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Sonntag, 10. April 2011

Sprachheimat. Zum Werk von Dieter Schlesak in Zeiten von Diktatur und Exil

SPRACHHEIMAT
Dieter Schlesak. Ein Lebenswerk in Zeiten von Diktatur und Exil
Werkanalysen seit dem Jahre 2000

Herausgegeben von Jürgen Egyptien, George Guţu, Wolfgang Schlott und Maria Irod



Die Ausführungen von Dieter Schlesak haben den Vorzug der Klarheit. Was bei Heiner Müller bisher dunkel „deutsches Verhängnis", „Kolonisation“ oder „Überfremdung“, bei Volker Braun locker „das nicht Nennenswerte“ hieß und von Christa Wolf als „dunkle wilde Jagd“ bedichtet wird ..., was also zwischen Kreuzestod und altfränkischer Schicksalsrhetorik kaum hinreichend verständlich wurde (...), ist hier plötzlich deutlich.“ Iris Radisch, Die Zeit

Sein Ich ist sich des Zeitsprungs gewiss, sein Ich warnt den Leser vor allzu großen Erwartungen: „Was wirklich wahr ist, gibts noch nicht. / Und alles andere ist vergangen. / Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages/ setzt du auch morgen nicht zusammen.“ Die enge Verbindung von gegenwärtigem Geschehen, das das Bewusstsein noch nicht aufnehmen kann, und einer eben abgelaufenen Vergangenheit, die als Traumsequenz in eine Zukunft reicht, in welcher alles erst entwickelt wird, was im Präsens zu schnell vorüberjagt – ist der Übergang, in dem das Schlesaksche Ich stehengeblieben ist, um in der Fülle des Augenblicks seine vielschichtigen Beobachtungen machen zu können. Es wählt den quälenden Weg der Offenlegung von Wunden im Zeitbewußtsein am Ende des 20. Jahrhunderts. Wolfgang Schlott, Kommune


Indien ist nicht weit; Ihr geistiger Weg musste zu einer Form der Mystik führen. Dennoch ist die äußere Welt auch da – von Siebenbürgen bis nach Mexiko; wobei immer im Hintergrund die Suche nach einer andern Wahrheit steht, einer tiefen Wahrheit, die der Geschichte entkommt oder sie überschreitet
E. M. Cioran, in einem Brief an den Autor

Inhalt

Einleitung………………………………….........................................

I AGLIANO. AUS-LAND UND GRENZGANG
Joachim Wittstock, Im Oberland von Camaiore ………………….....
Reiner Wochele, Literarischer Mönch ................................................
Lerke von Saalfeld, Poeta doctus. Preisrede 2007................................
Werner Söllner, Dieter Schlesak ……………………………..............
Edith Konradt, Dieter Schlesaks Grenzgänge …………………............
Maria Irod, Dieter Schlesaks „Zwischenschaft“...................................

II VATERLANDSTAGE UND DIE KUNST DES VERSCHWINDENS
Oliver Sill, „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ …….
Edith Konradt, Die sprachgewordene Vernichtung. Zu Dieter Schlesaks Roman, Vater-landstage und die Kunst des Verschwindens...........

III DIE HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT. WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN
George Guţu, Auf der Suche nach Heimkehr ………………...............
Alina Oancea, Heimkehr ……………………………………………...
Lothar Baier; Die gebrochene Übereinkunft ………….........................
Alina Oancea: Die Heimkehr ist ein weißes Blatt ………………….....

IV DIE WELT ALS TEXT
Marian Victor Buciu, Die Welt als Text in Zeiten von Diktatur und Exil* ………………………………………………...............................

V SPRACHE, DIKTATUR, EXIL UND DIE POETIK DER ABSENZ
Christina Weiss, Am Wortstamm die Schlange ……….........................
Wolfgang Schlott, Poetik der Absenz ……………………………........
Wolfgang Schlott, Vom Reisen der Zeithäftlinge, LOS, Reisegedich-te.............................................................................................................
Hans Jürgen Schmitt, Mails und Küsse, Erotische Liebesgedichte........
Jürgen Egyptien, Transsylvanien und Transzendenz………………......
Luciano Zagari, Zur Neubegründung der Lyriksprache nach Auschwitz ……………………………………………………………….........
Georg Aescht, Dieter Schlesak findet Heimat im Wort
** * Physik und Gott ………………………………………………......
Michael Braun, Wiederkehr des absoluten Gedichts ………………….
Walter Hinck, Elegie des Abschieds ……………………………..........
Maria Irod, Lippe Lust. Poesia erotica zwischen Erotik und Mystik......
Cosmin Dragoste, Utopie-Heimat oder die Heimat als Beruf. Transilvania, mon amour ...................................................................................
VI DIE VIER NEUEN ROMANE SEIT 2002 UND EINE TRANSSYLVANISCHE REISE

Jürgen Egyptien, Totenschrift und posthume Ästhetik. Zum ,Verweser’-Projekt……………………................................................
Maria Irod, Schrift und Melancholie. Der Verweser und Vlad, die Dracula-Korrektur ………………………………................................
Wolfgang Schlott, Der Verweser…………………………………......
Olivia Spiridon, Romans Netz. Ein Liebesroman ………………........
Edith Konradt, Eine Transsylvanische Reise ………….......................
Wolfgang Schlott, Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Ru-mäniens ……………………........................................
Renate Färber-Husemann, Der Auschwitzapotheker……………........
Wolfgang Schlott, Ein Dokumentarroman über die Todesmaschinerie der deutschen Na-tionalsozialisten..........................................................
Georg Aescht, Von der Familiarität des Bösen …………….................
Zoltán Tibori Szabó, Mit Dieter Schlesak auf der Suche nach menschlicher Würde ………………………………………..............................


I. AGLIANO. AUS-LAND UND GRENZGANG


Das „Aus-Land" ist freilich mehr als nur Chiffre für ein individuelles Außenseiterdasein. Letztlich meint sie eine existenzielle Sackgasse: die Fremdheit des Menschen im ,,Gefängnis" seines Körpers und der Zeit, die angesichts des Massenvernichtungspotenzials auf ihr Ende zutreibt. Was bleibt, sind tastende Ausgriffe in den Bezirk der Mystik.
Hans-Rüdiger Schwab, Frankfurter Allgemeine Zeitung





Joachim Wittstock
Im Oberland von Camaiore

Ortsbestimmung: Weiler Agliano, zu Pieve gehörig, einer Frazione von Camaiore, Tos-kana.
Zeit: April, Anfang Mai 2004.
Personalia:
Die Gastgeber: Linde Birk, in Stuttgart geboren, war Lektorin im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen und Französi-schen. Gattin von Dieter Schlesak, Schriftsteller, Journalist siebenbürgischer Herkunft (1934 in Schäßburg/Sighişoara geboren).
Christel und Piero d'Inzéo, in Pieve wohnhaft, mit Linde und Dieter Schlesak befreun-det, Nicht-Auto-Touristen gegenüber sehr hilfsbereit.
Erika und Uwe Grün, Besucher aus Bensberg (Bergisch Gladbach). Sie verfügten zeit-weilig über einen Mietwagen, der die vom Automobiltransport ausgelöste Faszination nicht ganz unbegreiflich erscheinen ließ und uns an einige ferner gelegene Sehenswür-digkeiten heranführte. Verschwistert und verschwägert mit Inge und Joachim Wittstock, den Gästen aus Siebenbürgen, Rumänien.
Motto: In der Baron von Brukenthal’schen Bibliothek Hermannstadt nahm ich ein Buch aus der Zeit des Bibliotheksgründers zur Hand, das mich auf unsere Italienreise einzus-timmen versprach: Herrn Doktors Johann Targioni Tozzetti's Reisen durch verschiedene Gegenden des Großherzogthums Toskana, in einem Auszuge von J. C. Jagemann.
"Zweyter Theil" (Leipzig 1787) enthält auf S. 211 die verheißungsvollen Sätze:
„... linker Hand öffneten sich zwischen den Bergen die fruchtbarsten und schönsten Thäler, worunter Valle di Camajore die blühendste Provinz der Republik Lucca ist. Es ist in der Gestalt eines Theaters mit den schönsten Olivenwäldern umzingelt, und mit Saatfeldern, Weingärten und Obstbäumen bedeckt, und mit solchem Fleiß angebauet, als es nur immer möglich ist. In der Mitte des Thals liegt der volkreiche und sehr nahr-hafte Flecken Camajore...“

Freitag, 2. April
Nachdem Linde und Dieter abgefahren waren – wunschgemäß etwas vor neun Uhr – saßen wir eine Weile in dem Parterreraum, wo der große (durch eine Platte verlängerte) Tisch vom Frühstücksgeschirr noch nicht befreit war.
Die Pendeluhr habe ich im Rücken, ihr Sekundenticken ersetzt für eine Weile das zuvor noch lebhafte, schon von dem bevorstehenden Aufbruch gekennzeichnete Gespräch.
Wie man wohl die Uhr aufzieht? Das will Inge wissen, die auf diese Frage am Vorabend von Linde bereits erfahren hat: mit Hilfe der Gewichte. Wir treten vor den vermutlich rund hundert Jahre alten Mechanismus, und es will uns nicht recht gelingen, die un-säglich langsam, in stetem Pochen, emporgewanderten Gewichte hinabzuziehen, damit sie dann ihren streng geregelten Aufstieg erneut beginnen.
So mag es uns auch mit anderen Werken und Apparaten ergehen, die uns von den soe-ben verreisten Gastgebern zur Nutzung und Wartung übergeben worden sind.
Wieder auf unseren Plätzen, machen wir einander auf das Vogelgezwitscher aufmerk-sam, das vom gelegentlichen Hundegebell kaum beeinträchtigt wird.
„Es ist für sie offenbar beruhigend zu wissen, dass jemand im Haus ist“, sage ich. Wir hatten uns in den vergangenen Tagen und Wochen manchmal gefragt, was uns diese Einladung einbrachte, was denn den Ausschlag gegeben haben mochte, zumal Linde und Dieter mehrmals betont hatten, es seien nicht Dienste auf dem Grundstück, die sie von uns erwarteten, also nicht etwa das zu leisten, was die im Frühling wohl herangezo-genen Saisonarbeiter im Hügelland üblicherweise ver-richten.(?)
Nur Handgriffe – ja, solche werden, ohne dass wir darüber viel gesprochen hätten, uns abverlangt, Selbstverständlichkeiten wie: den Kater Roméo mit Milch und Kraftnahrung in Form brauner Kügelchen zu füttern, den Rasenmäher zu betätigen und Ähnliches mehr.
Inge stimmt meiner Bemerkung zu, worauf ich fortfahre, den plausiblen Beweggrund weiter zu untermauern. „Wir sollen das Haus beleben, sollen Teil an seiner Beseelung haben und es dadurch auch erhalten und schützen. Ein Haus, in dem Menschen sind, ist etwas ganz anderes als ein verlassenes Anwesen, besonders hier im Bergland-Weiler, wo manches Gebäude auch Zeiten des Verfalls gekannt hat, der Seelenlosigkeit schlech-thin.“
Uns war gesagt worden, dass auch der Bau, in dem wir uns befinden, vor dreißig Jahren ganz anders ausgesehen habe – der eine Teil war kaum mehr benutzbar, weil er im Lauf von zweihundert Jahren ziemlich verwittert und verelendet war.
„Sie hängen nämlich sehr an diesem Haus“, füge ich hinzu. Am ersten Abend hatten sie uns durch die Räume geführt, und es wurde immer wieder auch davon gesprochen, wie aus dem einstigen Zustand der Verwahrlosung mühevoll das jetzige Stadium solider Er-neuerung erreicht worden war, durch vielfaches Anpacken bei den erforderlichen Arbei-ten, wobei Tünche und Farbe den Wänden und Balkendecken zum heutigen Aussehen verhalfen.
Nun sehen wir noch deutlicher, wie sehr Linde Recht hatte zu sagen: „Dies Haus ist un-ser Leben.“
Während die beiden sich als Stipendiaten der Stadt München in der Villa Waldberta am Starnberger See aufhalten, ist also unsere Aufgabe: Kräfte der Wahrnehmung und des Handlungsvermögens so einzusetzen, dass diese Lebensstätte nicht nur in den ganz praktischen Gegebenheiten, sondern auch als wohnlicher Ort erhalten bleibt – und Wohnlichkeit ist ein vorwiegend seelisches Moment.
Die Pendeluhr gibt im Erdgeschoss den Rhythmus an, sie pulst ordnungsgemäß, gar mit beharrlicher Insistenz ihr Prinzip in den Raum, und zwar so gewissenhaft, dass wir schon nach Stunden erkennen, wie sie in Gang zu halten ist. Die Gewichte haben sich nach und nach tiefer hinabgelassen, und so wissen wir: Sie müssen nicht hinuntergezo-gen, sondern im Gegenteil an der Kette wieder gehoben werden, um ihren Zeitmesser-Dienst verrichten zu können. (!)

Sonnabend, 3. April
Auch heute verweilen wir nach dem Frühstück etwas im Parterre des Hauses. Es ist dreigeteilt.
Zunächst gibt es das Mittelstück mit der Pendeluhr, die in meinem Rücken ihren Takt und, extra vernehmlich, die Stunden schlägt. Vor mir habe ich den Treppenaufgang, der die aus grob behauenen Stämmen gebildete Zimmerdecke durchbricht und unwillkürlich den Blick hochgleiten lässt. Wieder und wieder betrachte ich die von weiß getünchten Wänden durch schlichte Beize, durch braunen Anstrich zu deutlichem Kontrast abgeho-bene klobige Deckenstruktur (Kastanienholz, ließen wir uns sagen, sei da verwendet worden).
Das Mobiliar wiederum ist feineren Zuschnitts, der zierliche Eckschrank, der in die Mauer eingelassene Wandschrank und eine Kommode aus Großelterntagen – allesamt sind sie für Glasgeschirr und Porzellangut bestimmt.
Von mir aus rechts liegt, durch die an zwei Stellen eröffnete Wand erreichbar, jenes Zimmer, dessen niedere Sitzgelegenheiten, dessen Sofa zum gemütlichen Aufenthalt einladen, es ist eine Stätte des Gesprächs und der Geselligkeit. Die eine Wand dort wur-de, bis zur Zimmerdecke, mit einem Regal versehen, in dem sich Buch an Buch reiht – deutsche Literatur, Weltliteratur –, das Wandgestell ist außerdem mit Schallplatten und Kleinplatten (ungern bezeichne ich sie als CDs) bestückt und vom Fernseher belegt.
Ein Kamin zieht drüben die Aufmerksamkeit auf sich. Er wird am Abend mitunter in Betrieb genommen, weniger um zu heizen, als dem Geknister der verbrennenden Schei-te, dem Geprassel des Astgespriegels zu lauschen. Korb, Blasebalg, Schürhaken, Koh-len, Zange, Aschenhaufen erinnern mich an Kindheitstage, an Notwendigkeiten zwin-gender Art, auch an die Herbheiten der Holzfeuerung.
An der Bücherstellage hängt eine Marionette, ein prachtvoll ausgerüsteter Ritter, gepan-zert, geschient, behelmt und mit Schild bewehrt. Die Figur gehört wohl zum Puppen-spiel, das, just vor meinen Augen, zwei weibliche Personen verweilen lässt, Damen im langen Gewand, mit beweglichen Köpfen. Ich nehme sie auf und stelle fest, wie sehr sie schon durch die Veränderung von Hals und Haupt den Eindruck von Leben erwecken.
Und dann der dritte Raum zur ebenen Erde, die Küche. Auch sie ist mit stattlichem Ka-min versehen, der aber nicht verwendet wird; der zum Kochen und Anwärmen der Spei-sen bestimmte Herd neuzeitlichen Stils steht daneben. Eine Kredenz ist da, weiterhin eine Vorrichtung zum Aufbewahren von Tellern (aus Zinn, Fayence, aus gebranntem Ton), zudem gibt es Abstellgelegenheiten für Krüge und andere Behälter. Die geräumi-gen Tische ländlicher Provenienz dienen dem täglichen Bedarf oder täuschen, bei selte-nem Gebrauch des Ererbten, eine tagtägliche Nutzung bloß vor.

Sonntag, 4. April
Obwohl ich nicht beabsichtige, die einzelnen Stationen unserer Reise möglichst aus-führlich zu verzeichnen, also ein regelrechtes Tagebuch zu führen, seien doch einige Momente notiert, als Anhaltspunkte im Zeitverlauf.
Am 1. April wurden wir von Linde und Dieter zum Meer gefahren (meist sitzt Linde am Lenkrad), an die von Camaiore nächstgelegene Küste – jene des Ligurischen Meeres (und nicht des Tyrrhenischen Meeres, wie ich dachte, das erstreckt sich weiter südlich, zwischen Korsika, Sardinien, Sizilien und dem italienischen Festland. Ligurien ist aller-dings nördlicher, es umfasst den Golf von Genua mit einem breiten Küstenstreifen). Vom Lido di Camaiore ging es dann, in Strandnähe, nach Viareggio.
Hier machten wir im Bootshafen Halt, wo Linde und Dieter uns ihr kleines Schiff zeig-ten („Frasquita“ genannt, in Hamburg registriert). An dem „Strand der Barbaren“ (Costa dei Barbari), naturbelassen, unbewirtschaftet, gingen wir eine längere Strecke über den Ufersand, für uns Besucher aus der Ferne in diesem Jahr der erste sinnenhaft-unmittelbare Eindruck vom Meer.
Auf der Rückfahrt, noch im Badeort Viareggio, lenkte Dieter unsere Aufmerksamkeit auf den Turm, in dem Nicolao Granucci Jahre hindurch als Strafgefangener sein Leben fristete, ein Wesend-Verwesender aus Renaissance-Zeiten, in Dieters Roman Der Ver-weser zur Gegenwärtigkeit einer literarischen Gestalt erweckt. Während dieses Ausflugs an die Küste notierte ich nichts, da ich vom Vorsatz erfüllt war, die soeben berührten Stätten noch aufzusuchen.
Der Nachmittag brachte uns – Linde samt Hunderl Felix, Inge und mich – nach Buchig-nano, einem Nachbarweiler Aglianos, durch Waldpartie und Olivenhang bequem er-reichbar.
Tags darauf, nachdem unsere Gastgeber abgereist waren, machten Inge und ich uns auf, Camaiore zu Fuß zu erreichen. Das Vorhaben war als ein Auskundschaften des Wegs (der kurvenreichen Zufahrtsstraße) gedacht, geplant war zudem eine kurze Besichtigung der auf weiter Fläche ausgebreiteten Ortschaft, auch wollten wir Lebensmittel einkau-fen.
Flugs vergingen die Stunden, indes wir auf abschüssiger Bahn durch den Wald gingen, dann die erste kompaktere Siedlung (Pieve genannt, bedeutet Pfarrkirche) querten und schließlich die mittelalterlichen Burgcharakter aufweisende Innenstadt Camaiores auf uns wirken ließen.
Während des Rückmarschs kreuzte Christel zufällig unsere Bahn. Sie, die gerade nach Hause fuhr, nahm uns in ihrem Wagen auf und brachte uns von der Kirche in Pieve (ei-nem respektabel alten Bau, ab dem 8. Jahrhundert datierbar, auch spätere Phasen lassen sich an der romanischen Kirche identifizieren) hinauf zu jener Stelle, wo – vor dem Bergnest Agliano – Fahrzeuge im steilen Gelände wenden können.
[...]

Montag, 5. April
Zur Bushaltestelle in Camaiore und von dort gegen Abend wieder ins „Daheim“ schaff-te uns Christel, entgegenkommend wie immer. Heute war Lucca im Programm, einst Stadtrepublik, zeitweilig Hauptort eines Herzogtums.
Lucca überraschte uns durch die Vielfalt alter Bauten. Der erste Eindruck war der des Staunens und ein wenig auch der Benommenheit. Ein neuerliches Hinfahren wird wohl zur Klärung der Eindrücke dienen.
Am 20. April–- der Zeitensprung dahin sei mir erlaubt – erfüllte sich tatsächlich die Wochen vorher gehegte Hoffnung. Der zweite Besuch dieser anziehenden Stadt trug sehr dazu bei, eine bessere Übersicht zu gewinnen. Das konnte schon deshalb gesche-hen, weil wir den Stadtwall von seinem westlichsten Punkt (in Nähe der Piazzale Giu-seppe Verdi) bis zu einem im Süden gelegenen Abschnitt abgingen, vor allem aber, da wir den Turm (Torre) Guinigi bestiegen, der den Palazzo einer einst einflussreichen Kaufmannsfamilie überragt und beste Aussicht auf die gesamte Siedlung und das hüge-lige Umland sowie auf die in größerer Ferne liegenden Gebirge – auf die Apuanischen Alpen – gestattet. (Zumal wenn man von einem so prachtvollen Wetter begünstigt ist, wie wir es hatten, nach den vergangenen Regentagen ein kaum glaublicher Wandel zum Vorbildlichen.)
[...]
Nun fahre ich in der Beschreibung des Hauses, in dem wir wohnen, fort. Im ersten Stock sind die beiden Arbeitszimmer eingerichtet, gleich neben der Stiege jenes von Dieter, einige Schritte weiter, zu Nummer eins gegenüber liegend, das von Linde. Das Übersetzungs-„Labor“ betrete ich, der gemächliche Interieur-Abbilder, zuerst.
Eine Vielzahl Bücher hat Linde übersetzt, sie, die ihre Übertragungen anfangs mit Ha-dulinde Birk unterzeichnete (den Band Die Kreuzzüge. Traum und Wirklichkeit eines Jahrhunderts, 1967) und später mit dem auf Linde Birk verkürzten Namen signierte.
Band auf Band sind in einem Regal aneinandergefügt, lapidar mit dem Übersetzungs-signum versehen, ansonsten verlautet kaum je ein Wort über diese fleißige Mitarbeiterin bedeutender Verlage (Hoffmann und Campe, Rowohlt, S. Fischer, Diogenes und an-dern). Lediglich in einem Nachschlagewerk ist sie präsent, in Übersetzerinnen und Übersetzer. Verzeichnis 1999/2000 (herausgegeben von der Bundessparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller in der IG Medien).
Prosa repräsentativer Autorinnen und Autoren, Literarisches der lesbaren, zum Lesen einladenden Sorte, Kriminalromane eingeschlossen (von Georges Simenon vor allem), holte sie aus dem Französischen und Italienischen ins Deutsche. Sie übersetzte zudem den Textteil von Kunstalben sowie Sachbücher verschiedener Fachrichtungen (Psycho-logie, Soziologie, Philosophie).
Sehe ich mich in dem Zimmer um, das, wie auch die übrigen Räume des Hauses, stilvoll und einfach eingerichtet ist, wird erkennbar, wie sehr Linde vom Wunsch nach Übersicht erfüllt wird, Tand und Ballast ist der Kampf angesagt. Eine facettenreiche Geistigkeit – dieser Eindruck wird von der reichhaltigen Bibliothek hervorgerufen. Le-xika und Richtungweisendes in mannigfachen Bereichen sind da vereint. Das für den Vermittlungsdienst des Übersetzers unerlässliche Dokumentationsmaterial und anderes mehr steht ihr, steht Dieter zur Verfügung.[...]

Mittwoch, 7. April
Das Zweirad glitt am Vormittag hinab, mit mir als Fahrgast, versteht sich. Die Bremsen vorne und hinten hatten vielfach zu tun, durfte ich doch der Fahrt nur kleine Partien Freilauf gönnen. Etliche Male musste ich hell auflachen im menschenleeren Gelände, da ich mir vorhielt, wie seltsam es doch sei, dass ich in den abschüssigen Toskaner Bergen mich so flott mit dem Bizikel fortbewege (ähnlich lautet auch die italienische Bezeich-nung, Bicicletta).
Der Kauf eines Verschlusses fürs Fahrrad, bei der Post die Übernahme eingeschriebener Briefe für Linde und Dieter versetzten mich jeweils an die Grenzen meiner minimalen Sprachkenntnisse, nicht aber ans Ende der Kommunikation. Ob Verkäuferin, Mechani-ker in der Velo-Werkstatt, ob Postangestellte des Auskunftsdienstes oder leitender Post-beamte, der mir die Briefe aushändigte – alle hatten Verständnis für die Notlage meiner Redeweise und waren geneigt, auf mein von einzelnen Wörtern und vor allem durch Gesten umrissenes Begehren aufmerksam einzugehen.
Und dann wieder die freundliche Fürsorge der d’Inzéos – heute war es Herr Piero, der sich plötzlich auf der Trasse befand und mich, samt Minirad und Einkaufslast, mit sei-nem Auto den verbliebenen Teil des Anstiegs hinaufbeförderte.
[...]
Von Dieters Schreibatelier möchte ich jetzt (und wohl auch an den kommenden Tagen) ein Bild skizzieren. Dabei werde ich, wie mir scheinen will, weniger über die Ausstat-tung des Raums als über ihn als Autor berichten.
Das Arbeitszimmer wird, ebenso wie nebenan jenes von Linde, in seinen Abläufen und Zielen durch die in Regalen angeordneten Druckerzeugnisse gekennzeichnet.
Die Übersicht zu gewinnen, fällt mir hier nicht leicht. Zwar ist das zeitliche Prinzip im Großen befolgt, und doch wird, durch die Fülle publizistischer Beiträge, durch Präsen-zen in Anthologien und anderen Sammelwerken, eher das Mäandrische seiner schrift-stellerischen Tätigkeit betont. Das Hervorkehren einer Dimension oder auch das Auf-zeigen von zwei, drei Richtungen bedeutete deshalb eine unzulässige Reduktion.
Man kann freilich eine Gliederung erzielen (unwillkürlich verfalle ich in den Aufsatzstil und fahre jetzt in diesem fort), wenn man sein Schaffen Themen und Schreibgattungen zuweist. Als Muster lässt sich die Systematik verwenden, die in Lexika genutzt wurde, zum Beispiel in dem bio-bibliografischen Abriss, den das Autorenlexikon 2003/2004 des PEN-Zentrums Deutschland bietet.
Vermutlich aufgrund von Angaben des Autors werden hier folgende Schaffensbereiche angeführt: Dieter Schlesak ist „Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer, Diplomgermanist, Lehrer und Literaturredakteur“. Außer Versen und Prosa verfasste er „Essays über Literatur, Grenzphänomene und Religion. Hörspiele und andere Arbeiten für das Radio“. Zudem entfaltete er eine „Übersetzer- und Herausgebertätigkeit“.
Zunächst erwecken Dieters schriftstellerische Anfänge in den sechziger und seine Arbeit in den siebziger Jahren mein Interesse, jene Perioden also, da er noch in Bukarest lebte (bis Spätherbst 1969) beziehungsweise da er – nach seiner Übersiedlung – im Westen Fuß zu fassen suchte (in Köln und Stuttgart, ab 1973 in Camaiore, Provinz Lucca).
Eigene Erinnerungen an jene frühen Zeitabschnitte erwachen zu neuem Leben. 1959 war Dieter als Redakteur der in Bukarest erscheinenden Publikation Neue Literatur an-gestellt worden. In dieser Eigenschaft kam er etwa 1960 nach Klausenburg, um even-tuelle Mitarbeit zu besprechen und um für Absatz der Zeitschrift zu werben.
Er traf mit Leuten der „Germanistik“ zusammen, die von seiner einstigen Studienkolle-gin Eve-Marie Sill (Assistentin am Klausenburger Deutsch-Katheder) mobilisiert worden waren. Am Abend saßen jene, die sich auch sonst am literarischen Gespräch beteiligten, im Gasthaus „Continental“ zusammen, bei einem Glas Bier oder sonstigem Getränk. Mit Dieter wurde damals auch ich bekannt gemacht, ein noch grüner Student, dessen mangelnde Reife sich unter anderem darin äußerte, nicht zu erkennen, wie unreif er war.
Einige Jahre vergingen, bis ich Dieter wieder sah, in der Redaktion der Neuen Literatur – es wird wohl 1967 gewesen sein. Die Schriftleitung der auf Repräsentanz rumänischer Kulturpolitik ausgerichteten Zeitschrift (Vermittlung rumänischer Literatur in einer für den Weltverkehr wichtigen Sprache) war in einem ansehnlichen Gebäude auf dem Ana-Ipătescu-Boulevard eingerichtet. Hier betreute Dieter Mitarbeiten in den Sparten Lyrik, Übersetzung, Kritik und verfasste selbst in den drei Bereichen Beiträge, die zur literari-schen Erneuerung beitrugen.
Lebhaft ist mir auch sein Vortrag über österreichische Prosadichtung im Gedächtnis, den er, vom Hermannstädter deutschen Literaturkreis und vom staatlichen „Komitee für Kultur und Kunst“ dazu eingeladen, Juni 1967 im Festsaal des einstigen Ursulinerinnen-Klosters von Hermannstadt hielt, im Pädagogischen Lyzeum unserer Zeit.
Dieter führte in die Problematik neuerer Erzählkunst aus Österreich ein, die Schauspie-lerin Hilde Fischer-Untermanns las Textproben (beispielsweise aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften).
Ein erst später in aller Deutlichkeit erkennbarer Impuls, die Veranstaltung abzuhalten, lag in dem Umstand, dass der Referent Kenntnis über Kenntnis zum Thema absorbiert hatte, um eine massive Anthologie, Proza austriacă modernă, für den Druck vorzube-reiten, das heißt, die Texte auszuwählen sowie die Zusammenstellung mit Vorwort und Einführungen zu den einzelnen Autoren zu versehen. Die beiden Bände sind dann 1968 in der auflagestarken „Biblioteca pentru toţi“ (Bibliothek für alle) erschienen.
Sein lyrischer Debütband Grenzstreifen war ebenfalls 1968 veröffentlicht worden, im Bukarester Literaturverlag. Der Autor empfand den Eisernen Vorhang in seiner ganzen existenziellen und geistigen Bedrohlichkeit und trachtete deshalb danach, die Eiserne Grenze zu überwinden.
Sein Weggang führte zum Abbruch persönlicher Beziehungen. Nur gelegentlich langten Nachrichten über seinen Verbleib bei uns an, über sein Schreiben und die Veröffentli-chungen.
[...]

Karfreitag, 9. April
Den am Abend des Karfreitags erleuchteten Ort Camaiore wollte Christel uns ebenfalls vorführen. Die an den Hausfassaden befestigten Lichter versehen eine alle drei Jahre stattfindende Prozession mit charakteristischem Glanz.
Wie recht tat sie, uns dafür zu animieren. Der Umzug ist tief im Gemeinschaftsleben der Stadt verwurzelt. Die meisten Bewohner tun mit, und sei es auch nur, indem sie an Fenstersimsen und -läden oder an eigens für diesen Zweck zugeschnittenen Holzleisten kleine Becher anbringen, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt sind, auf das eine Schicht Öl gegossen wird. Entzündete Dochte sorgen dafür, dass die brennbare Flüssigkeit nur all-mählich aufgebraucht wird.
Die Unzahl der Lichter – sie gehen in viele Tausende – nimmt dem Raum, in dem der Leidensweg Christi, die Processione di Gesù Morto, sich abspielt, jegliche festere Kon-tur. Dunkelheit und Geflacker lassen das Geschehen als irreal erscheinen, aus der histo-rischen Zeit und auch aus der Gegenwart gehoben.
Das mag auch der geheime Sinn der Veranstaltung sein – durch die traditionelle und suggestive Ölbeleuchtung (la tradizionale e suggestiva luminara ad olio) den am Um-gang teilnehmenden Personen und den zahllosen Zuschauern die Passion Christi in ihrer Zeitlosigkeit und Allgegenwart zu offenbaren.
[...]

Ostersonnabend, 10. April
Mithilfe der beiden Fahrräder erreichten Inge und ich Camaiore. Der Rückweg, von ei-nem Lebensmittel-Großladen aus, dauerte rund anderthalb Stunden, weil beim Aufstieg nur kurze Strecken im Sattel, der Rest bloß schiebend bewältigt werden können und weil wir uns zu keinerlei Eile angespornt fühlten.

Ostersonntag, 11. April
Planungen, die nicht mit Italien, sondern mit dem Danach in Hermannstadt zu tun ha-ben, lassen mich immer wieder zu den Georg-Trakl-Bänden greifen, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Darunter befindet sich der Erstdruck der Gedichte (1913). Hier lese ich die österlichen Verse:
„Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen / Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. / Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen. / Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.“ (Menschheit.)
Auf den Ostersonntag nicht weniger passend sind auch die Worte: „Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich / Gottes goldene Augen.“ (Psalm. Karl Kraus zugeeignet.)
[...]

Ostermontag, 12. April
Am heutigen Regentag setze ich die Anmerkungen über den rumäniendeutschen Autor Dieter Schlesak fort – um 1970 war er es noch, bald aber nicht mehr.
Zugehörigkeit zum Spektrum des Rumänisch-Deutschen bezeugen die von ihm und Wolf Peter Schnetz herausgegebenen Anthologien Fische und Vögel. Junge rumänische Lyrik und Grenzgänge. Deutsche Dichtung aus Rumänien, als ähnlich ausgestattete Re-gensburger Hefte 1 und 2 in eine Reihe gebracht und „anlässlich der Regensburger Kul-turtage 1970“ veröffentlicht.
Gehört hatte ich von den beiden Bänden, darüber auch einiges gelesen, nun nahm ich sie zum ersten Mal in die Hand. Beide Betreuer lieferten Vorworte zu den jeweiligen Ausgaben, die damalige Autoren-Konstellation und deren Anliegen erfassend.
Ein Sympathie-Verhältnis zum südöstlichen Schreibgrund wird erkennbar. Die Zusam-menstellungen bewahren auch heute ihre Gültigkeit, als Bezugspunkt für ähnliche Ini-tiativen, als dokumentarische Quelle, gar als Sammelort des lebendigen, gleichsam nie alternden Worts.
Noch ganz auf den Kontrast zwischen der östlichen und der westlichen Seinsweise, All-tagsmentalität und gesellschaftlich-politischen Doktrin ist das Buch Visa. Ost-West-Lektionen aufgebaut. Lektionen auch der provokatorischen Art werden erteilt, getränkt von Kritik an den herrschenden Ideologien.
Tadelnde Einwendungen wurden so wenig konformistisch vorgetragen, dass der Autor, der sich so unverblümt äußerte, riskierte, aus dem Gesprächsraum hinauskomplimentiert zu werden (und einmal, in der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“, Wien, „wegen allzu kritischer Worte dem Westen gegenüber, quasi vor die Tür gesetzt wurde“. Visa, Frankfurt am Main 1970, S. 33).
Mehr als nur gelegentliche Reminiszenzen an das Gelände seiner Herkunft bietet auch der Band Geschäfte mit Odysseus. Zwischen Tourismus und engagiertem Reisen (1972). Eine südöstlich-karpatenländische Klammer umschließt Anfang und Ende des Buches.
Es beginnt mit Schilderungen des Schlesak wohlbekannten Bereichs, des ihm fremd gewordenen, zunehmend weniger heimischen Herkunftgebiets Siebenbürgen sowie mit Anmerkungen über die frappante Gegenwärtigkeit Bukarests. Nach Aufenthalten in der Schweiz, in Griechenland, Israel, Portugal und Spanien werden im Ausklang „7 Stufen des Reisebewusstseins“ umrissen. Die erste von ihnen wird in Rumänien angesetzt (im Kapitel Mamaia, die Illusion der weiten Welt. Zoo der Freiheit).

Dienstag, 13. April
Ein Höhepunkt unseres bisherigen Besuchsprogramms war zweifellos der Ausflug nach Florenz.[...]
Mit Schwägerin Erika und Schwager Uwe wiederholten wir die Reise nach Florenz am 23. April unter ähnlichen Gegebenheiten (Anfahrt mit Auto nach Viareggio, von dort dann per Bus nach Florenz, Rückkehr in einem Abendzug). Wir waren darauf bedacht, dieselbe Route wie vor Tagen abzugehen, um auf diese Weise uns der Eindrücke zu vergewissern, die Firenze uns bereits beschert hatte, bestrebt, sie nach Kräften auch zu vertiefen.
Originell wollten wir dabei nicht sein, wir waren vielmehr auf die allertraditionellste touristische Konvention bedacht, im Gleichschritt mit zahllosen anderen Erdenbürgern, um elementare Kenntnisse bemüht. Dabei schafften wir es wohl, bei der Reiseführer-Unterscheidung: * „sehr interessantes Objekt“ und ** „einzigartige Sehenswürdigkeit“ uns jeweils in den Zwei-Sterne-Bereich zu schlagen.
[...]
Christel erachtete es als unzureichend, in Florenz gewesen zu sein und dabei nicht auch die prachtvolle Aussicht von der Piazzale Michelangelo genossen zu haben. Sie nahm uns (am 29. April) nach Prato mit, wo sie zu tun hatte, führte uns aber vorher ins relativ nahe gelegene Florenz, in jenen südlich des Arno liegenden Stadtteil, den sie besonders ins Herz geschlossen hat.
Wir fuhren auf der – wie sie sagte – „schönsten Straße“ der Ortschaft (auf der Viale Mi-chelangelo) zu der hoch gelegenen Terrasse und hatten in der Tat einen unvergleichli-chen Ausblick auf die Stadt.
Dann bot uns Christel noch etwas, das ihr seit je Bedürfnis ist: Mit ihren Besuchern im Kloster San Miniato al Monte einzukehren.
Die Basilika (vor allem aus dem 11.– 13. Jahrhundert, über eine Monumentaltreppe zu erreichen) fanden wir leider verschlossen, was Christel und wir (im Nachhinein) als Einbuße an wertvollen Eindrücken empfanden. Sie wusste uns großzügig zu entschädi-gen, indem sie uns nach Wochen einen Bildband über die Klosteranlage zusandte.
In der Basilika befindet sich im Übrigen auch ein in neueren Zeiten aufgerichtetes Kru-zifix, von Carlo Mattioli 1989 gestaltet und 1990 aufgestellt. Altes Holz mit andeutung-sweise aufgemaltem Christus, das Dieter Schlesak zu einem Poem anregte (Auf ein Kreuz geschrieben).
[...]

Freitag, 16. April
Der Rhythmus von Talbesuchen und Bergaufenthalten wird auch vom Wetter bestimmt. Zur Zeit regnet, ja stürmt es, und so gestatten wir es uns, im Haus zu verweilen, ohne auch nur einen geringen Ansporn zu verspüren, toskanische Unvergleichlichkeiten zu erkunden.
Die Vielzahl der Bücher macht solchen Zimmeraufenthalt anziehend. Zudem kann ich es mir erlauben, die einzelnen Publikationen Dieters zur Hand zu nehmen und mich in Ruhe in sie zu vertiefen.
Waren die ersten Veröffentlichungen nach seiner Aussiedlung gedanklich-thematisch noch recht deutlich auf Rumänien eingestellt, meist unter dem Vorsatz, sich von dem Ursprungsland wegen allerlei Unzumutbarem zu lösen, wurden in den folgenden Jahren die Akzente anders gesetzt.
Die Bindungen an die „alte Heimat“ verloren zusehends von der Unmittelbarkeit ge-genwärtigen Austauschs, sie gründeten auf Vergangenem. Der Autor sah sich abge-drängt und ausgeschlossen, war Opfer der unterbundenen Kommunikation. Seelische Verluste, die aus solcher Lage erwuchsen, fielen nun mehr ins Gewicht, sodass die Ge-winne eines Lebens im Westen – von Anfang an nicht allzu hoch eingeschätzt – in ihrer Bedeutung noch mehr schrumpften. Auch der Fortgang der Zeit, die Zunahme der Jahre rückten das Erbe der Jugend und erster Berufstätigkeit in weitere Ferne.
Zahlreich sind Schlesaks Äußerungen über das Einschneidende, das Endgültige von Ab-schied und Trennung, in Vers und Prosa fand er Ausdruck für die Unabänderlichkeiten des Emigranten-Daseins, dessen Bitternis drängte sich ihm oft auf und ließ ihn eindring-lich nach den Ursachen und auch nach den Motivationen der schmerzhaft empfundenen Heimsuchungen, der erlittenen Umbrüche fragen.
Seine beiden Bücher der achtziger Jahre bezeugen dies, zunächst der Gedichtband Wei-ße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum (1981) und dann der Roman Vater-landstage und die Kunst des Verschwindens (1986), ein Panorama wechselvoller Erfah-rungen gesellschaftlicher und individueller Art, ein Breitbild des Verhaltens unter den Bedingungen von Gefolgschaft und Zwang, von Gewalt, Ver-blendung, Desillusionie-rung. (Victor Scoradeţ erarbeitete eine rumänische Fassung des Romans, die 1995 in Bukarest erschien.)

