Auch zu Pupăză, dem Milchmann, zu Tagelöhnern, Erdarbeitern, Bauern, Leuten, die grobe Arbeiten verrichten mussten. Auch zu den ungarischen Dienstmädchen sind Vater und Großvater doch immer sehr freundlich gewesen,“ höre ich Mutters Stim-me: „Und der Großvater zog mit Nitză, dem Zigeuner, der sonst zu allerlei Gartenarbeit, Hausarbeit herangezogen wurde, sogar ans Kokelufer zum Fischen. Nitză trug das Jägerstühlchen und die Angeln, eine Tasche und das Essen.“
Eines Tages, es war im Herbst 1962, versammelte Groß-vater die ganze Familie um den Speisezimmertisch, nahm die Haltung des alten k. u. k-Offiziers an und erklärte feierlich, dass er nicht mehr in diesem Land bleiben könne! Da es hier kein Recht gäbe! Wer dafür sei, dass die ganze Familie das Land verlasse und nach Deutschland ziehe, für immer, solle die Hand heben! Alle waren dafür.
Und im Frühjahr 1963 verließen der K.-Großvater und Tante Friederike mit ihren beiden Buben ihre Heimat und wanderten nach Westdeutschland zu Onkel Hermann aus. Für immer!
Und die vertraute Stimme Vaters sagte: „Aber bei uns gab es noch die uralte und immer neue Demut des Todes, die alles löscht und weich verschwimmend, Altes zu einer Grenze bringt. Das wird in der neuen Leere vergessen. Und auch jede Heimkehr wird vergessen! Und haben es in unserem Dialekt hier so im Volksmund aufbe¬wahrt, mein Junge: Wonni wärd´n ech weder kun?/ Wonn de schwarz Rowen weiß Fädderchen hun. Das heißt, du weißt es: Wann werd´ ich wiederkommen, wenn die schwarzen Raben weiße Federchen haben. Ja, es gibt das kleine und das große Niemehr. Und die haben sich sehr angenähert. Du versuchst immer wiederzukommen, und das gelingt dir nicht, wird dir nie gelingen, denn unser Scheszbrich gibt es nie mehr! Auch wir werden niemals mehr wiederkommen, denn wir haben uns in diese andere Zone der Welt entfernt, es gibt kein Zurück mehr. So ist´s ja auch neben dem Tambour am Stundturm, richte deine Blicke auf ihn: Es ist ein armer Mann mit nacktem Oberkörper und zerlumptem Lendenschurz zu sehen, doch die Beigaben aus den hochgehaltenen Händen hat er verloren, so weiß keiner, ist er ein Bettler oder ist er ein Henker. Er aber ist die wichtigste Figur.“
So war immer viel von Abschied in unserem Schesz-brich zu spüren, sogar die Luft roch nach Abschied, die Grosse Glocke der Bergkirche klang nach Abschied. Sie wird ja auch meist bei Begräbnissen geläutet, das Siebenuhrläuten der katholischen Kirche klingt nach Abschied, das Plätschern des Kokelwassers klingt nach Abschied, der Kuckucksruf klingt nicht mehr nach Frühling, sondern nach Abschied, die Stimmen der Leute klingen gebrochen, rau, wie Stimmen um fünf Uhr Früh, erinnern an den kommenden Abschied. Wie es denn auch heißt, als bräche etwas entzwei, und ein Weinen ziehe über den schwarzen Himmel, vom Trennen und Weg-gehn wird viel geredet, alles schon lang her, schon Jahrhunderte lang war ein Ahnen von Abschied hier zu spüren, auch schon vor und dann noch lange nach dem Schwarzen Tod, den vielen Kriegen. Schon in unseren uralten Waisenliedern aus er Pestzeit klingt ein Abschied nach, ein Kind, das seine Mutter verloren hat, weinend umherirrt:
Flech, hieschet Vijeltchen, flech,
än´t gäldän Hemmelrech,
branj menjer Mother en gaden Dach
und so mer derno, wat macht se noch.
Und die tote Mutter antwortet, vielleicht steht auch sie jetzt unsichtbar hier neben mir:
Ir Anjeltcher branjd här den Wänjd vur menj Dirr!
Schieden wäll ech aus der Wält
fohren wäll ech ze den Fraoen."
Ja, die Toten sind die Freien!