Sonnabend, 17. April
Meine Trakl-Lektüre bietet mir eine Textstelle an, die etwas vom Emigranten-Schicksal Schlesaks erkennen lässt. Ohne an Selbstäußerungen des „Deutsch-Italieners“ zu appel-lieren, ohne Kommentare anderer heranzuziehen und damit aus dem Hiersein des einst rumäniendeutschen Autors eine Sache vernunftbestimmter Auseinandersetzung zu ma-chen, führe ich einen Passus aus Trakls Gedicht Abendland an, den dritten Teil, der dem Blick von der Höhe toskanischer Einsiedelei einen ganz bestimmten Sinn gibt:
„Ihr großen Städte / steinern aufgebaut / in der Ebene! / So sprachlos folgt / der Heimat-lose / mit dunkler Stirne dem Wind, / kahlen Bäumen am Hügel.“
Zu weiterer Aussage holt der österreichische Dichter erneut Atem. Auch die dem Zitat folgenden Verse seien hergesetzt, weil der Niedergang jener wahrhaft abend-ländischen Gemeinschaft davon in gewissem Maß mitbezeichnet wird, welcher der Siebenbürger Schlesak entstammt:
„Ihr weithin dämmernden Ströme! / Gewaltig ängstet / schaurige Abendröte / im Sturmgewölk. / Ihr sterbenden Völker! / Bleiche Woge / zerschellend am Strande der Nacht, / fallende Sterne.“
Wir hielten bei dem Roman Vaterlandstage. Entgegen eventueller Erwartungen, ihn nun nach jenen zahlreichen Belegstellen zu befragen, die das Emigranten-Dasein des Autors und der Hauptgestalt T. beleuchten, in dem beziehungsreich entworfenen Konnex von Veranlassungen und Implikationen einstigen und jetzigen Handelns, lesen wir ihn als Zeugnis einer Existenz, die in ländlicher Einsamkeit abläuft und einen deutlichen Ab-stand sowohl zu rumänischen wie auch zu (bundes-)deutschen Gegebenheiten einhält.
Zur Deutung der Stätte, in der wir uns befinden, dienen manche Partien, zum Verständ-nis des Zusammenlebens zwischen Linde und Dieter, wenngleich wir dem Roman nicht das Recht nehmen wollen, die Ausgangsbasis fantasievoll aus- und umzugestalten. Wir wissen ja und versichern uns dessen: Romangestalten können aus Identitätsgründen Per-sonen aus dem realen Leben nie im Verhältnis eins zu eins entsprechen. Und doch scheuen wir uns nicht, so manches aus Dieters Roman als reportagenhaft abgebildete Wirklichkeit einzuschätzen.
Auf den Blättern des Romans finden sich tatsächlich sprechende Partien über Zustände und Vorgänge in einem Weiler von C. (Camaiore).
T. und Jann haben schon ein Dutzend von Jahren da verbracht und dabei „den partner-schaftlichen Einsamkeitsstress in unserer Doppelhalluzination wie durch ein Wunder überlebt“ (S. 227). Immer wieder haben sie, nach Aufenthalten in Deutschland oder nach sonstigen Unterbrechungen, den „Einsamkeitsmarathon“ (S. 229) ihres hiesigen Seins aufgenommen.
Meist merken Jann und T. nicht, „dass uns immer weniger Zeit bleibt“ (S. 230). Manchmal aber wird T. bewusst, er sitze „in einer raffinierten Lebensvernichtungsma-schine, ein Tag ist wie der andere, so vergeht alles wie kaum berührt: rasch“; sein Tun bedeutet offenbar nichts anderes, als „einem Phantom“ nachzurennen, „das gealtert ist; ein Greis der Hoffnung“ (S. 283). 30
Im Buch stehen jedoch auch die tröstlichen Worte (S. 383): „Jann, wie eine Befreiung; beruhigend der sichere Boden der Gegenwart...“

Sonntag, 18. April
Gestern radelte ich nach Camaiore hinab, an einem trüben Tag, der sich nachmittags aufhellte, was Inge veranlasste, sich gärtnerisch zu betätigen. In der Nacht begann es wieder zu regnen, und wir erwachten heute bei feuchtem und nebligem Wetter.
Solches hält an, sodass wir im Haus bleiben, bei „stiller Beschäftigung“.
In höherem Maß als zahlreiche andere Autoren berührten Dieter die Vorgänge der 1989/90 eingetretenen Wende in Deutschland, in Rumänien und allgemein im europä-ischen Osten. Sein durch den Umbruch hervorgerufener Erregungszustand, seine an die revolutionären Wandlungen gebundenen Erwartungen, die hier und dort auch erlebten Enttäuschungen fanden in mehreren Büchern ihren Niederschlag.
Den Anfang machte der auf die Ereignisse in Rumänien eingestellte Essay Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991; erschien 1997 auch in Italien, übersetzt von Mario Pezella, und 1998 in Rumänien, in der Übertragung von Victor Scoradeţ).
Dieter Schlesak wollte darin das Geschehen deuten, für das es zunächst keine Katego-rien der Bewertung gab. Er hatte zahlreiche Gespräche geführt, mit Bekannten aus frü-herer Zeit, mit anderen Gewährspersonen, er hatte die ihm erreichbaren Zeugnisse über das kaum erfassbare Geschehen des Dezember 89 und der folgenden Monate gelesen.
Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, ja wurden in greifbare Wirklichkeit umgesetzt, mitunter aber nicht befriedigt, da sich zeigte, dass die angestrebten Wandlungen kei-neswegs in jener Geradlinigkeit durchgeführt wurden, die den Transformationsprozes-sen in manchen Bereichen von Mittel- und Westeuropa eigen waren. Kehrtwendungen, Rückschläge, stillschweigender oder offen bekundeter Boykott, mangelnde Bereitschaft, einstige Positionen aufzugeben, Übergriffe – all das fehlte nicht und zwang westliche Beurteiler, eine reservierte Haltung einzunehmen, oder stieß sie regelrecht ab.
Von solcher Zu- und Abwendung, von der Billigung des Geschehens und einer ratlosen Begegnung mit fragwürdigen Vorgangsweisen, mit abzulehnenden Bekundungen von Macht und Einfluss ist die eindringliche Schilderung des Umschwungs und des Folge-geschehens geprägt.
Der Autor des Essays über die rumänischen Ereignisse fügte den zeithistorischen Be-funden vom enthusiastisch aufgenommenen Wechsel, von den mitunter höchst wider-sprüchlichen Vorgangsweisen in der Übergangszeit weitere Analysen hinzu. Zeugnisse deutlicher Zuwendung angesichts erfreulicher Fortschritte und der entschiedenen Ab-kehr von fragwürdiger Gesellschaftspraxis finden sich überreich in den Tagebuch-Notaten des Bandes Stehendes Ich in laufender Zeit (1994), in den “Heimatlegenden“ des Buches So nah, so fremd (1995) und in den „Ost-West-Passagen“ des vielfach facet-tierten Fahrtberichts Eine transsylvanische Reise (2004).
An den Büchern der Nach-Wende-Zeit, nach Abbau des Eisernen Vorhangs, ist deutlich abzulesen, was sich bereits in Veröffentlichungen der achtziger Jahre abzuzeichnen be-gann: Die Einstellung des Autors zu dem einst fluchtartig Verlassenen, zu Rumänien und seinen Bewohnern, wurde positiver, die innere Distanz nahm ab.
Doch wäre es eine unstatthafte Vereinfachung, wollte man den mitteilsamen, produkti-ven Schriftsteller D. S. auf die Kontraste von Zugehörigkeit und Fremdsein, auf Heimat und Heimatverlust festlegen.
Seine Lyrik und die Reflexionen zum Gedicht zeigen eine Vielseitigkeit der Thematik, des Ausdrucks an, die hinausgeht über eine bei anderen Autoren mitunter anzutreffende Konzentration und Beschränkung auf wenige Leitgedanken. Deutlich wird die Multipli-zität der Motive beim Durchgehen der Gedichtbände: Aufbäumen (1990), Landsehn (1997), Tunneleffekt (2000), Lippe Lust. Poesia Erotica (2000), Los. Reisegedichte (2002). Ein Querschnitt durch das lyrische Werk (Poeme, 2000, übertragen von Andrei Zanca) veranschaulicht auch dem rumänischen Lesepublikum diese Komplexität.
[...]

Mittwoch, 21. April
Rasen schneiden, als Geruchsassoziation ein Parkgelände, jedoch nicht Trakl’scher Me-lancholie, sondern heiterer, frischer, freilich auch stimmungsärmer.
(Hier im Bergland ist nicht zu erfahren und nachzuerleben, was Trakl seinem Gedicht Im Park einschrieb: „Ihr auch trauert, ihr sanften Götter...“ „... neige auch du die Stirne / Vor der Ahnen verfallenem Marmor“.)
[...]

Dienstag, 27. April
[...] Das im höchsten Maß Toskanische seiner Bücher ist Dieter Schlesaks Roman Der Verweser, eine für Sittengeschichte, für die Entwicklung von Denkweisen, für Seelen-kunde, für gedankliche Zusammenfassung mit den Mitteln der Literatur aufschlussrei-che Komposition.
Zum Autor und Kulturbürger Italiens (mit transsylvanischen und rumänischen Anteze-denzien und bundesdeutschem Pass) war er schon in den achtziger und ersten neunziger Jahren geworden, durch seine Meditationen über Wandgemälde in Rom, durch Betrach-tungen, die in der aufwändigen Buchausgabe Der neue Michelangelo. Wiedergeburt der wahren Farben in der Sixtinischen Kapelle (drei Bände, 1989 – 1991) veröffentlicht wurden.
Über die Meditationen verzeichnet Dieters Tagebuch, er habe sich eingehend in der Va-tikanischen Bibliothek dokumentiert und sei mit dem Chefrestaurator und weiteren Fachleuten in Verbindung gewesen. Vier Jahre hindurch habe er an dem Projekt gear-beitet – „und war natürlich nicht fertig geworden“.
Während solcher Beschäftigung, die von einer umfassenden Restaurierung veranlasst worden war, ist ihm und anderen deutlich geworden, in den Fresken sei „ein geheimer Weltplan aus patristischen, orphischen und kabbalistischen Lehren entworfen worden, davon war ich überzeugt“. Die alt-neue, komplizierte Deutung lief darauf hinaus, die „Mitte der Sixtina“, also die „tiefe Metapher der ,Erbsünde’“, zu nutzen, um zu ergrün-den, „wie der Tod in die Welt kam“. (So nah, so fremd, S. 116–117.)

Mittwoch, 28. April
Ebenfalls „zu Hause“.
Der Reihe nach sehe ich im Neuen Michelangelo die Bilder an, die größere Ausschnitte der Wandmalerei wiedergeben oder sprechende Details. Auch dieses Schauen ist ein Privileg: Nur wenige Erdenbürger haben Gelegenheit, die teuren Bände zu studieren. Und haben die Chance, das, was sich den Touristen in einem Abstand von rund zwanzig Metern bietet, aus der Nähe zu betrachten sowie Er-läuterungen zu lesen und den Gehalt auch anhand der bald lyrisch, bald essayistisch gefassten Meditationen zu erschließen.
Schlesaks Texte zur Sixtina überraschen mich, durch die Assimilation eines reichen Wissens biblisch-mythologischer, kulturgeschichtlicher, kunsthistorischer Natur, durch die Umsetzung des Erschauten und Gelesenen in eine dem Wesen des Bildwerks nahe Deutung. Ohne die Beschwerlichkeiten der Dokumentation erkennen zu lassen, wird ei-ne Vielzahl interpretatorischer Wege ersichtlich, eröffnet durch Andeutung, unaufdring-liche Assoziation, durch schlüssige Aussage.
Mit besonderer Aufmerksamkeit lese ich jene seiner Betrachtungen, die er der „Mitte der Sixtina“ widmete, also wie er den vierten „Spannbogen des Deckengewölbes“ kommentierte, was er über „Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies“ schrieb (Bd. 1, S. 201–232).
Einige Stellen seien angeführt, zunächst aus der Deutung des „Sündenfalls“. „Die Welt war bisher Aura, reines Anschaun, Gottes-Ding; nun wird sie dicht gemacht; schwin-gendes Licht erfriert, die kosmische Musik ist eingesperrt im blinden Schmerz der Haut. Hochmut, der Fall; der freie Wille gibt die Höhe an.“ (S. 203.)
Und eine Partie über die „Vertreibung aus dem Paradies“: „Das Menschenpaar ist flüch-tig, schicksalslos, und der gelebte Augenblick... nichts als ein Todesstoß; was ist, ist nie, ist nur gewesen, fügt sich zu keinem Lebensgrund.
Der Mann, die Frau sind draußen schwer geworden, sie wiegen ihre Körperlast der Erde zu.
Letzter Gedankengang, ein Schritt zurück, die Menschenkindheit im entsetzten Blick, und sie vergeht, der letzte Flug im Rücken, vor sich das Nirgendwo, der Tod, das Nichts. Als kämen sie erst wieder heim in den roten Flammen des Gerichts.“ (S. 228.)
Ich löse den Blick von den Farbreproduktionen und von den Worten: „Leben ist be-grenzt im Tod. Doch Wissen ist unendlich, macht wie Gott. Und lässt das Ende ster-ben.“ (S. 217.) [...]

Sonntag, 2. Mai
Inge ist mit dem Packen unserer Sachen beschäftigt. Sie hat vor Tagen das Blumenbeet vor dem Haus gejätet und den Steg gesäubert, nun bin ich beim Eingang und auch sons-two damit befasst, gegen die wuchernde Vegetation einzuschreiten.
Etwa um 18 Uhr treffen Linde und Dieter ein. Nach dem Abendessen sitzen wir noch bis Mitternacht zusammen, bei dem üblichen Hauswein. Wir sprechen über München, über die wahren und vermeintlichen Schnittstellen des literarischen Lebens und der künstlerischen Erfahrung.

Montag, 3. Mai
Linde (als Fahrerin) und Dieter bringen uns im Auto nach Lucca. Dichter Verkehr er-schwert die Ankunft auf dem Bahnhof, doch treffen wir rechtzeitig ein und besteigen den Zug.
In Prato heißt es, den Zug wechseln. Irrtümlich verlassen wir ihn eine Station vor dem Hauptbahnhof. Ein Taxi im richtigen Augenblick, eine eilige Fahrt – mit Mühe gelingt es uns, den Anschlusszug zu erreichen.
Glück haben wir mit einem nachsichtigen Schaffner, der uns herankeuchen sieht mit un-serem Gepäck und – durch ein Zeichen – die Bahn nicht abfahren lässt, bis wir nicht oben sind. Er hilft uns, die Koffer hochheben und weist uns Plätze in seinem Abteil an.
Das war menschenfreundlich, auf italienische Art.

Reiner Wochele
Literarischer Mönch
Ein Besuch bei Dieter Schlesak in der Toskana

Leute, das Lesezeichen kriegt diesmal Flügel, es flattert diesmal über Grenzen hinweg, äußere, innere, nimmt Kurs gen Süden, will sich ganz leicht machen in mediterranem Licht, hat aber auch Ballast an Bord, der erdwärts zieht. Italienisch eingefärbt kommt’s heute daher und zugleich rumänisch grundiert und schicksalhaft beladen.
Was zusammenhängt mit einem existenziellen Grenzgänger, einem, der Reisen und Länderwechsel zur Lebensmetapher gemacht hat, mit allem Gewinn, mit aller Be-schwernis. Ein verwurzelter Wurzelloser, der morgens beim Öffnen der Fenster seines alten italienischen Bauernhauses, in dem er mit Frau und Hund und Kater oben am Hang lebt, in der Ferne das Meer gleißen sieht und der gleichzeitig tief empfundene Heimatgefühle für Stuttgart hegt; Lebenszeit verbringt er hier und dort. Dieter Schlesak heißt er, in seinem Weiler nahe dem norditalienischen Städtchen Camaiore ist er „Sig-nore Dieter, il tedesco“, unter Stuttgarter Schriftstellern eher ein Rumäne. „Ich bin ein ,Zwischenschaftler’“, sagt er.
„Zwischenschaftler“, was ist denn das für ein Erdenbürger? Vielleicht einer, der sich eingerichtet hat, am Platz zwischen allen Stühlen, zwischen allen Grenzen? Schöner Platz, das. Dort oben, halbhoch irgendwo, da muss er wohnen, der rumänisch-deutsche, stuttgarterisch-toskanische Dichter Schlesak. Auf Schmalstspursträßchen, ein Stück weit hinter Camaiore bergwärts, vom Kirchplätzchen in Pieve aus lotsen die Schlesaks zum Weiler Agliano hinauf. Wo man dann in satter toskanischer Idylle sitzt, die beiden alten, zum Dichteranwesen verschmolzenen umgebauten Bauernhäuser im Rücken, Tal und zwischengelagerten Hügel davor, in der Ferne rechts ein Zipfel Meer, links ein Zipfel Meer, ein Landschaftsbild voller Grenzbereiche. Und um Grenzen geht’s denn auch im Lebensbericht des Hausherrn Dieter Schlesak, während die Ehefrau Linde Birk-Schlesak, eine namhafte literarische Übersetzerin aus dem Französischen und Italieni-schen, Tee und Kuchen serviert.
Doch wie Dieter Schlesaks Lebensodyssee zusammenraffen aufs Wesentliche? Viel-leicht so. Er wird 1934 in Schässburg als Angehöriger der siebenbürgischen deutschen Minderheit in Rumänien geboren, studiert nach Schulbesuch und zwei Jahren Dorf-schullehrer Germanistik in Bukarest, arbeitet als Redakteur der Zeitschrift „Neue Litera-tur“, ist Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer. Nach vorherigen Kontakten zur deut-schen Organisation Inter-Nationes, dem damaligen Besucherdienst des Auswärtigen Amtes in Bonn, erhält er 1968 eine Einladung zu einem Schriftstellertreffen in Luxem-burg, lernt Grass, Bernhard, Handke kennen. Er wird nach Bonn geholt, bei Verlagen herumgereicht, lernt in Frankfurt beim S. Fischer Verlag seine heutige Frau kennen, nimmt aber Deutschland wahr als Kulturschock. „Diese Mattscheibenwelt, die allge-meine Hetze und Kälte stieß mich ab, alles wie hinter Glas.“ Das in Rumänien heiß er-sehnte Deutschland wird ihm zum „Hassobjekt“. Nach sechs Monaten im Westen kehrt er nach Rumänien zurück, sieht dort alles mit „Westblick“, ist „geschockt vom Gestank, Fusel, der Armut, der Langsamkeit“, hat nun zwei Heimaten verloren. Dennoch, 1969 endgültige Ausreise nach Deutschland. Nach Frankfurt und Köln wird Stuttgart Station, wo die Schlesaks mittlerweile eine Zweitwohnung haben. 1973 entdecken sie bei einem Italienaufenthalt die beiden halb verfallenen Bauernhäuser, kaufen sie mit einem Kredit, „wir waren arm, wir hatten nix“, lassen sie umbauen, ziehen weg aus Deutschland, denn, wie Schlesak sagt, „in Italien war mein Heimweh nach Rumänien, waren meine Schuldgefühle dem verlassenen Land gegenüber, geringer“.
Es folgen Reisen durch Europa und Amerika. „Fernweh über den Globus gezogen / die Riesenfrucht möchte ich essen“, heißt es in einem Gedicht des Lyrikers, Essayisten, Übersetzers, Herausgebers und Romanciers, der bis heute dreißig Bücher veröffentlicht hat, darunter neun Lyrikbände und drei Romane. In dem Roman „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ hat er in mitreißender assoziativer Prosa Biografisches verarbeitet, hat sich im 2002 erschienenen Roman "Der Verweser" mit einer alten Kri-minalgeschichte aus dem nahen Lucca befasst, hat im Lyrikband „Tunneleffekt“ sein Grundthema des Grenzgangs lyrisch variiert.
„In Rumänien bin ich der Fremde, hier in Italien der Deutsche, und in Deutschland bin ich der Rumäne“, sagt er, eben ein „Zwischenschaftler“. Seine innere Emigration und Einsamkeit, diese Abweichung vom Normalen, begreift Schlesak für Schreiben und Le-ben mittlerweile als „ontologisch“, leitet daraus „eine Art literarisches Mönchtum“ ab. Und hat doch, im Äußeren, so gar nichts Mönchisches an sich, wie er da vor seinem Haus sitzt und mit leidenschaftlicher Stimme, in der gleichwohl ständig ein Ton der Melancholie mitschwingt, von Leben und Schreiben erzählt. Während dann Kater Ro-meo herbeischleicht, auf den Tisch springt, aus der Nähe hören will, was der toskanische Dichter aus dem fernen Rumänien zu sagen hat. Zum Beispiel dies, dass man ihm jüngst sein altes Geburtshaus in Rumänien zurückgegeben habe, das er mithilfe einer Stiftung zu einem deutsch-rumänischen Literatur- und Kulturzentrum machen wolle. „Ich kehre auf diesem Wege geistig nach Rumänien zurück.“ Und oben dann, in seinem Arbeitszimmer, von dem aus er an klaren Tagen bis Korsika blicken kann, da sagt er, er habe jetzt Hand an seine Kindheit gelegt. Und meint den Umstand, dass er herausgefunden hat, wie die deutsche Minderheit in Rumänien tief mit Nazideutschland verstrickt war und dass fast alle seine männlichen Verwandten in der SS gewesen sind und zu den Wachmannschaften deutscher Konzentrationslager gehört haben. Aus dem Freundeskreis seiner Eltern stammte der Auschwitz-Apotheker Victor Capesius, der das Zyklon B verwahrt hat. Schlesak hat diesen für ihn albtraumhaften historischen Hintergrund nach vielen Interviews mit Zeitzeugen jetzt zu einem bestürzenden, halb dokumentarischen Roman verarbeitet.
Dieser grenzgängerische Schriftsteller scheint bewundernswerte Kräfte zu haben, um geistige Schmerzen auszuhalten. Und ist doch dann, als man unten vorm Haus in land-schaftlicher Abendidylle die Gläser zum Abschiedstrunk hebt, wieder ganz toskanisch heiter.

Lerke von Saalfeld
Poeta doctus. Preisrede 2007

Dieter Schlesak ist ein ungeheuer vielseitiger Poet und Schriftsteller, ein Poeta doctus. Er schreibt, wie von Furien getrieben, das Leben, den Tod, die Liebe, die Welt im Gro-ßen und im Kleinen zu erfassen. Er lässt sich treiben und er wird umgetrieben. Er ist neugierig, skeptisch, voller Zweifel und voller Enthusiasmus – dabei immer auf Entde-ckungsreisen. Der einzig feste Halt sind die Wörter, ist die Sprache, die er mit virtuoser Kunstfertigkeit und mit höchster Sorgfalt, geradezu liebevoll oder libidinös in Szenen setzt, sei es in der Prosa, sei es im Gedicht. Und mit einem Gedicht möchte ich auch die Vorstellung seiner Person beginnen, denn daraus erfahren Sie etwas von der verschlun-genen Befindlichkeit dieses heute zu ehrenden Schriftstellers…
Schlesaks erstes großes Oeuvre ist der Roman „Vaterlandstage und die Kunst des Ver-schwindens“, erschienen 1986. Es sind die verarbeiteten Erfahrungen des 20. Jahrhun-derts mit all ihren Verwerfungen und Abgründen. Vertreibung, Außenseitertum, Schuld und Verantwortung .Der zweite Roman „Der Verweser“, erschienen 2002, ist angelegt als Fiktion in der Fiktion. Aus der Ich-Perspektiv eines in der Toscana lebenden Schrift-stellers wird eine Liebes- und Mord-geschichte in Lucca im 16. Jahrhundert erzählt.
Zurück ins Jahr 1969 führt der Liebesroman „Romans Netz“, erschienen 2004. 2006 er-schien Dieter Schlesaks bewegender Dokumentarroman „Capesius, der Auschwitzapo-theker“ – Schlesak hat Jahre daran gearbeitet und recherchiert – der Roman wurde hier im Literaturhaus Stuttgart im Januar vorgestellt. Aufgearbeitet wird darin die Geschich-te eines Apothekers, der aus Schäßburg, der Heimatstadt von Schlesak, stammt. Jetzt im Herbst erschien sein jüngster Roman „VLAD, die Dracula-Korrektur“, ein Roman, der tief nach Transsylvanien ins 15. Jahrhundert zurückführt. Seine Erfahrungen, Ansichten und Einsichten hat Schlesak in vielen Essay-Bänden veröffentlicht. Ich möchte nur ei-nige Titel nennen, denn sie lassen durchschimmern, worum es dem Autor geht: „Visa. Ost-West-Lektionen“ (1970), „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ (1991), über die blutige rumänische Dezemberrevolution, „Stehendes Ich in laufender Zeit“ (1994), über di postkommunistische Zeit im Osten, „So nah, so fremd. Heimatlegenden“ (1995), „Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung“ (2005), über den beiden Diktaturen rot und braun verrfolgte und traumatisierte Autoren; Gedichte hat Dieter Schlesak immer ge-schrieben, und sie in zahlreichen Bänden veröffentlicht. Seine biografischen wie auch die historischen Bruchlinien verdichten sich in dem Band „Weiße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum“ (1981).“Hirnsyntax“ hat er einmal seine poetischen Einlas-sungen genannt. Das schillernde Wort ,Los’ steht über drei Gedichtbänden: „Grenzen Los“, „Namen Los“ und seine Liebesgedichte „Herbst Zeit Lose“ – geschrieben in drei Substantiven. Schlesak lauscht auf die 'Wortzwischenräume', den 'Zwischensinn'. Es sind Liebes- und Todesgedichte, Gedichte der Sehnsucht, Gedichte über Verlust, über Angst, über Schmerz, über Grenzerfahrungen aller Art. Schreiben bedeutet für Dieter Schlesak Leben.

Werner Söllner
Dieter Schlesak

Das Grundthema des Schriftstellers Dieter Schlesak ist die Erfahrung der Grenze: in geographischer wie historischer, in weltanschaulich-politischer wie in subjektiv-psychologischer Hinsicht, und zwar in nahezu jedem Bereich menschlicher Existenz, und seine Literatur ist der Versuch, diese Erfahrung zu verarbeiten und zu bewältigen. Das Gewicht, das dem Begriff der „Grenze“ und allen damit verbundenen Bedeutungs-inhalten in der Biographie und im Werk dieses Schriftstellers zukommt, ist leichter zu messen, wenn man sich die Herkunft des Autors vergegenwärtigt.
Schlesak ist zwar als Deutscher unter Deutschen, aber eben unter noch mehr Rumänen und Ungarn in einer siebenbürgischen Kleinstadt aufgewachsen, in der es sich die Gene-ration der Väter angelegen sein ließ, einen gewissen nationalen Herkunftsstolz zu zeigen, der sie – vielleicht noch mehr als die historisch „natürlichen“ ethnischen Besonderheiten – von der Mehrheit absonderte, mit der man notgedrungen in friedlichem Miteinander leben musste.
Geografisch liegt diese Kleinstadt in einem Gebiet mit wechselnder Zugehörigkeit zu bewusstseinsprägenden nationalen Staatsgebilden. Verhältnismäßig rasch alternierende Herrschaftsverhältnisse mit ihren entsprechenden Verunsicherungen sozialer Randgrup-pen und ethnischer Minderheiten drängten diese in eine eher „bewahrende“ Bewuss-tseinshaltung , in deren Gefüge für grenzüberschreitendes innovatives Gedankengut wenig Raum war. Auch die „Kulturträger“ dieser Minderheit (vor allem Repräsentanten kirchlicher und schulischer Institutionen) prägten wesentlich ein kulturelles Selbstver-ständnis, in dem provinzielle Konventionalität geradezu eine Voraussetzung für die Zu-gehörigkeit zur geistigen Elite war. Schlesaks Generation, die ihre entscheidenden Jahre der Bewusstseinsbildung in einem nach der kommunistischen Doktrin regierten Staat erlebte, gleichzeitig aber tief in der von übermächtigen Traditionen bestimmten Vorstel-lungswelt vorangegangener Generationen verwurzelt ist, hatte drei historische Enttäu-schungen zu verkraften. Zunächst die „Entglorifizierung“, sprich: Entnazifizierung der Väter im Namen eines umfassenden kommunistischen Umerziehungsprogramms; und Jahre später die Entstalinisierung als behördlich verordnete Loslösung von Denk- und Verhaltensnormen, die in der bestimmenden Phase seiner sozialen Integration einen nur mit den Zuständen zur Nazi-Zeit vergleichbaren Druck auf das Individuum ausübten.
Kann man diese beiden Enttäuschungen, weil sie die Lösung von Ideologien waren, noch als historisch notwendig und nützlich bezeichnen, so muss eine dritte Enttäu-schung – jene von Hoffnungen auf ein sozial sinnvolles Leben in einer von ideologisch wahnhaften Auswüchsen befreiten Gesellschaft – als ein vom Schriftsteller einklagbarer Verlust legitimer und, für eine kurze Zeitspanne, scheinbar praktikabler Utopien be-trachtet werden.
Schlesak war Angehöriger einer politisch und sozial machtlosen, dennoch mit elitärem Bewusstsein ausgestatteten Minderheit, die eine historische Mitschuld auf sich geladen hatte, ohne jemals ernsthaft zu versuchen, diese aufzuarbeiten; daraus und aus allgemei-neren, in den aktuellen politischen Zuständen Rumäniens liegenden Gründen zog Schle-sak die Konsequenz und verließ 1969 zögernd das Land. Er erlebte eine weitere Enttäu-schung.
Einerseits stellt sich bei ihm die Trennung von seiner Heimat als notwendig, als ein Be-freiungsakt dar; andererseits empfand er sie als „Verrat“ – gerade wegen der Freiwillig-keit, mit der er sie als einen Akt der Unbotmäßigkeit gegenüber dem Staat, als einen vorweggenommenen Akt jener Freiheit vollzog, für die er die engen Grenzen seines Le-bensraums eintauschte, und zwar als „Verrat“ an zurückgelassenen menschlichen Bin-dungen und an der unfertigen Hinterlassenschaft an Utopien, Wünschen und Hoffnun-gen, die in der neuen Umgebung des relativ freieren Westens zu wenige teilten oder tei-len mochten. Der neu gewonnene Freiraum im persönlichen Bereich erwies sich so als ein vom Gift des Verrats und des selbstverschuldeten Werteverlusts durchtränkter Nährboden für eine Entwicklung, in deren Verlauf lediglich die persönliche und allge-meine Katastrophe noch eine logisch folgerichtige und paradox sinnvolle Alternative zum stetigen, allmählichen „Totalverlust“ des Ortes und des Zustands „Heimat“ wäre. An dessen Ende kann wohl nur die physische und psychische Auslöschung (im genaue-ren Wortsinn: Selbstauslöschung) des Individuums stehen. Um dieser „Lösung“ zu ent-gehen, bleibt nur übrig, alle Traumata, denen sich das Subjekt mit seiner gesamten Wahrnehmung unwiderstehlich ausgeliefert sieht, zu wiederholen: also jene Isolation, jenes extreme Eingeschlossensein in einer „Menschenleere“ fernab von jeder Gemein-schaft mit möglichen Gesinnungsgenossen und potenziellen Trägern einer wie auch immer noch denkbaren gemeinsamen Utopie zu reproduzieren.
So zog Schlesak sich relativ kurze Zeit nach seiner Ankunft im binnendeutschen Sprachraum erneut in eine diesmal selbst gewählte Enklave in der Toskana zurück, wo er nun, strikter noch als in seiner rumänischen Heimat, das komplizierte Drama eines Schriftstellers lebt, der einerseits in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt ist, beides jedoch von seiner Alltagsbiografie fernhalten muss, um überleben zu können; und der andererseits gerade in der fürs persönliche Überleben notwendigen Isolation sich fast ausschließlich damit beschäftigen muss, die Verbindung mit dem Kulturraum aufrechtzuerhalten, in dem er nicht leben darf. All dies und mehr thematisiert Schlesak in seinem Roman „Vaterlandstage“ (1986).
Von diesem komplizierten, fast möchte man sagen: abgründigen Hintergrund spielen sich alle literarischen Aktivitäten Dieter Schlesaks ab – immer gefährdet von der Not-wendigkeit, existenzielle Brüche zu wiederholen oder selbst zu produzieren, ebenso auch immer genährt von einem schmerzhaft wachen Bewusstsein, das seismografisch genau die geringsten Veränderungen in der Umwelt und in sich selbst, in der persönli-chen und allgemeinen Geschichte „lediglich“ als Zeichen für größere Erschütterungen allgemeiner Zusammenhänge in viel tieferen Schichten der Wirklichkeit empfindet und darstellt.
Die ersten veröffentlichten Gedichte Schlesaks („Grenzstreifen“, 1968) nehmen das Motiv der Grenze, wie schon im Titel angedeutet, zunächst in einem engen Wortsinn auf. Ein Beispiel aus dem Gedicht „Auf der Grenze gehen ist verdächtig!“: „I. / Doch lieb ich mir euren Verdacht, er / bestätigt mir stets / die Nützlichkeit meiner Vergehen. / Wie ist es doch anrüchig, nimmer gesehen zu werden, / wie weckt ein sicheres Versteck / das Große Misstrauen: / wenn man über eure Köpfe hinweg / schweigt. /(…)“ (S. 18). Dieses Gedicht konnte so nur in einem Land und in einer Zeit entstehen, in denen dem Schreibenden eine Zensurhierarchie gegenübersteht, die es zu umgehen galt, um den Leser mit hintergründig politischen Aussagen zu erreichen und auf dieser Ebene mit ihm einen Konsens herzustellen, in einer Welt also, in der Sprache eine „festgelegte, festgenagelte Sprache (ist), wo die Nuance nicht sein darf und das Wort unter peinlicher Kontrolle steht, sodass es zum Denken unbrauchbar werden muss; der Satz ist so ver-kürzt worden, dass Spannung, Kritik und Widerspruch oder gar ein Infragestellen inner-halb des Satzes unmöglich geworden ist. Diese Sprache will nicht denken, sondern sich durch Eigenlob ständig selbst bestätigen“. („Visa“, S. 44).
Die Erfahrung neuer Zusammenhänge in einer neuen Umwelt, in der das Individuum sich nicht mehr an einer grundsätzlich klar umrissenen Position des Widerspruchs zu einer Politik orientieren kann, die von ihm als die eigene Existenz eingrenzend und ge-fährdend empfunden und verstanden wird, verändert mit den Jahren Schlesaks Ge-dichtmodell auf komplizierte Weise: „DENN DIESE SCHALE DIE AUS SPRACHE IST“, heißt es in einem späteren Gedicht („Weiße Gegend“, S. 9), „kämpft sich als Sichtbarkeit / mit dem Gewesenen ab / als wären wir Verwalter von Museen / der eignen Gegenwart / mit ihren toten Exponaten. // Kalt ist der Pol. / Die Tropen heiß. Wie / alles wir zusammenfassen können / und nie fassen. // Physik und Gott – das ist / der Abgrund dieser Gegenwart. / Das ist die Definition / von Nord und Süd: / die Formel / für den längst begonnenen Krieg.“ Überrascht von einem trügerischen, einem Scheinfrieden in der „Freien Welt“ mit ihren vom Autor nun als ebenso polar verstandenen, nie auflösbaren Gegensätzen, überrascht auch von der gnadenlosen Physik der Ereignisse (ob ihre Gesetze sich in Technik, Wissenschaft oder Politik zeigen, verändert für den Autor nichts an ihrer fatalen Substanz), tendiert Schlesak dazu, diese mittels einer Me-taphysik zu transzendieren, die trotz der Rekursion auf bereits bekannte, wenn auch für Europäer zuweilen exotische Mythen (noch) kein Heil kennt, sondern sich in einem er-barmungslos geführten geistigen Rückzugsgefecht um extreme Standorte hart an der Grenze zwischen menschlicher Dimension im Relativen und abstrakter Dimension im Absoluten erschöpft. Die Leser von Schlesaks neueren Gedichten dürfen nicht unter Ermüdungserscheinungen leiden; Äußerstes wird ihnen abverlangt in der Fähigkeit, in-tellektuelle (also immer auch: existenzielle) Brüche zu ertragen und nachzuvollziehen sowie jene Erfahrungskonzentration auszuhalten, die durch permanente Ausgrenzung aller scheinbar nur emotionalen Passagen entsteht, welche Möglichkeiten einer unmit-telbareren Identifikation anböten.
Trotz aller Zäsuren und Brüche, die also in Schlesaks Lyrik dazu beitragen, dass der Eindruck entstehen kann, der poetische Duktus sperre sich gegen alles, was auch nur entfernt die Ahnung gerade von Poetischem herbeiruft, mag mancher Kritiker versucht sein, diese Gedichte als Verlust- und Trennungslitaneien zu lesen. Wenn es denn eine solche Gattung in der zeitgenössischen deutschen Lyrik gäbe, so wäre sie gar nicht neu und gewiss nicht von Schlesak erfunden. Wodurch dieser Autor sich jedoch von ande-ren, mit seiner Haltung und Anschauung durchaus verwandten, Autoren unterscheidet, ist die nicht nur um radikale Redlichkeit, sondern auch um spannungsvolle Präzision bemühte Strenge der Gestaltung: „Hat euch der Gang der Geschichte verschont / in eu-ren gesicherten Häusern die noch stehn. // Ein gutes Röntgenbild / zeigt deutliche Rui-nen. // Ihr wisst´s im Traum / seid matt – // Die lasche Seele blökt am Tresen / und kippt gelangweilt den Klaren. // Wir alle haben / Heimweh nach der Strenge“, heißt es bezie-hungsreich polemisch in dem Gedicht „Meinen westdeutschen „postmoderner Kollegen“ (S. 94), das bestimmt von vielen Anhängern“ Begriffsblasen auch ebenso polemisch gelesen werden mag.
Das gewiss anspruchsvollste, in Ausführung und Deutung schwierigste, mit Sicherheit auch riskanteste schriftstellerische Unternehmen Schlesaks ist der Roman „Vaterlands-tage“ (1986). Schon die Gattungsbezeichnung allerdings bereitet dem Kritiker einige Schwierigkeiten. Nicht die Vielzahl der Handlungsebenen und -stränge, auch nicht die Unmittelbarkeit, mit der in zahlreichen Passagen autobiografisches Material übernom-men wird, lässt den Leser zögern; da sind auch die unterschiedlichen Stilebenen: sie entsprechen nicht etwa der Absicht des Verfassers, Personen voneinander abzugrenzen und sie eben ihr eigenes „Romanleben“ leben zu lassen, sondern sind eher Ausdruck der unterschiedlichen Befindlichkeit des Verfassers, mit denen er sich im Schreibprozess seiner Welt, seiner Erfahrungen und schließlich seiner selbst zu vergewissern trachtet.
Die Hauptgestalt des in der Ich-Form geschriebenen Romans, Michael T., kehrt nach sechzehnjährigem Aufenthalt im Westen in die rumänische Heimat zurück, wird in Bu-karest verhaftet und träumt während der Haft die eigene Hinrichtung. Im Augenblick zwischen Leben und Tod setzt die eigentliche Romanhandlung ein. In Traum-„Stücken“, mit vielfachen Rückblenden sowie Passagen aus der Zeitebene der Nieder-schrift des Buches, wird T.s Biografie erzählt, die identisch ist mit der Biografie des Autors, seine Geschichte ist auch die Geschichte seiner Familie, die in Kriegsschuld und in die Sehnsucht nach dem verlorenen „Reich“ mündet. Darüber hinaus steht sie für die Geschichte der weißen Rasse in Ost und West, mit ihrer Verstrickung in die allum-fassende Kollektivschuld, die im Drama des Raketenzeitalters mit seinem drohenden kollektiven Selbstmord kulminiert. T. lädt diese Schuld auf sich. In seinem Versuch, „Vaterlandstage“ (Hölderlin) zu erleben, eine innere Behaustheit nach dem Erlebnis ab-soluter Fremde zu findet, wiederholt er alle nur denkbaren Abschiede, bis hin zum ge-träumten Tod, er sucht und findet das Totengespräch (mit dem Vater) als die einzige Möglichkeit, den überlieferten Zeitbegriff aufzuheben und, gemäß der jüdischen Kabba-la, die eine tragende Funktion in der Romanstruktur ausübt, „Jetztzeit“ als neue Lebens-zeit an seine Stelle zu setzen. Folgerichtig in der Logik der Romanhandlung und der Psychologie der Hauptgestalt wäre eine kollektive Katastrophe als Ausweg aus der selbstverschuldeten Zeitkrankheit und die Hinrichtung Michael T.s. Beide jedoch blei-ben aus, T. wird für immer des Landes verwiesen und ins Ausland abgeschoben.
Bestechend an dem Roman ist der enorme geistige Anspruch, mit dem der Autor an die Bewältigung der selbst gestellten Aufgabe geht, eigene Krankheit begreift er konse-quenterweise als Ausdruck einer zivilisatorischen Zeitkrankheit, den vor allem in der zeitgenössischen deutschen Literatur beliebten Ausweg, Zeitproblematik ausschließlich unter dem Aspekt der Zeitkritik darzustellen und also eilends eine neue ideologische Heimat für sich und seinesgleichen zu konstruieren, meidet er, indem er dem Leser das Bewusstsein für die tragende Rolle der Wiederholungen im historischen Ablauf schärft. Die Annäherung an Mythen mit ihrer Aussagekraft über die Substanz des Menschlichen geschieht keinesfalls unter Ausklammerung historischer und sozialer Momente, sondern schließt diese mit ein. So anspruchsvoll also der Roman an den Leser herangetragen wird, so mühevoll kann, auch für den mit Schlesaks Problematik Vertrauten, die Lektüre sein. Nichtsdestoweniger bleibt sie ein ungeheuer kompliziertes, abgründiges Erlebnis, das seinesgleichen unter den Publikationen deutscher Schriftsteller aus Rumänien nicht hat. Durch seine Tragweite gehört der Roman ohne Zweifel zu den bedeutendsten deutschsprachigen Neuerscheinungen der achtziger Jahre.

(Stand 1.4.89)

Edith Konradt

Grenzgänge

Dieter Schlesak wurde am 7. 8. 1934 in Sighişoara-Schäßburg als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien geboren. Nach dem Abitur unterrichtete er zwei Jahre an der Volksschule in Denndorf, von 1954 bis 1959 studierte er Germanistik in Bukarest, wo er anschließend als Redakteur der Zeitschrift Neue Literatur Autor, Übersetzer und Herausgeber tätig war. 1969 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland aus, ging 1973 ins selbst gewählte Exil nach Italien und lebt seither als freier Schriftsteller abwechselnd in Stuttgart und Camaiore. 1980 erhielt Schlesak den Andreas-Gryphius-Preis, 1982 und 1987 das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds, 1989 den Schubart-Preis (für Vaterlandstage), 1990 war er Stipendiat der Akademie Solitude in Stuttgart, 1993 erhielt er den Nikolaus-Lenau-Preis, 1994 den Hauptpreis Prosa des Ostdeutschen Kulturrats und 2001 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. 2005 wurde ihm der Dr. h.c. der Universität Bukarest verliehen, 2006: Premio Umberto Saba, “Trieste Scritture di Frontiera Poesie” und 2007 erhielt er für das Gesamtwerk den Maria-Ensle-Preis der Baden-Württembergischen Kunststiftung.

Im Brennpunkt von Schlesaks literarischem Schaffen steht von Anfang an das Phänomen Grenze, das ihn nicht allein in seiner politischen, sozialen und kulturellen Relevanz, sondern vor allem in seinen sprachlichen und metaphysischen Dimensionen beschäftigt. Der Debütband Grenzstreifen (1968) ist noch rumäniendeutschen Bedingtheiten verhaftet: Wie schon vor ihm Oskar Pastior verweigert auch Schlesak gereimte Partei- und Klassenkampfparolen und sucht sich mit dem Instrumentarium moderner Poesie „Die große Störung, Leben“ (ebd.) zu erschließen. – Der „Weltenwechsel“, den Schlesak als Schock erlebt, konfrontiert ihn mit neuen Grenzerfahrungen, die er in dem Prosaband Visa. Ost-West-Lektionen (1970) dokumentiert. Nun ist es nicht mehr der Denk-, sondern der Sinne- und Sinnverlust, der ihm als verdeckter Realitätsverlust zusetzt und ihn zum „Zwischenschaftler“ werden lässt, der sich schreibend im „Grenzraum der Erkenntnis“, „im Strom des Wechsel-Spiels oder des Wechsel-Ernstes zwischen beiden Teilen der entzweigeschnittenen Welt“ be-wegt, um nicht an der „Melancholie wirklich erlebter Unwirklichkeit“ zugrunde zu gehen (ebd.). – Lyrisch verdichten sich diese biografischen wie historischen Bruchlinien zu dem Band Weiße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum (1981). Im „weglosen Gelände“, das die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Europa zurückgelassen haben, ertastet sich jede Gedichtzeile ihre eigene Vorläufigkeit: „Wie aufgelöst in diesem weißen/ Licht der Nacht mit ihrer Wange/ Ist die verbrannte Erde / Der Vergangenheiten – // Was liegen blieb, nur mit Ideen / begangen // Und Haut an Haut / mit dem Versäumten“ („Achtuhrschmerzen“, ebd.). Dass mit den falschen Gewissheiten auch die Sprache gesplittert ist, materialisiert sich in Schlesaks „Hirnsyntax“, die zu seinem poetischen Markenzeichen wird: Der Vers zerfällt, syntaktische und semantische Strukturen fransen aus, wuchern ad hoc oder führen sich ad absurdum, die Funktion der Differenzierung verlagert sich vom Wort in die „Wortzwischenräume“, da es einzig in diesem Spannungsfeld noch möglich ist, Sinn zu generieren – wenn auch bloß als „Zwischensinn“ („Schreiben als posthumes Leben“ in So nah, so fremd, 1995). – An „Sinn- und Sprachrändern“ bewegt sich auch Schlesaks dritter Gedichtband Aufbäumen (1990), der statt der Schöpfung die „Erschöpfung der Welt“ thematisiert und als Strukturmodell den kabbalistischen Sprachbaum heranzieht, der mit seinen zehn Ästen auf den Kopf gestellt wird: Die Kapitel sind rückläufig angeordnet, das letzte ist das erste, „das Eine als treibende Absenz“, das jedoch auch alle anderen „als Hohlform unverzichtbarer Hoffnung“ (ebd.) mit einschließen: „Hölderlins / Bordeaux? Und Patmos, die Insel?/ Und dann Johannes 15?/ Wer doch verkommen wie er, / in der Sprachzeit langsam nach Haus / kommen könnte. Zu Fuß / nur mit einem Zeitwort auf / staubiger Landstraße. Wir aber / tragen den Augenblick im Autofenster / und die Sekunde rollt an den Reifen. Kein / Land, Nie, Land, / dieses Anderswo“ („Chro-nokratie“, ebd.). – Die Fassetten von Absenz und Angst im ortlosen virtuellen Zeitalter fächert Schlesak im Gedichtband Landsehn (1997) auf und schreibt sie in Tunneleffekt (2000) fort, wo sie, flankiert von zeitlosen Traumerinnerungen und Todeserfahrungen, zu Bausteinen einer „posthumen Poetik“ (ebd.) werden. – Nach dem „Poesia-Erotica“-Intermezzo von Lippe Lust (2000) wendet sich Schlesak in Los (2002) erneut den zu inneren Ereignissen gewordenen Landschaften seines Exils zu, um in älteren und neueren Reisegedichten den „unbekannten Ort möglicher Erfahrung“ (ebd.) einzukreisen. – Neben den Lyrikbänden Weiße Gegend und Aufbäumen zählt auch der dazwischen verfasste Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (1986) zu Schlesaks bedeutenden literarischen Würfen. Mit gattungstypologischen Rastern nicht zu erfassen und am ehesten als Gedankenroman zu bezeichnen, rückt hier ein halbes Jahrhundert Lebens- und Zeitgeschichte mit den Hypostasen ihres Scheiterns seit den 30er-Jahren ins Bewusstsein. Anstoß zum Nach-Denken ist für den Ich-Erzähler die Suche nach einer möglichen Heimkehr ins Land seiner Herkunft, aus dem er, von zwei Diktaturen beschädigt, emigriert ist. Also erfindet er ein Alter Ego, den Schriftsteller Michael T., und schickt ihn statt seiner nach Osten. Was jedoch wie eine tatsächlich stattgefundene Reise anmutet, ist eine sprachlich vollzogene Revision eines geschichtlich wie gesellschaftlich verbogenen Ichs mit all seinen Brüchen und Widersprüchen, die bei dem von zwei Erzählinstanzen vorgenommenen unausgesetzten Verhör und Selbstverhör zutage treten. Das Erlebte und Erinnerte zersplittert in unzählige Partikel, die sich weder chronologisch noch kausallogisch zusammenfügen: „Die Sprache ist blockiert und zerstückelt und vom Alptraum verwandelt bis hin zum sprachunfähigen Stottern, in dem sich sprachlos die Realität in Fratzen auflöst, in Kopfsummen des Wahnsinns“ („Analyse meiner Selbstbiografie“ in Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur, 1990). – Historisch schließt an Vaterlandstage der Essayband Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991) an, der die „enteignete“ Revolution von 1989 untersucht, gefolgt von dem synoptischen Journal Stehendes Ich in laufender Zeit (1994), das den europäischen Nach-Wende-Geist bis 1993 kritisch ausleuchtet. – Schlesaks zweiter Roman Der Verweser (2002) ist ebenfalls als Fiktion in der Fiktion angelegt, doch ist hier nur die Rahmenhandlung autobiografisch geprägt und aus der Ich-Perspektive eines in der Toskana lebenden Autors erzählt. Als auktorial gestaltete Binnenhandlung wird eine Luccheser Liebes- und Mordgeschichte des 16. Jahrhunderts herangezogen, deren Hauptfigur, der Arzt und Schriftsteller Nicolao Granucci, dem Ich-Erzähler so zusetzt, dass dieser meint, Granucci gewesen/geworden zu sein. Als metapsychischer Schaltkreis fungiert u. a. der Schreibprozess, dessen Magie wie Missbrauch Schlesak nachgeht.

(München, 2002)

Maria Irod

Dieter Schlesaks „Zwischenschaft“: „Augenöffnung“ und „Nicht-nur-schreiben-Wollen“ im Grenzraum der Sprache

In den Begriff „Zwischenschaft“ laufen die wichtigsten und originellsten Elemente ei-nes Lebenswerks zusammen, das im Kontext einer fast vierzigjährigen Exilerfahrung entstanden ist. Darin werden zugleich Resonanzen spürbar gemacht, die Dieter Schlesak in die Nähe gewisser Tendenzen des zeitgenössischen Denkens bringen.
Im Folgenden soll der Grundbegriff „Zwischenschaft“ sowohl vor dem biografischen Hintergrund als auch im Zusammenhang mit dem so genannten „minoritären Gebrauch“ der Sprache und dem Verfremden durch das Schreiben untersucht werden . Weiterhin eröffnet sich noch ein Problemfeld, das im Rahmen der heutigen Debatte um das Able-ben der Metaphysik zu verstehen ist. Unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Au-toren ist Dieter Schlesak einer der wenigen, dessen Werk klare theoretische Positionen zu den Grundfragen der Philosophie vertritt. In seinen Essays vor allem – aber auch sei-ne Prosa und seine Lyrik werden von dieser Problematik durchtränkt – bemüht er sich um eine Antwort auf das Sinn-Bedürfnis der Zeitgenossen und versucht eine den Ge-gensatzkonflikt umfassende Ganzheit von Natur und Geist jenseits der tradierten Deu-tungssysteme des abendländischen Denkens wieder herzustellen.
Was die „Zwischenschaft“ begrifflich fasst, ist ein Zustand der Produktivität, der nie-mals von festen sozialen, theoretischen oder literarischen Zentren her zu erklären ist. Das Wort benennt auch eine Lebensweise, die sich als Gratwanderung auffasst und sich sowohl dem Erstarren in der Identität eines Emigranten als auch der Gleichschaltung entzieht. Es bedeutet zugleich den leidenschaftlichen Einsatz aller Vitalkräfte für das Projekt der sinnsuchenden Literatur. Darum ist die Schreibweise Dieter Schlesaks im Wortsinn intertextuell und interkulturell. Seit seiner Auswanderung im Jahre 1969 hat er als Fremder in Deutschland und Italien ein intensives Arbeitsleben verbracht und sich dabei ständig mit seinem Herkunftsland Rumänien auseinandergesetzt. Das schmerzli-che Pendeln zwischen „wunder Erinnerung und unaufhörlichem Schreiben als Lebens-ersatz“ sowie die zeitweilige Unmöglichkeit einer realen Heimkehr des nur in der Sprache beheimateten Schriftstellers bilden den biografischen Hintergrund dieser Lite-ratur. Vor allem in seinem Roman Vaterlandstage werden die Polyvalenz und die Po-lyglossie deutlich, die Schlesaks Autorschaft charakterisieren: Eine intensive Selbster-forschung und die Versprachlichung der eigenen Traumata verbinden sich mit der teil-nehmenden Beobachtung von anderen und der Datensammlung in Form von Interviews, Briefen etc., die dann alle zu einem dichten Geflecht heranwachsen, wo erinnern, füh-len, denken, beobachten, staunen, fragen, collagieren, erfinden im engen Zusammenhang stehen. Die Polyglossie ist einmal durch die Spaltung der Hauptperson, eines Alter Ego des Autors, in den textimmanenten Ich-Erzähler und die zum Er gemachte und ver-fremdete Figur Michael T. realisiert. Andererseits vernetzt Schlesak sein eigenes Schreiben mit Wahlverwandten der Weltliteratur: Überall sind offene und verdeckte Korrespondenzen mit Paul Celan, Hölderlin, Swedenborg, E. Cioran, C. Noica, Meister Eckhart, C. G. Jung, Michelangelo, N. Stănescu, B. Fondane, Gherasim Luca, Friedrich Weinreb, C. F. von Weizsäcker u.v.a zu finden. Die fremden und die eigenen Stimmen fließen ineinander und die Literatur konstituiert sich als ein Netz von Beziehungen, von potenziell unzähligen Perspektiven, die auf- und abtauchen und einen Zusammenhang wieder neu entstehen lassen, der das Innere und die Welt auf der Ebene der Schrift ver-bindet. Das Collagieren von Erfahrungsfragmenten und Zitaten ist keine „Bastelarbeit“, die einem bewussten Kalkül entspricht, sondern beruht auf der dialektischen Bewegung einer „intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden Sinnarbeit“ , die einem Ganzen zustrebt, das sich einer ordnenden und selbstbewussten Subjektivität nicht erschließen kann. Dieter Schlesak führt die Collage als ihm angemessene Schreibweise auf die Eigentümlichkeit seiner Fantasie zurück, die wie bei den Lyrikern sequenziell arbeitet, „in einzelnen kurzen Szenen und Handlungsstößen“ , die nachträg-lich zu einem komplexeren Text zusammengeführt werden. Die Zusammensetzung muss aber auch „inspirativ“ erfolgen. Der Sinn ergibt sich aus der gegenseitigen Anziehung der einzelnen Fragmente und dieser Prozess ähnelt, so Schlesak, der ebenbildlichen Schöpfung, er ist persönlich und doch sich selbst überschreitend. „Es ist eine komplizierte, jahrelange und sehr einsame Reise in eine Zone, wo das Unerreichbare, das platonische „Eine“, vielleicht „Gott“ warten.“ Dieses anspruchsvolle Literaturkonzept eröffnet die Möglichkeit, alle privaten Probleme aufnehmend und aufhebend und alle Sprechweisen und Gattungen umfassend, die „Bausteine“, d. h. die Einzelszenen und Fragmente, in eine ideale Synchronizität aller Zeiten und Räume zu integrieren. In einem ständigen Wechselspiel wird das Erlebte zum Text und das „inspirative“ Schreiben zu einer Lebensweise, die dem „Tod einer angepassten Existenz als Sozialtier“ ausweicht.
Der „Zwischenschaftler“ Schlesak arbeitet übrigens weiter an einer noch radikaleren Auflösung der als überholt betrachteten Grenze zwischen Buch und Welt. In seinem Chat-Roman (Romans Netz. Ein Liebesroman. Köln 2004) überlappen sich Erzählzeit und erzählte Zeit, der Autor nimmt am Leben seiner Figuren teil und umgekehrt, wäh-rend ein gewaltiges Netzwerk von Bedeutungen und Wechselwirkungen im immateriel-len Raum der elektronischen Medien entsteht, ohne absehbares Ende oder überschauba-re Einheit.
Die Zwischenschaft, das permanente und sich immer steigernde Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens, ist Erkenntnismittel und Prinzip der Lebensgestaltung zugleich. Sie wurzelt in lebensgeschichtlichen Umständen (der traumatischen Erfahrung der Diktatur und des Exils, der unmöglichen Heimkehr), die sie aber überschreitet, und wächst mit der Zeit zu einer existenziellen Bedingung, die sich ständig neu definiert, jedesmal um eine Nuance verändert.
So kann man etwa den Zustand der Zwischenschaft bis in die Zeit seiner rumänischen Jugend zurückverfolgen. Die Bewusstwerdung der Nicht-Zugehörigkeit ist zunächst durch objektive Faktoren wie die Herkunft und die politische Lage im Land bestimmt. Die erste Deterritorialisierung vollzieht sich also vor dem Exil und hängt eng mit den Erfahrungen der Angst und der Einsamkeit zusammen, die ein innerlich freies Indivi-duum zur Zeit der Diktatur macht. Es handelt sich vorerst um eine „absolute Deterrito-rialisierung“ im Sinne des von Deleuze und Guattari geprägten Terminus, weil dem Ent-fremdeten jede Möglichkeit, ein neues Territorium der Vertrautheit zu besetzen, vor-enthalten bleibt. Die konkreten Lebensumstände des jungen deutschsprachigen Autors im Rumänien der sechziger Jahre lassen alle Anstrengungen, sich in der Gesellschaft einzurichten, als sinnlos erscheinen.
Für einen ideologiekritischen linksorientierten Siebenbürger Sachsen gab es angesichts des Nazi-Verbrechens und der Mittäterschaft vieler seiner Landsleute keine Anschluss-möglichkeit an eine heile bruchlose Heimatliteratur. Auf der anderen Seite kollidiert der kritische Marxismus des jungen Schlesak mit der auf marxistischen Fundamenten er-richteten Diktatur im rumänischen Staat. Der Konflikt ist also zunächst auf politischer Ebene zu identifizieren und hängt unmittelbar mit der Herkunft des Autors zusammen, d. h. mit seinen sozio-kulturellen Bedingungen, der Sozialisierung und der Kulturalisie-rung durch die gerade herrschende „Ordnung des Diskurses“. Als „Deutscher der dritten Art“ findet er aber auch keinen unmittelbaren Anschluss an die intellektuellen Debatten in Westdeutschland.
So entsteht schon in der Bukarester Zeit das akute Bewusstsein einer unheilbaren Wun-de – der „anthropologischen Wunde“, die durch Krieg und die beiden Diktaturen be-dingt wurde – das jede neue Reterritorialisierung, jede Einfügung in die vorgeprägte Struktur einer festen Identität unmöglich macht. Das ist allerdings, wie Schlesak selbst mehrere Male hervorhebt, am ausführlichsten im Nachwort zu seiner Übersetzung der 11 Elegien von Nichita Stănescu, ein Problem der ganzen Generation, die „in Abwesenheit der Eltern“, d. h. ohne zeitgenössische Vorbilder, auskommen muss. Das einzige Zuhause der in der Diktatur lebenden Autoren bleibt die Sprache, die an sich ein privi-legierter Ort der Verfremdung ist. Abgesehen vom viel diskutierten Bruch zwischen Zeichen und Bedeutung gibt es in der Sprache noch eine weitere Fremdheit, die mit dem von Deleuze und Guattari in ihrer Kafka-Studie entdeckten „minoritären Gebrauch“ zu tun hat, d. h. mit den Fluchtlinien, die sich innerhalb der Sprache herausbilden und sie selbst zum Stottern bringen (das Deutsch der Prager Juden etwa oder in unserem Fall das Rumäniendeutsche). Der Autor selbst bezieht sich auf Deleuze und Guattari, wenn er die Situation der rumäniendeutschen Gegenwartslyrik diskutiert:
....bei Menschen „vom Rand“ gibt die Sprache „ihr repräsentatives Dasein auf, um sich bis an ihre Extreme, ihre äußersten Grenzen zu spannen“ können wir bei Deleuze und Guattari in ihrem Kafka-Buch Für eine kleine Literatur nachlesen.
Und weiter, noch spezifischer, auf die Situation während der Diktatur bezogen:
Die Diktatur hat die Verletzlichkeit und die Sprach-Hellhörigkeit in ihren Gefahrenzo-nen, die ja sprachliche waren, noch verschärft, sie hat die Autoren überwacht, zensiert, verfolgt, offen waren die Abgründe des Absurden, die Sinne der Autoren für das Absurde geschärft.
Für Schlesak wie für Deleuze deckt sich diese Dynamik zugleich mit jener des Schrei-bens, das stets als Verfremden erscheint, weil die Artikulation des Neuen erfordere, dass man „in seiner eigenen Sprache gleichsam ein Fremder“ werde. Die Sprache ist also ein Zwischenland, das einerseits die Bewegung des Fremdwerdens am besten veranschaulicht und wo sich andererseits nur punktuell in Augenblicken der Inspiration eine „Selbstherstellung“ vollziehen kann .
Zu seiner Fremdheit als existenzieller Bedingung erzählt Schlesak immer wieder eine Anekdote aus seiner Bukarester Zeit:
„Schon in Bukarest, bevor ich Deutschland kannte, bevor ich überhaupt die Grenze des Landes überschreiten durfte, wo nur in der Sprache diese Sehnsucht saß, wie ein ver-hindertes Fluggerät, ein Vogel mit gebundenen Flügeln, ein Mensch, der einen Vogel im Kopf hat, wurde ich gefragt, sag mal, was bist du eigentlich, ein Rumäne bist du nicht, du bist ja in Siebenbürgen als Siebenbürger Sachse geboren, aber ein Deutscher bist du auch nicht, du warst ja noch nicht in Deutschland? Du musst Jude sein.“
Dazu zitiert er Marina Zwetajewas Spruch: „Alle Dichter sind Juden“, mit anderen Worten „sie gehen einem Handwerk nach, das, laut Paul Celan, keinen goldenen Boden, sondern überhaupt keinen Boden hat.“
Sein Handwerk, das keinen festen Boden hat, d. h. keine sichtbare Auswirkung auf die materielle Welt, macht den Dichter zum Außenseiter. Die Annäherung an das Jüdische vertieft das Schuldbewusstsein des Deutschen und kommt „einem kleinen Schock“ gleich. Darüber hinaus führt die Beschäftigung mit dem Jüdischen zu einer Radikalität im Denken des Fremden, die einem Dichter wie Dieter Schlesak viel näher kommt als die vergleichsweise gemütliche Dialektik des Eigenen und Fremden, so wie sie etwa in der Soziologie und Ethnologie behandelt wird. Über die altisraelitische Erfahrung von Gefangenschaft, Vertreibung und Exil entwickelt sich ein Menschheitsmodell, das kei-neswegs nur auf Mechanismen sozialer Wahrnehmung und Ausgrenzung beruht, son-dern allgemein das menschliche Leben als ein Leben im Fremden auffasst. Nachdem das „kleine Exil“ 1989 seine Aktualität verloren hat, blieb nur noch das „große Exil“ der menschlichen Existenz auf der Erde, die vom Ursprung her dem Fremden unwidersteh-lich ausgesetzt ist, so wie sie die biblischen Genesis-Erzählungen in ihrer Bildsprache darstellen und so wie sie durch die gnostischen Bewegungen radikalisiert wurde. In die-sem Sinne gilt die These, die Hartmut Böhme in Bezug auf das Werk Hubert Fichtes formuliert hat, auch im Fall von Dieter Schlesak: „Der Gegenbegriff zum Fremden ist nicht das Eigene, sondern das Paradies.“
Angesichts dieses ontologischen Fremdseins und der Leere, die nach dem Tod Gottes entstanden ist, fasst Dieter Schlesak sein Schreiben als Versuch auf, jenseits religiöser oder politischer Tröstungen eine Idee von Glück und existenzieller Verankerung zu vermitteln:
Es [das Schreiben als “Sinnarbeit”, als Zusammensetzen von Einfällen, m. Anm., M.I] ist bisher die einzig mögliche „Sicherheit“, einer fast numinosen Geborgenheit im Nir-gendwo, die es für mich an der Grenze zwischen sinnlichem und geistigem Bereich noch gab, mit ihrer Tiefengrammatik des Sprachgedächtnisses als das einzige unzerstörbare Haus, das ich noch besaß.
Im Schreiben erlebt man ein Glücksgefühl, das der Erleuchtung gleichkommt:
Und so wäre diese Sinnarbeit via erlebter Weltfragmente im Laufe der Zeit, diese zerfal-lenen Stückwerke der Momente und Lebensphasen in ihrem anscheinend sinnlosen, da-her schmerzhaften „Unten“ ihrer manglenden Bindung und des fehlenden Zusammen-hangs eben das Rohmaterial eines Ganzen, einer stimmigen schwingenden „Sprachhei-mat“.
(...)
...dafür wird man (...) schon während der Arbeit belohnt mit Erregungen und Glücksge-fühlen, da wartet das geschriebene Glück, wie es mein Kollege Werner Söllner in einem Gedicht so schön ausdrückt.
Nachdem mit dem Tod Gottes das ganze Deutungs-, Sinnstiftungs- und Tröstungssys-tem des abendländischen Geistes zusammengebrochen war, begann das „große abend-ländische Ereignis der Sinnverfinsterung“ , d. h. eine nihilistische Einstellung, die jeden Bezug auf einen absoluten Wert bzw. ein übersinnliches Maßstab der Weltauslegung unmöglich macht.
Was Dieter Schlesak durch seinen Begriff der Zwischenschaft zu dieser ausgesprochen heiklen Problematik des heutigen Denkens beizutragen hat, ist vor allem der Versuch, das Numinose und den Tod vor der Ausklammerung aus dem Wissensbereich zu retten und zugleich die Innerlichkeit (d. h. das Geistige, das Unsichtbare) aufzuwerten, ohne jedoch auf die alte metaphysische Idee der Beherrschbarkeit der Welt zurückzufallen, die unter jeder Oberfläche eine genau identifizierbare Bedeutung aufzuspüren meint. Diesem Totalitätsanspruch, der auf Fixiertheit fußt, hält die Zwischenschaft die „Un-schärferelation“ der Quantenlogik entgegen. Schlesaks Poetik geht vom unmöglichen Unternehmen der Literatur, das Unsagbare sagbar zu machen aus:

Eine höhere Stufe, die die Übersicht möglich macht – die In-Eins-Bindung und Über-schneidung von vielen Lebensperspektiven, bis ins Grenzenlose – besorgt das riesige Gedächtnis der Sprache mit ihren apperzeptiven und apriorischen Formen, um das Eine, den Einen in immer reicheren Spiralen zu umkreisen, es jedoch nie ganz zu erreichen, da „er“ (Sinn, Nichts, Tao, Gott – alles ohnmächtige Wort-Annäherungen!) unaussprechbar ist, das Namenlose, das alles erst möglich macht, auch uns und die Namen, nur dann da ist, wenn wir uns und die Namen löschen!“
In seiner Abhandlung über die Philosophie nach dem Tod der Metaphysik vergleicht Manfred Frank das strukturalistische System-Modell mit einem Kristallgitter, wo „die Teilchen nicht nur voneinander unterschieden“, sondern „bei gleichbleibender niedriger Temperatur, zusätzlich an ihre Plätze gebannt“ sind . Der Neostrukturalismus hingegen distanziert sich von einer theoretisch überschaubaren und abgeschlossenen Struktur und bevorzugt die „Offenheit“ der unendlich vielen Transformationen. Diesen Begriff des Unkontrollierbaren hat Dieter Schlesak mit dem Neostrukturalismus gemeinsam. Wie-derholt bezieht er sich auf die Erkenntnisse der Quantenphysik, deren Gesetze der Na-nowelt der unsichtbaren Relationen gerecht werden. Im Unterschied zur klassischen Physik, die nur für die Welt der sichtbaren Objekte gültig ist, geht die Quantenphysik vom Prinzip der Unauffindbarkeit von „Teilchen“ aus und nimmt die Wechselwirkungen zwischen dem Messinstrument (oder beobachtendem Subjekt) und dem beobachteten Objekt in Kauf. Diese Einsicht schließt ein genau bestimmbares Sinnzentrum aus, dessen Verständnis die Struktur beherrschbar machen könnte. Was sie aber nicht ausschließt, sondern vielmehr unterstützt, ist das Bedürfnis, ein „Scheinloses“ bzw. Bildloses zu postulieren, das mit den Mitteln des Verstandes nicht erfasst werden kann:
Jeder Poet ist durch seinen Einfall an das Noch-Nicht-Gewusste, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine) gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nä-hern, das wir schon hier empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des Zählbaren mit der Eins und dem Einen nicht mehr getrennt und gespal-ten, sondern „heimgekehrt“ zum Grund der eigenen Sagbarkeit.
Die Matrix der Transzendenz ist nach dem Tod Gottes, so Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft, erhalten geblieben und muss mit einem neuen Inhalt ausgefüllt werden. Das Denken der Zwischenschaft kommt mir in diesem Zusammenhang als eine mögliche Überwindung des Nihilismus zugunsten der Negativität vor. Es handelt sich offenbar um ein Denken, das sich der geistigen Situation der Zeit bewusst ist und eine Stel-lungnahme dazu sein will. Es ist ein Denken unter Bedingungen der Nachmoderne, das sich sowohl von der „weltlosen Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen Lo-gik“ als auch von der „äußeren Bildinflation“ distanziert. Nachmodern im Sinne von Lyotard ist die Zwischenschaft, insofern sie in einem Kontext entsteht, der mit dem Tod der Metaphysik, der Gewissheit einer übersinnlichen Welt und eines obersten legi-timierenden Wertes geschaffen wurde. Die Vorstellungen, die in diesem Raum des Dazwischen-Seins wurzeln, problematisieren ihre historische Situierung und suchen eine Alternativ-Theorie zu den zeitgenössischen Extremen von postmodernem Relati-vismus, dessen Hauptakzent auf der kulturellen und sozialen Genesis von Behauptungen liegt, und geschichtsblindem Positivismus, der eine Wiederauferstehung der Metaphy-sik in Form von Universalitätsansprüchen und Naturbeherrschung darstellt. Dem Rückfall in den Weltbeherrschungswillen entgeht die zwischenschaftliche Position, in-dem sie einen scharfen Unterschied macht zwischen dem „ideologieverdächtigen Abso-luten“ der klassischen Metaphysik und dem begrifflich Unfassbaren bzw. dem „Nichts“ der negativen Mystik.
Was Dieter Schlesak in erster Linie bei dieser subtilen Unterscheidung interessiert, ist meines Erachtens nicht die Kontroverse um das Bestehen der übersinnlichen Welt in all ihren historischen Erscheinungsformen, die Manfred Frank so treffend zusammenfasst („als höchster Wert, als göttlicher Welturheber, als absolute Substanz, als Idee, als abso-luter Geist“ etc.), sondern vielmehr das grenzüberschreitende Potenzial der Mystik. Daher hält er dem „Absoluten“, das sich durch Ideologien vereinnahmen lässt, das be-grifflich Nicht-Fassbare der Mystik entgegen. In diesem Kontext kommt mir eine Aus-sage Habermas` aus seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne besonders einleuchtend vor . Dort wird die mystische Erfahrung, die ihren Bezug auf den Deus absconditus nicht verloren hat, als außerordentliche Befreiungskraft und Bedrohung für Dogmen und verknöcherte Strukturen betrachtet.
Vor diesem Hintergrund erscheint Schlesaks Lebenswerk als ständiger Kampf gegen die Vereinnahmung durch intellektuelle Trends, d. h. durch Bedeutungstotalitäten, die auf die Entdeckung einer Sinn-Einheit abzielen, deren Verständnis das System in nuce be-herrschbar machen könnte . Die Konstante dieses Lebenswerks ist die Zwischenschaft, deren konkrete Erscheinungsformen von der jeweiligen Lebensetappe abhängen und die im Grunde als Abwehrmechanismus gegen jede Verabsolutierung fungiert und die Re-territorialisierung, d.h. die Rückkehr in die Geborgenheit einer globalen Welt-Ausgelegtheit, verbietet. Durch die Zwischenschaft verbindet sich Dieter Schlesak auf eine ganz eigene Art und Weise mit dem Zeitgeist, jedoch nicht mit irgendeiner Theorie der Postmoderne. Was er trotzdem mit dem Neostrukturalismus gemeinsam hat, ist der wichtige Aspekt des Offenen, der sowohl als permanente Öffnung gegen das Fremde als auch im Sinne eines Verzichts auf die Idee, es gäbe „unter der textuellen Oberfläche so etwas wie eine in sich geschlossene und fixe Bedeutung“ , zu verstehen ist. Nichts Greifbares und gedanklich Verfügbares verbirgt sich unter der Oberfläche, sondern vielmehr etwas Unauslotbares, ein Abgrund, der in jedem Einzelnen vorhanden ist: „Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des Subjekts, Bilder und Begriffe verdecken ihn“, heißt es in seinem Buch So nah, so fremd . Und noch eindeutiger in Fragmente zu einer posthumen Poetik: Das Subjekt rückt ins Zentrum, denn der dichteste Ort des Alls ist der menschliche Kopf. Kenntnis ist in unsere Sprachformen übersetztes kosmisches Wissen, vor allem in die der Mathematik. Das Subjekt, der Grund dieser Kenntnis selbst aber kann begrifflich niemals erfasst werden...Dieses Unfassbare wurde einmal „metonymische Kausalität“ (abwesender Grund) genannt; sie ist der klingende Grund von Musik und Poesie.
Das Subjekt, das hier aufgewertet wird, scheint sich keinesfalls auf das traditionelle Subjekt der Erkenntnis, d. h. auf das Bewusstsein zu beziehen. Wenn man sich in die-sem Zusammenhang psychoanalytischer Termini bedienen darf – was sogar durch ex-plizite Hinweise des Autors rechtfertigt wird –, dann könnte man dieses Subjekt eher mit dem Selbst, also einer „bewußtseinstranszendente[n] Ganzheit“ , als mit dem Ich gleichsetzen. Eine terminologische Verwirrung könnte eventuell aus der Tatsache ent-stehen, dass dem Selbst als Archetypus eine gewisse Objektivität anhaftet, sodass es nur schwer als Subjekt bezeichnet werden kann. Möglicherweise ist Schlesaks Wortwahl ein Versuch, auf den Vorrang des Inneren aufmerksam zu machen. Tatsächlich wird normalerweise das Objektive nur mit dem Äußeren und Sichtbaren identifziert. C. G. Jung weist jedoch wiederholt auf den objektiven Charakter des Unbewussten hin: „Das kollektive Unbewusste ist alles weniger als ein abgekapseltes, persönliches System, es ist weltweite und weltoffene Objektivität.“ Dass echte Kunst kein ausschließliches Werk des Bewusstseins sein kann, behauptet auch Dieter Schlesak: „Ein Autor ist nur ein schwingendes Instrument, da arbeitet die intuitive Sprachfantasie in ihm, entfaltet ihren Reichtum, wenn er es zulässt, sich nicht mit seinem kleinen Ich einmischt aus Mangel an Vertrauen in andere Kräfte, die in ihm arbeiten.“ In diesem Zusammenhang sollte man auch die Dichotomie Sichtbares-Unsichtbares verstehen, die in den letzen Jahren eine immer wichtigere Rolle im Denken von Dieter Schlesak spielt. Das Sichtbare wäre also das begrifflich Fassbare, das Berechenbare, kurz alles, was im Lichte des Bewusstseins steht. Nur an die Realität des Sichtbaren zu glauben, hieße der Illusion und der „Evidenz der manipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion“ zu verfallen. Hingegen sind die „anderen Kräfte“ des Unbewussten das Unsichtbare und zugleich Unheimliche, das zwecks der Herstellung eines beruhigenden einheitlichen Systems verdrängt werden muss. Wie in der klas-sischen Metaphysik also ist auch bei Dieter Schlesak das Unsichtbare der sichtbaren sinnlich wahrnehmbaren Realität übergeordnet. Im Gegensatz dazu handelt es sich je-doch dabei um keine Selbst-Ermächtigung von Vernunft, die der sichtbaren Welt ihre abstrakten Gesetze aufzuprägen versucht. Mit seinem Beharren auf der Negativität der Mystik koppelt sich Schlesak eindeutig von der „metaphysischen Auslegung des Seins als Verfügbar-Sein, d. h. als greifbare Anwesenheit“ , ab und konzentriert sich auf die „treibende Absenz“ und das Nichts, das Wirkung schafft: Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das „Etwas“, nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist.
Im Grunde gibt es Berührungspunkte zwischen dieser Perspektive und den Standpunk-ten so verschiedener Traditionen wie z. B. die der negativen Theologie oder auch man-cher nachklassischen Theorie. Der gemeinsame Nenner all dieser Auffassungen ist die Grundeinsicht, dass das Bewusstsein nicht Grund seines Bestehens ist und dass eben dieser Ur-Grund undenkbar bleiben muss. Als Poeta doctus lässt Dieter Schlesak all diese Ansätze gelten, sich gegenseitig anziehen und kraft seiner Vision in einer neuen „Sinnumgebung“ wiedererstehen .
Unter anderem hängt Schlesaks Interesse am Unsichtbaren und Unfassbaren auch mit seiner sozialkritischen Einstellung zusammen. Die Unheilsgeschichte des Abendlandes sieht er in enger Verbindung mit der „Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren“ und hebt dabei die Vorliebe der Diktaturen für so genannte realistische Kunst hervor, die jeden ästhetischen Akt zur dienenden Funktion der vermeintlich objektiven Wahrheit macht .
Seine Wiederentdeckung der Spiritualität vollzieht sich bezeichnenderweise gegen den Strom des herrschenden Materialismus und jenseits der institutionalisierten Religionen. „Der eigentliche Schauplatz der Entwicklung ist wieder (wie in der Klassik) nach innen verlegt.“ und „Der Einzelne, das Individuum, sein Bewusstsein ist mehr als die Welt“ . Die Innerlichkeit und die Individualität rücken also als grundlegende Elemente der Lebensgestaltung in den Vordergrund. Wie bereits am Anfang dieses Beitrags ange-deutet wurde, benennt die Zwischenschaft in erster Linie eine Lebensweise, die unter leidenschaftlichem Einsatz aller Vitalkräfte eine ehrliche Zuwendung gegenüber der ei-genen unbewussten Seele und ihrer Erkenntnisse anstrebt. Worum es Dieter Schlesak eigentlich geht, ist eine „techne des Selbst“ im Sinne des von Michel Foucault geprägten Terminus, eine Ausarbeitung des eigenen Lebens, die einer tiefgehenden Bewuss-tseinserweiterung, ja, einer „Augenöffnung“ zustrebt. Es geht ihm vor allem darum, „im Absoluten lebendig zu sein, bewusst zu leben“ und „sich von den Downerprogrammen nicht erdrücken zu lassen“ , d. h. sich nicht mit den gängigen, vorgeprägten Lebens-mustern zu identifizieren. So wird das Schreiben in die Reihe jener Praktiken integriert, die darauf abzielen, das Individuum von dem Auflösen in den sozialen, ökonomischen oder politischen Strukturen zu retten und es durch die Arbeit an sich selbst zum morali-schen Subjekt werden zu lassen. Das Schreiben gleicht also dem Gebet, der Meditation oder auch der Liebe und dem Traum, die alle die vorgebliche Realität der institutionell geregelten Alltagsexistenz hinterfragen und sich darauf hinbewegen, ein Medium zu finden, das die Konventionen der Außenwelt nicht reproduziert. Bereits in Visa. Ost-West-Lektionen äußert sich Schlesak kritisch zum Fortschrittsgedanken: „Die vom Be-trieb und seinen Rädern erfasste Progressivität im Westen ist in den meisten Fällen so-ziales Anpassungsdenken und hat Identifizierungsfunktion“, zumal sie „die ganze Steri-lität des Objektes, das man kritisieren möchte, in einer versachlichten Sprache und einem versachlichten Denken“ nachahmt.
Die Lösung vor allem in unserer Zeit, wo die utopischen Entwürfe und die Fortschritts-gläubigkeit ausgedient haben, läge folglich in der Fähigkeit des Individuums, die kul-turbedingten Barrieren im eigenen Bewusstsein zu überwinden, die die Kräfte des Nu-minosen verdrängen oder sogar abtöten. Das käme dann auf kollektiver Ebene einem Paradigmenwechsel gleich, einer endgültigen Befreiung vom veralteten Newton’schen Weltbild. In einem Buch, das die politische Wende in Rumänien 1989 reflektiert, entwi-ckelt Dieter Schlesak die These, dass die eigentliche Revolution eine Art „Entre-Chock“ (Benjamin) oder Zwischenschaft gewesen sei, ein „Moment Freiheit oder Zeit-Losigkeit zwischen zwei Systemen und Zeiten“ , die auf die subversive Macht der Schwäche, auf den Aufbruch von Einzelnen zurückzuführen ist. Diese „scheue, friedliche Bewegung mit Fantasie, Sprache, symbolischen Handlungen“ wurde dann durch die „Kaufhaus-Forderungen der amorphen Masse“ abgelöst und endete in einer Mischung von „alten und neuen Giften“ , von Konsumwahn und den totalitären Reflexen, die in der Psyche der Leute hängen geblieben sind.
Man könnte meinen, dass die politischen Umbrüche in Osteuropa Anfang der neunziger Jahre gravierende Folgen für das Selbstverständnis des „Zwischenschaftlers“ Dieter Schlesak haben würden. Und tatsächlich stellt Oliver Sill am Schluss seiner verglei-chenden Analyse dreier Prosawerke Dieter Schlesaks eine tief greifende Identitätskrise fest: „Die seit 1970 aufrechterhaltene Selbstbeschreibung als Zwischenschaftler, der sich im imaginären Raum zwischen den gesellschaftlichen Systemen befindet, ist irreal geworden. Denn die Grenze zwischen den Systemen existiert nicht mehr.“ Die Zwi-schenschaft als Prinzip der Lebensgestaltung büßt jedoch mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs keineswegs an Überzeugungskraft ein. Die Grenze wird ins Trans-zendente versetzt, das physische Exil wird zum Zeichen der radikalen Fremdheit auf Erden, die Sehnsucht nach der Heimat steigert sich zu einem „sich ins Absolute ver-wandelnde[n] Heimweh“ . Seit 1990 befasst sich Schlesak immer intensiver mit der Grenze zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Sichtbarem und Unsichtbarem und in diesem Kontext ist auch sein Interesse an Transkommunikation oder Mikrophysik und den Auswirkungen der Technologie auf das neue Menschenbild zu verstehen. Dabei kommt der Sprache und der Schrift eine zentrale Rolle zu, die als Reflex auf die Undarstellbarkeit der Wirklichkeit erscheint: „Schrift sammelt wie ein Brennglas die Strahlung unserer inneren Kräfte, mit denen die Wand durchbrochen werden kann, und nur mit ihnen.“ Es gilt also nach dem Fall der Mauer, die das totalitäre System im Os-ten vom freien kapitalistischen Westen trennte, die „Mauern in den Köpfen“ durchsich-tig zu machen, d. h. die herkömmlichen und die konventionellen Denkmuster zu besei-tigen, die unseren inneren Sinn für eine höhere Realität überlagern.
Einer solchen Auffassung haftet zugegebenermaßen ein gewisser apokalyptischer Ton an. Das Thema der Apokalypse im Denken von Dieter Schlesak ist zu weit, um hier aus-führlich erörtert zu werden, es sei daher nur darauf hingewiesen, dass der Autor selbst den Begriff im etymologischen Sinn – als Offenbarung, Augenöffnung – benutzt, und zwar im Zusammenhang mit dem Scheitern der Kausalgesetze, dem Zeitgeschehen ge-recht zu werden. Das Verständnis der Apokalypse in seinen letzteren Texten kreist eher um das Ende einer Literatursprache, die in den Strukturen einer überholten Weltan-schauung steckengeblieben ist. Der Einbruch des ganz Anderen in die Geschichte wird angesichts der im 20. Jahrhundert ereigneten Katastrophen sowie der technischen Ent-wicklung im postindustriellen Zeitalter als immer aktualisierbare Potenzialität der Ge-schichte.
Oliver Sill spricht in Bezug auf die Vaterlandstage vom „Entwurf eines Geschichtsmo-dells, das einer negativen Teleologie entspricht“ , in dem also der drohende atomare Tod als letzte universelle Ebene des Heimatverlustes erscheint, und identifiziert als Grundhaltung im Roman das „Bestreben, gegen die Gedankenlosigkeit einer dem Kon-sum ergebenen Mehrheit mahnend den Zeigefinger zu erheben.“ . Wenn man diese im Roman thematisierte Angst vor der Vernichtung als dem unvermeidlichen Resultat des technologischen Fortschritts wohl im Sinne eines literarischen Topos der achtziger Jahre betrachten kann , wird die mahnende Geste vor dem Zugriff der gesellschaftlichen Apparate und der Determination des Menschen durch die Objektwelt zur Konstante im Werk Dieter Schlesaks. Der Apokalypse-Begriff wird auf seinen ursprünglichen Sinn zurückgeführt und deckt sich mit der Bedeutungskonstellation der Zwischenschaft. Als wichtige und in der Tradition des Apokalyptischen verankerte Merkmale werden die Aufforderung zu einer „Umkehr aller Vorstellungen“ sowie eine Wahrheitskonzeption beibehalten, die die Wahrheit nicht als Ergebnis diskursiver Prozeduren, sondern viel-mehr als dramatisches Ereignis, als Einfall und Inspiration betrachtet. Die Hölderlin’sche Formel der „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“, die dem Roman Va-terlandstage vorangestellt ist, hängt eng mit der Notwendigkeit zusammen, auf das Er-probte in der Literatursprache zu verzichten . Damit erkennt Schlesak die Grundein-sicht des Neostrukturalismus an, die das Bewusstsein und die Sprache aufeinander be-zieht. In diesem Rahmen ist das Selbstbewusstsein selbst ein Gedanke, der sich artiku-lieren muss und folglich vom Ausdrucksmaterial bedingt wird. Mit anderen Worten heißt jede vermeintlich neue Artikulation ein Sich-Einschreiben in ein vorgeprägtes strukturales Gewebe. Trotz der Anerkennung dieser fundamentalen Tatsache glaubt Dieter Schlesak an die Fähigkeit des Individuums, von der eigenen Freiheit Gebrauch zu machen und sich dem Totalitarismus der Regelsysteme zu entziehen. So bewegt er sich im von Manfred Frank konstatierten Spannungsverhältnis zwischen (neo-)strukturalistischem Denken und Hermeneutik, in dem sein Standpunkt der Zwischen-schaft eine dezidiert moralische Dimension gewinnt. Er engagiert sich, um mit Frank zu reden, „kontra-faktisch“ und bietet „der Wirklichkeit, sie erkennend, die Stirn“ . Das geschieht vor allem durch die gezielte Wiederaufnahme einer apophantischen Tradition und die Hervorhebung des Angeschlossenseins jedes Einzelnen an den undenkbaren Grund seines Daseins. Das Gefühl der Bedingtheit wird umgedeutet, die Fichte’sche Metapher des „eingesetzten Auges“ wird vom neostrukturalistischen Kontext losgelöst und wieder an die ursprüngliche Bedeutung einer „transzendenten Bestimmtheit“ he-rangerückt.
Die Augenöffnung, die von der zwischenschaftlichen Position vorausgesetzt wird, be-trifft also einen Zustand der Öffnung für den Zufall, der sich jenseits des begrifflich Fassbaren ereignet und schöpferische Möglichkeiten enthält. Und gerade im Zwischen-land der Sprache muss man, schreibend, diese „Übung, um freier zu werden“ ,praktizieren. Aus diesen wiederholt unternommenen Anstrengungen sollte dann „der Sprung über den Abgrund in ein vom Alltag verdecktes geistiges Niemandsland“ ge-lingen.