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„Den Umweg aber“, meinte Vater, „den gibt es bei uns wirklich! Er führt zum Fried¬hof, zur Bergkirche und zur Gruft; er führt am Hause des alten Zeichenleh¬rers Donath vorbei, der den Friedhof malte, wie ich, der auch sein Schüler war; aber auf dem Umweg, da saßen wir damals und zeichne-ten, ein Weg führt daran vorbei, ein verrostetes Eisengitter, ein Tor, ich gehe da jetzt mit dir durch dieses Tor, wir sehen lauter Namen, viele Gräber, du liest die Grabinschriften, so denkt noch jemand an diese Menschen, viele Gräber sind ver-mauert, Erde mit Beton zugedeckt, kaum Blumen, die Ver-wandten ausgewandert, der Friedhofsbesorger hat nicht viel zu tun, wo Deutsch zur Sprache der Grabsteine wird. Hat“
„Ja, Vater, und ich stelle mir dort auf einem Stein mein eigenes gut lesbares Epitaph vor.“
„Es ist verkehrt, zu trauern“, sagte er, „du lebst ja nach-her weiter, und bleibst nicht ewig dort in der Erde, im Grab gefangen.“
Ich gehe allein weiter; Vater ist nicht mehr da, widerhallt in mir nicht mehr. Wollte er mir damit sagen, dass er nicht auf den Friedhof gehört? Der Burghüter Georgi, ein hagerer agiler Mann, überholt mich, er fragt, ob ich noch auf den Turm steigen wolle, die Große Glocke und das Panorama sehn, ob ich die Kirche sehen wolle, ja, ich wollte die Kirche sehen; Georgi läßt mich in die Kirche ein, es hallt, und da höre ich die Orgel, ich wundere mich, Daniel ist doch längst tot, und nur er spielte diese Fuge von Bach.
BERGKIRCHE IM DUNKELN
Kein Mensch mehr hier, die Steine sind allein.
Kein Sturm lässt jetzt das Fieber ein,
die Pest die Schwarze Pest das Herz,
hier knarrt die Trauer.
Wenn unter Heiligen im Dunkeln,
das Uhrgefäß der Engel, unser Denken schlägt,
dem Nichts entgegengeht.
Die Toten schlafen lang im Raum,
die Gruft war älter schon, der Totenkopf
im Fenster sinnt jahrhundertkalt,
als wär ein wenig Nie
verhallt.
Vorne am Altar wie immer die vier Evangelisten, das Kreuz; es wird gebaut, renoviert, Georgi zeigt auf die Fresken.
Georgi fragt wieder, ob ich noch auf den Turm wolle, die Große Glocke und das Panorama sehn? Nein. Aber ich will die Gräber sehen. Den Grabstein meines Großvaters, diesen Namen... Georgi ist gesprächig. Er sagt, jemand sei da gewesen, mit einem Buch von mir, sagt es, als er meinen Namen hört, liest auf dem Grabstein meines Großvaters diesen Namen, die Schrift ist sehr verblasst, ich gebe ihm hundert Euro und bitte ihn, sie auffrischen zu lassen, er sagt, ja, ein Leser, so habe er sich vorgestellt, sei da gewesen, und habe die Kirche und auch das Grab meines Großvaters nach der Beschreibung im Buch "abgegangen", ja, so sagt er, abgegangen. Er habe auch die Familientafel verglichen, die Namen. Und ich sehe jetzt den Namen der Mitzmother, geb. Wagner. Den andern Namen verschweige ich mir.
Der Name ist das Gewesene. Auch meiner. An ihm hängt das gelebte Leben wie ein Grab. Das Kommende, das offen ist, wird vernachlässigt, aufgehalten. Ist dieses Unbehagen an meinem bisherigen Leben, nein, daran, es fortzuführen, und auch weiter "Heimat" hier zu suchen, ein Bewusstsein des Zeitungerechten? Der Name, die Namen auch Zitate, Selbstzi-tate wie die Figuren in einem Text? Langsame Zeit, die schal ist, abgelegt, quält, wie das Warten mit der Familie auf einem Bahnhof. Auch hier auf dem Friedhof. Hier ist der Schock zu langsam. Und dieses Entkommen nötig. Die alten Toten, die neuen Toten. Als wären sie ihnen überlegen. Scham. Schon bei Vaters Tod hatte ich dies erkannt.
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Aber dies Posthume meines Namens, auch dort auf dem alten Grabstein, dem ich entkommen bin, heißt nicht, dass ich ihn ablegen kann, wohin, in welche Kammer? Die Schrift ver-folgt mich in den Büchern, die vom Gewesenen und Vergan-genen handeln, auch von den beiden Großeltern, als sie noch lebten, hier ein wenig weiter leben, nicht nur für mich. Was verwest, was bleibt? Aber hier müsste es ja von Stimmen wimmeln... weshalb ist jetzt alles so stumm?
Die Schrift ist aber sehr verblasst, ich gebe Georgi nochmals fünfzig Euro und bitte ihn dringend, sie auffrischen zu lassen. Der Name ist das Gewesene, denke ich und wundere mich, dass ich ihn auffrischen lassen will! Alles so ruhig, Knospen. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da.
Als gäbe es eine Beziehung zwischen dem Alterszustand der Welt und der Person. Doch ich habe es erst jetzt nach die-ser Reise akzeptiert, das Lang¬same, das zu erreichen ist, also das Gewesene, endlich abgelegt. Der Traditionsbruch ist end-gültig. Und das Gefühlige, das Zeit braucht, gehört zum Ge-wesenen. Trauer, Melancholie. Ohnmacht. Unlust. Denn es schien bisher alles bequem geschlossen, lernbar, machbar, planbar, erfahrbar. Das ist aus. Geblieben sind die Zeugen. Die Toten hier.
„Wie lange ist der Grabplatz eigentlich gemietet“, fragte ich Georgi, den Friedhofswächter.
„Noch sehr lang“, sagte der: „Jetzt ist ja viel Platz hier!“ Und lachte. Das Grab ist schief, der Betonrahmen eingesun-ken. Ich sage, „wie kann man das reparieren.“ Er: „Eigentlich nur, wenn ein neuer Sarg hineinkommen soll, wenn ein neues Grab geschaufelt wird.“
„Diesem Grab bin ich entkommen“, murmelte ich. Wirklich? Jetzt der trauri¬ge Unsinn da. Nur noch Überreste. Man ist am offe¬nen Grab angekommen. Das Loch da. Frische Erde. Duft. Früher hat dich solch ein Erdloch schaudern gemacht, Templin. Ja. Bei Vaters Begräbnis. Und jetzt wieder: Totenschädel, den sie raus¬geschaufelt haben, in die Hand genommen. Dumpfes Geräusch, Erdschollen, dun¬kel, ein Loch: Und da bleibt mein Blick darin gefan¬gen, kannst ihn nicht mehr zurück¬ziehen, feuchte Erde, Lehm, Insekten, Erdge¬schmack fad, Wurzeln, alte Blät¬ter, schon vermodert, fallen darauf, du kannst ihn nicht be¬freien den Blick aus dieser Klammer, eingezwängt im Loch, da dun¬kel, verwirrt, wer aber sieht den frisch auf¬geworfenen Grab¬hügel, wer schluchzt da, - der eingegrabe¬ne Blick, und hier alles fett gedüngt mit Leichen und Giften, Gasen, es gibt Knochen und Fleisch und Nägel, die noch lange wachsen - durch das Leichen¬tuch, werden grün und rosa verwesen, Vertalgung, dann schwarz teigiger Sirup, und schließlich mumienhaft, und Gewimmel von Ma¬den, als lebte so alles ewig, Zellen, wo hast du nur deine Augen? Lang her.
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Dort der Steinmetz Roth, der siebenbürgische Grabküns-tler, der langsam und mit schwungvollen Bewe¬gungen wie der Zeichenlehrer Donath seinen Namen schraffierte. Ja, Gold-buchstaben auf Marmor als schnitten die ins Fleisch, der Stein ganz heiß und weich, da Schreiben das Sterben aufhebt, solange du schreibst, liest. Wir kehren in den Zustand zurück, in dem wir Millionen Jahre waren, bevor wir in den Körper kamen, dieser Unsinn - zwei Hände Erde, dumpfes Ge¬räusch auf Holz, Erdschollen. Gibst den Geist nicht auf beim Ablegen des Lei¬bes. Sag nicht Seele, sag Nichts; es löst sich etwas vom Körper ... Warum da Angst haben?