II
VATERLANDSTAGE UND DIE KUNST DES VERSCHWINDENS




Da versucht einer, einen neuen Lebenszusammenhang herzustellen und mit diesem Versuch der Literatur wieder den Rang zurückzugewinnen, den sie bis James Joyce und auch noch im Scheitern Robert Musils gehabt hat: ihrer Zeit voraus zu sein. Mit dem intuitiven Blick des Lyrikers ließ sich fassen, was bisher unfassbar erschien.
Jürgen Serke in: „Die verbannten Dichter“ , Frankfurt am Main, 1985






Oliver Sill
„Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ (1986)

Auf der Marburger Tagung „Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur“ im Herbst 1989 spricht Dieter Schlesak unter dem Titel „Analyse meiner Selbstbiografie“ in eige-ner Sache. Er beginnt mit den Worten: „‚Vaterlandstage und die Kunst des Verschwin-dens‘ heißt mein Buch, das 1986 nach zehnjährigem Schreibprozess im Benziger Verlag, Zürich, erschienen ist.“ (Schlesak 1990: 160) Solch lapidare Worte verraten nichts über das Ausmaß dieses Unternehmens und die enorme Anstrengung, mit der Schlesak in Camaiore seine Suche nach der verlorenen Zeit betrieben hat. Anfang der achtziger Jahre besuchte ihn dort Jürgen Serke und wusste anschließend zu berichten: „Sechstau-send Seiten hatte er [Schlesak] niedergeschrieben [...]. Ein Schreiben ohne Ende. Gren-zenlos.“ (Serke 1985: 366) Für die Publikation übrig geblieben sind dann gerade einmal 450 Seiten: nicht viel – und doch genug, um den Leser auf eine harte Probe zu stellen. So sieht sich denn auch Werner Söllner in seinem KLG-Artikel dazu veranlasst, seine Würdigung der „Vaterlandstage“ mit einer behutsam formulierten Warnung an den Le-ser ausklingen zu lassen: „So anspruchsvoll also der Roman an den Leser herangetragen wird, so mühevoll kann, auch für den mit Schlesaks Problematik Vertrauten, die Lektüre sein. Nichtsdestoweniger bleibt sie ein ungeheuer kompliziertes, abgründiges Erlebnis [...].“ (Söllner 1989: 6)
Einen Vorgeschmack davon, was den Leser (und den Interpreten) erwartet, vermittelt der Autor selbst in der „Analyse meiner Selbstbiografie“:
„Und die ‚Vaterlandstage‘ sind eigentlich ein einziges langes Verhör und Selbstverhör. Die Handlung, wenn man es überhaupt so nennen kann, besteht aus Wirklichkeitsbruch-stücken, entlassen aus einem gequälten Bewusstsein. Es ist eine modifizierte Art des in-neren Monologs, ein Monolog unter dem Druck der Angst. Die Sprache ist blockiert und zerstückelt und vom Alptraum verwandelt bis hin zum sprachunfähigen Stottern, in dem sich sprachlos die Realität in Fratzen auflöst, in Kopfsummen des Wahnsinns.“ (Schlesak 1990: 172)
Und auch Edith Konradt, die sich erst unlängst mit Schlesaks Roman beschäftigt hat, gerät postwendend in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Form der „Vaterlands-tage“ mit wenigen Worten zu charakterisieren:
„Dieses Werk ist gattungstypologisch nicht leicht einzuordnen: Es ist eindeutig kein Geschehnis-, aber auch kein Zeitroman in klassischem Sinn, eher ein Zeit- und Gedan-kenroman. Schlesak splittert nämlich die Lebensgeschichte seines Alter Ego, des Schriftstellers Michael T., in unzählige Erinnerungssegmente auf, die sich nicht chrono-logisch reihen, sondern in ein dichtes Netz von Assoziationen verwoben sind.“ (Konradt 1997: 15)
All dies mag den kommerziellen Misserfolg des „gewiß anspruchsvollsten, in Ausfüh-rung und Deutung schwierigsten, mit Sicherheit auch riskantesten schriftstellerischen Unternehmens Schlesaks“ (Söllner 1989: 5) erklären, über die Qualität der „Vaterlands-tage“ besagt es nichts. Dem Roman per se jene Schwierigkeiten anzulasten, die sich bei der Lektüre, zumal der ersten, einstellen, wäre ebenso verfehlt wie die voreilige Res-pektsbezeugung, die im Komplizierten stets ästhetische Komplexität vermutet. Worum es aus literaturwissenschaftlicher Sicht schlicht gehen sollte, ist der Versuch, Zugänge zum Werk zu finden. Seine zentralen, die Komposition tragenden Strukturelemente wollen beschrieben sein, denn sie sind – im glücklichsten Falle – ästhetisch stimmiger Ausdruck einer Textintentionalität, die es auf diesem Weg Zug um Zug zu erschließen gilt. Die genaue, stets am Text orientierte Beschreibung seiner Struktur mag dann auch eine Lesehilfe sein: für all jene, die sich dem literarischen Werk eines Autors stellen wollen, der es seinen Lesern, aber auch sich selbst, nicht leicht macht.
Worum geht es? Erster Versuch einer Annäherung
„Die Handlung, wenn man es überhaupt so nennen kann [...]“ (Schlesak 1990: 172) – in der Tat: Es ist nicht einfach, das Dargestellte in übersichtlicher Weise knapp zu skizzie-ren. Deshalb sollte man sich zunächst einmal an das Offensichtliche halten, an die Un-terteilung in Kapitel und Abschnitte. Gegliedert ist der Roman in zehn römisch numme-rierte, mit Titeln versehene Kapitel von sehr unterschiedlicher Länge. Kapitel III („Der Stachel“) umfasst nur 7,5 Seiten Text, während das letzte, das X. Kapitel („Ein X für ein U will uns jemand vormachen“) nicht weniger als 90 Seiten Umfang besitzt. Sämtli-che Kapitel, mit Ausnahme von „Der Stachel“, sind überdies in einzelne Abschnitte un-tergliedert, die ebenfalls Überschriften aufweisen. Darüber hinaus ist ein Prolog voran-gestellt, der den zunächst unverständlichen Titel „Prolog nach dem Ende“ trägt und mit 42 Seiten als Prolog ungewöhnlich lang erscheint.
So unübersichtlich der aus einzelnen Wirklichkeitsfasetten gefügte Roman sich auch ausnimmt, die Kapiteleinteilung gibt eine bestimmte Ordnung vor. Und deshalb dürfte es legitim sein, das jeweils Dargestellte in einer ersten Annäherung an das Werk kurz zu beschreiben.
Der Prolog (11–54) , obwohl nicht weiter untergliedert, weist eine deutliche Zweitei-lung auf. Handlungsort ist zunächst C. (vermutlich Camaiore) in der Toskana; jener Ort, an dem das erzählende Ich mit seiner Frau Jann lebt und seinen Dialog mit sich selbst aufnimmt, und zwar in Form eines Tagebuchs, das von „MONTAG, den 2. Mai“ (13), bis „SAMSTAG“ (30) reicht. Das Datum wird hier nicht mehr genannt, überdies fehlen durchgängig Jahresangaben, doch könnte es sich, wie indirekten Zeitangaben zu ent-nehmen ist (vgl. 36), um das Jahr 1985 handeln. Der zweite Teil des Prologs (34–54) wird durch eine markante Rückblende eingeleitet. Von nun an steht Michael T.s Reise über Stuttgart nach Bukarest im Mittelpunkt, wie er sie am „22. Dezember: – vergange-nen Jahres“ (34) angetreten hat. Die Tagebuchform wird folgerichtig aufgegeben. Auf dem Umweg über Belgrad geht es nach Bukarest. Der Prolog endet mit dem plötzlichen Entschluss Michael T.s, „ins Landesinnere zu fahren [...]. Es war diese kleine Stadt in Siebenbürgen, die den seltsamen Namen Schesz-Brich ... sozusagen in sich hatte ...“ (54)
Kapitel I knüpft nahtlos an das zuletzt Geschilderte an. Michael T. durchstreift den Ort seiner Kindheit, Schäßburg, sieht sein Geburtshaus wieder, trifft sich mit Dima, einem ehemaligen Schulkollegen und Freund, unternimmt einen kurzen „Verwandtenbesuch“ (62) und überlässt sich, zahlreiche Notizen anfertigend, seinen Erinnerungen insbeson-dere an die ersten Kriegsjahre, die mehr und mehr die reale Gegenwart Schäßburgs überlagern und in der Darstellung die Oberhand gewinnen: „[...] ich war blockiert, machte vergebliche Anstrengungen anzukommen, ich war gar nicht da. Erinnerungen verfolgten mich, so, als wären sie das einzig Reale hier.“ (72) Gegen Ende des Kapitels kehrt T. nach Bukarest zurück, fotografiert versehentlich eine „getarnte Waffenfabrik“ (98), wird verhaftet, verhört und träumt zuletzt in seiner Zelle die eigene Erschießung: „Die Welt wird plötzlich angehalten, Totenstille [...]. Und die Kugeln drehn sich vor seinem Gesicht, kommen nicht an ...“ (102).
Unter dem Titel „Menéh Tékel Ûpharsin“ behandelt das II. Kapitel die Tage vor und nach der Proklamation König Michaels I. am 23. August 1944, in der der Waffenstill-stand mit der Sowjetunion verkündet wurde: „Im Radio kams! [...] im Radio, nachts, der König ... seine Rede: An mein Volk.“ (110) Die Überschrift des Kapitels ist gut gewählt, denn wie allgemein bekannt sein dürfte, war für die Deutschen in Rumänien nach dem Frontwechsel des Landes an die Seite der Sowjetunion nichts mehr so wie früher, das Menetekel galt in der Tat (auch) ihnen.
Kapitel III blendet ebenfalls zurück in die Zeit des Krieges, die Michael T. (und der Au-tor Dieter Schlesak) als Junge in Schäßburg erlebte. Im Zentrum stehen nun die letzten Monate des 2. Weltkriegs und das Kriegsende Anfang Mai 1945. Das Kapitelende fällt zusammen mit der Nachricht von der deutschen Kapitulation: „Dann. End gültig Aus.“ (124)
Über die Kapitelgrenze hinweg schließt das IV. Kapitel bruchlos an das vorausgegange-ne an: „Hermann geriet damals im Mai [...] in russische Kriegsgefangenschaft.“ (127) Dann jedoch erfolgt ein abrupter Wechsel des Handlungsortes und der Zeitebene: „Bin ich schon in C. angekommen? Längst ist die Reise vorbei [...].“ (134) Gemeint sein kann nur die Reise Michael T.s nach Rumänien. Insofern entspricht diese Rückkehr nach C. einer Rückkehr auch zur Schreibgegenwart des Jahres 1985. Doch erfolgt bald darauf eine erneute Rückblende, nun in eine unbestimmt bleibende Zeit der jüngeren Vergangenheit: Aus Anlass des Todes seines Vaters fuhr das Ich „von Italien zu seinem Begräbnis“ (143).
Bleibt man auf der Ebene des Textes, so lässt nichts auf das Jahr 1979 schließen. Wie ein allerdings sehr viel später erfolgender Hinweis vermuten lässt (vgl. 194), könnte es sich eher um das Jahr 1982 gehandelt haben. Wie dem auch sei, gewiss ist jedenfalls, dass Kapitel V den zuletzt entrollten Handlungsfaden des vorhergehenden Kapitels auf-greift: Das Ich besucht, von C. kommend, seine Mutter in der „großen Kreisstadt A. auf der Alb“ (149), die später dann als „Aalen“ (164) identifiziert wird. Der Besuch, viel-leicht aus Anlass der Beerdigung, vielleicht auch ein späterer Besuch, bietet wiederum genügend Gelegenheit für kurze erinnerungsgeleitete Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten, ausgelöst durch Gespräche mit der Mutter, durch „alte Fotoalben“ (159), aber auch durch Erzählungen Janns über die letzten Kriegstage in ihrem Heimat-dorf Brettheim (vgl. 166 ff.).
Kapitel VI weitet sich zur breit angelegten Auseinandersetzung des Erzählers mit der Frage, inwieweit die Siebenbürger Sachsen, speziell die Deutschen in Schäßburg – und vor allem: eigene Familienmitglieder in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt gewesen sind. Die Darstellung pendelt zwischen Traum, Erinnerung und Reflexion, ohne dass die raum-zeitlichen Koordinaten dieses ‚Verhörs und Selbstverhörs‘ noch ausgemacht werden könnten. Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielt jedoch Dr. Capesius, ein aus Schäßburg stammender Apotheker, den Michael T. schon als Kind kannte und der als SS-Mitglied unter anderem in Auschwitz seinen mör-derischen Dienst versah. Ihn besuchte das Ich „Anno 1982“ in Göppingen, „von seiner Mutter aus A.“ (194) kommend. Festhalten lässt sich daher immerhin: Das Geschehen, wenn auch ins Grundsätzliche geweitet, könnte doch als Anknüpfung an den im voraus-gegangenen Kapitel dargestellten Besuch bei der Mutter verstanden werden. Allerdings mit Gewissheit lässt sich auch dies nicht sagen. Abschließend geschildert werden in die-sem Kapitel Besuche bei Verwandten Janns, die die Sehnsucht nach C. nur noch stei-gern: „[...] morgen die Abfahrt nach C. Gefühl der Befreiung. Ab.“ (209)
Vermutlich auf dieser Rückfahrt, zu Beginn von Kapitel VII geschildert, machen das Ich und Jann Zwischenstation in Locarno. Kleists Geschichte „Das Bettelweib von Locar-no“ leitet über zu Kindheitserinnerungen (vgl. 221ff.), bevor die Rückreise nach C. er-neut aufgegriffen wird. Doch handelt es sich dann nicht mehr um das Jahr 1982, son-dern um das Jahr 1985, eine Rückkehr gleichsam in die Zeit der Rahmenhandlung nach der von Michael T. unternommenen Reise nach Rumänien: „Als ich dann zufällig auf den Abreißkalender sah, wurde es mir komisch zumute. 27. Mai 1985. Pfingstsonntag.“ (237)
Im VIII. Kapitel überlagern sich erneut zahlreiche Zeitebenen und Schauplätze. Begin-nend mit Rückblenden in die erste Zeit im Westen 1968–70, in deren Mittelpunkt Rei-sen mit Jann durch die DDR stehen, folgen Ausführungen über „unsere Amerika-Reise“ vor „ein paar Jahren“ (262) und über die erste, bereits in „Visa. Ost-West-Lektionen“ ausführlicher geschilderte Ankunft im Westen: Brüssel 1968 (vgl. 278 ff.). Stets von neuem kehrt die Darstellung auch zurück zum Ursprungsort des langen Selbstgesprächs, nach C., wobei das jeweilige „Heute“ der Schreibgegenwart differiert: „Heute 1984“, heißt es auf Seite 277, während sich wenige Seiten später Zitate aus dem eigenen Tage-buch finden, datiert auf „Pfingsten 1985“ (290).
In Kapitel IX dominiert C. als Haupthandlungsort, geht es doch wesentlich um den Be-such von „Adam und Christian“ (297) in der Toskana. Doch auch dies ist beständig An-lass für Rückblenden, unter anderem in die Zeit des „Militärdienstes in der Walachei“ (338) in den fünfziger Jahren.
Die wiederum achronisch vorgenommenen Retrospektiven im X. Kapitel betreffen vor allem die sechziger Jahre, insbesondere die Zeit mit Maria, der ersten Frau des Ichs, in Bukarest. Es sind auch die Jahre, in denen Michael T. für sich den Marxismus entdeckte und den Bruch mit der eigenen Herkunft betrieb: „Aber auch mit Vater gabs diese schreienden Streitgespräche [...].“ (387) Abrupt wechselt die erzählte Zeit dann wieder hinüber zu jener Reise, die Michael T. im „Dezember: – vergangenen Jahres“ (34) un-ternahm und die mit seiner Verhaftung ein vorläufiges Ende fand. Anders gewendet: Der Bogen wird zurückgespannt zum Ende des I. Kapitels, das mit dem Traum von der eigenen Erschießung beschlossen wurde. Im permanenten Wechsel zwischen der Schreibgegenwart in C., weiteren Rückblenden nun vor allem in die Jahre 1953/54, in denen das Ich „Schulmeister“ in „Denn-dorf“ (402) gewesen ist, und wieder zurück zum verhafteten Michael T. in Bukarest, dominiert zuletzt diese Handlungsebene. Michael T. wird von der Securitate verhört, dazu gezwungen, seinen Lebenslauf zu schreiben, träumt seine eigene Erschießung (vgl. 446 f.), um abschließend des Landes verwiesen zu werden.
Wie dieser Überblick gezeigt haben dürfte, wird in Dieter Schlesaks „Vaterlandstagen“ bewusst darauf verzichtet, die kaum überschaubare Anzahl einzelner Handlungsseg-mente in einem logischen zeitlichen Nacheinander anzuordnen. Nicht Umstellungen in der Chronologie, also ein anachronisches Erzählen dominiert, sondern die gezielte und nahezu vollständige Auflösung des Handlungszusammenhangs; es herrscht, mit einem Wort: die Achronie. Eingestreute Zeitangaben, wo sie sich denn finden, erleichtern dem Leser die Orientierung keineswegs, eher ist das Gegenteil der Fall: Wo scheinbar konti-nuierliche Handlungsverläufe, etwa die Rückreise von Aalen über Locarno nach C., ge-schildert werden, da signalisieren Zeitangaben große Zeitsprünge, ohne dass diese im Sinne eines deutlichen Einschnitts kenntlich gemacht würden.
Berücksichtigt man all dies, so erscheint es nicht sonderlich sinnvoll, das erzählte Ge-schehen rekonstruieren und ordnen zu wollen. Plausibler und dem Werk angemessener dürfte es demgegenüber sein, das Erzählte lediglich nach verschiedenen Zeitebenen zu gruppieren, die wiederum an bestimmte Handlungsorte bzw. Handlungszusammenhänge gekoppelt sind. Denn solche Zeitebenen lassen sich, bei aller Verflochtenheit der Handlungssegmente, sehr wohl ausmachen. Da wäre zunächst die Ebene der Schreibge-genwart, eine andauernde, sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Phase der in C. geleisteten, durch Erinnerung und Reflexion konstituierten Vergegenständlichung und Selbstvergegenständlichung. Im beständigen Wechsel thematisiert der Erzähler hier einerseits die Mühen der Erinnerung und den Schreibprozess, andererseits berichtet er von parallel verlaufenden Ereigniszusammenhängen, beispielsweise vom Besuch Adams und Christians in der Toskana. Als zweite Ebene wäre die Reise Michael T.s mit den Stationen Stuttgart – Bukarest – Schäßburg – Bukarest – C. zu erwähnen. Deren zeitliche Erstreckung wird letztlich nicht deutlich. Doch geht diese Reise zumindest we-sentlichen Phasen des Schreibprozesses in C. voraus, wurde im „vergangenen Jahr“ (34) unternommen; eine Reise, auf der Michael T. zahlreiche Notizen angefertigt hat; Auf-zeichnungen allerdings, die Michael T. vor seiner Rückfahrt nach Bukarest dem Freund Dima in die Hände drückt: „Hier, sagte ich, ich darf sie ja doch nicht mit mir über die Grenze nehmen.“ (70) Die dritte Ebene ist die der Rückblenden in unterschiedliche Phasen des eigenen vergangenen Lebens. Obgleich sich diese Rückblenden keiner zeit-lichen Ordnung fügen und stets ausgelöst werden durch aktuelle Eindrücke insbesonde-re des reisenden Michael T., wird doch deutlich, dass das vergangene Leben in seiner gesamten zeitlichen Erstreckung zur Sprache kommt: die Kindheit und Jugend in Schäßburg, die jungen Erwachsenenjahre in Denndorf, die Jahre in Bukarest, die Zeit der vorläufigen (erste West-Reise), dann endgültigen Ausreise und schließlich die Zeit der von C. aus öfter unternommenen Besuche in Süddeutschland, wo die eigene Mutter nach ihrer Übersiedlung in den Westen zunächst noch mit ihrem Mann, dann allein lebt. Dabei kristallisieren sich drei Schwerpunkte heraus: 1. die Kindheit in Schäßburg bis zum Ende des 2. Weltkriegs, 2. die sechziger Jahre in Bukarest und 3. die Aufenthalte in Süddeutschland in der jüngeren Vergangenheit.
Ein Letztes will in diesem Zusammenhang noch erwähnt sein: Berücksichtigt man die Tatsache, dass Michael T. im zweiten Teil des Prologs seine Reise nach Rumänien antritt und erst gegen Ende des Romans die Umstände seiner Ausweisung geschildert werden, dann erscheint diese Reise, bei aller Auffächerung und Zersplitterung, doch als die rahmensetzende Handlungsebene des Romans. Und diese Rahmenhandlung, Heimkehr nach Rumänien und Rückkehr nach C., bedarf der genauen Betrachtung, wenn es nun darum geht, die Erzählsituation des Werkes zu analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass manches von dem, was bislang mit guten Argumenten festgehalten worden ist, wieder ins Zwielicht gerät. Doch gehört die permanente Verunsicherung des um Orientierung bemühten Lesers ganz offenbar zu jenen Strategien, die der Struktur des Textes als Teilmoment seiner Intentionalität eingeschrieben sind.
Ich – Du – Er: Wer spricht? Zur Erzählsituation
So sehr sich der Text auch gegen ein schnelles Erfassen und Begreifen sperrt, in einem Punkt erscheint er unproblematisch: Obgleich mit der Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ versehen, handelt es sich doch um eine moderne Form autobiografischen Schreibens, um eine „Selbstbiografie“ (Schlesak 1990: 160), wie ja der Autor selbst einräumt. Daran ändert auch der Sachverhalt nichts, dass der Protagonist den Namen Michael T. erhält. „Michael T. ist mein Alter Ego“, verrät uns Schlesak (ebd.). Auch Edith Konradt schließt sich dem an (1997: 15), und Werner Söllner bestimmt definitiv, Michael T. sei die „Hauptgestalt des in der Ich-Form geschriebenen Romans“ (1989: 5).
Vor diesem Hintergrund erläutert Söllner die Rahmenhandlung folgendermaßen: Mi-chael T. „kehrt nach sechzehnjährigem Aufenthalt im Westen in die rumänische Heimat zurück, wird in Bukarest verhaftet und träumt während der Haft die eigene Hinrichtung. Im Augenblick zwischen Leben und Tod setzt die eigentliche Romanhandlung ein. In Traum-‚Stücken‘, mit vielfachen Rückblenden sowie Passagen aus der Zeitebene der Niederschrift des Buches, wird T.s Biographie erzählt, die identisch ist mit der Biographie des Autors [...].“ (Söllner 1989: 5)
Der Text als literarische Realisierung vor allem jener ‚Traum-Stücke‘ des in Bukarester Haft einsitzenden Michael T.? Mit dieser Bestimmung der textimmanenten Erzählsitua-tion kann sich Söllner auf Schlesak selbst berufen, der in der „Analyse meiner Selbst-biographie“ dazu Folgendes ausführt:
„Und in der Zelle träumt er [Michael T.] seine eigene Hinrichtung. Zwischen Leben und Tod bleibt die Zeit stehen: es ist wie ein Gericht. T. träumt in der Todessekunde sein ei-genes Leben und überschreitet eine andere Grenze, spricht mit den vielen Toten, den Opfern. Er träumt dieses Buch, aus dem ich zitiere.“ (Schlesak 1990: 163 f.)
Wie kommen Schlesak und Söllner zu diesen Einschätzungen? Wie oben bereits erläu-tert, ist dem ersten Kapitel ein Prolog mit dem Titel „Prolog nach dem Ende“ (11) vor-angestellt. In geradezu programmatischer Weise annonciert dieser Titel nicht nur den Verzicht auf eine chronologische Darbietung des Erzählten, er verweist auch auf die Notwendigkeit, diesen Prolog als Folge jener Ereignisse zu begreifen, die zwischenzeit-lich, vor allem aber gegen Ende des Werkes geschildert werden: T.s Verhaftung, sein Albtraum von der eigenen Erschießung und die letztendliche Ausweisung:
„Dem Vorgeführten [Michael T.] im Amtszimmer wurde dann in dürren Worten mitge-teilt, dass er des Landes verwiesen sei für immer, fügte der Oberst hinzu. [...] Er wurde unauffällig zum Flughafen abgeführt, in einem Geheimdienstauto mit verhängten Fens-tern, durfte die Stadt nicht mehr sehen – kein Letztesmal. / Und sollte nun verfrachtet werden auf Staatskosten ins Aus-Land, woher er gekommen war.“ (449f.)
Mit diesen Sätzen endet der Roman. Folgerichtig schließt gleich der erste Abschnitt des ‚Prologs nach dem Ende‘ an das zuletzt Geschilderte an: „SIE haben mich hinausgejagt, hinaus, aus dem Lande gejagt [...]. Rückkehr lebenslang verboten.“ (13) Und wenige Seiten später heißt es: „Eigentlich müsste ich froh sein, dass SIE mich ausgewiesen ha-ben. Flug am Ende. Ha, ja, bist also geflogen, T.“ (22) Das Ich, offenbar Michael T., be-findet sich nun in der Toskana, erinnert sich an seine Ausweisung, rekonstruiert die Be-gleitumstände und deren Vorgeschichte und literarisiert das Erlebte einschließlich des in der Haft Geträumten, kurz: das eigene Leben in Gestalt des vorliegenden Textes:
„Ich wohne in einer schönen Gegend, ich wohne auf einem toskanischen Berg, Medien und Auto ermöglichen es mir nun, die Ausweisung gut auszubauen, beziehungslos und frei meinem Handwerk nachzugehen, das weder einen goldnen, noch überhaupt einen Boden hat.“ (17)
Auf den ersten Blick scheint damit die Erzählsituation hinreichend beschrieben zu sein. Das stimmt jedoch nicht. Denn in welchem Maße der geschaffene fiktionale Raum des Romans in der Tat bodenlos ist, zeigt sich erst, wenn man den weiteren Ablauf der Ereignisse bedenkt: Die schriftstellerische Arbeit Michael T.s führt zur „Erfindung“ (22) des eigenen Lebens, zur Schilderung der eigenen Reise nach Bukarest und Schäßburg, an deren Ende erneut das Trauma der endgültigen Ausweisung steht. Ihr schließt sich wiederum der Versuch einer schriftstellerischen Bewältigung des Heimatverlustes, die Erfindung des eigenen Lebens, an... – mit anderen Worten: Leben und Schreiben bilden einen zirkulären Prozess, sind – streng genommen – ohne Anfang und Ende. Im Hinblick auf Schlesaks jahrelange Arbeit an diesem Roman und den ‚Berg‘ von 6000 gefüllten Seiten sprach Jürgen Serke von einem „Schreiben ohne Ende“ (1985: 366). Mit der kreisschlüssig angelegten Erzählsituation, die auf einen unendlichen Regress verweist, hat Dieter Schlesak offenbar einen Weg gefunden, die abverlangte Beschrän-kung auf wenige hundert Seiten im fiktionalen Raum zu überwinden, um auf diesem Wege die Grenzen- und Bodenlosigkeit eines Schreibprozesses zu veranschaulichen, der einer unentwegten Erinnerungs- und Trauerarbeit entspricht. Und wie die ersten Sätze des Romans sogleich verdeutlichen, gelangt diese Form der Trauerarbeit des heimatlos Gewordenen in der Tat niemals an ein Ende:
„SIEBENBÜRGEN ... das sag ich so vor mich hin und hör die Stimmen und bin mitten drin in diesem Riss, Heimweh, Fernweh teilt uns diese Zeit aus. Und ein Echo: Aus. Von wem ist die Rede? Oder anstatt Selbstmord beging er die Fremde, sprachauf, spra-chab, und fand keinen Ausgang?“ (13)
So weit, so gut. In der skizzierten Lesart, die weitgehend auch diejenige Schlesaks und Söllners ist, handelt es sich bei dem Ich-Erzähler um Michael T. In dieser Sicht schreibt er „dieses Buch, das die AUSWEISUNG [...] wieder gut machen soll“ (22). Doch führt die aufgezeigte Komplementarität von Leben und Schreiben in den unendlichen Reg-ress; ein Sachverhalt, der die Frage aufwirft, ob es nicht doch einen „Ausgang“ (13) gibt. Er findet sich – und zwar in Gestalt eines logischen Bruchs, der die oben zitierten Aussagen Schlesaks und Söllners bestenfalls noch als halbe Wahrheit erscheinen lässt. Denn der Ich-Erzähler ist eben nicht Michael T., auch wenn es über weite Strecken Mi-chael T. ist, der von sich in der ersten Person Singular spricht. Und dies klipp und klar festzuhalten, ist keine Interpretationsfrage, sondern ein Sachverhalt, der dem Text ein-deutig zu entnehmen ist, also allenfalls ignoriert werden kann. Der Name T. fällt ers-tmalig auf Seite 19. Das erzählende Ich befindet sich in seinem Arbeitszimmer in C., schaut aus dem Fenster: „Und ich denke jetzt: T., du beschwörst ihn ja, und er muß plötzlich auftauchen mitten unter den Olivenbäumen [...].“ (19) Was sich hier bereits andeutet, bedarf angesichts der folgenden Passage kaum mehr der Erläuterung: „So ha-be ich mir diesen T. erfunden, anstatt meiner hier nun zurückgeschickt. Seite um Seite.“ (31) T. ist demnach eine imaginierte Figur, andernorts wird er als geträumte Figur des Ichs bezeichnet (vgl. 235): Alter Ego des Autors vielleicht auch, vor allem aber Wider-part eines textimmanenten Ich-Erzählers, der der eigenen Erfindung, Michael T., aussa-genlogisch übergeordnet ist. Dieses Ich, obgleich namenlos, ließe sich vielleicht als D.S. bezeichnen; ganz gewiss aber handelt es sich nicht um den realen Autor Dieter Schlesak, sondern um eine textimmanente Erzählinstanz, die ihre eigene Erfindung, Michael T., nach Rumänien zurückschickt, um sie – stellvertretend – die Verhaftung und anschließende Ausweisung erleben zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist es schlicht falsch zu sagen, Michael T. sei der Ich-Erzähler des Romans (Söllner) bzw. Michael T. träume dieses Buch (Schlesak). Was diese Figur träumt, etwa die eigene Hinrichtung, ist allenfalls ein Traum im Traum, Fiktion in der Fiktion, eingeschlossen in den unendlichen Regress von Leben, Erleiden und Schreiben, der für Michael T. gilt, nicht aber für den Schöpfer dieser Figur, das erzählende Ich.
Der Satz „So habe ich mir diesen T. erfunden“ (31) bildet den Auftakt für die Dar-stellung der am „22. Dezember: – vergangenen Jahres“ (34) begonnenen Reise Michael T.s über Stuttgart nach Rumänien, Auftakt zugleich für einen Dialog zwischen dem er-zählenden Ich und dem stellvertretend erlebenden Er:
„Warst doch schon vor ungefähr sechzehn Jahren mal im gleichen Hotel, oder? T. knurrt nur mürrisch: Ja. Warst doch damals zum erstenmal in dieser Stadt und in Deutschland ... überhaupt?! Deutschland überhaupt, du bist gut. Hast im Ernst geglaubt, als du hier warst damals: du wärst vielleicht gerettet? Hab ich. Und das war im Jahr 68, schöne Zeit?! Was soll die Fragerei. Na, nur so, ich meine halt, du setzt die Füß kaum auf den Boden! Leben ist Unruh, brummt T., und meines ist ein ewiges Reisefieber. Hälts nicht jung?“ (36)
Allerdings bleibt es im weiteren Verlauf des Romans nicht bei dieser klaren und über-sichtlichen Rollenverteilung zwischen erzählendem Ich und erzähltem Er. Denn es fin-den sich zahllose Passagen, in denen Michael T. auf seiner Reise in Form innerer Mo-nologe von sich selbst in der ersten Person Singular spricht: „Ich geh jetzt ins MÖ-VENPICK, da ists schön ruhig.“ (36) Hinzu kommen Selbstgespräche Michael T.s, in denen er sich mit der zweiten Person anredet: „Unwillkürlich sah er auf seine Seiko-Taucheruhr; auch unter Wasser ist sie das gutgehende Herz, als wollte es dich wecken. Ob die Welt überhaupt existiert; wenn du kopfstehst [...].“ (36) Andernorts ist es das er-zählende Ich, das im Gespräch mit sich selbst, nicht anders als Michael T., das Du ver-wendet: „Unten also auf den Wegen das Ave Maria. Ists ein Murmeln ins Experimentum Mundi? Das hast du irgendwo gelesen!“ (31) Der Verwirrung damit noch nicht genug: Auch jenes Ich, das in C. an seiner Lebensgeschichte schreibt (und zu Beginn die Figur Michael T. erfindet), erscheint nun als T.: „Nach dem Frühstück fährt Jann die Freunde zum Bahnhof. T. sitzt und wartet. Starrt hinaus, Hinein. Halluziniert.“ (319) Ist es hier nun T., der im Rahmen eben ablaufenden Geschehens im Arbeitszimmer in C. sitzt, um seine Geschichte schreibend zu erfinden, so werden an anderer Stelle das Ich und Mi-chael T., beide schreibend im Arbeitszimmer, unmittelbar miteinander konfrontiert:
„Ich muß unterbrochen haben, denn es vergeht nun spürbar der Augenblick; Jann ist ins Zimmer getreten, diskret, sieht, dass ich den Kopf hier in der Zeile habe, macht kehrt und geht wieder, wortlos. Erschrocken drehte sich T. um und ihr zu, doch sie war schon zur Tür hinaus, schon draußen im Treppenhaus; wie lange war er wohl abwesend gewe-sen?“ (382)
Dieselbe Situation, doch zeitversetzt: Das Ich erlebt (Präsens, Perfekt), was Michael T. erlebt hat (Präteritum, Plusquamperfekt): die Störung durch Jann. Nachvollziehbar wird dieses Verwirrspiel zwischen dem Ich und Michael T., zwischen Ich, Er und Du nur dann, wenn man sich den Spiegelungseffekt, die gleichsam gedoppelte Erzählsituation der Fiktion in der Fiktion vergegenwärtigt: Während Michael T. im unendlichen Regress von Leben und Schreiben befangen ist, erfindet sich das erzählende Ich eine Figur, die stellvertretend für das Ich nach Rumänien reist, um nach der Ausweisung darüber zu schreiben. In welchem Maße die Erzählperspektive oszilliert zwischen dem erzählenden Ich und Michael T., der von sich selbst in der ersten Person spricht, zeigt die folgende Passage. An Jann denkend, notiert das Ich: „Als hätte sie etwas geahnt, dass ich fort war, und ich werds ihr auch sagen. Ausgewiesen? Ja, endlich, gottseidank; – wird sies begrüßen. Dass du nun hier ankommst ... ist höchste Zeit!“ (140) Da Michael T. – im Gegensatz zu seinem Erfinder – die Reise unternahm und ausgewiesen wurde, sollte doch er es sein, der hier spricht. Doch ist dies zugleich bar jeder Logik. Denn die Jann Michael T.s braucht dessen Reise nicht zu ahnen, sie hat seine Reisevorbereitungen, seine Abwesenheit und Rückkehr erlebt. Die Reise erahnen kann dagegen nur die Jann des Ich-Erzählers, der sich am Schreibtisch vergraben hat, den sie kaum zu stören wagt und von dessen Erfindungen sie allenfalls eine vage Vorstellung besitzen dürfte.
Es wäre falsch, das Ganze als bloße Artistik, als – für den Leser ermüdendes – Katz-und-Maus-Spiel abzutun. Denn das Ich und das Er, der Ich-Erzähler und seine Erfin-dung, Michael T., sind nicht identisch, obgleich beide in C. an einer Lebensgeschichte schreiben, deren frühere Phasen durchaus übereinstimmen. Michael T. hält sich an das, was er – zumal auf der Reise nach Rumänien im Dezember letzten Jahres – erlebte. Das Ich erfindet dagegen diesen Reisenden, wohl wissend, dass eine Heimkehr auf diesem Wege illusorisch bleiben muss, die Reise das „Heimweh“ und den durch die Emigration entstandenen „Riss“ (13) nicht zu heilen vermag. Hier liegt die entscheidende Differenz zwischen dem Ich und seiner Schöpfung Michael T. Dieser baut auf eine Reise, die im Desaster endet; das Ich dagegen weiß, dass Heimkehr nur in der Erinnerung möglich ist, gespeist aus „Gedächtnisparadiesen“ (34), die keine reale Entsprechung (mehr) besitzen. Mit diesem Wissen ausgestattet, kann das Ich Michael T. zurufen, was dieser erst noch leidvoll erfahren wird: „Kein Platz für dich, Zwischenschaftler, T., mit deinen Heimfahrten.“ (35)
Für das Ich ist die Heimkehr keine Flug- oder Bahnreise, sondern literarische Erinne-rungsarbeit, die vor dem weißen Blatt Papier beginnt. Dreimal wird dieses Leitmotiv des Werkes – auch grafisch – hervorgehoben. „Denn: – DIE“, beginnt auf Seite 32 jener Satz, der auf der nächsten Seite – und zwar auf weißem, nicht weiter bedrucktem Papier – fortgesetzt wird: „HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT ...“ (33, vgl. auch 136, 423). Vorbereitet wird dieses Leitmotiv durch eine Aussage, die eindeutig dem erzäh-lenden Ich zugeschrieben werden kann:
„Ein Fenster ist vor mir, ein Glas, das ich durchdringen muß. Die Hände aber bewegen sich auf einer Klaviatur mit Buchstaben, ein weißes, unbeschriebenes Blatt vor mir. Alles noch offen. Wege erfinden sich selbst, ich muß sie gewähren lassen, jetzt.“ (29)
Nur zwei Seiten später wird Michael T. als Erfindung des Ichs ausgewiesen (vgl. 31). Dieser Kunstgriff bezeichnet mithin einen jener möglichen ‚Wege, die sich selbst erfin-den‘. Michael T. dagegen ist es, der im „Prolog nach dem Ende“ seinen Irrtum eingese-hen hat, auf leidvolle Weise einsehen musste, dass die Reise nach Rumänien keinen Weg darstellt, das Heimweh zu überwinden. Hier ist es Michael T., der nun notiert:
„Und hatte ich es im Dezember nicht wirklich versucht, glaubte daran, meinte mit Haut und Haaren heimkehren zu können, und war nach Hause gefahren. Und SIE, die überall die Heimaten einstreichen, auch Jann sagt da mit Recht, sie habe längst keine mehr, obwohl Stuttgart noch bewohnbar ist, SIE also haben es mir gezeigt.“ (32)
Michael T., am Ende des Romans ins Ausland abgeschoben, „woher er gekommen war“ (450), taucht als Erfindung des Ichs „unter den Olivenbäumen“ (19) im „Prolog nach dem Ende“ erneut auf, um als Widerpart des Erzählers schreibend jene Reise erneut an-zutreten, an deren Ende wiederum die Ausweisung steht ... und so fort. T. ist gefangen in einem fiktionalen Raum ohne „Ausgang“ (13), vorangetrieben durch „ein ewiges Reisefieber“ (36), dessen Quelle wiederum „Heimweh“ (13) ist. Die Geschlossenheit des fiktionalen Raumes, durch den sich T. ruhelos bewegt, ist literarische Metapher des im Nirgendwo sich befindenden, nirgends beheimateten Emigranten: ein „Zwischen-schaftler“ (35), wie das erzählende Ich Michael T., den Stellvertreter all jener, die emig-rieren mussten, nennt.
Vor diesem Hintergrund werden die zahlreichen Anspielungen verständlich, mit denen in immer neuen Variationen auf den Sachverhalt verwiesen wird, dass T. seine Existenz allein der Erfindung verdankt, ‚real‘ allein ist in der Irrealität des Textes:
„Und zu Jann hatte T. gesagt: „Ist es nicht alles wie ein böser Traum, den ich mit euch getrieben und geschrieben habe: Ihr seid im Satz gefangen, zusammen mit mir, während der Tod unterwegs ist. [...] / Aber nein, ich sehe es doch, dass ich wirklich da bin, hatte Jann gesagt. / So hatte sie gesagt, jetzt aber stimmt es schon nicht mehr, nur noch hier auf der Zeile ist sie da [...].“ (283)
Doch nicht nur T. und die erzählte Reise existiert allein in Form sprachlicher Zeichen; die Reise selbst besitzt keine reale Entsprechung, ist nichts anderes als Text: Michael T., vom Ich erfunden und „zurückgeschickt. Seite um Seite.“ (31) So sind auch die zuletzt geschilderten Ereignisse in Bukarest nichts anderes als „diese story, die sich hier auf der Zeile voranbewegt“ (449). Und der erzwungene Abschied von Bukarest ist ein Abschied „im Satz“ (449).
Dass Michael T. fiktives Alter Ego des Autors Dieter Schlesak ist, verdeutlicht eine weitere Anspielung gegen Ende des Romans. T. steht die Ausweisung unmittelbar be-vor. Nun heißt es: „Als wäre T. nun endgültig geheilt und tot am Leben. Hatte sich ja lange genug gereinigt, sechstausendmal zusammen- und auf die andere Seite gelegt.“ (449 f.) Wie der Autor, so die Erfindung seines textimmanenten Ich-Erzählers: 6000 Seiten Vorarbeiten – im Versuch, das Heimweh zu besiegen. Die Passage hält mit dem verwendeten Konjunktiv unmissverständlich fest, dass diese Hoffnung trügerisch war: als ob er nun geheilt wäre. Er ist es nicht, so wenig wie der Autor. Michael T. kehrt an den Ausgangspunkt seiner Reise zurück, um (erneut) zu schreiben; nicht anders Dieter Schlesak – nach der Veröffentlichung seiner „Vaterlandstage“.
All dies legt die Vermutung nahe, im erzählenden Ich den Autor Schlesak zu sehen. Das wäre jedoch, wie bereits erwähnt, falsch. Denn das Ich dieses Textes ist eine textimma-nente Erzählinstanz, die man vielleicht D. S. nennen könnte, nicht aber Dieter Schlesak. Als text- bzw. kommunikationsinterne Sprecherinstanz ist das erzählende Ich Resultat literarischer Produktion, nicht ihr Subjekt, nicht Individualität, sondern Person mit text-interner Funktion im Rahmen der entworfenen Textwelt. Dies ist dem Autor der „Vater-landstage“ sehr wohl bewusst. Auf der im Prolog geschilderten Hochzeitsfeier von Chiara und Fabrizio, die beide in „einer Frazione von C. geboren [sind]“ (13), unterhält sich das Ich mit dem ebenfalls geladenen Nachbarn William, einem Londoner Friseur:
„Sieh, dies junge Paar, das jetzt heiratet, hat es doch viel besser als wir, auch die Bauern alle, die leben und zweifeln nicht: Alles ist noch festgefügt und fraglos da, als gäbe es gar nichts anderes – und ist schön eingefahren seit langem. [...] Das kostet nicht diese Anstrengung wie bei Leuten, die sich das alles selbst machen müssen, wie wir – dauernd im Gegentakt, daher immer in Zeitnot und mit aufreibenden Schuldgefühlen. Und dies sei überhaupt das Thema meines Buches, in dem wir uns jetzt gerade befinden – bemerkte ich [...].“ (24 f.)
Der Hiatus zwischen einer entworfenen, Sprache gewordenen Textwelt und der empiri-schen, dem Text voraus liegenden Wirklichkeit bleibt unaufhebbar. Zur Textwelt gehört das vergegenständlichte Ich des Autors, ist in sie eingeschlossen wie Michael T. Darin gleichen sich das erzählende Ich der Fiktion und Michael T. als Gegenspieler des Ichs im Rahmen einer Fiktion in der Fiktion. Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden, was beide Instanzen unterscheidet: Während das erzählende Ich seine Funktion gewinnt innerhalb eines Textes, der auf Seite 450 beendet ist, bleibt Michael T. gefangen im unendlichen Regress von Schreiben und Leben, gefangen im nicht endenden Versuch, den durch den Heimatverlust entstandenen Riss schreibend zu überwinden, sich schreibend ‚zu heilen‘ (vgl. 449). Und in diesem Punkt steht Michael T. dem Autor Dieter Schlesak sehr viel näher als das Ich eines Textes, der notwendig an ein Ende ge-langen muss.
Das gespaltene Gegenwarts-Ich. Zur autobiografischen Dimension des Textes
Das verwirrende Spiel zwischen dem Ich, dem Du und dem Er im Rahmen einer gleich-sam gedoppelten Erzählsituation dürfte einigermaßen entwirrt worden sein. Es geht, wie eingangs bereits gesagt, darum, Zugänge zu einem Werk zu finden, das es dem Leser gewiss nicht leicht macht. Ein weiterer Weg der Annäherung an den Text besteht nun darin, ihn in seiner autobiografischen Dimension näher zu beleuchten – und das heißt: die Erinnerung als zentrales formkonstituierendes Element auszuweisen. Wie sich zeigen wird, ist es auch unter diesem Blickwinkel notwendig, das beständige Oszillieren zwischen Ich und Er, Ich-Erzähler und Protagonist Michael T., der selbst zum Erzähler wird, zu bedenken. Dazu vorab schon einige Hinweise.
In jenem Moment, da die Wege beider sich trennen: Michael T. auf seine Reise nach Rumänien geschickt wird und das Ich ein „NEUES BLATT“ (32) einspannt – im Wis-sen darum, dass die wirkliche „HEIMKEHR“ nichts anders ist als „EIN WEISSES BLATT“ (33), findet sich die folgende Passage: „Und wer das Leben verloren hat, der schreibt [...], und so verjüngst du dich, wirst zu T., der noch alles vor sich hat, obwohl gleichaltrig. Guter Trick, nicht?! Nach vorn also, da ist noch alles offen [...].“ (32) So weit das Spektrum unterschiedlicher Formen autobiografischen Erzählens in der Mo-derne auch ist (vgl. dazu Sill 1991a, 1995 und 1997a), Dieter Schlesak bereichert dieses Spektrum durch eine – unseres Wissens nach – neue Variante. Konstitutiv für jede lite-rarische Selbstdarstellung ist die kategoriale Differenz zwischen dem Erinnerungshori-zont eines gegenwärtigen Ichs, das um den Verlauf seines Lebens bis zum Jetzt-Punkt weiß, und dem nach vorne hin noch offenen Erlebnishorizont des vergangenen, des erinnerten Ichs. Seinen strukturellen Niederschlag im Text findet die Differenz von Erinnerungs- und Erlebnishorizont in der Ich-Ich-Doppelung: im Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Die „Vaterlandstage“ bieten nun eine zusätz-liche, ganz andere Variante der Ich-Ich-Doppelung. Zu beobachten ist nicht nur die Re-lation von erzählendem und erzähltem Ich; auch das Gegenwarts-Ich spaltet sich und stattet auf diesem Wege das abgespaltene Alter Ego Michael T. mit einem offenen Zu-kunftshorizont aus, den das in C. zurückbleibende Ich für sich „verloren“ glaubt: „Und wer das Leben verloren hat, der schreibt [...].“ (32) Beide Ichs, das erzählende und Mi-chael T., besitzen, bis zu diesem Zeitpunkt, logischerweise eine Vergangenheit: lebens-geschichtlicher Hintergrund nicht nur des Ichs und Michael T.s, sondern auch des Au-tors Dieter Schlesak. Und so fragt sich unter anderem auch, welche Funktion diese Va-riante der Ich-Ich-Doppelung für ein Werk besitzt, bei dem es sich auch in der Sicht des Autors um eine „Selbstbiographie“ (Schlesak 1990: 160) handelt. Um diese Frage gegen Ende des Abschnitts beantworten zu können, ist es allerdings zunächst vonnöten, die „Vaterlandstage“ als spezifisch moderne Form autobiografischen Erzählens auszuweisen und zu erläutern.
Der Erzähler der „Vaterlandstage“ beschränkt sich nicht darauf zu erzählen. Vielmehr wird das Erzählte, aber auch der Vorgang des Erzählens selbst vielfach reflektiert, kommentiert und mit Anspielungen bereichert, die nicht nur die Belesenheit des Autors dokumentieren, sondern unverkennbar auch den Anspruch implizieren, die ‚Selbstbiog-raphie‘ in den Horizont modernen autobiografischen Erzählens einzurücken. Zwei Bei-spiele mögen dies illustrieren:
T. geht durch die Königstraße, die Fußgängerzone Stuttgarts, und beobachtet die zahllo-sen Passanten mit ihren Einkaufstaschen und Plastiktüten. Nun heißt es: „Ein kleines graues Männlein, bucklicht? Oder nicht? Sagt: 45, da gabs Stuggart nicht mehr. Fuhr aufs Land, Hamsterdam. Ein paar Kartoffeln.“ (39) Das ‚bucklichte Männlein‘ ist kein bedauernswerter Passant in der Fußgängerzone, sondern eine Figur aus Georg Scherers ‚Deutschem Kinderbuch‘, die Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um Neun-zehnhundert“ (1950) aufgegriffen und zur allegorischen Figur des Vergessens stilisiert hat. Das Männlein ist der unauffällig anwesende „graue Vogt“, der nichts macht, „als von jedwedem Ding, an das Ich kam, den Halbpart des Vergessens einzutreiben“ (Ben-jamin 1972: 303) Im Assoziationsgefüge Michael T.s übernimmt das ‚bucklicht Männ-lein‘ die Rolle desjenigen, der im Strom der Konsumenten, die T. wie eine „Herde“ (38) erscheinen, an das erinnert, was kollektivem Vergessen anheimgefallen zu sein scheint: die Zerstörung Stuttgarts im 2. Weltkrieg. Andernorts fügt das Ich in den eigenen Be-wusstseinsstrom einen Begriff ein, der im Anschluss an Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“ (1913–27) zum Inbegriff modernen autobiografischen Erzählens avan-cierte: „Mémoire involontaire, beim Geruch eines Veilchens“ (23). Die mémoire invo-lontaire, die unwillkürliche Erinnerung, meint das plötzliche Auftauchen lange vergessen geglaubter Eindrücke und Erfahrungen, ausgelöst durch eine zufällige sinnliche Wahrnehmung, sei es, wie im Falle Prousts, der Geschmack einer madeleine, oder, wie bei Schlesak hier, der Duft eines Veilchens.
Nach Proust hängt es vom Zufall ab, ob das Individuum, abgetrennt von dem im Ge-dächtnis bewahrten Reichtum seiner Erfahrungen, einen Zugang zu ihm gewinnt oder nicht. Vornehmlich Walter Benjamin war es nun, der in verschiedenen Arbeiten die his-torisch-gesellschaftlichen und die psychosozialen Ursachen einer Spaltung des Ichs in Bewusstes und Unbewusstes, in willentlich Erinnerbares und der Verfügung entzogene Gedächtnisinhalte zu erkunden versuchte. Auf ihn wiederum beruft sich das Ich der „Vaterlandstage“ gleich zu Beginn des Werkes. Vom Schreibtisch aus in C. einen Bauern auf dem Feld beobachtend, notiert das erzählende Ich:
„Er geht durchs Feld, wo schon gesät war, es wächst. Ich aber lese in einem Buch. Und es liegt drin, liegt an mir: / Es ist dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann ... Diesen aus-wegslosen privaten Charakter haben die innern Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu werden.“ (17)
Das eingefügte Zitat entstammt Walter Benjamins Essay „Über einige Motive bei Bau-delaire“ und lautet im Original:
„Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann. In dieser Sache vom Zufall abzuhängen, hat keineswegs etwas Selbstverständliches. Diesen ausweglos privaten Charakter haben die inneren Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimi-liert zu werden.“ (Benjamin 1974b: 610)
Das Ich in Schlesaks autobiografischem Roman verzichtet darauf, das Zitat selbst bzw. dessen Stellenwert im Kontext der eigenen Erinnerungsarbeit zu verdeutlichen. Um al-lerdings nachvollziehen zu können, warum „Vaterlandstage“ keine Autobiografie im klassischen Sinne ist, sondern ein höchst kompliziertes Geflecht achronisch angeordneter und vielfach assoziativ verknüpfter Erinnerungspartikel bezeichnet, ist es sinnvoll, wenigstens kurz auf den Erklärungszusammenhang des von Schlesak als Kronzeugen aufgerufenen Walter Benjamin einzugehen.
Ausgangspunkt seiner Baudelaire-Studie ist die Beobachtung Benjamins, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Lyrik in immer geringerem Maße Aussicht auf Erfolg bei einem größeren Publikum besitze. Als mögliche Ursache für diese Entwicklung be-zeichnet Benjamin die fortschreitende Diskrepanz zwischen der realen Erfahrung der Leser und solcher Erfahrung, wie sie in Form lyrischer Texte vermittelt werde. Erfah-rung, „eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben“, bilde „sich we-niger aus einzelnen, in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuf-ten, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen“ (Benjamin 1974b: 608). Die moderne Realitätserfahrung der Individuen sei jedoch derart von Erlebnissen und das heißt: von der Registrierung einzelner Ereignisse und der damit verbundenen Aufnahme scheinbar zusammenhangloser Information beherrscht, dass die Erfahrung im Sinne eines tradierbaren Wissens über dauerhafte, von Übung bestimmter Formen der Wirklichkeitsbewältigung seine Substanz weitgehend eingebüßt habe. Im Rekurs auf Einsichten Sigmund Freuds und seines Schülers Theodor Reik versucht Benjamin nun, das bereits angedeutete Gegensatzpaar Erfahrung-Erlebnis mit dem Begriffspaar Gedächtnis-Bewusstsein in Beziehung zu setzen. Erweise sich nach Reik das Gedächtnis als jener Ort, in dem die nicht mit Bewusstsein aufgenommenen Eindrücke dauerhaft bewahrt würden, so trete das Bewusstsein gerade dort auf den Plan, wo es gelte, die aus der Außenwelt empfangenen Reize zu parieren, um sie dem Bereich der willentlichen Erinnerung einzuverleiben. In seiner Funktion als Reizschutz obliege es dem Be-wusstsein, das Ich beständig für die Aufnahme von Reizen zu disponieren, Geistesge-genwart zu erzeugen, um einer traumatischen, von Schocks begleiteten, weil unvorbe-reiteten Aufnahme der Außenwelteindrücke vorzubeugen. Die willentliche Erinnerung basiere demnach auf dem Fundus bewusst registrierter Ereignisse; das Gedächtnis hin-gegen auf dem Bereich zumeist unbewusst wahrgenommener Eindrücke, die nicht den Charakter des Ereignisses, des einmaligen Vorfalls besitzen:
„Je größer der Anteil des Chokmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Er-folg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses.“ (Benjamin 1974b: 615)
Vor dem Hintergrund einer solchen, durch die reale gesellschaftliche Entwicklung her-vorgerufenen Aufspaltung des Ichs in Bewusstes und Unbewusstes, Erinnerung und Gedächtnis, bezeichnet Benjamin die ‚Recherche‘ Marcel Prousts als künstlerischen Versuch, die Erfahrung „auf synthetischem Wege herzustellen“ (Benjamin 1974b: 609). Es sei das Eingedenken im Sinne der mémoire involontaire, welches den eigentlichen Reichtum der im Gedächtnis schlummernden Erfahrungen des Individuums freigebe – im Gegensatz zum Bewusstsein und den von ihm gespeicherten Erinnerungen, die keine Vergegenwärtigung vergangener Lebensphasen erlaubten, allenfalls Informationen übermitteln könnten, ohne jedoch ein Bild des Vergangenen entstehen zu lassen. In künstlerischer Literatur vermittelte Erfahrung sei angewiesen auf die – wie auch immer herbeigeführte – Bewusstwerdung jener im Gedächtnis aufbewahrten Inhalte. Demge-genüber sei das gegen die eigenen Erfahrungen abgedichtete Selbstbewusstsein des Ichs einzig fähig zur „willentlichen, diskursiven Erinnerung“, die ihrerseits „den Spielraum der Phantasie“ (Benjamin 1974b: 645) beschneide, nur mehr Erlebnisse abzurufen im-stande sei: für den künstlerischen Schaffensprozess ungeeigneter, sterilisierter Stoff.
Wie immer man sich zum theoretischen Rahmen und zum Erklärungsansatz Walter Benjamins stellen mag, Tatsache ist, dass sich Schlesaks Werk in den durch Prousts ‚Recherche‘ begründeten und vor allem von Benjamin reflektierten Traditionszusam-menhang einordnet; Tatsache ist überdies, dass Dieter Schlesak wie zahlreiche andere Autobiografen des 20. Jahrhunderts auch darum bemüht ist, einen Zugang zu den im Gedächtnis aufbewahrten, doch schneller Verfügung entzogenen Inhalten zu gewinnen. Vorgeführt wird eben dies: das Bemühen eines Ichs, den „Riss“ (13) zwischen Bewuss-tem und Unbewusstem zu überwinden, durch Heimweh gelenkt, Vergangenheit in sinn-licher Prägnanz heraufzubeschwören: „Gedächtnisparadiese“ (34) wiederauferstehen zu lassen. Das Resultat besteht dann eben nicht in einer chronologisch und kausalpsycho-logisch strukturierten Geschichte, in der die Abfolge der vergangenen Lebensstationen, anders formuliert: die verifizierbaren Daten und Fakten der Erzählung die Struktur vor-geben, sondern in einem Text, der einem Bewusstseinsprotokoll gleicht, in dem Erinne-rungen, Tagträume, Fantasien, Träume, Visionen, kurz: alle Manifestationsformen des Imaginären gleichberechtigt nebeneinander stehen und in weitestgehend assoziativer Verknüpfung präsentiert werden. Konstitutiv für die Darstellung bleibt allerdings die Erinnerung. Vor allem deren literarische Präsentation in Form höchst unterschiedlicher Darstellungstechniken soll nun anhand einer Reihe signifikanter Textbeispiele erläutert werden.
Seit James Joyce‘ „Ulysses“ (1922) gehört der stream of consciousness, die Bewuss-tseinsstromtechnik, zum Arsenal moderner Darstellungsformen in der Prosa. Als gleich-sam radikalisierter innerer Monolog suggeriert diese Technik ein Höchstmaß an Au-thentizität: die vermeintlich unmittelbare Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten einer Person. Schlesaks „Vaterlandstage“ bedient sich dieser Darstellungsform ausgiebig, sei es mit Blick auf den reisenden Michael T. oder im Hinblick auf das in C. lebende und arbeitende Ich:
„Jann ist jetzt im Bad. Ich: hör: sie. Hör zu. Sie hat das Radio zur Welt angedreht. Und ich horche auf. A CATANIA IL BLITZ È SCATTATO DI NOTTE. 400 Verhaftungen. Aha, die Mafiosi. Das allgemein. Gerichtspräsidenten, Staatsanwälte, Polizeioberste, Minister. Nun ein Bravo rufen!? Triumph. Ja, als wüßtest du es nicht sowieso.“ (16)
Das ‚Jetzt‘ des ersten Satzes verschweigt jenes Ich, das nur retrospektiv die im Bewuss-tsein reproduzierten Sinneseindrücke und die daran geknüpften Gedanken des vergan-genen Ichs nach dem Erwachen rekonstruieren und gestalten kann. Einerseits dienen die eigenwillige Interpunktion, die den Satzfluss in ein Stakkato einzelner Elemente auflöst, die Großschreibung und die partielle Beibehaltung des italienischen Originals dazu, den Gedanken- und Assoziationsfluss im vergangenen ‚Jetzt‘ zu rekonstruieren, andererseits kommt diesen Stilelementen natürlich auch die Funktion zu, den Rezeptionsprozess des zukünftigen Lesers zu disponieren. So dürfte es im zitierten Textbeispiel unter anderem darum gehen, den Fluss des Lesens in Form von Zäsuren zu verlangsamen, um die Aufmerksamkeit für das Dargestellte zu erhöhen.
In der folgenden Sequenz ist es der Bewusstseinsstrom Michael T.s. Was gerade grund-sätzlich festgehalten wurde, gilt auch hier. Darüber hinaus wird jedoch erkennbar, in welchem Maße sich „Außen- und Erinnerungsbild überlagern“ (22) können. Michael T. geht nach seiner Ankunft durch die Straßen Bukarests. Die Konfrontation mit der einst vertrauten Topografie befördert die Erinnerung an die Zeit vor 1969, in der T. auch mit Christian, dem „Inzwischenwestberliner“ (50), hier unterwegs war:
„Ogottogott, Chris. Sieh, jetzt bin ich hier, da könnte ich heulen, seligen Angedenkens. Weißt du noch, wie wir Ioana kennengelernt, nein aufgefischt hatten. [...] Ein Drink im MINO-TAURUL (wie wir das Lokal auch nannten), eine Maß, ein Wodka. In den Holznischen mit Geschnörkel. Und aufgefahren: Şniţel, Mici, Hackfleischwürstchen und auch Sarmale, damals gabs noch alles, Fantastesch. Chris schlürfte sogar eine Ciorbă de Burtă. (Dreht sich der Magen um!) Ein vorsichtiges Knutschen und Schmusen folgt, wie das sprüht, elektrisch: und Funken, so naiv wir und sie, Menschenkänjder, wir Men-schenmänner uch Fraaen; um uns ungeheuer der Tumult, Tschawalles, Durcheinander, Rauchwolken, Düfte, orientalisch Gefiedel uch Geklimper: Cymbal, Geige, do af dem klennen Podium einer quäkend mit der Klarinette, Zigun, dick die Schöne, sie sang so-gar eins. Und Ioana, schwarz in allem wä dä Nocht, Haare, Wimpern, Augen, Brauen gebogen, lacht, als da erklingt: Arrivederci Roma. Ob wir Italiener seien? Dürfen wir natürlich nur unter größten Schwierigkeiten verstehen! Nein, ... deutsch, german. Doch hier heißts neamţ und sasule.“ (51 f.)
Die imaginierte Anrede des seit langem in Westberlin lebenden Freundes Christian mündet in eine ausgiebige Reminiszenz an vergangene ‚Heldentaten‘. Dialektwendun-gen, Dialogfetzen, italienische Schlagertitel, deutsch-rumänische Übersetzungsübungen: all dies verdeutlicht die Intensität der Erinnerung, ohne allerdings auch nur einen Mo-ment vergessen zu lassen, dass es sich bei aller Prägnanz um flüchtige Elemente einer vergegenwärtigten Vergangenheit handelt, die den durch Bukarest wandernden Michael T. für kurze Zeit völlig in Beschlag nimmt.
Gerade auch in Schäßburg, auf der zweiten Station von Michael T.s Reise, werden Stra-ßen und Gebäude zum Auslöser flüchtiger, in die eigene Kindheit und Jugend zurück-reichender Erinnerungsbilder, die in fließendem Übergang in die ‚jetzt‘ stattfindende Vergangenheitserkundung Michael T.s eingebaut werden:
„Komisch aber, dass es noch immer steht, Großvaters Geschäft, dort an der Ecke, Ge-werbebank, Fassade zum Markt, die Marktapotheke Dr. C. ZUR KRONE. Bittschön Aspirin und ein Viertel Haumichblau. Na, dat sallt ta glech hun, menj Jang. Unser Ge-schäft aber: Schnittwaren, hieß A.V. Hausenblasz mit S.Z. Küß die Hand Gnä Frau. Knöpfe Bänder. Hab die Ähre, Herr Doktr. Ladenklingel.“ (77)
Immer wieder sind es die noch immer lebendigen Empfindungen weit zurückliegender Augenblicke, die das Vergangene als Gegenwart erscheinen lassen, Präsensdarstellung erzwingen, ohne dass die assoziative Verknüpfung einzelner Erinnerungssegmente Zweifel über den Charakter des Dargestellten aufkommen ließe. Es handelt sich nicht um eine erzählte Vergangenheit, sondern um die gestaltete Gegenwart eines sich erin-nernden Ichs:
„Wenn ich aber weine, mit den Zähnen klappre (mein Gott, der Junge hat Schüttelfrost, anfällig ist er, ewig krank!) kommt Omas zittriges Stimmchen heran, legt sich wie eine warme Decke über mich: Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Morgen früühh...“ (80)
Die Stimme der Großmutter (Außenwahrnehmung) ist ebenso präsent wie die damalige Empfindung von Schutz und Geborgenheit (Innenwahrnehmung), wenn sie für den er-krankten Jungen ein Lied sang. Andernorts führt die Intensität gerade auch bedrängen-der Erinnerungen dazu, dass vergangenes (erinnertes) Ich und gegenwärtiges (sich erin-nerndes) Ich gleichsam verschmelzen: „Ich hörs, ich habs dort als Kind gehört, ich hör die Stimme [...].“ (191) Im mittleren Satzteil ist es das heutige Ich, das spricht; in der ersten und der dritten Sequenz jedoch überlagern sich beide Ichs: Was das erzählte Ich damals hörte, erinnert das erzählende Ich, als höre es eben jetzt, als spiele die verflosse-ne Zeit keine Rolle: „Und Jahre später ist‘s noch immer JETZT.“ (188)
Dann wieder verdeutlicht der permanente Wechsel zwischen Präteritum und Präsens, zwischen heutiger und damaliger Perspektive, ein Schwanken zwischen Nähe und Dis-tanz zum Erinnerten. Größere Distanz bezeugt auch die vergleichsweise traditionelle, vom Erzählerbericht dominierte Darstellungsweise in der folgenden Episode:
„Vor dem Klo nahm ich schnell Andreas‘ Koppel im Vorzimmer vom Kleiderhaken; al-les roch dort nach Schneeluft, Mänteln und Pelzen, schnallte den Koppel um, als wärs verboten; ists ja auch. So zittere ich vor Angst. Dass du die Finger von den Sachen läßt, sonst gibts was! Das Bauchweh war weg: Ich schaute mich im Spiegel an, zog eine Grimasse, lief dann aufs Klo, um den Koppel ganz für mich genießen zu können. Las im Halbrund über den Schwertern und Helmen: GOTT MIT UNS. Ganz unten ein Ha-kenkreuz im Rund.“ (90)
Der mitunter schmerzenden Deutlichkeit einer Vielzahl von Erinnerungsbildern steht auf der anderen Seite eine nur noch schemenhafte Erinnerung gegenüber, die sofort Fragen aufwirft: „Ging Vater an diesem Nachmittag durch die Toreinfahrt des Stadthauses oder war es Daniel?“ (182) Solche Zweifel befördern das Bestreben, sich nicht allein auf die eigene Erinnerung zu stützen, sondern auch Nachforschungen zu betreiben: Recherchen allerdings, die dann wieder die Frage aufwerfen, ob historischen Quellen ein größerer Authentizitätswert zugesprochen werden sollte als den eigenen Gedächtnis-inhalten:
„Nützt es dir da, T., auf die Suche zu gehen? Schlägst Mappen auf, altes stinkendes Pa-pier, Papiermühl der Erinnerung, im Kopf sind sowieso die Mühlräder dabei: Familien-briefe und Fotos, abgeblichenes Licht. Und ob Historisches als Rahmen überhaupt ver-fängt?! (185)
Die Quellen erfüllen für das Ich letztlich keine andere Funktion als die Reise für Mi-chael T: Sie dienen dazu, weitere Erinnerungsprozesse auszulösen, Gedächtnisinhalte freizugeben. An einer korrekten, dem Maßstab historischer Wahrhaftigkeit untergeord-neten Darstellung liegt dem Ich und seinem Alter Ego Michael T. nichts. Beiden ist das Trügerische eines immer nur lückenhaften Erinnerungsprozesses bewusst; ein Sachver-halt, der zeigt, wie sehr die Erinnerung und die Erfindung als nur graduell verschiedene Manifestationsformen des Imaginären beieinander liegen: „Es könnte so sein und auch anders, und es gibt viele leere Zwischenräume in der wachsenden Erinnerung so vieler Jahre, das schmerzt, reizt aber zur Erfindung.“ (142)
Wohl deshalb werden stets auch Visionen, so die imaginierte Jann auf dem „Stunden-Turm“ (63) von Schäßburg (vgl. 64), aber auch Träume (vgl. etwa 15), insbesondere Angstträume, in die Darstellung eingeflochten. Zu ihnen gehört auch derjenige Michael T.s, der, noch in Stuttgart, davon träumt, vor seinem Elternhaus in Schäßburg zu stehen, ohne Einlass zu finden:
„Und stand im Traum zu Haus in S. am Gassentor. Alles schneebedeckt, Burg und Dä-cher der Nachbarschaft weiß, auch der Hof, und dort die eigne Spur. Komisch, noch nicht schneegekehrt! Schnee stäubt, eisig. Geht zur Eingangstür, klingelt dreimal. Nie-mand rührt sich. Sind wohl nicht zuhaus. Ists Mittwoch? Mutter auf dem Mittwochwo-chenmarkt. Doch da – plötzlich ein Trällern im Haus. Warum macht keiner auf? T. vor der Eingangstür [...]. Geht dann zur Hausmauer, lehnt sich dran, versucht sie einzudrü-cken. Ich muß ins Haus. Wühlt sich tiefer und tiefer hinein in den Schnee. Zwanzig Grad minus. Es wird kälter und kälter, die Tränen rinnen ihm übers Gesicht, die Wangen werden fühllos, taub, die Wimpern weiß. Und ich beginne haltlos zu weinen, schluchze – und wache davon auf...“ (40f.)
Zunächst ist von Michael T. in der dritten Person die Rede. Er ist es, der von Stuttgart aus die Reise nach Rumänien antritt und in der Nacht vor dem Abflug jenen Traum hat, der zugleich als Allegorie der Vergeblichkeit gelesen werden kann: Die Reise zu den Schauplätzen der Kindheit und Jugend bedeutet nicht, heimgekehrt zu sein. Um diese Vergeblichkeit weiß das erzählende Ich, während Michael T. diese Erfahrung noch be-vorsteht. Wie der letzte Satz verdeutlicht, ist Michael T.s Traum ein Traum im Traum. Denn es ist das Ich, das den in angstvoller Erwartung dem Abflug entgegenfiebernden Michael T. erfunden hat – wohl wissend, welchen Weg der Desillusionierung T. noch zu gehen hat.
Der zuletzt zitierte Traum ist ein weiteres Beispiel dafür, in welch eigentümlicher Weise die Erzählperspektive zwischen zwei Erzähl-Instanzen, dem Ich in C. und dessen Erfindung, dem reisenden Michael T., oszilliert. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde be-reits darauf hingewiesen, dass die Spaltung des Gegenwarts-Ichs, die die für autobiografische Literatur charakteristische Ich-Ich-Doppelung von erzählendem und erzähltem Ich überlagert, eine ungewöhnliche und neue Variante im Kontext modernen autobiografischen Schreibens bezeichnet. Berücksichtigt man nun die konstitutive Bedeutung der Erinnerung für Schlesaks Werk, so erschließt sich die Funktion des fiktiven Alter Ego Michael T. nochmals neu und anders. Als imaginierte Figur des Ichs wird er zum Wanderer durch eine – nur mehr vorstellbare – Welt jenseits der Grenze; eine Welt, aus der sich das Ich, aber auch der Autor Schlesak zum Zeitpunkt der Abfassung der „Vaterlandstage“ für immer ausgeschlossen sehen. Mit seiner riskanten, zuletzt im Desaster endenden Reise nach Bukarest und Schäßburg tritt Michael T. als vermittelnde Instanz zwischen das erzählende Ich und das erzählte Ich der eigenen Kindheit und Jugend. Anders als das Ich in C., das auf sein Quellenstudium, vor allem aber auf die eigenen Gedächtnisinhalte verwiesen bleibt, hat Michael T. die Gelegenheit, die Schauplätze der gemeinsamen Vergangenheit aufzusuchen: Gedächtnisüberprüfung, aber auch -mobilisierung, weil die Begegnungen mit anderen Personen und die Besichtigung ehemals vertrauter Orte zugleich auslösendes Moment für weitere Erinnerungsprozesse sind. Aus Sicht des Erzähler-Ichs lässt sich daher sagen: Michael T. erscheint als fiktiver Gewährsmann der eigenen Erinnerung, zugleich befördert und vertieft die imaginierte Reise des Alter Ego das Eintauchen in eine Vergangenheit, die nur mehr in der Erinnerung existiert.
Der Text-als-Subjekt. Eine Zwischenbilanz
Dieter Schlesaks „Vaterlandstage“ lässt sich als Roman bezeichnen, weil der Autor und Autobiograf sich nicht dem traditionellen Maßstab historischer Wahrhaftigkeit unter-wirft. Zu keinem Zeitpunkt unternimmt der Text den Versuch, das erzählende Ich als auktoriale Instanz in eigener Sache zu installieren. Anders formuliert: Zu keinem Zeit-punkt erliegt der Erzähler der Illusion, vergangene Wirklichkeit erzählen zu können, wie sie gewesen ist. Eine chronologisch präsentierte, vom Gestus des ‚So-war-es‘ be-herrschte Geschichte, in der der Leser sich einzurichten vermöchte, wird nicht erzählt. Die Erinnerung öffnet sich der Erfindung, in deren Mittelpunkt wiederum der Entwurf des fiktiven Alter Ego und Gegenspielers Michael T. steht. Er ist Protagonist einer Fik-tion in der Fiktion, die, anders als der Text, niemals an ein Ende gelangt. Gerade da-durch wird „Vaterlandstage“ jedoch zu einer Selbstbiografie. Denn Michael T., gefan-gen im unendlichen Regress von Leben und Schreiben, vorangetrieben durch den unab-schließbaren Versuch, das durch die erzwungene Emigration entstandene Heimweh schreibend zu heilen, „Erzähl, erzähl also, damit du gesund wirst“ (142), ist Alter Ego des Autors Dieter Schlesak. Erst der Kunstgriff einer Spaltung des Gegenwarts-Ichs, die Schaffung einer gleichsam gedoppelten Erzählsituation, die die Darstellung oszillieren lässt zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Erfindung Michael T., bietet dem Autor Schlesak die Möglichkeit, im Rahmen eines begrenzten Textes das eigene Selbstverständnis als Emigrant und Schriftsteller adäquat zum Ausdruck zu bringen. Beschreiben lässt sich dieses Selbstverständnis als paradoxe Figur: Im Wissen um die letztendliche Vergeblichkeit, schreibend den durch die Emigration entstandenen Riss überwinden zu wollen, schreibt das Ich – unentwegt – gegen die Gewissheit der Heimatlosigkeit an. Schreiben – eine existenzielle Notwendigkeit und zugleich ein aussichtsloses Unterfangen: „Oder anstatt Selbstmord beging er die Fremde, sprachauf, sprachab, und fand keinen Ausweg?“ (13)
Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die Erinnerung für ein solches Schreiben von elementarer Bedeutung ist. Die mühevolle Freilegung der Gedächtnisin-halte in Form eines „einzigen langen Verhörs und Selbstverhörs“ (Schlesak 1990: 172); in Form eines Prozesses, mit dem der Leser bis in feinste Nuancen hinein konfrontiert wird, erlaubt, wie bruchstückhaft auch immer, Vergangenes zurückzuholen. Erinne-rungsprozesse, eingebunden in ein dichtes Netz höchst unterschiedlicher psychischer Manifestationsformen, sind allerdings flüchtig: wie alle psychischen Operationsformen. Erinnertes, wenn man so will: Elemente einer wiedergefundenen Zeit, bedürfen der Sprache, der schriftlichen Fixierung, um zeitfest zu werden. Nicht das Reisen, wie Mi-chael T. anfangs noch glaubt, bietet einen Weg der Heimkehr, sondern ein auf Erinne-rung gegründetes Schreiben, das vor dem weißen Blatt Papier beginnt und jene Bewuss-tseinsinhalte in Form sprachlicher Zeichen bewahrt, die andernfalls im Fluss der Zeit sogleich wieder verschwinden. Ungeachtet jener Differenzen, die zwischen dem erzäh-lenden Ich und seiner Erfindung, dem reisenden Michael T., bestehen, in einem Punkt vereinen sich die Bestrebungen des Autors Dieter Schlesak, des textimmanenten Ich-Erzählers und Michael T.s: Alle drei sind darum bemüht, schreibend den Fluss der Zeit anzuhalten, vergangene Wirklichkeit, die nur mehr im Gedächtnis eine gegenwärtige, allerdings flüchtige Existenz hat, schreibend zu bewahren, um sie – als Text – vor dem endgültigen Verschwinden zu retten. Es geht allen drei Sprecher-Instanzen darum, „in einem selbstgeschaffenen ‚Zusammenhangssystem‘ das Gelebte ein[zu]bringen, die alte Verlorenheit auf[zu]heben, in ‚einem Hauch von Sinn‘ alles [zu] retten“ (321). ‚Alles zu retten‘? Wie die Lückenhaftigkeit und Fragilität des vergegenständlichten Erinnerungs-prozesses zeigen, kann dies allenfalls bruchstückhaft gelingen. Auch Michael T. muss das erkennen und gerät, als Schriftsteller, in tiefe Selbstzweifel: „Was aber am schlimmsten war, er setzte sich nur noch ächzend an seine Arbeit, schrieb ohne das alte Schreibvertrauen [...].“ (321) Wie auch immer: Der Text des Autors Schlesak gelangt an ein Ende. Er bezeichnet ein „selbstgeschaffenes ‚Zusammenhangssystem‘“, dessen Sinn sich wiederum erschließt über eine Unzahl von Korrespondenzen zwischen den einzel-nen Strukturelementen.
Verschiedene Wege, sich dem vergegenständlichten ‚Verhör und Selbstverhör‘ des Au-tors Schlesak anzunähern, wurden in den vorausgegangenen Abschnitten durchgespielt. All diese Annäherungsversuche, ob sie sich nun der Semantik der Handlungsstrukturie-rung, der Erzählsituation oder der autobiografischen Dimension des Textes widmeten, waren stets von neuem mit der Textintention konfrontiert, das Nacheinander mit der Zeit verschwindender realer Ereignisse in der entworfenen Textwelt aufzuheben, alle Handlungssegmente in die Simultanpräsenz einer andauernden Text-Gegenwart zu überführen. Sei es die gezielte Destruktion eines kontinuierlichen Handlungsverlaufs, der Entwurf einer Fiktion in der Fiktion, in der der Zusammenhang von Erleben und Schreiben in einen unendlichen Regress gerät, oder der vielfache Verweis auf die Ge-genwärtigkeit des Erinnerten: „Es ist lang-her. Und doch ist es Jetzt“ (315) – sämtliche Erzählstrategien laufen auf den Versuch hinaus, die Ereignisgegenwart des Textes in all seinen Elementen bewusst zu machen. Die „Vaterlandstage“ seien eine „modifizierte Art des inneren Monologs“ (Schlesak 1990: 172), mithin: Vergegenständlichung eines über einen längeren Zeitraum hinweg geführten Selbstgesprächs, in dem sich das Ich ästhetisch totalisiert. Berücksichtigt man jenes genuine Charakteristikum literarischer Texte, die Simultanpräsenz all seiner sinntragenden Elemente, unabhängig davon, an welcher Stelle sie in der sequenziellen Abfolge des Textes auch verankert sind, so er-scheint Schlesaks Werk in der Tat als Autobiografie: nicht im Sinne sprachlicher Reprä-sentation des vergangenen Lebens, sondern als Vergegenständlichung eines jetzt erin-nernden, imaginierenden und reflektierenden Ichs. Das Werk wird zum Text-als-Subjekt.
Bislang ging es vornehmlich darum, auf verschiedenen Wegen Zugänge zu einem Werk zu finden, das dem Leser keine geringe Mühe bereitet. Dass es allerdings nicht in der Absicht des Autors liegt, willkürlich Verständnisbarrieren aufzubauen, dürfte deutlich geworden sein. Um es noch einmal zu wiederholen: Die Form der „Vaterlandstage“ ist Ausdruck des konsequent durchgehaltenen Versuchs, die Bewusstseinsbewegung eines gegenwärtigen Ichs nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt steht dabei die immer wieder ge-stellte Frage nach der Bedeutung des literarischen Sprechens für einen Autor, der in ihm die einzige Möglichkeit sieht, den durch die erzwungene Migration entstandenen Hei-matverlust wenn nicht zu bewältigen, so doch wenigstens hinnehmen zu können: „Hast kein Zuhause mehr, und willst es ersetzen...“ (73). Ein solches Schreiben, erwachsen aus einer existenziellen Problematik, muss wohl immer autobiografisch orientiert sein. Doch bleibt die Vergegenwärtigung vergangenen Lebens, die Beschwörung der „Ge-dächtnisparadiese“ (34), wie gesagt, immer nur Ersatz. Bedenkt man dies, so erscheint die Form dieses autobiografischen Romans als das Resultat einer einzigen Anstrengung: den unwiederbringlichen Verlust niemals vergessen zu machen, zu keinem Zeitpunkt der Illusion Vorschub zu leisten, Vergangenheit könnte erzählt werden, wie sie gewesen sei. Bruchstücke, wenn man so will: Fundstücke eines befragten Gedächtnisses sind es, die zur Darstellung gelangen – vergleichbar mit einem zerbrochenen, zumindest aber von zahllosen Sprüngen durchzogenen Spiegel des Vergangenen.
Welche vergegenwärtigten Vergangenheiten kommen nun zur Sprache? Weiter oben wurde bereits festgestellt, dass drei Themenfelder in den Rückblenden von besonderer Bedeutung sind: die Kindheit in Schäßburg bis zum Ende des 2. Weltkriegs (1), die spä-ten fünfziger und die sechziger Jahre in Bukarest (2) und die jüngste Vergangenheit, in der das Ich des öfteren pendelte zwischen seinem Wohnsitz in der Toskana und dem Süden der Bundesrepublik Deutschland (3). Vornehmlich um diese drei Schwerpunkte dreht sich die Bewusstseinsbewegung des jetzt sich erinnernden und reflektierenden Ichs, das sich der eigenen Vergangenheit nähert unter den Prämissen des heutigen Selbstverständnisses und des heutigen Wissens. Dieses Wissen wiederum betrifft nicht nur den weiteren Verlauf des eigenen Lebens bis zur Gegenwart, sondern auch die ge-schichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenumstände des Erlebten. Auch wenn die Freilegung der Gedächtnisinhalte im Vordergrund steht, das Erinnerte, ohnehin schon Ausdruck eines selektiven, vom Bewusstsein mehr oder weniger gesteuerten Erinne-rungsprozesses, gerät in Schlesaks Werk sogleich unter den Druck der Befragung und Selbstbefragung: Wie erlebte das Kind, Angehöriger der deutschen Minderheit, die Jah-re des Krieges in seiner Heimatstadt? Wie erlebte der zum Marxismus sich bekennende Lehrer, Redakteur und angehende Schriftsteller den Sozialismus rumänischer Prägung in der Hauptstadt Bukarest? Wie erlebte (und erlebt) der emigrierte, heimatlos gewordenen Autor die bundesrepublikanischen Verhältnisse unter den Bedingungen des Ost-West-Gegensatzes? – drei Schwerpunkte eines inneren Monologs, der zumindest über weite Strecken den Charakter eines Selbst-verhörs gewinnt. Die im weiteren vorzunehmende Analyse dieses Selbstverhörs in verschiedenen Akten darf sich an das halten, was der Text selbst konsequent destruiert: die Chronologie.