Ich bin noch erdverhaftet, man sieht es. Und welch selt-sames Gefühl des Erstickens, da soll ich hinein? Der Sarg auf Seilen, der muss da runtergelassen werden. Doch halt, noch kommen die Trauerreden. Pausen. Ergriffenheiten. Schade, dass man nicht klatschen darf. Mich los¬zuwerden. End¬gültige Verabschiedungen. Aber diese Enttäuschungen machen den Verstand hell und klar. Wozu noch solchen Firlefanz wie Mu-mien, doppelte Särge… einen Sarg in Menschengestalt ge-schnitzt, und in dem ein zweiter kostbarerer noch, als wäre dort das tiefinnere Ich recht gut geborgen und für alle Ewig-keit, eingesargt. Wie naiv. Als könnte man es so versorgen. Als wäre dies ein Maskenball. Und muss trotz allem laut la-chen. Keiner hört es. Aber sie tun ja da etwas völlig Verrück-tes, begraben ein altes Fleischkleid. Ich aber steh daneben, und mich wollen sie gar nicht. Welch ein Schrecken, wenn ich, der Tote, plötzlich sichtbar wäre, sie würden schreiend davon laufen. Soll schon, wenn auch selten, vorgekommen sein.
Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den Händen, ich habe das Grab angefasst, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Keine Blume auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da. Wo aber, wo seid ihr, wie soll ich das verstehen?! hätte ich am liebsten gerufen, biss mir aber auf die Zunge; nur der Wind im großen Lindenbaum war zu hören, rauschte. Ein Loch mit zwei Seiten, der Wind, ein merkwürdiges Geräusch, keine Blätter, die Bäume noch entlaubt, wie Skelette, doch irgendwo zu hören, eine lebendige Stille, Vögel, alles entzogen, abgeschieden. Nur Friederike hatte früher die verlorene, weil zu gewiss artikulierte Sprache im weichen Singen der Luft gefunden, und sie spreche gerne mit ihren Blu¬men, sagte sie, als sie noch lebte. Die Vasen, hier… das Blumenwasser ist faulig, erneuere es! Wie viele Mütter gäbe es hier, auch ihre Mutter lag wie eine ewige Täuschung unter der Erde. Wie dicht doch so ein irdisches Auge mache, das Schwin¬gen der Atome nicht mal erkennt. Es ist es ja selbst, als Licht, wie soll es da etwas erkennen? Erkenntnis sei ja rätselhaft. Und früher hatte sie Angst vor Geistern, jetzt ein ganz normales Leben, und Mütter, wie die Musik, lassen den Tod nicht zu, der ein Männergeschwätz sei. Jaja, genau so, und Kriege bis Todesstrafen, Vernichtung im Herzen. Du hast es selbst einmal erlebt, wurdest ins Furchtbare gerettet...
Wer aber bittet noch für dich, ein Mutterland? Hörst du den Schlag, ein Sirren der großen Uhr, jetzt sogar die mittlere Glocke, und ein Läuten der Kathedrale, es muss fünf Uhr sein. Ja, die Glocke, die hörst du. Und erinnerst dich: Blumengeschmückte Waggons, Freiwillige, hier an die Front gefahren. Männer aus halbgeöffne¬ten Fenstern winken, Mütter auf dem Perron, und wie die Bewegung des Zuges den Verlobten, SS-Freiwilligen, da von der Hand des Mädchens los¬reißt, und sie schrie, siehst der Zeit nach, die Fahrenden sahen nur noch hinter Glas die Stadtsilhouette, denn das Bild war und ist bewegt, noch immer. Keiner wird je zurückkehren, die Lebenden schon gar nicht, die Toten aber sind im Augenblick, der nie vergeht... Morgensonne blendet noch immer durch die Blätter des Nussbaumes, Morgenge-ruch, alles nah, wie der Geruch eines Apfels, Sein Geschmack, Wind, Regen... die Türme der Stadt, wie Schemen, mit dem Rücken nur noch gesehen, dazu eine Glocke wie eine Armesünderglocke schwer über dem Land, 60 Jahre.
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Und dann in der letzten Nacht „zu Hause“, noch im Ge-burtszimmer, nach dem letzten Einschlafen hier, erwacht, im Halbschlaf nun so gegen Morgen, tastete ich, wie ich es manchmal tat, mit der Zunge die Mundhöhle, den Gaumen ab, ich hatte das große Bedürfnis zu riechen, zu schmecken, wollte mich versichern, noch da zu sein, zu leben! Und war hinaus ins Freie gerannt, als hätte ich keinen Atem mehr, als müsste ich ersticken. Nur noch einmal wie früher als Kind, die frische Luft draußen spüren, den Himmel über mir, mit nackten Sohlen den Boden, ich streckte mich auf der Erde aus, fühlte das kalte Gras, das Gesicht im Geruch geborgen: Gras, Gras, noch vom Regen feucht. Wie ich so dalag, ausgestreckt. Über den Bergen noch sehr blass die Venus und die Mondsichel, verduftet der Rauch der Petroleumlampen.