Die dreifache Heimatlosigkeit

„Kein Ort – Nirgends“ (195) – was meint dieses Leitmotiv des Textes? Es bezeichnet die Heimatlosigkeit des Ichs, fassbar als Unmöglichkeit der Heimkehr auf drei ver-schiedenen Ebenen.
Das frühe Ende der Kindheit, datierbar auf den 23. August 1944; einer Kindheit, die in ihren glücklichsten Momenten die Zeit noch nicht kannte, ist die Folge der Verstrickung der Siebenbürger Sachsen in den Nationalsozialismus, an dessen Verbrechen auch Fa-milienmitglieder des Ichs beteiligt gewesen sind. Noch heute verweigern sie dem Ich die Möglichkeit einer unbefangenen Hingabe an jene „Gedächtnisparadiese“ (34), die die Erinnerung sehr wohl bewahrt hat, an die sich zu erinnern dem Ich jedoch nicht möglich ist, ohne die Gleichzeitigkeit von ahnungslosem Kinderglück und verbrecherischem Handeln hervorheben zu müssen, ohne zugleich Distanz wahren zu müssen gegenüber dem „Kindernazi“ (183), der das Ich auch gewesen ist: „wir allesamt dabei in Treu und Glauben“ (123).
Die bereits in „Visa. Ost-West-Lektionen“ eingehend geschilderte und reflektierte Übersiedlung in den Westen markiert die zweite Ebene des erlittenen Heimatverlustes. Die Hoffnung auf eine mögliche Heimkehr hegt allein der imaginierte Michael T. Er tritt – stellvertretend – eine Reise an, die ihn über Bukarest nach Schäßburg führt, zurück an die Schauplätze der eigenen Kindheit, und die doch offenbart, dass Heimkehr auf diesem Wege nicht möglich ist. Erzwungen wurde die Migration des Schriftstellers, der Marxist geworden war, weil er mit der schuldbeladenen Tradition der Siebenbürger Sachsen brechen wollte, von einem totalitären Überwachungsstaat, dessen Ende – in der Zeit der Entstehung der „Vaterlandstage“ – noch nicht absehbar gewesen ist. Gehen wollte und musste das Ich vor allem deshalb, weil diese Diktatur nicht einmal dazu be-reit war, dem damals noch „Überzeugten“ (397) das Recht freien Denkens und Schrei-bens einzuräumen.
Diese Freiheit ist im Westen garantiert: um den Preis eines weitgehenden Bedeutungs-verlusts literarischen Sprechens. Orte wie C. in der Toskana, an denen sich leben und schreiben lässt, bieten die westlichen Exilländer. Allerdings sind auch sie weit davon entfernt, Heimat werden zu können. Was Heimat im eigentlichen Sinne des Wortes meint, Schutz, Aufgehobenheit und Sicherheit als vorreflexive und damit fraglos gege-bene Qualität des Lebens, findet sich für das Ich nirgends – zumal unter dem Damokles-schwert der drohenden atomaren Vernichtung. Sie, die das Ende der Menschheitsge-schichte bedeuten würde, bezeichnet die dritte Ebene des Heimatverlusts, nun in einem universellen Sinne.
Und deshalb bleibt nur die resignative Einsicht: „DIE HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT...“ (32 f.). Anders gewendet: Nur in der Immanenz einer entworfenen Textwelt, Resultat eines auf Erinnerung gegründeten Schreibens, ist Heimkehr möglich. Zu dieser Erkenntnis gelangt auch Michael T.: nach seiner Reise, nach seinem Weg der Desillu-sionierung. Michael T., vom Ich-Erzähler erfunden, verschwindet gegen Ende des Tex-tes, „T., den es ab sofort nun nicht mehr gab“ (449), um am Anfang des Romans, dem Prolog nach dem Ende, (erneut) aufzutauchen. In der Geschlossenheit der Fiktion ver-liert die Zeit, in der Michael T. sich bewegt, ihre lineare Gerichtetheit, erweist sich als unendlicher Zirkelschluss. Doch gilt dies, wie gesagt, nur für das imaginierte Alter Ego Michael T. Sein Erfinder, der Ich-Erzähler, aber auch der Autor Dieter Schlesak sehen sich dagegen konfrontiert mit einer linear voranschreitenden Zeit, die – vielleicht schon bald? – in den Tod mündet.

Literatur
Benjamin, Walter 1974b: Über einige Motive bei Baudelaire. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.I.2.S. 605-653.
Konradt, Edith 1997: Identität als Dilemma.Anmerkungen zur Realitätsbindung in den Selbst- und Fremdbildern der Siebenbürger Sachsen. Unveröfft. Manuskript. Inzwischen erschienen. In: Siebenbürgisches Archiv. Das Bild des Anderen in Siebenbürgen. Hg. Konrad Gündisch, Wolfgang Höpken und Michael Markel. Köln, Weimar, Wien 1998. S.237-267.
Serke, Jürgen 1985: Dieter Schlesak. Blick vom toskanischen Berg. In: ders.: Das neue Exil. Die verbannten Dichter. Frankfurt a. M. S. 362-383
Sill, Oliver 1995:Von Opfern und Tätern. Autobiographische Schriften über die Deportation. In: Weber Georg et. al., Bd. 2., S. 413-626.
Sill, Oliver 1997a: ´Fiktion des Faktischen´. Zur autobiographischen Literatur der 70er und 80er Jahre. Autoren, Tendenzen, Gattungen. Darmstadt. S. 75-104.
Söllner, Werner 1989: Dieter Schlesak. In: Kritisches Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, 1999 (KGL)
Schlesak, Dieter: 1986: Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens. Roman. Zürich/Köln.
Schlesak, Dieter 1990: Analyse meiner Selbstbiographie. In: Solms, Wilhelm (Hg.), Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Marburg 1990. S.160-180.

Edith Konradt

Die sprachgewordene Vernichtung:
Dieter Schlesaks Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens

Wie ein Blitz hat 1986 Dieter Schlesaks Roman Vaterlandstage und die Kunst des Ver-schwindens eingeschlagen, der den zur NS-Zeit angebahnten Fall der Siebenbürger Sachsen aus ihrer eigenen Geschichte mit all seinen Konsequenzen erstmals ohne Wenn und Aber in den Mittelpunkt einer ebenso bewussten wie kritischen literarischen Ausei-nandersetzung gerückt hat.
Gattungstypologisch ist der Roman schwer einzuordnen: Es ist kein Geschehnis-, aber auch kein Zeitroman in herkömmlichem Sinn, sondern – so Schlesak – „ein einziges langes Verhör und Selbstverhör“ das am ehesten als Gedankenroman bezeichnet wer-den kann. Schlesak analysiert die Biografie seines Alter Ego, des Schriftstellers Michael T., der auf einem toskanischen Berg seinen teils von NS- und Stalin-Zeit verschlunge-nen, teils vom Exil verbrauchten Lebensmöglichkeiten nachspürt. Es handelt sich um eine radikale Selbstanalyse, die immer wieder darauf bedacht ist, den unbewusst grei-fenden Schutz- und Verdrängungsmechanismen auf die Schliche zu kommen und sie auszuschalten, selbst wenn dadurch fast unerträgliche Schmerzgrenzen erreicht werden. Denn es sind allein die Grenzüberschreitungen in Raum, Zeit und Bewusstsein, die eine Erkenntnis dessen, was war und was ist, möglich machen. Bei diesem ebenso schwieri-gen wie langwierigen Prozess treten auf inhaltlicher Ebene die mannigfachen Brüche und Abbrüche eines geschichtlich wie gesellschaftlich ,verworfenen’ und ,verbogenen’ Ichs zutage, die sich auf formaler Ebene nicht nur im unvorhersehbaren Wechsel zwi-schen den beiden Erzählinstanzen, sondern auch im unentwegten Wechsel zwischen ers-ter, zweiter und dritter Person materialisieren. Das Erlebte und Erinnerte zersplittert in unzählige Partikel, die sich nicht mehr chronologisch oder kausallogisch, sondern nur noch „hirnsyntaktisch“ zusammenfügen lassen. Denn Geschichts- und Identitäts-, Sin-nen- und Sinnverlust ereignen sich auf jeder Zeile neu: zwischen, ja mit den Worten, wie Schlesak anmerkt: „Die Sprache ist blockiert und zerstückelt und vom Albtraum verwandelt bis hin zum sprachunfähigen Stottern, in dem sich sprachlos die Realität in Fratzen auflöst, in Kopfsummen des Wahnsinns.“
Anstoß zum Nach-Denken ist für den Erzähler die Suche nach einer möglichen Heim-kehr ins Land seiner Kindheit und Jugend, aus dem er das Weite gesucht und in Italien ein selbst gewähltes Exil gefunden hatte. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich eines Tricks zu bedienen: Er erfindet Michael T. und schickt ihn statt seiner auf große Fahrt. Was jedoch prima vista wie eine tatsächlich stattgefundene Reise anmutet, ist de facto eine sprachlich vollzogene Revision des Ichs mit all seinen Segmenten und Sedimenten. Der Weg der Erkundung führt T. über die nähere in die tiefere Vergangenheit, über die Bukarester Berufs- und Studienjahre in die Schäßburger Jugend- und Kinderzeit. Denn das Vergangene ist nicht tot, im Gegenteil: Es droht T. mit seiner emotionalen Präsenz und gleichzeitigen sinnlichen Absenz zu ersticken. Hinzu kommt das bedrängende, erst im Erwachsenenalter erworbene Wissen darum, dass sein naiv erlebtes Kinderparadies einer Zeit der Gewalt und der Verbrechen angehörte. Und T. stellt sich der Trauerarbeit, seine Kindheit zu ,korrigieren’, Hand anzulegen an das biedermeierliche Idyll, das die Erwachsenen Tag für Tag fortzuleben versuchten, obwohl der Führer und der Krieg es auf ein Restchen Sentimentalität reduziert hatten, das in Kunst-, Kriegs- und Kinderlie-dern verwehte:

Andreas, Freiwilliger der ersten Tausendmannaktion, war bald Sturmführer. Hermann Unterarzt mit Ru-ne. Sein Bruder Töff, der Unentschlossene ... alle sind wir zu weich und unentschlossen ... Zähne zu-sammenbeißen, Töff wurde SS-Wehrgeologe [...]. Doch Urlaub war schön. Rochen nach starken Kriegs-zigaretten – und anderem Rauch. Mama und ihre Schwester Friederike sangen in der Küche, ES GEHT ALLES VORÜBER ES GEHT ALLES VORBEI. [...] Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, drei vier. Alle meine Entchen. Es war Heimaturlaubszeit. Das gabs. Kamen von der FRONT nach Hause. Das gabs. [...] Georgs Brüder Ernst und Gustav kamen nicht mehr heim. Doch sonst wars warm, und alles schön: leuchteten die Straßenlampen, und gemütlich, und weils Menschen gab, und die Gasse [...].
Auch den Kindern werden die 'Segnungen' von „OBEN, hochfliegend, überspannend alles: REICH“ nicht vorenthalten, sie werden zu Kindernazis erzogen:

[...] da wurde an uns herumgebastelt, an den Kindern. Wußte nicht, keiner wußte, was mit ihm geschah, wußte nicht, dass etwas Phantastisches, etwas dem Bewußtsein und der Liebe Entzogenes hergestellt werden sollte, eine merkwürdige GESITTUNGSGEMEINSCHAFT, wie das hieß, und betroffen liest man es, glaubt den Augen nicht zu trauen, reibt sie, meint zu träumen, ja, es ist wirklich so, jenes „Gefühl“: Blutgemeinschaft, Blutwert, treuer, redlicher Deutscher, Siebenbürger Sachs gar, ich sags mit Stolz, deiner Sprache, deiner Sitte, deinem Volke bleibe treu...

Deutsche Truppen marschieren in die Stadt ein und die Frauen schreiben Feldpostbriefe an die Front und finden es „köstlich“, dass die Kinder Krieg spielen:

Bruder Hannes sei köstlich, schreibt Mama ins Feld [...]: „Köstlich, denn eben legt Hannes an: Sturmang-riff. Und dann übt er Parade, marschiert mit geschultertem Gewehr und singt wieder. Wir lachen über ihn, denn er ist so drollig [...].“ [...] Und die Ami schrieb Töff über den Einmarsch der deutschen Truppen in unsere Stadt [...]: „[...] Es ist Leben bei uns eingezogen. Wir flaggen nur mit Staatsfahne und Hakenk-reuzfahne. Die Leute reißen sich um die Einquartierung. Unser Gerhard spricht jetzt schon alles. Er hebt die Hand und ruft: Heil Hiker! Köstlich! Schlaf gut, mein Lieber, es ist spät, und ich soll jetzt noch ba-den.“

Doch da gibt’s auch noch den Apotheker C., der „dort“ gewesen ist, an jenem Ort in Polen, dessen Namen keiner auszusprechen wagt, wo er das Zyklon B bereitgestellt hat. Und da gibt's die Spielgefährtin Mirjam, die im Baruch-Haus wohnt und T. eines Tages erzählt,

dass es eine grünliche Seife gegeben hatte, mit den Initialen RJF. Und ein Leben lang soll entschlüsselt werden, was RJF heißt. Ich hörs, ich habs dort als Kind gehört, ich hör die Stimme, sie flüstert, und etwas Dunkles kommt auf mich zu, das weh tut, und ist wie ein Weinen [...]. Mirjam weinte, Friederike weinte, und ich höre ihre sanfte und doch energische Stimme: Nein, mein liebes Kind, das können deutsche Men-schen nicht getan haben, das glaube ich nicht.

Obwohl T. sich dem Vergangenen bedingungslos stellt, kann er sich davon nicht befrei-en – „das Falsche ist in seine Lebenszeit hineingewachsen und läßt ihn nicht mehr los“ . Nirgends kann er in die Gegenwart, die Wirklichkeit finden, er ist „zum LEEREN ORT verurteilt“ . Zunächst glaubt T., seine „Verlorenheit“ schreibend aufheben, „im Alleingang sozusagen eine private Erlösung der Welt“ betreiben zu können, „grö-ßenwahnsinnig, ein Buchstabenmessias“ . Mit voranschreitender Arbeit aber erkennt er, dass er an dieser Aufgabe scheitern wird, da er „trotz großer Anstrengung sich eher rückwärts entwickelte":

Und er wurde so seinen Vorfahren immer ähnlicher. Schlagen, töten, salutieren, ein Gedicht sagen und dann weinen. Das sind wir, die Pflichtkantigen! Dies ists, wir können nie frei werden, nie frei sein.

Vaterlandstage führt die nationalsozialistischen Verstrickungen der Siebenbürger Sach-sen am Beispiel von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Bekannten mit einer Flut von erlebten, erinnerten oder erzählten Details vor. Dabei geht es Schlesak aber immer auch darum, die Lebenslüge zu enttarnen, die dem siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaftsbewusstsein speziell im 20. Jahrhundert zugrunde lag und der nationalso-zialistischen Begeisterung Vorschub leistete:

Eine finstere Zeit – und die schönste Zeit meiner Kindheit, was seine Spuren in mir, und freilich im Roman hinterlassen hat, und mit zum Thema gehört: die Korrektur und damit Beschädigung der Erinnerung durch aktuelle Information, durch die grausame Wahrheit im Erwachsenenalter. Wobei es sonst auf Ru-mäniendeutsch üblich ist, politisch ein Kind zu bleiben, nur nicht daran zu „rühren“, diesen Schaden zu vermeiden, zu vergessen und zu verdrängen, was wohlgelungen ist und wohlgelingt, und [...] zu unserer vertrautesten Minderheitenkrankheit führt: einer gesellschaftlichen Lebenslüge, die mindestens bis 1867 bzw. 1876, der Zerschlagung des Königsbodens, zurückzuverfolgen ist und seine [richtig: ihre, Anm. E. K.] Folgen heute im Untergang zeigt. Der Tragödie letzter Akt: die historische Selbstvernichtung dieser Minderheit.

Schlesaks Roman führt diese Lebenslüge in all ihren konkreten, alltäglichen Veräste-lungen vor Augen – und auch „das wichtigste Verdrängungsinstrument, das ein ästheti-sches war, das so genannte ,Schöne’, ,Edle’, ,Hohe’, ,Geistige’ – völlig abgekoppelt von jeder Realität oder Geschichte“ , das seinen treffendsten Ausdruck in den sentimenta-len Liedern fand:

Und dann kommt der Sommer: Heuduft und am Brunnen vor dem Tore, Lindenblüten und Akazien, Ringelreihen um den Baum, wie in Ludwig Richters Bild: sitzt Tante Friederike mit Ami im Garten und stickt, häkelt, liest, das Türchen zur Kokel steht offen, Rauschen des Flusses, Sonnenblumen, Häuser mit offenen Fenstern, gebauschte Gardinen, linde Luft, alles wie im Spitzwegbild: winklige Gassen, spitze Giebel, genau wie im Provisor von Ludwig Richter, das im Speisezimmer an der Wand hängt, Brunnen rauscht, Abendstille überall, Meister Jakob, Röslein rot, laßt nur der Jugend, der Jugend ihren Lauf. Laßt nur. Es wird noch einmal ein Wunder geschehen.

Jenseits einer fiktionalen Annäherung an die Vergangenheit und an ihre Verdrängungs-mechanismen wirft Schlesak metaphysische und metapsychische Fragestellungen auf, die sich für ihn aus der Beobachtung „totalitärer Seelen“ ergeben und eine Bewälti-gung des Erlebten und Erinnerten erst möglich machen. Dieses Grundmuster „totalitärer Seelen“, das nicht nur in Diktaturen, sondern auch in der Konsumgesellschaft in Er-scheinung tritt, fungiert als vielfach gebrochener Spiegel, der den Leser zu einer perma-nenten Selbsterkundung herausfordert. Nicht zuletzt deswegen wird Schlesaks Text, wie Werner Söllner festgestellt hat, „ein ungeheuer kompliziertes, abgründiges Erlebnis, das seinesgleichen unter den Publikationen deutscher Schriftsteller aus Rumänien nicht hat“ .
Von deutscher Seite sind Schlesaks Vaterlandstage durchaus positiv aufgenommen worden – in erster Linie als eine moderne, spezifisch ausgestaltete Form autobiografi-schen Erzählens. Jürgen Serke etwa bemerkt: „Mit Hilfe dieser Konstruktion – ego und alter ego – tritt der Autor Schlesak zur Positionsbestimmung des modernen Menschen an“ , und Oliver Sill führt aus, dass Schlesak „das Spektrum unterschiedlichen auto-biographischen Erzählens in der Moderne [...] durch eine – unseres Wissens nach – neue Variante“ bereichert . Doch auch die politisch-zeitkritische Dimension des Romans hat eine entsprechende Würdigung erfahren, etwa von Hans-Rüdiger Schwab, der betont, dass Dieter Schlesak „durchaus kein Regionalist“ sei, „obschon er mit dem au-tobiografisch getönten Panorama jener scheinbar abseitigen Gegend (die in jüngster Zeit immer deutlicher als wichtige Landschaft zumal der deutschen Gegenwartslyrik er-kennbar wird) ein dankbares Thema hätte finden können. [...] Schlesak wagt mehr als andere. Ein vielschichtiges Bedeutungsknäuel wird in der Durchdringung verschiedener Zeiten und Handlungsstränge evoziert. Der Bericht über die Krise eines Lebens [...] er-weitert sich zur Abrechnung mit der Blutspur der Weltgeschichte [...]“ .
Auf siebenbürgisch-sächsischer Seite hingegen ist die Rezeption der Vaterlandstage höchst kontrovers verlaufen und verdeutlicht generationsspezifische Standpunkte. Die nach 1945 Geborenen – zum Beispiel Werner Söllner und Klaus Hensel – haben Schle-saks Roman nicht zuletzt als „ein Kapitel Vergangenheitsbewältigung“ begrüßt, „das bisher unter den Siebenbürgern in Rumänien und erst recht bei jenen, die in den Westen ausgewandert sind, vermieden wurde“ . Von den Angehörigen der Zwischenkriegs- und Kriegsgeneration haben sich Andreas Möckel , Dora Bettina Schuller und Ingmar Brantsch zustimmend geäußert: „Die Momente der Auseinandersetzung mit dem Eindringen des Faschismus als totalitäre Ideologie in die Welt des siebenbürgisch-sächsischen Kleinbürgertums gehören zu den stärksten des Buches; [...] realitätsgesättigt [sind sie] der dichterisch komprimierteste Teil des Romans.“ Die Mehrheit aber verbarg ihre grundsätzlich ablehnende Haltung hinter anonymer Verunglimpfung oder Verweigerung. Schlesak fasst diese Negativ-Rezeption, mit der er sich bei Lesungen vor siebenbürgisch-sächsischem Publikum konfrontiert sah, wie folgt zusammen:

Die „Vaterlandstage“ sind – dem Verständnis des Autors und seiner Stilmethode nach – ein radikaler Bruch mit der rumäniendeutschen ästhetischen Tradition auch des verdrängenden Narrativen im Sinne eines allgemeinen Publikumsgeschmacks: und dieser Roman wurde natürlich von den Landsmannschafts-Publikationen nicht einmal richtig verrissen, nicht einmal im Negativ-Spiegel durfte, man höre und staune: noch 1986 das tabuisierte Thema berührt werden, sondern der „modernistische Stil“ wurde als „unschön“ und das „Gebrochene“ und Bruchstückhafte, als „unsächsisch“ und „fremd“ diffamiert, der Roman über die Todeslager und die sächsische Schuld als etwas, das „fremd“ ist, die Sachsen also gar nichts angeht, beiseitegeschoben, den Leuten vom Besuch von „Vaterlandstage“-Lesungen abgeraten, als täten sie beim Zuhören etwas Unsittliches.

Von solcher Kleingeisterei bleibt die literarische Leistung der Vaterlandstage, die am prägnantesten Dora Bettina Schuller zusammengefasst hat, unberührt: „Aus vielen Schichten, durch viele Filter erschreibt sich Dieter Schlesak seine Identität, seine Frei-heit, seine Schuld, seine Vaterlandstage, die Vaterlandstage eines ,Zwischenschaftlers’ – im Osten geformt, im Westen ,sich seiner Erfahrung bemächtigend’.“



III
HEIMKEHR IST EIN WEISSES BLATT
WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN




Haben wir 1989 den Beginn eines neuen Zeitalters erlebt? Einen Umbruch, we er nur mit der Reformation oder der Französischen Revolution vergleichbar ist? Werden Historiker bei der Periodisierung der Vergangenheit Jahrhunderte einteilen in ein großes Vorher und Nachher? Dieter Schlesaks Essay über den Umsturz in Rumänien deutet Ereignisse vom 21. und 22. Dezember 1989 in Bukarest als welthistorischen Einschnitt, nach dem nichts mehr so ist, wie es war. Schlesak erzählt von der Melancholie , die sich einstellt, wenn das jahrelang Ersehnte plötzlich Wirklichkeit wird und dann doch alles ganz anders ist, als man sich vorgestellt hatte. „Der Zustand der Sehnsucht wird gelöscht.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
In Ihrem Buch sind all die Erfahrungen versammelt, die über zwei Jahrhunderte hinweg viele, viele Revolutionäre gemacht haben. Ich denke an die Reden von Robespierre und Danton... an Kropotkin und Bakunin, an einige arkane Passagen bei Marx, an die Enthusiasmen der irischen, der spanischen, der vietnamesischen, der südamerikanischen Rebellen und Revolutionäre. Sie alle versuchen das zu sagen, was Sie in Ihrem Band auf das trefflichste und... auf das tiefsinnigste präzisiert haben, nämlich das enthusiastische Erlebnis, den Furor gleichsam aus der Zeit zu fallen, dieses offenkundig beglückende Gefühl, an einem Schnittpunkt der Geschichte stehend die Geschichte selbst förmlich „ab-zuschneiden“.
Michael Naumann in einem Brief an den Autor



George Guţu

Auf der Suche nach Heimkehr

Meine Damen und Herren,

Eines der Phänomene, die die gegenwärtige Welt seit einiger Zeit prägt, ist jenes des Exils und der Migration. Dies bedeutet, eine vertraute Umgebung notgedrungen zu ver-lassen und zugleich den Versuch zu unternehmen, sich in einer fremden, oft feindlich gesinnten Umgebung einzurichten. Das 20. Jahrhundert steht von Anbeginn, in höherem Maße seit den 30er Jahren, in der langen Zeit der Machtergreifung und der Herrschaft zweier Diktaturarten, Faschismus und Kommunismus, im Zeichen des unfreiwilligen Verlassens der eigenen Heimat in dem Versuch, das eigene Recht auf ein freies, würde-volles Leben zu retten. Unser Gast, der Schriftsteller, Essayist und Publizist Dieter Schlesak, war im Zuge seines Schicksals einer von den vielen, die die Emigrationswelle mitgerissen hat, zugleich jedoch einer der nicht allzu vielen, die das Drama der Aus-wanderung bewusst erlebt, darüber Auskunft gegeben und über jene Momente der Qual, des inneren Bruchs, des Sich-wieder-Aufrichtens nachgedacht hat. Dabei legte er darü-ber in dauerhaften literarischen Werken, in tiefsinnigen Essays, in pragmatischen Stel-lungnahmen Zeugnis ab. Schlesak war ein Ausgewanderter, der über sein Schicksal sin-niert, sich seines Grenzgängertums, seines Freiheitsdrangs, seiner Entwurzelung, Ent-fremdung, seines Bruchs und seiner enttäuschenden Bodenlosigkeit bewusst ist. Er sieht sich im unendlichen, eiskalten Weltraum schweben wie ein Kosmonaut, der notgedrun-gen sein Raumschiff verlassen musste und nun durch den eisigen Abgrund des unendli-chen Alls herumirrt, den allein die Erinnerungen an die früheren Erlebnisse am Leben halten und der sich nun in den endlosen Raum des Geistes flüchtet, in die Polysemantik der Sprache, in die ätherische Sprache der Kunst.
Am 7. August 1934 in Schäßburg geboren, war unser früherer Landsmann deutscher Herkunft Dieter Schlesak eine Zeit lang Lehrer. Dann kam er nach Bukarest, um fünf Jahre hier Germanistik an der Universität zu studieren, die ihm nun die Ehre erweist, ihm eine hohe Auszeichnung zu verleihen. 1959 wird er Redakteur der Bukarester deutschsprachigen Literaturzeitschrift „Neue Literatur“, geriet ins Visier der Geheimpo-lizei unter dem Verdacht, Texte eines verbotenen Autors, Mircea Palaghiu, versteckt zu haben. Und spürte am eigenen Leibe, was Paul Goma in einem an ihn gerichteten Schreiben eine hässlichere „Freiheit“ nannte als das Leben in einem Gefängnis. Er ist beeindruckt von der rebellischen Geste Ceauşescus vom 21. August 1968 und entdeckt auf dem Hintergrund einer biografischen „Schuld“, unter seinen Verwandten Mitglieder der SS gehabt zu haben, seine linken Überzeugungen. Daher das Taktieren mit dem Marxismus, der damals im Westen grassierte.
1968 bedeutet für ihn auch das Jahr, in dem sein erster Gedichtband „Grenzstreifen“ er-schienen ist, das Jahr seiner ersten Reise in den Westen zusammen mit Ion Caraion und Veronica Porumbacu – diese Reise wurde zu seiner ersten traumatischen Auseinander-setzung mit dem Westen Europas, den er vorher auf dem Hintergrund der Unterdrü-ckung daheim mit idyllisierenden Zügen versehen hatte. Zeugnis über diese innere Zer-rissenheit legt er ab in seinen Reiseeindrücken „Visa Ost-West-Lektionen“ oder in sei-nem Kardinalwerk, dem Roman „Vaterlandstage“, der 1995 auch ins Rumänische über-setzt wurde: „Wir kamen von einem anderen Planeten, gingen wie auf dem Mond spa-zieren“, gesteht der Verfasser. „Der Mond“ war Luxemburg als Fenster zu einer anderen Welt, zu anderen Planeten. Der nächstliegende Planet, Deutschland, ließ ihn erschauern, er war froh, sich mit der Realität dieses Landes nicht konfrontieren zu müssen, weil Deutschland für ihn, den ethnischen Minderheitler, die „Mitte“ einer Kultur-, Zivilisati-ons- und Sprachwelt bedeutete, die er aus der Ferne, von der „Peripherie“, vom Inselda-sein einer seit Jahrhunderten fern von Deutschland, im Herzen Rumäniens, in Sieben-bürgen lebenden Minderheit aus pietätvoll bewundert hatte... Deshalb reist er nach Paris, wo er Celans Bukarester Freundin Nina Cassian trifft – Celan jedoch nicht, da dieser in einer Nervenklinik eingeliefert worden war.
Das Unvermeidliche tritt ein: Der „Schock“ des Kontakts mit der damaligen Bundesre-publik, mit den dreimal – durch die Nazis, durch die Bomben des Krieges und schließ-lich „durch die grässliche Architektur des ,Wirtschaftswunders’“ – zerstörten Städten, wie sich der Nobelpreisträger Heinrich Böll geäußert hatte, sitzt tief: „Auch die Natur künstlich ... Hetze, menschliche Kälte“ das alles sind Eindrücke, die Schlesak in seinem Roman „Vaterlandstage“ oder in „Wenn die Dinge aus den Namen fallen“ (in rumäni-scher Übersetzung: „Revolta morţilor“) akribisch beschreibt. „Das ,ceauşistische Zu-hause’ nimmt sich sofort seiner an“ – „innere Zensur, Redaktion, Spitzelatmosphäre, Elend, sind nicht mehr auszuhalten“. Schlesak verspürt immer mehr eine innere Leere, schwebt bereits im intergalaktischen Raum des Vaterlandslosen umher, der beide Hei-maten, der Herd, das Zuhause, den Schutz, all das, von dem die Existenz eines jeden Menschen abhängt, verloren hat. Er entscheidet sich für das kleinere Übel – für den Westen. Aus seiner Reise nach Frankfurt zusammen mit Nichita Stănescu und Virgil Theodorescu kehrt er nicht mehr zurück.
Illusion: Das Sich-wieder-Einrichten in der neuen Heimat kommt nicht zustande. „In Deutschland dachte ich, meine Sinne zu verlieren, sogar das Essen schien mir künstlich“ – so Schlesak in einem Interview. Oder in der Sprache der Dichtung: „Von Westen her täuschend / Ein Licht, gekonnte / Sonnenuntergänge/ Rot / Freizeit Ferienfreude Und / Zweihundertfünfzig Sorten Brot (...) // Schön dieses Mutter / Land // Woher wir kamen / Vor fast tausend Jahren / Dort kommen wir wieder an. / Mit Grabsteinen im Gepäck.“ Innere Zerrissenheit: das Gefühl des „Verrats“ an seiner bisherigen Heimat verbindet sich immer deutlicher mit dem Gefühl der historischen „Schuld“. Der Sprachmeister sieht sich genötigt, seine Erinnerungen und Kindheitserinnerungen zu korrigieren, die Selbstgewissheit wird schwächer angesichts handfester Tatsachen: „Fast alle meine männlichen Verwandten waren in der SS gewesen und hatten zu den Wach-mannschaften deutscher KZs gehört“ – so auch Victor Capesius, ein Jugendfreund sei-ner Mutter. Ein Mega-Thema. Das Ergebnis: 6.000 beschriebene Seiten, aus dem sich der Roman „Vaterlandstage oder die Kunst des Verschwindens“ herauskristallisierte – zehn Jahre Arbeit im Schreibprozess, am Sprachmaterial der Muttersprache, des Deut-schen. Ein bekenntnishaftes Opus, eine komplexe und komplizierte Textur von Erleb-nissen und Reflexionen über das Schreiben, ein unkommerzieller, schwer verdaulicher Roman in einer Welt des Konsumrausches, ein publikumsunwirksamer Roman, keine Spur von Bestseller – die Verlage meiden solche Werke, fallen jedoch leicht in die Falle rezeptgerecht angefertigter Mache nach dem Geschmack naiver, unwissender Leser, die um den Sachverhalt keinerlei Ahnung besitzen um das darin enthaltene, manchmal gra-vierend verfälschte Zeugnis. Dieter Schlesak ist derart aufrichtig mit sich selbst, dass er oft das Sprach-Messer in der eigenen Wunde dreht, sein poetischer Ausdruck erkundet die historische Wahrheit und die seiner Biografie. Und ist imstande, sich selbst als „Deutschen der dritten Art“ zu bezeichnen: Er ist also kein deutscher Deutscher, von der „Mitte“, kein Rumäniendeutscher von der „Peripherie“ – er geht sogar weiter und nennt sich gerne, wie Sie gerade auch heute hören werden, einen heimatlosen Deut-schen, einen „Zwischenschaftier“ – das ist ein Begriff, der schwerlich ins Rumänische übersetzt werden kann und den wir, in gemeinsamer Entscheidung, riskanterweise mit „om aflat în intermediaritate“ wiedergeben wollen. Wir halten allerdings fest: Dieter Schlesak nimmt für sich den Zustand eines Ausgewanderten, Exilierten in Anspruch – wir wundern uns (vielleicht entzieht sich das bloß unserer Kenntnis), dass niemand ihn mit Ovid verglichen hat, dem nach Tomis Verbannten. Vieles spricht gegen eine solche Annäherung – und dennoch: Agliano, die Ortschaft, in der Dieter Schlesak seit mehr als 25 Jahren lebt, klingt zauberhaft, der Deutschsprechende mag fasziniert sein, doch wir, die lateinischen Rumänen, aber auch Dieter Schlesak selbst, ein guter Kenner unserer Sprache, spüren den Hauch von „Entfremdung“ (lat. „alieno“ – der Fremde, Fremde). Dieter Schlesak ist allein in einem echten Paradies... Ovid war ein Fremder im thraki-schen Inferno am Pontus Euxinus. Ein vaterlandsloser Fremder, verirrt in einer Sack-gasse, Tristan Tzara ähnlich, dem heimatlosen Dichter, den Dieter Schlesak wie folgt darstellte: „Anstatt Selbstmord / beging er / die Fremde / sprachauf / sprachab – // Und fand / keinen Ausgang.“
Ein anderer großer Ausgewanderter, der Rumäne Emil Cioran, bestätigte in einem Brief aus Paris nach der Lektüre von „Visa Ost-West- Lektionen“ Schlesaks „unbarmherzige Anklage gegen den Osten und Westen“ als „eine verzweifelte Konfession von jeman-dem, der nicht wählen kann“; Schlesaks Werk hätte den Untertitel ,,,Geschichte einer Enttäuschung’“ tragen können. Wir könnten auch vorschlagen: Der Scharfblick eines kühlen Verstandes.
Als Angehöriger der Sechziger Generation, als Generationskollege von Nichita Stănescu definierte sich Dieter Schlesak als „antiwilhelmeisterlich“, setzte seine Grenzgänge fort in Bereichen der Politik und Literatur, im Bereich der „Transkommunikation“ und der Parapsychologie – diese Problematik legte er dar in einem beachteten Band, der 1975 im Rowohlt-Verlag erschienen ist. Darin ging es um das, was er „die wichtigste, die innere (bewachte) Grenze, die innere Zensur“ nannte, aber auch um das „Verschwiegene“, das Parapsychologische. Nach Schlesak ist die Errichtung einer neuen Welt notwendig, die „der neuen Zeit“ entsprechen soll. „Nach Öffnung der äußeren Grenzen geht es nun um die inneren Grenzen und Verhärtungen“, um das Verhältnis zwischen Mensch und Tod als einem der „Erbsünden“, als dem größten „Betrug“, dem „Sold sozusagen unserer ,Blindheit’ und von allen Herrschaften der Welt usurpiert, ihre Grundlage: Zeit, Empirie, geronnen in Macht und Geld.“
In all diesen Abenteuern innerhalb der Gegenwart hat Dieter Schlesak zweierlei Halt: die deutsche Sprache (mit all ihrem geistigen Gehalt) und die rumänische Kultur: „ohne die rumänische Kultur kann ich mein geistiges Dasein nicht vorstellen“ – wie er sich einmal ausdrückte. Er bewegte sich ertragreich zwischen beide Polen, war eigentlich stets zu Hause in beiden Kulturen. Schlesak verwandelt beide in Brückenköpfe dessen, was ich fachliterarisch „Interreferenzialität“ nenne, einen zweispurigen Kommunikati-onskanal. Die rumänische Kultur verdankt Schlesak die umfangreichste Anthologie ru-mänischer Lyrik im deutschsprachigen Raum, ein Riesengeschenk an die rumänische Literatur!
Der Mensch und Dichter Dieter Schlesak – der mehrere Heimaten und zugleich keine besitzt – begab sich schon lange auf geistige Suche nach einer „tieferen Heimat“, der ,,,geistigen’ Diaspora“. Um eine Hölderlin-Metapher zu verwenden, begab er sich auf die Suche nach den „Vaterlandstagen“. Unter Heranziehung des Titels der erwähnten rumänischen Lyrik-Anthologie begab er sich auf „Gefährliche Serpentinen“. Er sucht nach dem, was Ernst Bloch in seiner berühmten Studie „Das Prinzip Hoffnung“ als et-was bezeichnete, „das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Hei-mat“.
Dieter Schlesak hat nun durchaus die Chance, eine Heimat wieder zu finden und meri-dianhaft zum Ausgangspunkt zu gelangen. Was „Meridian“ bedeutet, erklärte uns ein-mal Paul Celan, ein weiterer aus Rumänien stammender großer Ausgewanderter, in sei-ner berühmten Rede bei der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises, und zwar an-hand seines eigenen, alles andere als glücklichen Weges. In einem Brief von 1962 an seinen Bukarester Förderer, den Schriftsteller Alfred Margul-Sperber, schrieb er: „In ei-nem gewissen Sinne ist mein Weg noch einmal der Ihre, wie der Ihre beginnt er am Fuße unserer heimatlichen Berge und Buchen, er hat mich, den – um es mit einem Scherzwort zu sagen – karpathisch Fixierten weit ins Transkarpathische hinausgeführt.“Paul Celan selbst kehrte oft in Gedanken und in seiner Lyrik an den karpatischen Raum zurück wie zu einer „tieferen geistigen Heimat“ – so wie auch Dieter Schlesak immer wieder zum rumänischen geistigen Raum zurückkehrte und ihn in seinem literarischen, essayistischen und publizistischen Werk in den verschiedensten Hypostasen evozierte, zu einem Raum, der seine Erinnerungen, seine Vergangenheit und die Gegenwart prägte.
Dieter Schlesak weilt wieder unter uns, an der Seite eines anderen Doktor honoris causa der Universität Bukarest, des Schriftstellers, Essayisten und Publizisten Hans Bergel, zusammen mit weiteren seiner Landsleuten und unseren ehemaligen Landsleuten, die im Dienst der deutschen Sprache stehen wie die bekannten Schriftsteller Oskar Pastior, ehemaliger Student der Bukarester Universität, Herta Müller und Richard Wagner, Wemer Söllner, Klaus Hensel und Ernest Wichner, Übersetzer wie Gerhardt Csejka und Georg Aescht – um nur einige anzuführen. Ohne schriftliche Zeugnisse seitens rumäni-scher Regierungen weisen sich all diese Persönlichkeiten durch ihre Werke als echte Botschafter der rumänischen Kultur und Literatur aus.
Ebenso wie Dieter Schlesak, unser Laureatus von heute, dem wir uns erlauben – in höchster Aufrichtigkeit und in Dankbarkeit zu sagen: Willkommen aus der „Zwischen-schaft“, mindestens für einige Tage, in der Realität einer möglichen tieferen Heimat, in der realen Welt des rumänischen geistigen Lebens!

Alina Oancea
Heimkehr
„Jetzt: wäre es Zeit, heimzukehren aus einer gescheiterten Ferne. Doch wohin?“
Die vom Autor Dieter Schlesak in allen Prosawerken unternommene Heim-Reise kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: erstens als reale Heimkehr, die in Tagebü-chern festgehalten wurde und als Ausgangspunkt und Basis für die zweite, die textge-bundene fiktive Heimkehr der Gestalten, Alter Ego des Autors, dient, um schließlich die Heimkehr als Illusion zu entlarven.

Reale Heimkehr

„Nach einer Sechsmonatereise, mit 34 die erste überhaupt, wenn man von einer fünftä-gigen Kreuzfahrt durchs Schwarze Meer absieht – nun der fünf Monate hinausgezögerte Versuch nach Hause zurückzukehren. Kein leichter Entschluss. Schlaflose Nächte, schließlich eine Reise von Station zu Station ostwärts: Frankfurt-Heidelberg (mit schwächlicher Rückkehr nach Frankfurt), ein neuer Versuch: Frankfurt-Regensburg, diesmal mit mehr Erfolg, schließlich: Regensburg-München-Wien. Letzte Station im Westen. Der Entschluss, probeweise nach Bratislava zu fahren, weil von dort aus noch Rückkehr möglich war. Heimkehr als Therapie (gegen die unerträgliche Rumänien-Melancholie) und als Methode: mehr zu erfahren.“
So beschreibt das erzählende Ich seine erste Heimreise 1969, den ersten seiner wieder-holten Versuche heimzukehren, der in der Erinnerung besonders fest verankert geblieben ist und in allen Prosawerken als Konstante auftritt.
„Die Heimkehr sollte eine ,Therapie’, eine Art Exorzismus meines Heimwehs und meiner Schuldgefühle sein, weil ich nachts nicht schlief, hin- und her gerissen war zwischen Heimweh und Angst, Liebe zu Hannah und Liebe zu jenem verdammten Land mit seinen Landschaften und vertrauten Leuten, Freunden und Eltern, die mich bis in die Träume hinein verfolgten, sodass mir das Gewissen schlug und eine Stimme mir das Wort ,Verräter’ ins Ohr flüsterte! Ich glaubte ja außerdem, ich hätte dort noch ,eine Aufgabe’ zu erfüllen und dürfte nicht ,desertieren’.“
Während aber in Visa Ost-West -Lektionen die Rückkehr nach Rumänien sowohl als endgültige Heimkehr (aus der Perspektive des zum ersten Mal verreisten Ich) als auch als vorläufige Heimkehr (aus der Perspektive des endgültig emigrierten Ich) beschrieben wird, wird sie in den folgenden Büchern ausschließlich als der Anfang einer langen Reihe gescheiterter Heimkehr-Versuche erinnert.
Einen „neuen ,Wahnsinn’“ begeht das erzählende Ich 1974, als es wieder nach Bukarest fährt, „allerdings mit deutschem Pass“ , um seinen 1970 geborenen Sohn und dessen Mutter nach Deutschland zu bringen. Wieder sind es Schuldgefühle, die das Ich dazu veranlassen, „ohne Rücksicht ,hinunter’“ zu fahren, „die Verhaftung, die Prügel, die Zelle in Kauf nehmend.“ Obwohl nur an einer einzigen Stelle und wie nebenbei er-wähnt („als T. ein einziges Mal, ja, 1974, hier aus dem Westen zu Besuch gewesen war“ ) stellt diese Reise den Ausgangspunkt für Michael T.s Heimkehr im Roman dar. Als Journalist im Auftrag der Frankfurter Rundschau, des Süddeutschen Rundfunks und mit „8000 DM im Brustbeutel […], um den Sohn ,abzukaufen’“ – Einzelheiten, die im Roman jedoch nicht durchscheinen – kehrt der Autor vorerst zum letzten Mal in die Heimat zurück.
Reale Heimfahrten unternimmt das Ich erst nach 1989 wieder, nach dem historischen Umbruch im Osten: die erste im März 1990, dann 1991, 1993, fast jedes Jahr bis zum heutigen Zeitpunkt. Durch intensives Tagebuchschreiben hält das Ich alle Etappen auf dem „Weg der Desillusionierung“ fest: „von der kurzzeitig gehegten Hoffnung über die Enttäuschung bis in die Resignation“ – Eindrücke und Reflexionen, die sehr bald die literarische Form einer Trilogie annehmen: Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991), Stehendes Ich in laufender Zeit (1994) und So nah, so fremd. Heimatlegenden (1995), und auch im Roman Der Verweser (2002) sowie in der 2004 veröffentlichten Essaysammlung Eine Transsylvanische Reise nachklingen.
Die große Enttäuschung der Heimkehr nach 16 Jahren Abwesenheit drückt das Ich vor-greifend schon am Anfang des Essays Wenn die Dinge aus dem Namen fallen aus:
„Ich bemerkte erst spät, dass ich das Vorgestern suchte. Als ich mich mit Jann ins Auto setzte – da fuhr ich noch einem Heimwehbild nach. Mein Gott, jetzt, wie alt. Aber ich war neugierig, ich wollte wissen. […] Dieses ist eine Fahrt durch meine eigenen inneren Trümmer; oh Heimat!“
In allen Einzelheiten werden die Vorbereitungen dieser so lang ersehnten Reise be-schrieben, die Aufregung und die Vorfreude, und die Angst vor dem neuen „Ausgelie-fertsein, nicht gegenüber der Securitate, nein, sondern gegenüber der großen Unbe-kannten ,ZEIT’“ : „Beim mit Erregung geplanten Besuch im März droht ein doppelter Abgrund, die gestockte Zeit und jetzt die fließende werden voraussichtlich mit der Erin-nerungszeit zusammenprallen.“ Und so empfindet dann das Ich beim Antritt der ers-ten Reise den Anschluss an die Vergangenheit:
„4. März. JETZT ist es, als käme ich in eine vergrößerte Zeit. Was vor 1944 gewesen war, ist nun mit angeschlossen, meine Geburtszeit nicht mehr von mir getrennt; das Vorgestern, also die dreißiger Jahre und mehr noch Siebenbürgen als K.-u.-K.-Land, Großvaters Zeit, gehören wieder zur Gegenwart – wenn auch noch verborgen […].“
Ausschließlich in der Erinnerung überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart, im Jetzt kann keine Kontinuität hergestellt werden, sodass die Wiederbegegnung mit der Kinderlandschaft“ und die erste Heimkehr allgemein scheitern muss:
„Es geschah auch ohne besondere Emotionen, ohne Fest, fast nebenbei und alltäglich, was man so lange erwartet, erhofft hatte. […] Wie im Märchen mit den drei Wünschen: die Erfüllung ist immer falsch, schließlich möchte man sie gar nicht. […] Der Zustand der Sehnsucht wird gelöscht. Melancholie der Erfüllung.“
Nach dem Schock der ersten Heimreise sind die Erwartungen für die folgenden nicht mehr so groß, ganz im Gegenteil: „mit dem Schrecken dieser Heimkehr im Herzen“ denkt das Ich „mit Grausen an eine neue Begegnung mit meiner Fremde zu Hause, mit dem zurückgelassenen Anderen“ und beschreibt sich dementsprechend:
„Ich komme als Fremder nach Hause, ich habe mich hier vor einem Vierteljahrhundert zurückgelassen, mich selbst verlassen, und bin ein Anderer, dieser Andere kehrt nun nach Hause zurück, er ist es und er ist es nicht mehr: der Blick hat sich verändert, der Umbau der Person im Westen ist allzu gut gelungen. Ich bin ein Anderer geworden, der sich nun von sich selbst getrennt hat. Gespalten. Eine Art Phantom, Mensch der dritten Art.“
Fremd und doch immer vertrauter erscheint das neue Heimatbild in seiner fortschreiten-den Verwestlichung: statt bettelnde Kinder und „Valutajäger“ an allen Straßenecken, nun teure Autos, Coca-Cola-Reklame und neu verputzte Häuser, während in den Buch-handlungen das Ceauşescu-Bild und -,Werk’ durch Bücher über den Marschall Anto-nescu und Königsbilder ersetzt wurde.
Besonders stark fällt der Kontrast zwischen dem „mitteleuropäischen Siebenbürgen, einstmals k.- und k.-Provinz“, und dem „Altreich“, dem „Handels- und Händlerparadies Levante“ auf: „[…] ich sah mit freiem Auge den Unterschied zwischen den Traditio-nen, die nun hervordrängen […]. Ich begriff plötzlich, wie jetzt überall neu, viel tiefere Grenzen aufbrechen, überall mitten durch die ehemaligen Ostländer...“
Die häufigen Heimfahrten unternimmt das Ich nicht nur aus „Nostalgie“ und „Neugier-de“ , sondern auch aus Pflichtgefühl seinen Eltern gegenüber: Es ist Mutters Wunsch, sich um die Gräber und Häuser zu kümmern, dem das Ich Folge leistet und die Rückga-be des „Baumgartenhauses“ und des „Hauses auf dem Holzmarkt“ beantragt: „Das sind wir doch meinem und auch deinem Vater schuldig!!!“ Der Vater hingegen fordert im Traum: „Wir sollten den Verwandten und Freunden dort Mut machen, […] Mat mau-chen, sellt er ännen“.
„12. März. […] Und kaufe das Sommerhaus ganz sicher nicht, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, dieses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirkliche zu holen. Ins Wirkliche? Dieses Land gehört nur erinnert noch mir, in der Wirklichkeit hat es sich viel weiter von mir entfernt, als ich von ihm.“
Auch Jahre später wird der Erzähler seine Entscheidung nicht ändern und das Sommer-haus nicht kaufen. Anders jedoch steht es um das Geburtshaus, in der Familie „Baruch-haus“ oder „Gassenhaus“ genannt, „das in der Baiergasse liegt und denkmalgeschützt ist, zum ,Weltkulturerbe’ gehört“, denn „erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch“ und das Vergangene ist wieder nah. In seinen Bemühungen um das Elternhaus sieht der Erzähler aber auch die „Wiedergutmachung der roten Enteignung […], da es ganz persönlich in meine Erinnerungen, in den Lebensbruch durch Krieg und Nazizeit und in die siebenbürgen-deutsche Familiengeschichte hineinrückte.“
Heim geht die Reise jedoch nicht nur nach Siebenbürgen oder Bukarest, sondern auch nach C. oder genauer nach Agliano bei Camaiore, nachdem der Autor 1973 Italien zu seinem neuen Zuhause erwählt hatte. Schon auf seiner ersten Italienreise 1968 erkennt der Erzähler, dass ihn etwas Besonderes an dieses Land bindet: in Lucca erlebt das er-zählende Ich das „seltsame Gefühl des Wiedererkennens, des Déjà-vu“ beim Anblick eines Hauses, das ihm so vertraut vorkommt, „wie die Häuser und Gegenstände meiner Kindheit […]. Als gäbe es wirklich so etwas wie eine Wiederkehr“. Spätere Nachfor-schungen und in Lucca gefundene Dokumente erschließen, dass es sich um das Haus des Arztes Nicolao Granucci handelt und bestätigen das Ich in der Vorahnung, „dass es zwischen mir und jenem Haus eine geheime Lebensbindung gab“:
In dieser toskanischen Gegend versucht der Erzähler, eine neue Heimat zu finden, muss aber auch nach jahrelangem „Einsamkeitsmarathon“ auf dem Berg verbittert bemerken: „Na, siehst du, hier ist Kleinseveso, Gestank des Teufels. Ein Pferdefuß dazu. Lächer-lich, zehn Stunden zu fahren, um nicht nach Hause zu kommen. […] Hallo, der Gefan-gene stellt sich freiwillig.“ Erst nach wiederholter Konfrontation mit der in ständiger Wandlung begriffenen ,alten’ Heimat und dem immer stärkeren Gefühl dort fremd und Gast zu sein, kann der Erzähler (erleichtert?!?) behaupten: „… zum erstenmal bin ich nun froh, von meiner ,Heimkehr’ wieder ,nach Hause’, nach Italien zurückfahren zu können.“
Und nachdem auch Schlesaks Eltern nach Deutschland ausgewandert sind, geht die Heimfahrt in eine neue Richtung „in die große Kreisstadt A. auf der Alb“ , „hinauf in die Triumphstadt“ , „wo ich Heimat gefunden haben sollte, den Jahren nach hätte ich voll ,eingegliedert’ sein müssen, den Entwurzelungszuschuß (209 DM) hatte ich ja be-zogen.“
Da sich die Aufmerksamkeit des Autors hauptsächlich auf die Heimkehr-Erfahrungen des (erzählenden und erzählten) Ich und seines Alter Ego konzentriert, kommen nur sel-ten auch andere Stimmen zum Ausdruck: eine davon ist die Mutter, die von ihrer ent-täuschenden „Erinnerungsfahrt ins Leere, in die Stadt der Geister“ berichtet:
„Es gibt unsere Stadt nicht mehr […]. Niemand kannte und grüßte mich, und ich konnte niemanden mehr erkennen und grüßen, obwohl die Straßen, die Häuser unverändert, wenn auch etwas verfallen da stehen. […] Sie sei dann mit der ehemaligen Stadt im Kopf durch die Gassen, etwa auf der Marktzeile spazieren gegangen, habe dann auf ei-ner Bank sanft und wie verloren geträumt und dann jene Orte besucht, die noch ein we-nig wirklich zu sein schienen, die wie kleine Inseln herausragenden wirklichen Stellen berührt; doch alles sei so geisterhaft gewesen.“
Im Roman Der Verweser wird auch Nicolao Granuccis „gefährliche Heimkehr nach Lucca, wo ihn der sichere Tod erwartete“, beschrieben. Nach jahrelanger Flucht vor seinen Verfolgern kreuz und quer durch Europa und nach dem Exil in England und in Transsylvanien unternimmt nun Granucci die lang ersehnte Reise zurück zum „Schoß jener Erde, deren Geruch ihn immer verfolgt hatte, und den es sonst nirgends gab. […] Und ritt so über Hermannstadt, das Banat, dann Ungarn, über Agram, Kroatien nach Hause […] und dann verendete ihm auch noch das treue Pferd; und er kam so mit der Postkutsche über Istrien nach Triest, Venedig, Bologna, und über den Apennin nach Prato und Pistoia, er, nun völlig mittellos und mehrfach bestohlen von Räubern und Wegelagerern, selbst erstaunt, noch am Leben zu sein […] war dann nach vierwöchiger Reise endlich in der Nähe von Lucca angelangt! Es klopfte ihm das Herz vor Freude, wieder Boden unter den Füßen zu haben!“

Lothar Baier

Die gebrochene Übereinkunft
Dieter Schlesaks Versuch, den Umbruch von 1989 zu verstehen
(Wenn die Dinge aus dem Namen fallen. Essay)