Dann ging ich wieder hinein ins Geburtszimmer. Ich lag auf der Couch, mein Bewußtsein war leer. Und dann meinte ich zu hören… wie aus weiter Ferne diese Geräusche… wie das uralte Scheszbrich, mit allen Hähnen, Ferkeln, Fiakern, Hunden, Milchmännern erwachte, die Kleinbahn, wie sie den Markt hinauf stampft und ohrenzerreissend und rücksichtslos eins pfeift; da bauscht sich der gelbe Vorhang, Luft; die Grü-näugige atmet schwer. Rhaij edmen. Ticken der Uhr. Läuten, Turmuhren. Glocken, Engel singen. Summen in den Ohren. Krankhaftes Brausen aus dem Fenster, ferne Stimmen, ein Milchwagen poltert über den Hof, klopft auf dem Kopfsteinp-flaster. Der schwarze Zigeunerkopf erscheint gegen acht, das Kind schreit vor Kälte. Das harte Licht wie ein spitzer Pfeil. Man nabelt ab, Schere, ratsch weg. Und kalt. Das verschlägt dir den Atem, und jedes Wort ist zuviel. „Hot hie uch alle Fanjerchen?“ „Cha, cha“, lacht der Arzt. Im Steckkissen bist du wie eine Mumie eingepackt, ja, Erdenkind. Und ich spürte den Körper wie eine träge Masse: das bin nicht ich, dachte ich. Und meinte diese äußere Masse samt Haut verlassen zu können, durch die Luft aufwärts zu gehen, und ich hatte etwas Weiches, Schwarzes in der linken Hand. Dann meinte ich zu wandern, ging unter einem mond- und sternlosen Himmel, al-les grau, als wollte es regnen. Ich fühlte mich alleingelassen und sehr einsam.
Ich hörte einige Male ein unangenehmes Geräusch, ein lautes Klingeln und Summen, alles schien verändert. Und als ich wieder ins Haus zurückkam, da war auch dort alles bis zur Unkenntlichkeit verändert, sogar das Geburtszimmer war mir fremd: die Wände stießen nicht mehr rechtwinklig aneinan-der, und ich sah auch die Bücher an den Wänden völlig anders, erstaunlich, wie sie alle in einem lebendigen Licht glühten, dachte ich. Und die Farben schwebten, flogen und verließen ihre Fächer; wer spielte hier so mit dem Licht? Ich sah das Licht durch die Fenster kommen, das Zimmer veränderte sich immer mehr ins Ungewohnte.
Ich richtete mich auf, versuchte zu schreiben; doch was haben diese Worte heute nur, dachte ich verwundert: Ich sah meine Hand mit den Flimmerhärchen, wie sie sich bewegte, sah die Buchstaben vor mir, doch hingeschrieben zerfielen sie alle auf der weißen Fläche wie Holz, das auch ohne Feuer zu Asche wird; Grundstriche und Züge wurden zu kleinen Häufchen, verwandelten sich in Büschel, waren ungewohnt wie alle Gegenstände, entzogen sich in die Tiefe - und entfernten sich wie kleine Lichter, ganz weit weg; was ich auch immer versuchte, von oben, von der Seite zu sehen, es wurde zu einer unermesslichen Weite, zu einer brennenden Helle... Ich hörte Stimmen, sie schienen zu mahnen, doch konnte ich nicht verstehen, was sie sagten. Ich horchte. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass mich jemand über meine Schulter beugte, mir interessiert zusah, und auch mitreden wollte, mich überwachte, kritisierte; „Mutter“, murmelte ich, und da fiel mir der Stift aus der Hand, und ich schlief vor Erschöpfung ein, konnte nicht mehr schreiben, ohne dass sich ein großes Naturschauspiel mit hineindrängte, mein Kindheitsfluss, ein bebendes Wasser, und als wären die Worte nun auf das Wasser geschrieben, versanken sie, und hatten eine Stimme…
Ich konnte mühelos aufstehen, die Tür zum Garten öff-nen, ich glitt hinaus, flog: Flüssiges Feuer fiel durch den Apfelbaum auf den Stuhl: Licht und Schatten, weißes Feuer, wie bei Van Goghs "Stuhl", daraus Flammen, durchsichtig schwang´s. Doch spürte ich Blei im Mund. Geschmack von Kupfer, und Dröhnen von Eisenhämmern im Ohr. Im Hirn aber eine Helle.
Tastete mit meinen Fingern über rissig poröse Materie, ei-sigkalt die Stelle, wie verhext, der Finger glitt hinein, brach durch, ach, und aus dem Bild an der Wand tropfte es, ein En-gel, Materie weinte, das Summen wuchs... ein Streifen Licht von draußen, es fiel ins Auge und schmerzte, ich schwieg, konnte nicht reden, oder wenn ich redete, hörte mich niemand, sie sahen mich nicht, ich lag dort oben an den braunen Deckenbalken des Zimmers, schwebte leicht wie ei-ne Feder, das blaue Band bis zum fernen Meer, doch es gab keine Distanzen mehr, ich war dort, wohin ich mich dachte! Licht blendete, durchdrang die Mauern, würzige Luft, ein essbarer Gegenstand. Die erhöhte Klarsicht bis hinüber zum toskanischen Archipel, Distanzen spielten keine Rolle mehr, ich war gleichzeitig dort und hier zu Hause! Hier wie dort in der Bibliothek, alles war jetzt aus Kristall, wie von Sinnen die Luft, scharf der Himmel: Vogelgezwitscher, die Linie des Berges wie mit dem Rasiermesser geschnitten, dieses Rosa glühte von innen, weich, wie Kinderlippen, ich flog, schwebte über den Wellen, über dem Meer, Sand, Sand, und konnte in jedes einzelne Körnchen hineinsehen, jedes Teilchen ein vollkommenes geometrisches Muster, - strahlte, war Kristall mit scharfen Ecken, jedes warf einen Lichtstrahl zurück, leuchtete, ein Regenbogen. Strahlen kreuzten sich, bildeten wunderbare Muster.
Dann wieder das Zimmer, die Bücherwand, die beiden Fenster, der Sessel ebenfalls ein dichtes Muster, es war aber nicht mein Zimmer, es war ein Bild von Braque, es gab keine Gebrauchs¬gegen¬stände mehr, sondern nur noch himmlische Objekte, frei und schwebend in einem Dröhnen und Pochen.
Mutter winkte mir, und ich ging mit dem Buch aus dem Haus, es war windstill, im Nachbarhaus stand auf dem Schornstein eine senkrechte Rauchfahne. Lauter frisch aufge-worfene Hügel, sonst nur zubetonierte Gräber, wir gingen in eine tranceversunkene Stadt, manchmal schwankte ein hohes Gebäude vorbei, und Gesichter hingen müde, wie an eine Fensterscheibe gepresst, vor uns in der Luft. Sie wich mir jetzt nicht mehr von der Seite, sie und eine junge Frau hatten mich in die Mitte genommen, sie zeigte mit ihren knochenweißen Händen auf verschwommene Gesichter, die tiefernst und unbewegt in ein Loch starrten, einige hatten Tränen in den Augen, ein schiefer Regen von Tränen fiel auf die schlammige Erde. Und dann war es meine bekannte Straße mit alten Häusern hier, genau hier, mit Vögeln, auch Krähen und Raben in abgezirkelten Vorgärten, aus denen es nach faulen Äpfeln roch, süßlich nach Verwesung. Die rote riesige Sonne drang kaum durch den Nebel, hing hinter einem Gewirr von Ästen, alles war reglos, wie gefroren, und ein Gewebe von eisigen Wolken am Himmel sah aus wie ein ungemachtes Krankenbett oder zerwühltes Totenlinnen.