Mag eine Revolution gelingen oder scheitern und mit Gräueltaten einhergehen, sagt Kant im „Streit der Fakultäten“, „ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat…“ Ganz kantisch argumentiert ein Zeitgenosse der Umwälzungen vom Herbst 1989, wenn er, seine Enttäuschung über den nachfolgenden Gang der Dinge nicht verbergend, aber auch ihrer Endgültigkeit misstrauend, schreibt: „Und doch bin ich optimistisch, ist mir das gescheiterte Wunder von 1989 ein weiteres Zeichen dafür, dass jenes offene Mögliche, das einfällt, wirklich werden kann, erlebt worden ist, etwas, das auch in Einfällen da ist, in genialen Kunstwerken oder in wissen-schaftlichen Entdeckungen…“
Dieter Schlesak, der Autor dieser Zeilen, bringt als Beobachter des geschichtlichen Umbruchs von 1989 schmerzlich ideale Voraussetzungen mit: 1934 im siebenbürgischen Schäßburg geboren, hat Schlesak bis 1969 als Lehrer und Schriftsteller im diktatorisch regierten Rumänien gelebt, kennt den Realsozialismus rumänischer Prägung aus eigener Erfahrung; nach seiner Übersiedlung in den Westen blieb er nicht dauerhaft in der Bundesrepublik hängen, sondern wurde in Italien ansässig, sodass er Vertrautheit mit Distanz zu den deutschen Angelegenheiten verbindet. Schlesak bleibt daher von der Versuchung verschont, das Ende der Abschottung zweier verfeindeter Lager ausschließ-lich durch die deutsche Brille zu betrachten, als bloßen Auftakt zu dem zentralen Staat-sakt deutsche Vereinigung. Und er ist ein guter Schriftsteller, das heißt, er ist imstande, schwer greifbare Zwischenlagen und Mischzustände, jenseits dürrer, politischer Begriffe und ideologisch aufgeladener Klischees, in Worte zu fassen. Schlesak erinnert aber auch daran, dass sich die Fähigkeit, zwischen den bereitstehenden Denkschablonen hin-durchzuzweifeln, nicht schmerzlos erwirbt, sondern der Heimsuchung durch vielfältige Verzweiflungen abgetrotzt ist.
„Aber existierte dieser Zusammenhang der Welt-Bilder“, heißt es am Beginn des Essays, „der Verlust dieses Brusttons der Überzeugung, mit dem sich leben ließ, nicht schon seit Jahren; es ist ein langsamer Prozess gewesen, der die Revolution vorbereitet hat. Bis hin zur Verzweiflung am Schreibtisch, dass jede Zeile in der Luft hängt, von nichts beglaubigt wird – dieses war auch für den Schreiber spürbar, und ging weiter als nur in den Zusammenbruch aller Arten von Gedankengebäuden und Utopien!“ Dieser Schreiber erhebt sich nicht über Zeitgenossen, die nach der östlichen Lagerräumung in die Melancholie der Desorientierung verfielen, statt in ungetrübten Jubel auszubrechen, weil er nachvollziehen kann, dass in Ost und West erst einmal die „Fassungslosigkeit“ umgeht, wie er sagt: „Im Osten schmerzlich real, im Westen leuchten erst noch die Be-griffe heim.“
Für Schlesak sind Maueröffnung und Selbstauflösung der östlichen Diktaturen Ereignis-se, die nicht nur den politischen Status quo in Europa über den Haufen warfen, sondern auch tief in das Beziehungsgefüge zwischen Wörtern und Sachen eingriffen, das Ver-hältnis zu Raum und Zeit berührten. Seltsamerweise ist der Autor gerade an dem Ort, an dem der Epochenumbruch nicht gewaltlos, sondern blutig verlief, in Rumänien, wohin er besuchsweise zurückgekehrt ist, auf diesen Gedanken gekommen: dass das Ereignis auch ein Ereignis innerhalb der symbolischen Ordnung gewesen ist, das nicht aufgehört hat, in den Köpfen weiterzuwirken.
Zunächst ist es schwer, sich den Gefühlen zu verschließen, die Schlesaks Bericht von der Wiederbegegnung mit jahrzehntelang nicht gesehenen rumänischen Freunden ver-mittelt. Ausführlich lässt der Autor Augenzeugen der dramatischen Dezember-Tage zu Wort kommen, in denen sich, auf Kosten zahlreicher Opfer, das Schicksal des Ceauşescu-Regimes entschied. Dabei erinnert er sich an die Vorstellungen, die er sich gemacht hat, als im zu Hause die Fernsehbilder aus Bukarest und aus Temesvar den Schlaf raubten; er entdeckt allmählich, dass die Bilder nicht nur ein falsches Bild über-mittelten, sondern dass die Medien selbst die Realität geschaffen hatten, über die sie dann berichteten. Im Guten wie im Bösen: im Guten dadurch, dass sie einer lokalen Re-volte zu einer überdimensionierten Ausstrahlung verhalfen, die dann einen großen Teil des Landes ansteckte; im Bösen dadurch, dass sie den Sturz des Regimes mit der Ge-schichte einer Fiktion verknüpften, der Fiktion eines grauenhaften Völkermords, die, einmal als Nachricht in die Welt gesetzt, durch nachträgliche Korrekturen nicht mehr gänzlich aus der Welt zu schaffen ist. „Jetzt weiß ich: Die Wahrheit liegt hinter den Fernsehbildern“, schreibt Schlesak, „Es ist ein Prozess gegen mich und meine Gutgläu-bigkeit.“
Der Titel seines Essays „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ ist nicht einfach eine hübsche Metapher, sondern bezeichnet genau das Problem, an dem sich Schlesaks Ref-lexionen festbeißen: Wie sich verantwortlich in der Welt verhalten, wenn die fundamen-tale Übereinkunft, auf der Denken und Handeln in der Gesellschaft beruhen, darüber nämlich, dass die übermittelten Bilder und anerkannten Namen auch einer vorhandenen Realität entsprechen, heimlich gekündigt worden ist? Wie reagieren, „wenn alles schon heillos veraltet ist, was noch über die Wahrnehmung erkannt werden kann“? Vielleicht kann aus Ländern wie Rumänien eher eine Antwort kommen als aus dem Westen und sogar eine neue Hoffnung, meint der Autor, weil dort die „westeuropäische Todesver-drängung nicht stattgefunden hat“, und folglich die Herrschaft der knappen Zeit, die für die Liquidation der sich in der Zeit entfaltenden Realitätswahrnehmung verantwortlich ist, sich nicht hat installieren können.
„Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ ist ein nachdenkliches und zum Nach-Denken der jüngsten rasanten Veränderungen anregendes Buch. Es hat es nicht nötig, zu Krü-cken Zuflucht zu nehmen, nach denen sein Autor immer wieder greift, wenn er aus Theorien zitiert, die gerade in Mode sind und etwas geheimnisvoll raunen. „Es war nicht nur das Ende des ideologischen Zeitalters, sondern das Ende der jahrtausendealten Zeit des Alphabets und der Abstraktion.“ Walzt der Autor aber nicht dadurch seine eigenen Differenzierungen platt, dass er mithilfe intellektueller Gurus den 1989 begonnenen Zeitabschnitt zum New Age erklärt?

Alina Oncea
Die Heimkehr ist ein Weißes Blatt

Die Sprache
„Nach so vielen Brüchen und Utopieverlusten in dieser Unzeit bin ich bei der letzten In-stanz angekommen, nur noch die Grenzerfahrungen der begrifflich nicht fassbaren ,Randphänomene’, zu der die Literatur mit ihren Worthöfen und Zwischenräumen, ihrer Berührungsfähigkeit gehört, sind mir geblieben.“
Diese Erfahrung im Bereich der Sprache und der Literatur beginnt für den Autor Dieter Schlesak mit dem „Randphänomen Siebenbürgen-Deutsch“ .
Neben dem schweren deutschen Erbe und dem brutalen Erbe des stalinistischen Staates ist die soziale und sprachliche Isolation der rumäniendeutschen Minderheit eine weitere Folge der historischen Brüche. Vor allem für die jüngeren deutschsprachigen Literaten, die durch ihre politische Einstellung einen Traditionsbruch begingen, stellt diese Kri-sensituation einerseits eine Gefahr dar; andererseits bietet sie ihnen die Möglichkeit einer kulturellen Erneuerung:
„Fürs Leben Unglück, für die Literatur eine Chance: Die östlichen und Kolonistenmög-lichkeiten, der Trieb, den Bruch in sich selbst zu artikulieren, in Trauerarbeit mit der verlorenen Zeit und mit den Erinnerungen fertig zu werden; Sprach- und Bewusstseins-reaktionen auf eine besondere Lage.“
Und genau diese ´besondere Lage` zwingt die Schriftsteller zu extremen Entscheidun-gen: entweder Zuflucht in der inneren Emigration suchen oder sich „eine totalitäre See-le“ anlegen.
Besonders im Verhältnis zum Minderheitendeutsch, oder „Randdeutsch“, wie Schlesak die ,Inselsprache’ bezeichnet, wird der Minderwertigkeitskomplex der Schriftsteller deutlich, „weil man bei dieser Sprache, die man mitbekommt, immer von einem Angst-gefühl begleitet ist, dass man sie nicht richtig beherrscht, dass man eben ein Rand-deutscher ist und kein Binnendeutscher“, behauptet der Autor. Daher auch der „sehr bewusste Umgang mit der deutschen Sprache, der auch zu einem sehr bewussten Um-gang mit den Texten, mit der eigenen Literatur führt“. Diese neue, engagierte Sprach-sensibilität beweist Schlesak in der Prosa schon im ersten Essay Visa. Ost-West-Lektionen, und auf ganz besonderer Weise im Roman Vaterlandstage, in dem er eine „Verwandlung der deutschen Sprache“ durchführt und hervorhebt, „wieweit aus einem besonderen deutschen Bewußtsein, aus dem Randphänomen hier ein Sprachphänomen geworden ist“.
Zu einem bewussten Umgang nicht nur mit der deutschen, sondern mit der Sprache schlechthin, hatte schon das rumänische Überwachungssystem der Securitate geführt, „die REALITÄT der Angst, der Geheimpolizei, der Zensur“, ein „Repressionsapparat“, der eine lang anhaltende, für manchen Autor fatale ,Bewusstseinsamputation’ und inne-re Zensur bewirkt hatte. Hinzu kommt die „Verdrängungskunst“, die Darstellung der „geschönten ,Wirklichkeit’ einer terroristischen ,heilen Welt’“ als Haupthandwerk der Schriftsteller, die dadurch nicht nur ihr eigenes Leben „,aufgeschoben’, sondern auch mitgeholfen [hatten], dass das Leben einer ganzen Nation aufgeschoben und vertagt worden war. Wir hatten das ,Nichts’ kultiviert, es mit Worten zugedeckt“.
Die Sprache und die Ideologie benützen Autoren aber auch in eigenem Interesse, „zum Teil als Realitätsersatz, zum Teil als Schutzmittel gegen das Leben, zum Teil als Mög-lichkeit, den Tod aufzuschieben“: Als „Sünde“ bezeichnet Schlesak im Nachhinein die Realitätsflucht („Ich nannte es ,Anwesen’, wenn ich ,drin’ war in meiner Gedanken-burg, Seelenburg.“ ), wobei er die Schuld der eigenen Schriftstellergeneration „in den Versäumnissen, im Abblocken, dem Nicht-Wahrnehmen-Wollen und Nicht-Wahrnehmen-Können dessen, was sie geschehen ließ“ erkennt. Sozialistischer Rea-lismus bedeutete, mithilfe des Wortes „künstliche Welten ohne Mühe herzustellen: für Schriftsteller und Diktatoren gleichermaßen geeignet“ , denn nur durch Sprache kann die Abstraktion bis ins Absurde übertrieben, das Individuelle vernichtet und die Wirk-lichkeit verformt und manipuliert werden. Und trotzdem betrachtet der Autor das Nega-tive der Diktatur auch als Gewinn, denn die „Diktatur hat die Verletzlichkeit und die Sprach- und Hellhörigkeit in ihren Gefahrenzonen, die ja sprachliche waren, noch ver-schärft, sie hat die Autoren überwacht, zensiert, verfolgt, offen waren die Abgründe des Absurden, die Sinne der Autoren für das Absurde geschärft.“
Zwischen Autor und Leser entwickelte sich eine Art Komplizität: es wurden Formen gesucht und geschaffen, um die Wahrheit über die rumänische Wirklichkeit durch die strenge Zensur durchzuschmuggeln und gleichzeitig gegen das Regime anzugehen: eine Art „Hinweis-Sprache […] äsopischer Art“ und das „Versteckspiel mit der Meta-pher“ :
„So entstand etwas sehr ,Modernes’ daraus, nämlich eine Art erlebte ,Hirnsyntax’ der Sprache. Inhaltlich ließe sich dies grob so ausdrücken: Wir wurden von der Polizei zur Metapher, also zur Kunst der besonderen Rede, gezwungen. In Diktaturen wird diese Tatsache, die sonst keiner merkt, virulent, hautnah, alltäglich und in der Angst über-deutlich. Unser Sprachsinn damals war sehr geschärft, nicht nur weil wir Deutschspre-chende in einer fremden Umgebung waren, sondern weil Sprache generell gefährlich war. Und subversives forderte im Spiegel unsagbarer ganzer ,Gestalt’ die Lüge heraus, sich zu zeigen. Das war kein nur abgehobenes privates Spiel wie im Westen: man pro-bierte neue Möglichkeiten der Selbstbehauptung aus.“
Diesem totalitären Überwachungsstaat der sechziger Jahre verdankt der Autor die für seinen weiteren Lebensweg so folgenreiche Entdeckung der Sprache, des literarischen Sprechens und die Erkenntnis des Sprachpotenzials:
„Ich besaß nämlich einen Schädel mit einem gefährlichen Sprengstoff staatsfeindlicher Waffenarsenale: die Sprache; Syntax, Sprengsätze. Obwohl ich ein ,Überzeugter’ war, trauten sie mir nicht; Interlinearversionen, Metaphern, Transportmittel in kaum wahr-nehmbaren Nuancen: Hauptwörter abgestuft in Schattierungen von Eigenschaftswör-tern, Tunnel der Adverbien, und die langen Züge und Flugzeuge, ja, der Verben; dies fürchteten sie; in ganzen Armeen rannte die Phantasie an gegen die Elefanten und Monster der farblosen, der abgetrennten Jubelplätze schreiender Fahnenschwenker und missbrauchter Transparente, gegen Reden und Leitartikel, Verfügungen und Paragra-phen, wir, dort noch eine Gegenmacht, dass jeder Westwortmacher, Privatliterat, vor Neid erblassen könnte.“
Und voll Ironie lässt Schlesak den Neid des Westens in der Gestalt des Herrn G., des westdeutschen Verlegers auf Besuch in Bukarest, durchscheinen: Neid auf „die merk-würdige Freiheit in eurer Gefangenschaft! […] Auch beruflich scheint ihr ja hier geach-tete Leute zu sein. Und verdienst besser als die Ärzte, Schreibender! Bei uns ist dieser Beruf echt ein Hungertuch, auf dem kannst du dich dann verewigen. Und einen Scheiß kümmert man sich um dich; hier aber genießt du allerhöchste Aufmerksamkeit“:
Krieg, Nachkrieg und Kalter Krieg haben nicht nur Sprachverletzungen und -verstümmelungen herbeigeführt, sondern auch eine Sprachverwandlung bewirkt und ein neues Sprachbewusstsein geweckt. „Die alte Sprache, die alten Bilder, die alten Lieder, die alten Formeln, sie tragen nicht mehr“ , bemerkt der Historiker Prof. Andreas Mö-ckel, der Dieter Schlesaks Bemühungen um sprachliche Vergangenheitsbewältigung entsprechend zu schätzen weiß:
„Sie habe eine große Treffsicherheit, wenn Sie die dunklen und heiklen Seiten der ver-gangenen Jahrzehnte beschreiben. Die Katastrophe war ein Desaster der Sprache, daher muß das Sprechen vom Desaster einen neuen Anfang setzen. Indem Sie eine neue Spra-che sprechen, wie sie unter den Schriftstellern Siebenbürgens und Rumäniens so nicht gesprochen worden ist […]. Ich finde es sehr tröstlich, dass Sie an die Sprache, an ihre Kraft, an ihre Heilkraft glauben.“
Und genau auf diese Kraft der Sprache deutet der Autor im folgenden Gedicht, einem „Reinigungsversuch der deutschen Sprache durch Küsse und Liebesgeflüster“:

„,Haus des Seins?’
Jedes Komma jedes Und
Hat der Mörder gespalten
gespalten die Zunge
und im Befehl vernichtet
vor den Opfern was war!
Blut klebt an ihrem Hauch
An jedem Laut.

Dort auch aus der Stadt woher
Ich kam aus allen Städten
Mit unseren Lauten
Ist für immer eine Blutspur
Zu uns gelegt!

Lass uns die Zeiten vermischen
Wie unsere Glut die in uns zittert
Lass uns die Worte oben mischen
Mit denen die Mörder das Töten befahlen
Lass uns sie waschen im Liebesgeflüster
Lass sie uns jung in die Lippen tauschen
In Küssen so zur Welt
Gebracht / sie und uns
Liebste zu einer neuen Geschichte.“

Als eine „explosive Mischung aus Sprachkomplexen des Minderheitendeutschs und des geschärften Sprachsinns in der Diktatur“ beschreibt Schlesak die eigene Literatur-Sprache, zu dessen Entwicklung auch die schmerzlichen Erfahrungen des „Weltwech-sels und Heimatverlustes“ im Westen wesentlich beigetragen haben, „dann die Ableh-nung einer abgemagerten Mediensprache und Warensprache, viele sich überkreuzende Bewusstseinszustände, die zu sich überkreuzenden Sprachzuständen führten“: Wäh-rend die Sprache und die „Wunderdroge Literatur“ im Heimatland auch „ein Solidari-tätsmittel, also heimlich sogar ein sozialer Akt“ war, wird sie im Westen zur ,Privatsache’ und belanglos: „[…] nichts mehr hat Bedeutung, auch das Wort nicht, auch die Aktion nicht, alles läuft sich tot; alles verläuft sich ins Unverbindliche, auch Politik, auch aggressivste Kunst, aufgefangen vom Konsum, vom Markt, von der ,Gummiwand’-Freiheit, die gar nichts bedeutet.“
Um nicht selbst ein Opfer der westlichen Verbrauchersprache zu werden, die nur der Ausdruck einer übertriebenen Konsumorientierung ist („Markennamen […], wichtigstes Kriterium der Wahrheit: Kosten, VerKosten, Geschmack ist Sein, Welt zum Stil hin-gerichtet.“ ), flüchtet der Schriftsteller in die Isolation des toskanischen Berges, wo ihm jedoch eine neue Gefahr auflauert:
„So aber verlierst du deine Sprache, sagte er [Herr G.], wirst einfach ein sprachloser Esel. Dein Berg ist leere Transzendenz. Hebst ab und himmelst stotternd.“
Die mündliche Sprache scheint der Autor jedoch nicht zu vermissen, im Gegenteil, er wendet sich gegen die Mündlichkeit, die an die „Macht- und Massensprache“ grenzt, welche „die Fassaden und Realitätsillusion herstellen, Wirklichkeit halluzinieren […], die Vergiftungen und Anpassungsmechanismen in die Psyche transportieren“ : „[…] es ist die Sprache, vor der ich Angst habe, weil die Sonde in mein Bewußtsein hinein-reicht.“ Dieser Ausdrucksform setzt er die Sprache der Literatur, die Schrift entgegen, „oder meine eigene Sprache, wo die Worthöfe Berührungsphänomene erzeugen in der Metapher, im Symbol, in der Struktur eines Textes, wo dann dieser Flash, dieses Glücksgefühl entsteht bei den Berührungen von Sinn, von Zusammenhängen, die immer dichter werden wie die Bildpunkte bei einem Fernsehbild“: Es ist die vom Schriftstel-ler bevorzugte Sprache, denn „sie hat mit Konsum, Kapital, Partei-Wort-Bedürfnissen, Markt und Bestsellerei nichts zu tun“. Diese „Feindschaft zwischen den beiden Spra-chen“ , wie Schlesak sie bezeichnet, soll jedoch mit der Entdeckung der unendlichen sprachlichen Möglichkeiten des Internets beendet werden. 1994 heißt es noch: „Münd-lichkeit ist Verblödung! Nur die Schrift transportiert Wahrheit, beim Reden mischt sich jeder ein in die Intelligenz der eigenen Sprache, stört und zerstört sie.“ Zehn Jahre später chattet („Chat heißt Geplauder, Geschwätz.“) der im Internet vernetzte Schrift-steller/Autor mit „Abwesenden aus aller Welt“ und verteidigt diese neue geschriebene Mündlichkeit, „weil im Chat viel mehr geschieht als harmloser small talk. Das Wort be-kommt wie in der Poesie Sprengkraft“. Die Technik ermöglicht somit eine neue küns-tlerische Legitimität der mündlichen Sprache: der Chat ist nicht nur eine „lichtschnelle Schreibbrücke“ , sondern auch Rohstoffquelle für den Schriftsteller, der auf diese Weise die Gesprächspartner am Entstehen (s)eines literarischen Werkes aktiv teilnehmen lässt. Internetslang und Fachausdrücke, Sprachmaterial aus dem Alltag sowie für die Literatur als noch tabu empfundene „Liebesgeflüster“ (34) verschmelzen so zu Romans Netz, dem neuen Roman Dieter Schlesaks und bestätigen die Bezeichnung „bewegliche Sprache“ , die von der siebenbürgischen Autorin Dora Bettina Schuller schon für den Roman Vaterlandstage verwendet wurde.
Für Dieter Schlesak besteht die „Spracharbeit“ des Autors „im Aufbrechen oder der Pa-rodie von Klischees, oft auch des ´bewährten und erprobten` Ausdrucks, des nichtssa-genden Standardausdruckes, schließlich der alles zudeckenden Wort-Lüge im Berufs- und Familienalltag oder in der Politik, im Mediengeschäft und anderen Geschäften“, wobei er den eigenen Ausdruck „erst beim Ablegen von oder sehr oft auch der Reibung an ,bewährten’ Sprachfertigteilen, im überraschenden, unerwarteten Kontext“ findet. „Lyrik als Sprache der Epik oder umgekehrt“ so definiert Bettina Schuller die literari-sche Sprache des Schriftstellers, „sie trägt sich kurzgeschürzt, gestylet, traditionell, scharfumrissen, diffus schweifend, bald brutal vordergründig, bald empfindlich hinter-gründig“, eine Sprache, mit deren Hilfe er sich „seine Identität, seine Freiheit, seine Schuld“ erschreibt.

Die Schrift
„Vielleicht gehöre ich als ,freier’ Autor zu einer Art experimentellen Grenzgängerei, bei der nur die Ersatz-Institution SPRACHE und meine Partnerin verhindert haben, dass es zu einem ,experimentellen Irresein’ gekommen ist. Etwa 6000 Seiten Text entstanden in diesem tagebuchartigen Schreibprozess zum Roman ,Vaterlandstage’, unaufhörliches Schreiben, schreibend leben in der fremden Umgebung, beim Essen, in der Straßenbahn, im Auto, im Flugzeug, im Kaufhaus, in der Innenstadt, vielleicht aus einer Art Angst, zwischen die Sekunden zu fallen, da es anfangs so schien, als könnten die Sinne nirgends einen Halt finden, und müssten ins Nichts fallen, wenn die Sprache sie nicht in einem selbstgeschaffenen Außenbild, das aus dem eben Gesehenen ein Wortfoto als Boden herstellte, auffing.“
Wie schon öfter in der vorliegenden Arbeit hervorgehoben wurde, sind die Sprache und die Schrift für den Autor Dieter Schlesak „Identitätsspender“ und ein „Kompensati-onsphänomen, […] ein Schreiben aus dem Mangel – bis hin in den Liebesverlust, in den Wahrnehmungsverlust, in den Bodenverlust – und aus der Unmöglichkeit einer Traditi-onsbindung auf andere Weise“. In der Schrift erst gelingt es ihm, sich eine ,Ersatzheimat’ zu errichten und die eigenen „Lebensstückchen […] zu einem Ganzen, zu einem selbstgeschaffenen Kosmos“ zusammenzusetzen. Und dass das Schreiben nicht nur ein bewährtes Mittel gegen den Wahnsinn sei, weiß der Schriftsteller aus eigener Erfahrung: „30 Jahre schon mache ich das […], diese Lebensjahre, so gelebt, meine angehäuften Investitionen […], dass ich diese Dinge um mich versammle, ja, einen Beruf daraus gemacht habe.“
„Das Schreiben ist auch eine Droge, sagt der Sieger! Jene Droge, mein Lieber, hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Politik der Diktatoren, ihre totalitäre Enklave aufzu-bauen, indem sie die banale Realität, ,die einzige’, die wir selbst bauen, Spiegel unserer Unfähigkeit, überspringen, ausklammern, vernichten und Hoffnung vorspielen, wo es keine gibt. Und jeder, der sich mal als Traumtänzer sein Phantasie-Anwesen, ein dauer-erfundenes Fest via Kunst errichtet, sich damit eingelassen hat, ist nach Jahren unheilbar süchtig; und wenn er dieses Spielzeug, den Glauben daran verliert, gar sich traut, erwachsen zu werden, ist er ziemlich verloren…“
Diktatur und Geheimpolizei haben dem Autor nicht nur die Gefahr der Schrift nahege-legt („Dass Texte lebensbedrohend sein können, dass sie kein schönes Spiel sind, haben wir jedenfalls unzählige Male erfahren müssen – ein Wort zu viel, es konnte die Freiheit kosten. Diese Erfahrung einer besonderen ,Geheimdienstästhetik’ ist unvergesslich, es prägt das Sprachverhalten fürs ganze Leben.“ ), sondern gerade dadurch auch den Weg zur Moderne geebnet:
„Es ist kein Sarkasmus, wenn ich sage, dort mehr über die Hölle der Zeit erfahren zu haben als hier. Grundsätzliches über die Auflösung von Logik und Sprache, die Ver-nichtung des Vorurteils, das uns einredet, es gäbe so etwas wie Raum und Zeit, gar eine Logik.
Also Dank dafür, die Moderne am eignen Leib erfahren zu haben, nicht nur als Schreib-experiment. Sondern sozusagen als geschriebene Figur von der Staatspolizei in Verhör-protokollen, Spitzelberichten, ,freundschaftlichen Gesprächen’ mit meinem jahrelangen ,Schatten’, den ich einmal in der Woche treffen musste.“
Doch erst aus dieser „Reibung mit der Non-Realität“ und unter wachsender Lebensge-fahr „indem man sein eigenes Leben abschrieb“, konnte „diese originelle südosteuropä-ische Variante einer postmodernen Literatur“ entstehen: „Literatur jenseits der Literatur, die die Grenzen des Erträglichen und der Vorstellung auslotete.“
Inwiefern diese Schreibbedingungen bestimmend waren, erkennt der ´Ost-Autor` beim Weltwechsel, wenn er sich „ins diffuse Private einer bindungslosen Freiheit entlassen“ fühlt und feststellen muss, dass im Westen „die rationale Kontrolle über jede Emotion größer ist […], die Öffentlichkeit […] so perfekt und instrumentell, dass sie nur Ursächlichkeiten, sozial und rational Klargestelltes und eventuell noch Diskussion annimmt. Die Diktatur des Öffentlichen, die Diktatur des Merkantilen und Anti-Privaten (das Private wird Konsum und Konsumartikel) ist hier mindestens so groß wie bei uns der offiziell manipulierte Mangel an Öffentlichkeit“: Die anfangs noch beibe-haltene östliche „Schärfe einer Sicht zwischen den Systemen“ nimmt allmählich ab „der Blick wird angepasst und matt“ ; „die Erregung beim Denken lässt nach. Eine gewisse Entspanntheit, ein sich nicht mehr persönlich Engagieren […] und das führt zu der all-bekannten Unverbindlichkeit westlicher Intellektueller.“
„Hier käme ich nie auf den Gedanken, mich ,lyrisch’ gehen zu lassen, und habe auch noch kein Gedicht geschrieben“ , behauptet der Schriftsteller 1970, kurz nach seiner Emigration. Allein der Essay könne für ihn als Ausdrucksform noch infrage kommen, da es die Möglichkeit bietet, sowohl kritische Distanz als auch analytische Unbestech-lichkeit zu wahren. Für Schlesak ist die Kunst „Widerstand […], sie kommt aus ihrem Bereich der ,Zeit’, der ,Erinnerung’, der ,Utopie’, aus der Möglichkeit, nicht aus der Wirklichkeit“ , und die Literatur „persönlichster Ausdruck eines sprachgewordenen Lebens […], das Gedächtnis ins Wort bringt“. Und im Hinblick auf das im Westen entstandene literarische Werk des Schriftstellers triff Oliver Sills Bemerkung genau zu: „[…] die literarische Erinnerungsarbeit [wird] für ihn zu dem vielleicht einzigen gang-baren Weg, mit jenem ,Erinnerungstrauma’ des Emigranten umzugehen, von dem er be-reits 1970 annahm, dass es ihn ,das ganze Leben’ begleiten werde.”
Auf diesem Weg wird der Autor von seinem „,besten Freund’“ , seinem „Buchsta-benklavier“ , dem „neuen Schreibkumpanen […] Werkzeug und Extension unseres Selbst“ – dem PC begleitet. Obwohl die fortschreitende technische Entwicklung an-fangs eine eher entmutigende Wirkung auf die künstlerisch-literarische Arbeit zu haben scheint („Heller Wahn, heute noch Bücher zu schreiben. Ein Textplattenstapel für Com-puter zaubert die ganzen Bibliotheken auf den Schreibtisch, durch Knopfdruck stehen 100.000 Bücher parat. Haha, dein papierenes Lebenswerk, Herr Pööt, hat Platz auf ei-nem Spielraum von null Millimetern.“ ), entdeckt der sonst von der Technik begeisterte Schriftsteller bald das riesige Potenzial des Computers und die unendlichen Anwen-dungsmöglichkeiten des Internets (eine erste Fassung des Romans Der Verweser er-schien auf CD und im Internet, außerdem ist unter www.geocities.com/transsylvania die reichhaltige Homepage des Autors zu finden). Doch wenn der PC im Verweser nur als Arbeitsgerät (mit DOS und Office 97 Programm und LCD-Bildschirm), bestenfalls poe-tisch als „das große Auge des Bildschirmfensters“ erwähnt wird, auf dessen „Buchsta-benlandschaft“ ,sie’ ab und zu Nachrichten hinterlassen und der Erzähler mit seinem Widergänger Kontakt aufnehmen kann, so rückt das elektronische Gerät in Romans Netz in den Mittelpunkt und wird zum Haupthelden. Hier heißt der PC das neue „Monster“ und „Blitzgerät“ (S. 15), es wird „ein Fenster zur Welt“, aber ein „Schummelfenster“ (S. 34), eine „lichtschnelle […] tödlich strahlende Namensmaschine“ (S. 215) und „Gespenstermaschine“ (S. 3), mit deren Hilfe der Autor eine neue Art Literatur schrei-ben kann, im Sinne einer größeren Publikumsnähe durch die Auflösung der Grenzen zwischen Buch und Realität, Leser und Schreiber im Internet:
„Der ,Autor’ im Chat nimmt ja ,real’ selbst an dem Geschehen teil: von Tag zu Tag in Echtzeit unfassbar blitzschnell Mailpost und Chatgespräch! Dieser Autor ist aber dann einer, der nicht mehr, wie es sich bisher gehörte, im stillen Kämmerlein schreibt, sondern schreibend zugleich mit seinen Figuren kommuniziert, sich ,am Schreibtisch’ entweder ,verlieben’ kann, oder Lebens-Material von seinen Personen erhält.“
„Internet ist vor allem eine Sprachwelt, ähnelt also verdammt der Literatur“ , bemerkt der Schriftsteller, hier können ,Phantasie’, ,Wahnwelten’, ,Traumwelten’, aber auch Li-teratur selbst Wirklichkeit werden. Die Sprache habe im Laufe der Zeit das Bewuss-tsein, die Wahrnehmung und die menschlichen Beziehungen enorm beeinflusst – nun sei eine „vierte Phase“ angebrochen („nach der mündlichen Phase im Mittelalter und dann der Gutenbergphase“ sowie der „dritten Phase, der Einwirkung von Sprache und Sehen“ durch Fernsehen, Radio, Telefon und Bandgeräte): „die der gesprochenen Schrift […] durch Mail, SMS über Handy, Chat und Internet.“ Für die ans lichtschnelle Informationsnetz Angeschlossenen kann der PC sogar ein „Kuppler und Knecht der Distanzen“ , ein „Kuppler zum ,Leben’“, aber auch ein „Scheißlebensvernichter“ werden – denn auch die virtuelle Welt birgt ihre Gefahren, weiß eine der ,Figuren’ zu berichten:
„[…] dies Schummelfenster da, der lockende Display, ist mit Vorsicht zu genießen, es kann sogar tödlich ausgehen bei manchen, passiert ist es auch Julie, einer französischen Freundin, einer MUD, einer Multiuser-Frau! Es gibt ja diese Langzeit-Onliner und Tas-taturneurotiker, die sich schließlich verknallen, und dann wehe ihnen! Was Hartes zwi-schen dich und dies Erwachen setzen.“
Wie dramatisch der vom elektronischen Gerät abhängige kreative Akt enden kann, muss der Schriftsteller schon öfter erleben – wenigstens einmal lässt er demnach dieses Ge-fühl des Ausgeliefertseins auch Roman, seine Romanfigur, nacherleben:
„[…] ein Blitz, dann […] der Donner… die Natur schlug zu […] … der Absturz und to-tale Leere, alles, was seine Phantasie als Schrift hergegeben hatte, tot, gelöscht, schreck-liches Nichts, Schwärze auch auf dem Bildschirm… […] ein kleiner Weltuntergang – als hätte plötzlich die Kunst der schönen Neuen Welt ihre falschen Augen geschlossen, ging mit einem Schlag auch das Licht aus, Roman saß im Finstern… und fluchte…“

Das Buch
„Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde: nur das Buch ist freund-licher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich spürbar.“
Freundlich ist das Tagebuch, das als treuer Begleiter des Schriftstellers, im Osten wie im Westen und auf all seinen Reisen nicht nur Eindrücke und Empfindungen festhält, sondern auch den Kontakt zur Umwelt erst schaffen oder vermeiden hilft. „[…] vom Auge zum Stift, eine Brücke, die noch da ist“ , Zeit und Raum auflösend, grenzüber-schreitend. Das Tagebuch führt nicht nur zurück in die eigene Vergangenheit („Heute habe ich wieder in alten Tagebüchern geblättert; und seltsam, wie mich die eigenen Eindrücke so bewegen, als wäre es ein anderer gewesen, der mir sehr nahe stand, aber inzwischen verstorben ist.“ ), sondern auch in die Zukunft „auf dieser hier entstehen-den Zeile, die noch nicht weiß, was im nächsten Wort geschehen wird“. Schon in Va-terlandstage wird die Grenze zwischen Schrift und Wirklichkeit undicht, der Erzäh-ler/Autor ist im eigenen Buch, in den Blättern, „die ich hier schreibe, und die allein mich am Leben halten“ allzeit gegenwärtig, „ein Mann aus Wörtern“ , um sich dann in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen schon auf der ersten Seite des Buches vorzunehmen, „in der SCHRIFT [zu] bleiben, im innern Wirbel, dort ist nicht nur ein Versteck, dort kommen wir schneller voran, zum Ende“. Auch in Romans Netz führt das Alter Ego des Erzählers Tagebuch, ein „Liebestagebuch“, mit dessen Hilfe er sich aus einer „Wahnsinnsliebesgeschichte“ befreien kann, „indem ich ihr diese Form gab, und mich [als Roman] ins Buch ,rettete’ und immer noch rette.“ Doch wenn im her-kömmlichen schriftstellerischen Sinne das Leben in der Schrift zur Fiktion wird („Ihr seid alle meine Kreaturen, die ich halluziniert habe“ , ruft Michael T., selbst eine Fik-tion; „und ob T., Jann, Adam wirklich existieren, mag dahingestellt sein“ ), findet die-ser Vorgang in Romans Netz in entgegengesetzter Richtung statt: die Schrift wird zum Ausgangspunkt und zur ,Inspirationsquelle’ des Lebens:
„So arbeitete ich in diesen Tagen (natürlich genau hier!) auch an meinem Roman, der nicht einfach nur ein Buch ist, denn die Liebe mit Nadine tickt, pulsiert, brennt genau hier auf der Zeile, es gibt sie wirklich, wie es auch mein Buch wirklich gibt! Denn alles, was in unserer Liebes-Geschichte existiert, ist erst durch das, was wir geschrieben ha-ben, Leben geworden!“
Mit seinem ,Liebestagebuch’, dem einzigen Ort, „wo es mich wirklich gibt“ , gelingt es Roman, den Unterschied zwischen Leben und Schreiben aufzuheben, und seinen größten Wunsch, „sich nicht vom Schreibtisch wegrühren zu müssen, so leben zu kön-nen“ , zu erfüllen – die von seinem ,Vorgänger’ Michael T. erahnte Möglichkeit einer ,Wiedergeburt’ im und durch den Text („In diesen Sätzen können wir auch unser kleines Leben verschwinden lassen; sie sind wie der Tod, sie löschen aus, und sie geben vielleicht ein neues Leben!“ ), wird von Roman in die Praxis umgesetzt.
Für den Schriftsteller ist das Buch aber nicht nur Lebensersatz, sondern auch Lebens-entzug („[…] das Lebensopfer beim Schreiben [ist] ein kleiner Tod. Träger der Absenz des Lebens ist das Zeichen“ ), und nicht selten muss er sich mit der Frage auseinan-dersetzen, ob er sich durch seine Opfer nicht zu sehr am Leben verschuldet habe:
„Welch Wahnsinn, anstatt Kinder in die Zukunft zu schicken, nur so dumm beschriebe-nes Papier zu hinterlassen! Schöne Hinterlassenschaft! Und dabei auch noch ,zersetzend’! Und sich nur störend und mäkelnd ins gesunde Leben einzumischen, ohne selbst daran teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. […] Ein Lebensumkreis, Tag für Tag – was getan wird und getan werden muss, Tun mit allen Konflikten, Rei-bungen – das fehlt mir!“
„Mein Leben versessen, vergessen? Schreiben – ein Fluch, eine Flucht vor dem Leben, dem Sinnverlust, letztlich vor dem Tod, als würden wir ewig leben.“
Verewigen möchte sich Nicolao Granucci mithilfe seines ,Tage-Buchs’ „in dem er leb-te“, dem „URBANO“, seinem Trost und Lebensersatz. Da sein Name „zu klein“ ist, er aber dem Buch den Erfolg sichern möchte, schreibt er es „dem großen Ser Boccaccio“ zu:
“Der Plan war klar: Weit in die Zukunft, weil sie schon da ist, sollte das Buch reichen, da wir alle einmal gelebt haben werden, muss die Personperson zeitlos in die Ewigkeit hinein reichen, zurück aber zu den Katakomben und der Höhle, durchstoßen die Wand der Zeit – weit über den Tod hinaus. Daher musste auch eine sensationelle Geschichte her mit Lucida Lucrezia Maria, der Hexe.”
Aus Rache und aus gekränkter Liebe erfindet Granucci die diffamierende „Höllenge-schichte“ um Lucidas Liebesabenteuer und ihren „Teufelspakt“, wird zum „Tinten-Denunziant“ und „Schreibverbrecher“ , und führt dadurch die Verurteilung beider herbei: Lucidas Tod auf dem Scheiterhaufen und die eigene lebenslange Haft im Turm. Obwohl von Anfang an seiner Schuld bewusst, schreibt Granucci gegen sein schlechtes Gewissen, schreibt sich die Schuldgefühle „von der Seele, indem er sie immer weiter ausnützte, sie zu seinem Text machte“.
„Im Zentrum stehen alle Dimensionen des Buches, der SCHRIFT als magisches und ge-fährliches Elixier und Machtmittel, das die Obrigkeit zu allen Zeiten gefürchtet, aber auch selbst in den eigenen Dienst genommen hat, gefürchtet aber vor allem, wenn es wie in der Literatur die unkontrollierbare Sprache des Subjektes ist, das sich jeder Macht so entzieht. Diese Rettung, aber auch böser Zauber, kann das Buch sein, das Unglück, nicht nur Glück und Schönheit bewirken kann. Vor allem durch das selbstherrliche Diktat des ,alleswissenden Erzählers’, der so eine Art Spiegelbild eines Diktators ist, der sich dieses Machtmittel anmaßt, anstatt in die Tiefen seines ungesicherten und mit dem Tod verbundenen Eigenen hinabzusteigen, wird Schrift zum Instrument eines falschen Denkens und einer falschen, ja, verbrecherischen Moral und des Kitsches.“
Der ,Verweser’ („abgeleitet von dem Verb mhd. Verwesen, ahd. Firwesan jemandes Stelle vertreten … […] verfaulen vermodern: In dem Verb mhd. Verwesen sind zwei in ahd. Zeit noch getrennte Verben zusammengefallen, nämlich ahd firwesenen verfallen, vergehen und firwesan aufbrauchen, verzehren.“ ) ist der Schreibende, der mithilfe der Sprache, der Schrift, der Fiktion, die Illusion der ,festen Welt’ zum Verwesen bringt und die Illusion der Zeit aufhebt.
„Und das Buch wird nicht verloren gehen. Ist personlos und überdauert auch dich, Nicolao, sagt dir der Erzähler“ , der am Ende des eigenen Buches etwas neidvoll zugeben muss: „Doch der hatte es ja geschafft, das war der Unterschied: – sein Buch war in aller Erinnerung und in aller Munde. Sein Phantom lebte!!! Und ich erkannte ein wenig neidvoll auch in der Erzählung des Custoden den Text des URBANO wieder.“
„Ein beschriebenes Blatt ist eine große Sache“ bestätigen auch Andreas und Adam, ein Dokument, mit dem man „die ganze diffuse Welt […] im Griff [hat], ohne sie zu haben; Buch-Stabhochsprung“, wie zum Beispiel die „dünnen, abgerissenen Heftchen. Rote“ , die sozialistischen Richtlinien, Broschüren, die Adam „wie eklige Insekten nur mit zwei Fingern […] nasenrümpfend“ anfasst, und „nur im Vertrauten“ zu sagen wagt, „die Mater Materia sei diesem Dreck ganz gewiss etwas Entgegengesetztes. Eine Schande für den Buchdruck.“ Außerdem gebe es „sowieso nur ein Buch“ , behaup-tet der Bibliothekar, der auch von einem „ganz besonderen Buch“ zu berichten weiß:
„[…] wir nannten es das BIBLIOTHEKSBUCH. Darin standen weiße Geräusche, Licht gebündelt, Strahlengänge über die Zeilen verstreut, über den Tisch gereicht; in der Kladde: Namen von vielleicht tausend Toten; das eine Geheimnis mischt sich für immer ins Wort, jedes Blatt – schon gewendet und an-gezeigt, was kommt. Wir hatten dieses Buch gefunden, ich hatte es entwendet, das Buch lag im Wachtmeisterzimmer, dort lag ja damals alles durcheinander, das Buch war aufgeschlagen, das Totenbuch von Plöt-zensee; wie auf innern Befehl steckte ich es in die Drillichjacke, und keiner hatte es bemerkt.“
In dem Essay, das den Gedichtband Aufbäumen abschließt, vermerkt der Schriftsteller:
„Die Welt ist ein großes Buch, ein kosmischer Sprachbaum; darin zu lesen, bis in den Aufbau der Atome, der Gene und Chromosomen, gelingt. Doch je genauer es entziffert ist, desto mehr nähern wir uns dem Verschwinden der Welt, jenem letzten Kapitel. Ist dies nicht vielleicht der Anfang einer schockierenden Heimkehr? Wir sind an einer Grenze angelangt.“
Und genau diese Grenze zu überschreiten, dieses letzte Kapitel zu überwinden ver-sucht Dieter Schlesak in und mit seinen Büchern.