Und wir nahmen einen Anlauf wie früher als Kinder beim Springen, hoben ab und flogen gemeinsam los, ein schö-nes Freiheitsgefühl, und ich sah deutlich, wie mein Schatten unter mir übers Pflaster glitt, sah, dass niemand anders als ein Du unter mir flog, und strich zärtlich über die Blanken der Gärten, wie über tönende Saiten. Und ich machte einen Luft-sprung, um mich vom Du zu befreien, das war aber unmög-lich, es kam immer mit, wir stiegen steil in den Himmel, Dä-cher neigten sich schwankend unter mir, ich aber flog über die Wolken hinaus ins Purpurrote, und alles war durchmischt, da erschienen transsylvanische Damen, das Kränzchen von Ami, mit riesigen Großmutterhüten oder war´s ein Lichtkranz, Glühwein bot eine von ihnen an, Wolkenbuden da unten, alles war erschüttert vom Klingen und Lachen, Musik, Wälder, Meere, Schneegipfel, alles bewegte sich. Am Strand Pärchen, sie gingen aber langsam oder kamen nicht vom Fleck, es sah komisch aus, wie sie dastanden, aber zu gehen schienen, sich küssen wollten, die Bewegung aber nicht ankam.
Winzig und wie ein schlimmer Spaß daneben meine Versuche, die Heimatlandschaft so darüber hinweg fliegend, ich selbst als ein riesiges Radiergummi, alles zu löschen, auch in mir zum Verschwinden zu bringen, Kurven der Wench, Flusswindungen, Brücken, wie die aus Holz, die Maria-Theresia-Brücke hieß, und auch der alte Nussbaum im Kinderland des Sommergartens, jetzt im Blitz des Vergehens unter der Sonne nur noch ein Skelett, schöne Silhouette der Stadt Schäßburg im Abendlicht: Ein matteres Gelb, verwelkendes Blatt, wie das Rascheln am Boden, Dezem-berwinde wirbelten sie noch einmal hoch. O wie ist es kalt geworden/ und so traurig öd und leer, am Schulberg ging ich den Weg vom Tor der Bergkirche hinab und zum Familiengrab des Karl K., der schwarze Stein mit Goldschrift, geschwungen, verschnörkelt, gotische Buchstaben.
Dahinter dehnte sich ein im Vergessen wachsender Abgrund, und die¬sen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen? Zu spät "normal" zu werden? Zu spät!
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Hätte ich nur auf dem schönsten aller Friedhöfe, dem Bergfriedhof nach Hause kommen können? Ich nickte zu-stimmend, als ich meine eigene Stimme wieder hörte: Diesem Grab bin ich entkommen! Nur: wohin?
Es ist Zeit, dass ich gehe. Dass ich in die Fremde gehe, wohin ich hingehöre! Wo ich zu Hause bin! Und so kam es auch: Am nächsten Morgen schon der Abflug. Zuerst war die-ses neue Fortgehn wie eine erlösende Befreiung, ein Rausch. Ein schweres Gewicht fiel von mir ab, als fiele der Körper von mir ab. Und auch dieses Bewusstsein, nicht gelebt zu haben!
Dann der Abflug als neue Erfahrung. Wie Mutter, nie mehr wieder zu kommen…
Doch schon während des Fluges meinte ich, diesem In-der-Luft-Sein, der blendenden Sonne, deren Strahlen durch die Bordluken fielen, und dem offenen blauen Himmel, diesem anderen Nicht-Sein schon im Leben, so ausgesetzt zu sein, dass ich mich wieder zurück sehnte. Im Warteraum hatte ich noch auf dem Boden, wenn auch nicht mehr auf vertrautem Boden, gestanden. Doch es war ein ganz anderes Gefühl als beim ersten Verlassen meines Landes gewesen, damals vor vierzig Jahren. Der Fluglärm, die meteorologische Station auf dem Flughafengebäude, Maria in ihrem schwarzen Kleid, die ich damals für immer verließ – sie hatte noch zur heimischen Ruhe, zu meinem vergangenen Leben, zu jener ehemaligen Vertrautheit gehört, die da ist wie die Erde, die Bäume, das Wasser, eine unaufgeregte, gleichmäßige Nahrung für unsere Sinne. Ich verließ damals ein Zuhause. Dann aber kam ich in die Luft, und den Boden fand ich nirgends mehr wieder. Jetzt auch hier nicht mehr, von wo ich damals weggeflogen war, aus einem von Gott (von wem?) geschenkten Zuhause, das es einmal gab, und das es nun nicht mehr und nie mehr geben wird! Denn ich flog ja nun in dieses seltsame Agliano, das alle meine Jahre verschlungen hat, „nach Hause“, das mir niemand und nichts als die Zeit gegeben hatte. Und erst nach dem Tode werden wir sehen, ob es anderswo eine andere Heimat gibt, oder ob alles doch nur eine große Täuschung ist. Nein, wir werden, wenn es so ist, auch das nicht wissen können, Nichts und nie werden wir es wissen…! weil es wahrscheinlich nirgends ein Zuhause gibt und auch nirgends geben kann!
Ein antwortloser Fluch. schon vor vierzig Jahren, als ich bei jener ersten Ausreise auf die Tür der Zollkontrolle zuge-gangen war, als ich die Passkontrolle hinter mir gelassen hatte, im Niemandsland stand, hatte sich in mir etwas losgerissen; mein Bewusstsein setzte für einen Augenblick aus, nur die Beine bewegten sich automatisch in Richtung Zubringerbus. Es war ein fatales Unlustgefühl, eine Ahnung in mir hochgekommen, als wäre ich eben dabei, den größten Fehler meines Lebens zu machen. Gespalten war ich, und bin auch heute immer noch unrettbar gespalten, jetzt wie damals. Damals meinte ich, in Frankfurt sei ein ganz neues Leben, ein unvorstellbar glückliches, freies Leben möglich, dort erwartete mich Hannah, an die ich Tag und Nacht gedacht, mit der ich täglich telefoniert und Briefe gewechselt hatte, und die seit Monaten um mich bangte, voller Angst, ob diese letzte Ausreise auch gelingen würde. Ja, sie war gelungen. Für immer! Ein letzter Blick damals auf die am Boden stehenden Maschinen – sie schienen noch eine Art Wunder, auch Maria, die unter den Leuten auf der anderen Seite der Sperre stand und winkte, war noch ein gewöhnlicher Mensch. Später musste ich mich an sie wie an eine aufreibende Unwirklichkeit gewöhnen, die mich täglich verfolgte. Wie eine lange Strafe war es, ein sich hinziehender und misslingender Abschied. Man kann sich vorstellen, dass Tote so fesseln können – die starke Gefangennahme der Gedanken durch die Abwesenden lässt uns nicht mehr los; es gibt nichts stärkeres auf der Welt als den Sog der Abwesenden… der uns ganz beherrscht und krank macht!
Und jetzt war es nicht Maria, sondern die anderen To-ten und meine Erinnerungen, die gar nicht mehr in dieses Land und seine Wirklichkeit passten. Als hätte ich eine unbegrabene Leiche hier zurückgelassen. Und wer war der gestrenge Herr, der mir für immer verbot, sie zu begraben?
Weich zurückgelehnt in den Sessel, der gen Westen ra-senden Boeing saß ich jetzt da, noch bequem in der Luft, wo man sich nirgends anschlägt, aber schon fallfrei zwischen drei Ländern und auf einer endgültigen Reise ins Blaue, in eine Schwebe, ausgeliefert einem Leben, für das es keine anderen Erfahrungen gab als die Leere, ein fremdes Leben und fremdes Wachstum, ein Ich, das nicht ich bin, bestenfalls noch den Schmerz, nirgendwo hinzugehören, wo die bisherigen Erinnerungen hinderlich waren, vergessen werden mussten – passé, alles passé, was bisher gewesen war. Und jetzt? Fliehen aus dieser so gewordenen Zuhause-Fremde, die man früher „Heimat“ genannt hatte?
Es bleibt alles hier, was ich niemals gelebt habe. Fortflie-gen? Doch nicht wie die Zugvögel, die kehren zurück, wie die Sonne hinter dem Berg. Der Boden lockte, man sah das Flug-hafengebäude, ganz klein die Felder, Quadrate, Rechtecke, Häuser, Spielzeuge, gereinigte Mühe, oh, Erde, alles ist ein-fach in der Entfernung. Die Felder, wie grün bist du mir, schö-ne Sekunde, das Flugschiff Jetzt: der Himmel fast erreicht. Und Sterben als letzte Aufgabe. Zurückgelehnt in den wei-chen Sessel träumte ich von Mutter und vom Tod… Und hörte Mutter flüstern: „Drei Dinge scheinen so ernst mir, dass ich oft muss weinen. Es ist mir herbe zu wissen, dass ich einst sterbe. Mir bangt zum andern, weil ich nicht weiß, wann ich muss wandern. Zum dritten ist mir wehe, weil ich nicht weiß, wohin ich gehe.“
Ich schreckte durch ein Zittern des Rumpfes und ein Heulen hoch…Und dachte noch, wenn wir abstürzen, stürzt dieses Buch mit ab, es wird mich und den Templin hier auf der Erde nicht mehr geben…
Donnerstag, 2. Juni 2011
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