Alina Oancea

Das Exil
Der Duden definiert das Exil als „der langfristige Aufenthalt außerhalb des Heimatlan-des, das aufgrund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat oder unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde“. Allgemein treffend, doch im Fall zahlreicher im Exil lebenden Kulturmenschen bleibt die Definition noch recht oberflächlich. Inwiefern sie erweitert und vertieft werden könnte, ist auch am Leben und Werk des Schriftstellers Dieter Schlesak beispielhaft ersichtlich.
Einen ersten Ansatz bietet der Autor selbst, indem er zwischen zwei Exilen unterscheidet: „das kleine Exil“, das nach 1989 gefallene, und „das große Exil“, das auch nach der politischen Wandlung weiterbe-steht und in dem „wir wieder zwischen Glauben und Zweifel leben, schreiben, denken“ müssen.
Betrachtet man das gesamte Prosawerk Dieter Schlesaks aus diesem Blickwinkel, kann man drei weitere Exiltypen erkennen:
1. ein äußeres Exil, politischer Natur: geerbt durch die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, selbst gewählt durch die Ausreise, später aufgezwungen durch die Auswei-sung;
2. ein inneres Exil der Zensur und Selbstzensur, der inneren Emigration und der Ost-West-Erfahrungen;
3. ein transzendentales Exil des menschlichen Zustands, der Suche nach dem „Letzten Ort“ und der Befreiung im Tod.
Auf diese Dreiteilung wird im weiteren näher eingegangen.

1. Das äußere Exil

„… wir waren ja auch zu Hause im Exil“, behauptet der Schriftsteller in einem Inter-view und bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf die Securitate-Zeit, sondern allge-mein auf die komplizierte Situation der nationalen Minderheiten in Rumänien, die kont-roverse Lage der Rumäniendeutschen, Lage, die schon 1867 mit der Aufhebung des Privilegs des Königsbodens begonnen hatte und während der zwei Diktaturen (der braunen und der roten) ihren Tiefpunkt erfuhr.
Nicht nur der nationale Herkunftsstolz, sondern vielmehr das „Schutzsystem der Ab-schottung von der Realität“ veranlasst die Minderheit dazu, sich von der Mehrheit abzu-sondern und „ein geschlossenes, minisoziales ethnozentrisches System, das schon nach Gesetzen der Entropie dem Untergang geweiht ist“ aufzustellen. Dieses „Schutzsys-tem“ lernt der Ich-Erzähler der Romane und Essays schon als Kind kennen, durch die autoritär-deutsche Erziehung im Elternhaus wie auch durch die aufgezwungene bewah-rende Bewusstseinshaltung seiner Herkunftsgruppe:
„… da wurde an uns herumgebastelt, an den Kindern. Wußte nicht, keiner wußte, was mit ihm geschah, wußte nicht, dass etwas Phantastisches, etwas dem Bewußtsein und der Liebe Entzogenes hergestellt werden sollte, eine merkwürdige GESITTUNGSGE-MEINSCHAFT, wie das hieß, und betroffen liest man es, glaubt den Augen nicht zu trauen, reibt sie, meint zu träumen, ja, es ist wirklich so, jenes ,Gefühl’: Blutgemein-schaft, Blutwert, treuer, redlicher Deutscher, Siebenbürger Sachs gar, ich sags mit Stolz, deiner Sprache, deiner Sitte, deinem Volke bleibe treu.“
Inwiefern diese Erziehung zu bedingungsloser Unterordnung und unbedingtem Gehor-sam die Anders-Artigkeit der jungen Deutschen fördert und zur Isolation führt, wird an der Beschreibung der Militärdiensterfahrung Michael T.`s, dem Alter Ego des Ich-Erzählers, deutlich:
„… Wie wars bei unserem Militärdienst in der Walachei gewesen, da gabs doch keine Ordnung und Disziplin, wir hätten so recht schmallippig gern Disziplin reingebracht, Sauhaufen! Und waren doch so kraftlos und schwach, wo es allzu frei zuging, beim Spotten und Witzeerzählen: […] und jeder Rumäne versuchte sich zu drücken – wir na-türlich nicht; unser Stolz war das Zähnezusammenbeißen […]. Die anderen flunkerten, drückten sich, nützten jede freie Minute ihres Lebens, wir kamen beim Marschieren groß raus, machten nie schlapp, Mut und Willen beweisen […]. Während die anderen leger, ja, gemeinsam mit Offizieren und Unteroffizieren in ungeordnetem Haufen und unvorschriftsmäßig und völlig unmilitärisch dahinspazierten [...], marschierten wir, wir: nur drei Deutsche im ganzen Bataillon [...], und der Spott folgte uns nach. Half nichts, dass wirs Marschieren als Erleichterung und Streckenüberwindungstrick ausgaben.“
Das Deutsche, das Sächsische überzeugt und prägt tief – so auch Michael T., der stolz an die zwei Jahre zurückdenkt, die er als Dorfschullehrer in Denndorf bei Schäßburg verbracht hatte:
„Dorfapostel in alter Tradition sozusagen: drinstehend, noch nichts gebrochen, Gefühle fast heil […]. War hochgeehrt; wenn ich die Staub-Hauptstraße neben Büffeln und Hühnern durchs Dorf schritt, erhoben sich die Leute von ihren Bänken und boten Guten Abend oder Guten Morgen wünschen wir dem Herrn Räktr, je nach Tageszeit, den Gruß nach Vergangenheitsmaß entboten; denn hier war alles stehngeblieben vor einigen hun-dert Jahren, trotz Krieg und.“
Aus diesem Exil der siebenbürgisch-deutschen Glaubens- und Gesittungsgemeinschaft unternimmt das Ich seinen ersten Fluchtversuch, indem es als Zwanzigjähriger zum Studium nach Bukarest und damit in die rumänische Wirklichkeit umzieht:
„… es war August, sehr heiß, der Asphalt schmolz unter der glühenden Bărăgansonne […], du warst dünn wie ein Finger, ein Spirifinkel, bettelarm, du lebtest von Brot, Was-ser und Tomaten. Roşii. Alles rot. Auch die vielen Fahnen zum dreiundzwanzigsten August, Tag der Befreiung vom faschistischen Joch. Alles rot, auch dein Gesicht vor lauter Schüchternheit und Prüfungsangst und Verwirrung hier – alles ein Irrweg und ein Angstlabyrinth unter einer großen rauchigen Glaskugel des blendenden Augusthim-mels…“
Kennzeichnend für die 50er Jahre ist, dass vor allem die jüngere Generation aus Oppo-sition gegen Elternhaus oder bürgerliche Konventionen in die „geschickt ausgeworfenen Netze stalinistischer Funktionäre“ gerät:
„Die jüngere Generation schloß sich entweder von der sich nun bildenden Wirklichkeit ab, organisierte sogar absurden nationalen Protest und eine Art Wandervogel-Opposition gegen das Regime; einige der jungen Intellektuellen aber gingen zu den neuen Fang-Utopien über und wurden aus einem Generationsreflex gegen das ,Alte’, gegen die verbrauchte bürgerliche deutsche Kolonistengesellschaft mit vorsintflutlichen Idealen und Ansprüchen (die aktiv mit Hitlerdeutschland paktiert hatten) zu Stalinisten.“
Auch Michael T. steht zwischen zwei Fronten: Auf der einen Seite die deutsche Min-derheit, von der er, wie alle anderen zu den Roten „Übergelaufenen“, als Verräter be-trachtet wird („[…] Bolschewikenschwein und Judenknecht Herr T. das sind sie Volks-verräter und bis in alle Ewigkeit bleibende Sünde wider die Welt-Ordnung übergelaufen bist du zu Pöbel und Mob…“ – so beschimpft ihn der Vater seines Jugendfreundes Christian), auf der anderen Seite lernt er nun in den Jahren, in denen er als Redakteur der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“ arbeitet, den Staat und dessen Sicherheits-dienst, die Geheimpolizei und Zensur kennen:
„Überwachung, Aushorchen, wühlen in der Intimität der Leute und in ihren Schubladen, ihren Beziehungen, ihren Liebschaften. Alles wollen SIE wissen, wie früher der Herrgott, sein dreieckiges Auge über dem Altar“
Viel wichtiger ist für das Ich jedoch aus dem sprachlich-kulturellen Exil auszubrechen: „Ich war vierunddreißig, war noch nie in Deutschland gewesen, schreib deutsch, las deutsch; fühlte mich zur deutschen Literatur gehörig“. Erst nach dem Eintritt 1968 in die Partei wird dem somit „Vertrauenswürdigen“ die erste Ausreise genehmigt: mit Dienstpass, in Begleitung zweier Kollegen zu einem internationalen Schriftstellertreffen nach Mondorf in Luxemburg.
Es ist eine Reise zu den über Jahre aufgebauten Wunschvorstellungen und Fantasien, die aber in der konkreten Wirklichkeit keine Bestätigung finden werden, „nur eine Zer-störung von Illusionen, Mystifikationen. Eine Therapie“.
Für diese Erkenntnis bedarf das stark verunsicherte Ich jedoch Monate, Zeit, in der es ihm nur viel zu langsam gelingt, einen Kontakt zu der Wirklichkeit herzustellen, von der es durch eine aus Traumbildern selbst gebastelte ,Isolierschicht’ getrennt wird. Die Ablehnung der inzwischen erkannten westlichen „Konsum- und Kulturideologie“, die allgemeine Kritik am kapitalistischen Westen erklärt Oliver Sill „…auch aus der Kolli-sion von Wunsch und Wirklichkeit, der Enttäuschung darüber, dass die Realität jenem Bild nicht standzuhalten vermag, das Schlesak in Rumänien vom Westen entworfen hat-te.“ Aus derselben Sicht motiviert Sill auch das Heimweh, das sich bald einstellt, die Sehnsucht nach Bukarest: „Solch idealisierende Erinnerung ist die Kehrseite, besser noch: das logische Äquivalent des fortschreitenden Verlustes aller Illusionen über den Westen.“
Dem Essayband „Visa. Ost-West-Lektionen“ ist ein „Kleiner geographischer Kalender“ vorangestellt:
„5. Oktober 1968 – 25. März 1969:
Bukarest / Brüssel / Paris / Frankfurt / Leipzig / Wien / Bratislava / Budapest / Bukarest;
25. März – 24. November 1969: Bukarest;
24. November 1969 – 30. März 1970: Frankfurt.“
Aufgelistet sind nicht nur die Daten und Etappen des Westaufenthalts des erzählenden Ichs, sondern auch die der Heimkehr und der zweiten, endgültigen Ausreise aus Rumä-nien. Während seines achtmonatigen Aufenthalts in der Heimat hat das Ich die Mög-lichkeit, die rumänische Ost-Realität vor dem Hintergrund der Westerfahrung neu zu beobachten und zu deuten. Unter dem im Westen eingeübten wachsam-kritischen Blick erscheint die Heimat erst fremd, doch „das tägliche aufreibende Geschäft des Sich-Sträuben-Müssens macht schlaff, läßt resignieren. Im sozialistischen Alltagstrott ist man dann nach einigen Monaten wieder ganz eingewöhnt.“
Auch die systemvergleichende Analyse von Ost und West führt zu keiner positiven Schlussfolgerung. Entmutigender ist die Erkenntnis, dass:
„In beiden Systemen das jeweils Negative verschwiegen [wird]: im spätkapitalistischen Westen der dringend nötige sozialistische Produktionstrend, der im eingeschränkt sozia-listischen Osten grundsätzlich (aber verschüttet) da ist – und im Osten die fehlende Rechts- und Sicherheitsgarantie der Person, die bis zu einem gewissen Grad in westli-chen Gesellschaftssystemen realisiert ist.“
Und da dem Ich beide Systeme „als komplementäre Formen einer in Ost und West ge-spaltenen Welt“ erscheinen, „die hüben wie drüben individuelle Freiheit und Autonomie verhindert“ , entscheidet es sich für die endgültige Ausreise, denn „der westliche Ge-sellschaftsstatus ist nicht das vielgerühmte ‘kleinere Übel’, das zur Beruhigung seiner Bürger und Ideologen erfunden wurde, sondern einfach ein anderes Übel“.
Die Enttäuschungen bleiben dem mit großen Erwartungen nach Deutschland emigrierten Ich auch weiterhin nicht erspart, denn schon nach kurzer Zeit fühlt es die westliche Kälte und Gleichgültigkeit und erkennt die Kommunikationsunfähigkeit und die noch viel größere Konsumwut und Geldgier der Westmenschen; es erlebt die schmerzvolle Auswirkung von Wahrnehmungsverlust und Isolation und leidet an der unvermeidlichen Konfrontation mit der Vergangenheit der eigenen siebenbürgisch-deutschen Herkunft und an der Schuld des Verrats an der eigenen Tradition. Der einzig mögliche Ausweg aus dieser Sackgasse ist deshalb eine neue Emigration – in die „Zwischenschaft“, „zwi-schen all diesen Systemen, Ideologien, Sozialisationen.“ Die Wahl fällt auf Italien: „nur oberflächlich“ wegen seiner Schönheit, „tieferer Grund war die Natürlichkeit jenes Landes“ , die fremdsprachliche Umgebung und die Chance, „auch weiter ein Exilant sein zu dürfen“.
Das noch selbst gewählte westliche Exil soll aber bald in ein politisch aufgezwungenes Exil umarten, da 1975 in Rumänien ein Gesetz erlassen wird, nach dem alle rumänischen Staatsbürger, die mit Dienstpass im Ausland weggeblieben sind, von einem Mili-tärgericht zu sieben Jahren Haft verurteilt werden.
In jahrelanger Schreibtherapie versucht der Schriftsteller den Landverweis, das Ausge-wiesen-Sein und alle damit verbundenen Folgen zu exorzieren, indem er sie im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens verarbeitet und Michael T., „die Er-findung seines zweiten Ichs, des Schriftstellers, der nicht heimkehren darf“ stellvert-retend ins Heimatland fahren lässt. Schlesaks Heimkehr-Erfahrungen (1969 die erste, 1973/74 die zweite, mit deutschem Pass) und die Auseinandersetzung mit der Staats-macht und der Securitate werden von Michael T. nacherlebt: wie vorausgesehen wird er verhaftet, in die „bekannte Gegend der Angst“ gebracht und verhört. Die deutsche Staatsbürgerschaft kann ihn vor der Anklage „Dezertor în vecii vecilor“ nicht schützen: „Verräter! […] Abgehauen bist du, abgehauen, und vergessen… du wieder zu kommen. Abgehauen du, mit Dienstpaß, mit Dienstpaß, porcule!“ und auf die Begründung, „er sei doch nur dieses brennenden Heimwehs wegen zurückgekehrt“ , reagiert der Si-cherheitsdienst mit höhnischem Lachen, denn das Urteil steht fest:
„Dem Vorgeführten im Amtszimmer wurde dann in dürren Worten mitgeteilt, dass er des Landes verwiesen sei für immer, fügte der Oberst hinzu. Stand da also ein Mensch vor ihm, zum LEEREN ORT verurteilt. Und der tröstete sich sofort, wie das seine Art ist, der Verurteilte, darin hatte er Übung: Na und? Im Leeren erst kann Neues beginnen, und draußen. In vecii vecilor, betonte der Oberst nochmals. Hat doch einen guten Klang, dies Immerdar.“

2. Das innere Exil

„Wir sprechen eine andere, die früher verteufelte deutsche Sprache. Und – wir waren für etwas anderes, nämlich autoritär-deutsch erzogen worden, erzogen für eine Lebens-form, die es nicht mehr gab. Und diametral entgegengesetzt war der neuen realsozialis-tischen Existenzform, an die man eine Zeitlang geglaubt hatte, auch an jene ,Bewußtseinswandlung’, einen radikalen Umbau der Person, die ich erst nach meiner Emigration voller Entsetzen genauer, auch an mir selbst, als das, was es war, nämlich einfache Gehirnwäsche, erkannte.“
Diesen diametralen Gegensatz zwischen der in der Elterngeneration tief verankerten Traditionsverbundenheit und den „Marx- und Engelszungen, denen sich viele unserer orientierungslosen Generation […] verschrieben [haben]“ , stellt der Schriftsteller im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens nicht als vergangene Wirk-lichkeit dar, nicht als Bewusstseinsprozess des erzählten Ichs, sondern aus der Sichtwei-se des erzählenden, erinnernden, reflektierenden Ichs, das nun, aus zeitlicher Distanz, über die marxistische Wende des Studenten Michael T. besser zu wissen glaubt.
Eine „elternlose Generation“ nennt Schlesak die seine, „da die Väter nichts mehr wei-terzugeben hatten“ , und erklärt im Prosaessay Wenn die Dinge aus dem Namen fallen die Empfänglichkeit vieler seiner Altersgenossen für den Marxismus nicht nur als kriti-sche Haltung gegen die eigene Herkunft und als Provokation, sondern auch als Schutz:
„Wir, die Nachgeborenen, waren völlig isoliert, hätte ich den jungen Kollegen hier sagen sollen: unsere Generation wuchs unter unnormalen Bedingungen auf, weltlos sozusagen, es war eine Generation ohne Eltern. Wir hatten das Vertrauen in das ,bürgerliche’ Elternhaus und in die Tradition verloren, die schuld am Kriege, am Faschismus gewesen war, und suchten uns neue Väter, rote, um auf die andere Seite der Front zu kommen. Eine unglückliche Generation zwischen Elternhaus und Staat in einem Niemandsland der Kultur und der Gesellschaft.“
Der Zusammenbruch der historischen und sozialen Existenz, der Bruch mit allen bishe-rigen Normen, der Verlust des Privatbesitzes und des Sozialprestiges führt dazu, dass alles, was die ältere Generation den Jüngeren gegenüber sonst mächtig erscheinen lässt, verloren geht und es zur Abwendung letzterer von der christlich-konservativen Tradition der Siebenbürger Sachsen kommt:
„Treue und anderes. Pflicht und anderes. Darüber hatten wir immer die heftigsten Aus-einandersetzungen. Obwohl T. wußte, wie seinen Vater dies reizte, fing er immer wieder davon an: ,Scheißtradition, sie ist zur Hölle gefahren: Aus Gründen der Entgiftung bin ich zur Gegenseite gekommen, zur hoffnungsvoll roten.’“
„Ich wollte meinen Ödipuskomplex auf diese Weise abreagieren und stärker als mein Vater sein. Ich wurde also Marxist, da man als junger Mensch ein Ideal braucht“, so erklärt heute der Schriftsteller den radikalen Bruch mit der eigenen Herkunft, seine erste Heimatlosigkeit und die damit verbundene Suche nach einer neuen ideologischen Hei-mat. Wegweiser sind dem Studenten Michael T. dabei „die dünnen abgerissenen Heft-chen. Rote“, bei deren Lektüre er sich gut fühlte, „weil befreit. Da hast du die ganze diffuse Welt, hast die Welt im Griff, ohne sie zu haben; Buch-Stabhochsprung“.
Der Bibliothekar Adam K., den Michael T. in der Universitätsbibliothek kennen lernt, „ein Freund, der jenen WIRBEL erlebt hatte, der an jenem ORT gewesen war, Anus mundi“ reagiert zwar mit Abwehr, doch verständnisvoll auf die schnelle Begeisterung für den Marxismus:
„Deine Begeisterung im Jugendalter, ganz klar, ich verstehe sie. Mit diesem neuen blitzblanken Instrument wird die Welt winzig und du der Größte. Und kannst die Men-schen, vor allem deinen Vater aus bester Vogelperspektive beäugen. Und der Minotau-rus schlägt nicht mehr zu; hast den Roten Faden. Oder?“
Der Freund Adam, dem gegenüber sich das erzählte Ich nicht verschließt, bestärkt T. im Bruch mit der christlichen Tradition, verweist aber auch auf das Trügerische des zur Er-satzreligion stilisierten Marxismus: „Such dir einen lebenden Gott und nicht einen toten, wie SIE ihn dir hier anbieten!“
Zur Abstandnahme von der eigenen Herkunftsgruppe, ja sogar von der eigenen Familie führt hauptsächlich „die Scham wegen der braunen Verbrechen […], bei denen meine Herkunftsgruppe aus unkritischer Reichsverhimmlung und Naivität unschuldig-schuldig Opfer und Täter zugleich geworden war“ , erklärt Schlesak. Verständnis und Akzep-tanz gibt es für die „deutschen Bürgers- und Bauernsöhne“ keine, weder von den Funk-tionären, den „alten Antifa-Aktivisten“, die sie als Überläufer mit Misstrauen betrachten und überwachen, noch von den Landsleuten, die sie als Kollaborateure ablehnen: „[…] bewußt oder unbewußt standen wir, nun eine Art ,Waisenkinder des Klassenkampfes’ zwischen Hammer und Amboß, zwischen Partei und Herkunftsgruppe.“
Es sind die fünfziger Jahre – die Übergangsperiode von der Stalinzeit zu der Ceauşescu-Zeit –, in denen die Generation des Schriftstellers, die Künstler und Literaten in erster Reihe, unter ausgeprägten diktatorischen Verhältnissen eine immer stärkere Isolation und das innere Exil erfahren. Der Staat ist dabei, einen ,neuen Menschen’ zu schaffen, „eine Schablone [wird] zusammengebastelt […] an jedes und jeden angelegt, an jedes Buch, an jeden Gedanken, an jedes Verhalten.“ Die neue Lebensform heißt Misstrau-en, Schweigen wird zum Lebensstil und die einzige Überlebenschance besteht im Nichthandeln. „In Rumänien waren am Schluß nicht einmal mehr Hochzeiten erlaubt“, erinnert das erzählende Ich in der Prosa- und Essaysammlung So nah, so fremd:
„Mehr als drei Leute durften nicht zusammenstehen, zusammenkommen, jeder war al-leingelassen, überwacht, von Spitzeln umgeben, selbst aufgefordert, Spitzel zu sein, die Mutter, den Bruder, den besten Freund zu verraten, ein gehetztes Tier, nichts mehr als ein keuchendes Wesen, das langsam seine menschlichen Eigenschaften verlor; Moral? Würde? Ha, ein Lacher. Der Nihilismus und Zynismus, der Hohn in Witzform waren noch einzig mögliche Verteidigungsmittel, für den, der noch dazu die Kraft hatte.“
Deshalb bewundert Michael T. seinen Freund Chris und dessen ,Anpassungskunst’: der „’Silbendreh’ […] anstatt der bittern Pille, also aus Marx Murx nicht sogleich, eher zu-erst vielleicht Mark oder Murkel, was ja Kosenamen sind, Murx war schon gefährlicher“; der große Nietzscheschnurrbart, die Bibel unter dem Arm – das Seltsame als Paravent und der feste Entschluss: „Nicht aufgeben, das sei alles, auch Clownmittel seien er-laubt.“
Standzuhalten versucht auch Michael T. oder das erzählte Ich, doch je mehr er sich be-müht, desto stärker wird das Gefühl der Bewusstseinsspaltung, des lügenhaften Dop-pelllebens, der ,inneren Zensur im Kopf‘ und der damit verbundenen Angst.
Und Angst lernt das Ich schon recht früh kennen – noch als Dorfschullehrer, am 5. März 1953, Stalins Todestag, da es zum ersten Mal abgeführt wird:
„Die behaupteten damals ja, ich sei der Organisator einer Revolte, wurde dafür an-gesehen und deshalb verhaftet, ich, der neamt, der Deutsche: Namen, Adressen, Komp-licen! Radio gehört? Ja, Radio, du Schwein, porcule.“
Der naive Idealismus soll Michael T. in Bukarest schon nach einem Jahr, in dem er als Redakteur bei der „Neuen Literatur“ arbeitet, durch das erste Verhör beim Geheim-dienst gebrochen werden:
„Wir hatten Angst vor den Blauen. Zeno war schon verhaftet worden, und mich be-schatteten sie seit einem Jahr. Mein Schatten hieß JORDAN; mein Schatten, der lud mich ein, bis zweimal wöchentlich zu einem FREUNDSCHAFTLICHEN TREFFEN. Wenn das Telefon läutete, fuhr ich jedesmal hoch, fuhr mir der Schreck in die Glieder. Sie holten mich nicht, ich mußte freiwillig gehn. Wenn Maria es merkte, fuhr sie mir nach. So, als hätte sie Angst, ich könnte verschwinden. Spurlos. Das gabs. Und das wußte sie.“
Die Zensur hält die Angst vor der Sprache wach, vor einer zum Zweck der Propaganda zugerichteten Sprache, und auch vor der Schrift, die der Kunstdoktrin eines sozialisti-schen Realismus verordnet wird. Sogar der während der Verhöre wiederholte Male ge-schriebene Lebenslauf kann gefährlich werden. Das Leben eines jeden Einzelnen wird auf Papier reduziert: „Stapel Papier, das ist die Welt wohl. Aktenschränke. Und Gift. Dort ist das Leben verwahrt; weißt nicht, wer du bist. SIE wissen es besser.“ Das Überwachungssystem ist ein „unfaßbares Wesen“, das alle Leben gefangen hält und wie ein künstliches Schicksal bestimmt, doch nicht beeinflusst werden kann, „es sei denn durch Mitmache, Verbrechen, um, so dachte man, jenes ,Wesen’ gut und günstig zu stimmen. Viele, fast alle haben irgendwie mitgemacht, Schuld auf sich geladen“.
Im Westen hat das Ich zum Teil diese Angst verlernt und auch das Geheimnis um den Dossier verdrängt, in dem es zu Hause sein Leben verschlüsselt geglaubt hat. Während der Bukarester Zeit ist die Beschäftigung mit dem Rätsel der „jahrzehntelangen Illusi-on“, wie sie jetzt beim Schreiben, im Zeitabstand von fast 30 Jahren genannt wird, noch lebenswichtig: „…ich, ,Ausbeutersohn’ und ,Waisenkind des Klassenkampfes’, entwurzelt, anonymisiert, sozial kontur- und schicksalslos, konnte durch diese Akte endlich über mich Bescheid wissen.“ Ob der Geheimdienst tatsächlich besser über Michael T. informiert ist, oder ob das erzählende Ich es heute nur so glauben möchte ist unklar, fest steht aber, dass der Schriftsteller seinen `Schatten´ Jordan die Anklage aus-sprechen lässt, die ihn fortan überall begleiten wird:
„Wir wissen es, sagt Jordan, wir wissen genau, dass du einer von denen bist, einer, der den Verrat in sich trägt wie eine Krankheit, für immer und ewig bist du, wirst du dies sein: ein mieser Deserteur vor der Weltrevolution, angekreidet wird dieses dir.“
Das beklemmende Angstgefühl, das Michael T. auf seiner Heimreise und während sei-ner geträumten Verhaftung wie eine Krankheit zermürbt, begleitet das Ich auch nach 1989 auf seine wiederholten Transsylvanienreisen:
„Jedesmal, wenn ich mich dieser totalitären Zone der Geheimdienstunterwelt nähere, überlagern sich die Erinnerungen an meine Bukarester Zeit mit erschreckenden, nich-tverbalisierbaren Angst- und Schamgefühlen und Bildern, die an eine Domäne der Alp-träume reichen, Traum- und Erinnerungsfetzen steigen aus dem Unbewussten hoch, Angst vor Wahnsinn packt mich, löst Übelkeit aus, und ich muß die Beschäftigung mit dem Thema abbrechen.“
Dem totalitären Machtsystem kann sich das Ich erst entziehen, indem es sich aus dessen Wirkungsbereich entfernt. Die erste Auslandsreise löst ein bisher unbekanntes Frei-heitsgefühl aus, „das Gefühl, es fällt plötzlich ein inneres Gefängnis von mir ab und es ist alles offen“. Und die Erwartungen des Ichs sind groß, die Traumbilder, denn der Westen soll „eine Art Verheißung, ein verwirklichtes Paradies“ sein, „wo der tägliche Druck der Angst und der politischen Selbstkontrolle abfallen würde: als freier Mann durch eine großartige Welt gehen […]. Solch bombastische Vorstellungen hatte auch ich mir von meinem ersten Kontakt mit der ,Freien Erde’ gemacht; und dazu: mich auf sie werfen, wenn einmal die verhasste Grenze überschritten sein würde, und: schreien, brüllen, jubilieren.“
An solche Vorstellungen sind Städtenamen gebunden wie New York, London, Frank-furt, Paris und Brüssel – Effekt des Wunderglaubens und der jahrelang unterdrückten Sehnsucht nach Öffnung – und die Vorstellung, im Westen ein Anderer werden zu kön-nen.
In einem „relativ angenehmen Schreckzustand“ erlebt das erzählende Ich anfangs den Westen: als erfahrungs-, erinnerungs- und sogar wortlose „Babys dieses ungewohnten Planeten (West)“ tappt das Ich zusammen mit seinen zwei Schriftstellerkollegen „un-sichtbar an den Händen gefasst“ durch die neuen Gegend, und „noch vorsichtiger durch uns selbst“, denn zeitweilig verschwindet sogar die jahrelang geübte innere Zen-sur: „[…] wir hatten begonnen, Dinge zu denken und auszusprechen, die wir bisher nie gewagt hatten, zu denken und gar auszusprechen, als wäre es Sünde. Keinen Augen-blick ließen wir uns gegenseitig allein, empfanden fast eine Art ,Verantwortung’ für den andern, alter Impuls zur Kontrolle. Und jedem kam wohl mehrfach der Gedanke, doch aus dieser Gemeinsamkeit auszubrechen, um mit dem Zauber endlich ganz allein sein zu können.“ Obwohl enttäuscht über die eigenen Reaktionen, kann das Ich die Un-wirklichkeit seines Zustandes nicht durchbrechen, alles bleibt weiterhin ein „Zauber“ und irreal. Ein Fremdkörper, der sich „wie auf Eiern“ bewegt und Angst hat, „etwas zu zertreten, etwas zu zerbrechen, vielleicht meine eigenen Vorstellungen von dieser Welt, die sich nun als Realität anbot, zu der es aber für mich unmöglich war hinzukommen, mein eignes Bild von ihr stand wie eine Isolierschicht dazwischen. Die Imagination von dieser Stadt und ihre Wirklichkeit klafften weit auseinander“.
Aus Angst vor Konfrontation und Enttäuschungen fährt das Ich auf seiner ersten Aus-landreise auf Umwegen nach Deutschland: über Brüssel und Paris! Es sollte sich dem-nach schon einigermaßen dem Westleben angepasst haben, der Schock West-Deutschland ist trotzdem groß. Die hässliche Architektur des „Wirtschaftwunders“, die Neubauten mit glitzernden, aus Glas, Chrom und Kunststoff gefertigten Fassaden in Stuttgart findet Michael T. als besonders abstoßend – ein architektonisches Äquivalent kommerzieller Interessen.
Noch schmerzlicher wird die westliche Sensations- und Kauflust empfunden, von der sich das Ich, so gut es geht, abzugrenzen versucht. Diese Wut Michael T.s auf die Kon-sumgier im Westen wie im Osten führt Oliver Sill in seiner Analyse auf zwei Quellen zurück: zum einen sei es „die eigene Anfälligkeit des Ichs für den Glanz der Warenwelt in der ersten Zeit im Westen“ :
„Sie hatte T. anfangs auch angemacht, diese Kauf- und Fresslust, dieser billigste Kitt der Welt: Selbstbedienung, Karren voll packen […]. SO GUT HATTEN WIR ES NOCH NIE![…] alte Gier, vorsintflutliche, als man noch nicht kalorienbewusst lebte, wie wir hier […]. Mager alles, alles schmeckt wie Heu und wie Stroh, glänzendes Nichts, am schönsten und wertvollsten die Verpackung, alles fürs Auge und für den Griff in den Beutel, sonst nichts, mit der zu Hause langersehnten Westsinnlichkeit […], wie mir das im Osten vorkam, hatte es nix zu tun […], mein Gott, wie wirkte das doch prickelnd damals auf uns arme Säue im armen Land.“
Zum anderen seien es die „Minderwertigkeitskomplexe des kommerziell nicht erfolg-reichen, in materiell ungesicherter Position lebenden Schriftstellers“, die besonders bei Familientreffen mit der gutverdienenden, wohlsituierten Familie Janns, T.s Lebensge-fährtin, befördert werden. Sills Meinung nach würde der Schriftsteller dabei „die eige-nen Selbstzweifel in eine Kette imaginierter (Selbst-)Denunziationen kleiden, die aller-dings den anderen in den Mund geschoben werden“ :
„Kommst da also mit diesem T. an. So ein Reingeschmeckter. Fremdkörper. Nicht zu-gehörig. Wirds nie.“
„Du, T., bist […] der Letzte. Schwächling. Volksschädling. […] reiner Versager” ;
„Und dabei auch noch ,zersetzend’! Und sich nur störend und mäkelnd ins gesunde Le-ben einzumischen, ohne selbst daran teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. […] Ausmerzen muß man solche Asphaltliteraten und Asphalttreter, die jede gesunde Volksgemeinschaft mit ihrem verspritzten Gift schädigen. Volksschädlinge heißen sie. Und Aufknüpfen!… Klar. Und Augen rechts…“
Die schlimmste Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West ist für das Ich jedoch „das grauenhafte Gefühl, eine lebende Leiche zu sein.“ Eingeschüchtert ist das Ich nicht so sehr durch die politische oder soziale Wirklichkeit, wie durch die Künstlichkeit, die „Mattscheibenwelt“, das „Glasphänomen“ – die Angst davor, „ mit in die Glaskabi-nen gesperrt [zu] werden, in denen die Leute schon saßen, […] wie die andern jene glä-sernen Augen [zu bekommen], die zwar mehr oder weniger gut sahen, aber das Gesehe-ne nicht mehr ,fühlten’, nicht wirklich wahrnahmen, nur registrierten, was da auf die ei-gene Mattscheibe kam.“
In dieser Traumrealität kann das Ich wie bei einer Kinovorstellung weder riechen noch schmecken. Wahrnehmungsverlust und „Amputation der Sinne“ nennt der Schriftstel-ler das Phänomen. Hinzu kommen Zeitmangel, ständige Hetze, menschliche Kälte – und der Vergleich mit dem östlichen „Zuhause“, wo die Menschen „einfach dasitzen können, Kaffee trinken; reden, reden, Zeit ,verlieren’. […] hier hat niemand Zeit […]. Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast […]. Das Unbehagen am Leben ist hier stärker, obwohl ich ,frei’ bin.“
Für das Ich, das von zu Hause gewohnt ist, über gefährliche Dinge zu reden, „in einer phantastischen innern Solidarität wider einen Staat, wider den Druck der Geheimpolizei und der Zensur“, mit dem Gefühl, „zwar eingesperrt zu sein, doch Geschichte zu erle-ben“, sind die Menschen im Westen „zwar informiert, jedoch so ins Private entlassen, schrecklich naiv, ihre Interessen winzig und langweilig […]. Autos und Preise, Hunde und Häuser, Urlaubsreisen […] eine Normalität des ,alles ist so wie es ist’, utopielos, trostlos und geistlos.“ Und mit Schrecken stellt das Ich fest, selbst zum ,Westler’, ein ,Angepasster’ geworden zu sein: während ein Bekannter, der aus Pinochets Chile kommt, über die dortigen Verhältnisse erzählt, beschäftigt das Ich die dringend nötige Anschaffung einer Badeleiter für das eigene Boot. Doch inwiefern die Anpassung vor-angeschritten ist, erfährt Roman T., Hauptgestalt des Chat-Romans „Romans Netz“, ein weiteres Alter Ego des Autors, der von dem „Anderen“, dem „OstProvinzler“ und in-neren Stimme, als „Westschwein“ denunziert wird, mit dem Vorwurf, „freiwillig und lustvoll“ mitzumachen
„Hast dich also umsonst jahrzehntelang mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, gegen die westlichen ‘,Spießer’ und ihr System revoltiert, angeschrieben gegen diese amorali-sche Geld-, Lust- und Erlebnisgesellschaft, bist doch ganz schön ihr Bürger geworden […]? Alle Prinzipien, all diese Lebensopfer umsonst?“
Schon auf der ersten Westreise und dann nach der endgültigen Ausreise 1969 muss das Ich einen „schmerzhaften Umbau der Psyche und eine neue Sozialisation“ mitmachen, eine neue Integration, die zum Teil gelingt, denn ein Ostmensch ist das Ich inzwischen nicht mehr – es sind Bekannte, Freunde und Familienangehörige, die es daran erinnern, wie es früher war; in Romans Fall ist es die Mutter mit ihrem fröhlichen, ausgelassenen und kindischen Temperament, die ihn an sich selbst zurückdenken lässt: „[…] ich war ja anfangs auch so gewesen, überlaut, überschäumend, ein wenig verwildert, stark, selbstbewußt und ungehemmt, wohl für diese geschniegelten überzivilisierten Seelen unerträglich oder auch faszinierend, je nach Typ, für jene, die in ihrer seelischen Kargheit keinen lauten Ton vertragen konnten, sicher eine Zumutung.“ Es ist aber der „Andere“, der ihn davon abhält, „definitiv ein distanzloser Westler zu werden, was mich von allen […] unterschied und mir den schmerzlich klaren Blick bewahrte, der mich mir selbst als Fremden erhielt“.
Überhaupt könnte das Ich kein „Westler“ werden, eben weil es, zum Unterschied von den anderen, ein Leben hinzu hat: das Leben im Osten, verkörpert im „Anderen“, dem Doppelgänger, der in der transsylvanischen Heimat Roman selbst gewesen ist.
Den an sich selbst erfahrenen Umbau erkennt das Ich nach der politischen Wende 1989 an ganzen Völkern im Osten wieder: gleichviel ob es sich um Ostdeutschland oder Ru-mänien handelt, die Menschen sind nicht mehr zur Emigration gezwungen, „sie werden im eigenen Haus enteignet und zu Fremden gemacht“. Moral, Gewissen, „Innerlich-keit“, all das, was „Staatsfeind Nr. 1 des Systems“ und „nie funktionslos“ war, ersetzt nun die westliche Seelenlage, und zu den „totalitären Charakter-Verbiegungen“, dem Identitätsverlust, gesellen sich „materielle Misere und Zukunftsangst“ hinzu. Aus der Erfahrung beider Systeme kann Schlesak demnach behaupten, „dass das gescheiterte östliche Experiment eher ein westlicher Bastard (Marx), ein Versuch am falschen Ort ist, Resultat der Aufklärung: die Technik, die Staaten und Mächte, Geschichte zum Gott machen zu wollen wider die Natur und menschliche Natur, totale Wissbarkeit und Ver-änderbarkeit zu proklamieren und mit Gewalt durchzusetzen“. Und seine Gesell-schaftskritik betrifft verallgemeinernd West und Ost:
„Wir sprechen darüber, dass heute nichts mehr ,wirklich’ ist, alles nur Vorführung, Theater, die Welt ein Gespensterwerk. So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teil-chenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die Topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Ab-gründigem berührten, damit auch Fülle. Heute stellt die arme Künstlichkeit auch die Alltagswelt her: Verkehr, im Wohnzimmer elektronische Haustiere, im Büro der Com-puter, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvorgänge, in der Liebe Aids. ,Draußen’ AKW, Raketenkriege, Satelliten. Aber in der Familie, in der Politik, im so-zialen Leben, in der Wirtschaft und im Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so ge-handelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.“
Auch als deutscher Staatsbürger wird das Ich mit dem aus der Heimat schon bekannten Problem der verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Als eine „ausgezeichnete Methode des Ausklammerns und Verschweigens“ bezeichnet der Schriftsteller die geschickte Weise, auf der das (deutsche) Schuldgefühl umgangen wird. Diese Methode möchte aber das Ich für sich nicht in Anspruch nehmen; im Gegenteil: je stärker die eigenen Mit-Schuldgefühle werden, desto intensiver ist die Beschäftigung mit der siebenbürgisch-deutschen Herkunft. Fast lebenswichtig wird das Wissen um die Beteiligung der Siebenbürger Sachsen, der eigenen Verwandten und Familienfreunde, an den Nazi-Verbrechen. Ebenso die Auseinandersetzung mit dem Schuldgefühl des Verrats an der eigenen Tradition und dem Verlust des Heimatortes Siebenbürgen.
Gründe dafür, das Ich zu einer Flucht aus der dreijährigen westdeutschen Beengung zu veranlassen, gibt es inzwischen genug, ausschlaggebend sind jedoch die „Achtuhr-schmerzen“, der tägliche innere Druck, „der sich zur Uhrzeit der ‘,Tagesschau‘ ins Unerträgliche steigerte.“ Und die Rettung wird an einem „fernen und neutralen Ort, einem vom ,Mutterland’ Deutschland und südöstlichen ,Vaterland’ Siebenbür-gen/Rumänien entfernten Ort“ gesucht, „ein Ort, der Sehnsuchtsort ist, der Süden, Ita-lien nämlich.“ Hier in der „rasenden Ruhe“ der toskanischen Bergsiedlung Agliano bei C. versucht das Ich zusammen mit seiner Lebensgefährtin den eigenen Sinnen gemäß zu leben, die Einsamkeit als Lebenskonzept durchzusetzen und auf diese Weise weiteren Brüchen auszuweichen. Wenn bloß „der Andere“ nicht sticheln würde: „[…] er gibt Roman auch nach Jahren keine Ruhe. Wenn er da ist, verblaßt diese schöne Gegend, fremd, fremd, als würde Roman hier sein Leben verlieren, immer nur im Wartestand.“

3. Das transzendentale Exil

„Vor einem Jahr war der bisherige Status des Exils für mich aufgehoben“, schreibt der Autor 1991, „aber es gab nun ein neues, ein viel weitreichenderes Exil.“
Doch diese Art Exil ist nicht neu – nach 1990 nur etwas stärker spürbar, da von anderen Exil-Typen geläutert – sie ist schon in der Bukarester Zeit präsent, wenn sich der Autor als „Achtundsechziger“ im Widerstand versteht „gegen das, was die Leute für ,Realität’, gar soziale Realität halten und hielten“ , und wird im Westen fortgesetzt, wo Dieter Schlesak neue Anregungen und Aktionsgebiete findet: die Bewegung der italienischen ,Antiinstitutionellen’ für die Öffnung der Heilanstalten; ein neues Psychiatriemodell, das er auch in der BRD bekanntmachen möchte (dazu Radiosendungen: Praxis einer neuen Psychiatrie. Die offene Heilanstalt von Arezzo, SFB 1975 und Psychiatrie und Gesellschaft, SFB/RB 1975), eine langjährige Beschäftigung mit der Psychiatrie (darüber das Buch Sozialisation der Ausgeschlossenen, Rowohlt 1975), mit der Kunstpsychiatrie (Radiosendung: Der Umstand selbst ist dieses Lied, Gespräche in der Heilanstalt – mit dichtenden und malenden Patienten, WDR 1980), mit Meditationsgruppen und neuen therapeutischen Möglichkeiten (Radiosendung: Umgang mit sich selbst. Über Erfahrungen mit Meditation und neuen Gemeinschaften, SDR 1978).
Woher kommt dieses Interesse für die menschliche Psyche, die Suche nach einer Wirk-lichkeit jenseits der scheinbaren Realität, die Öffnung für das, was nicht nur Schein ist?
Einerseits könnte es als Resultat des Totalitären (alt und neu) betrachtet werden, das „durch ,wissenschaftliche‘ Beweise und falsche Theorien“ jeden davon überzeugen wollte, „dass es weder Engel noch ein Leben nach dem Tode gibt, dass es überhaupt keine unsichtbaren Kräfte gibt, das nichts gilt als das Sichtbare, das im eingebildeten Augenraum Unsichtbare – Seele, Gott und auch Traumbilder Unsinn seien.“
Andererseits ist es die „Irreligiosität“ , die „Rationalität“, die „siebenbürgische Nüch-ternheit, die alles Mystische ablehnt, als wäre es unheimlich“ , gegen die sich der Schriftsteller auflehnt und seine Landsleute, verallgemeinernd alle Deutschen für ihre Verschlossenheit, ihre Vorurteile und ihre Flucht vor der Wahrheit kritisiert:
„Vielleicht ist ihr (und aller Deutscher) technischer Tick, ihr praktischer und rationaler Ordnungs-Tick nichts als Kompensation eines Minderwertigkeitskomplexes, einer Schwäche, nicht natürlich sein zu können. Und der Rassenhaß, die Verachtung des ,Andern’ ein Bild für jenes Ganz Andere. Judenhaß vor allem. Das Okkulte, das Gehei-me, Unheimliche, Verborgene, bis hin zum Sexuellen – alles belegt mit moralischen Zeigefingerkategorien: ,unsauber’, ‘liederlich’, ,unordentlich’, ,unsittlich’, ,ekelhaft’ – eine Angstabwehr.“
Doch eben von dieser Transzendenz des Ostens, von seiner Weite und Natürlichkeit fühlt sich das Ich angesprochen. Von Marias Volk, das so „peinlich nah und doch mild, ganz aufgelöst“ ist, wird Michael T. angezogen, der sich vornimmt, „sein erstarrtes Be-wußtsein zu öffnen“, sich aber „trotz großer Anstrengung […] eher rückwärts entwi-ckelte“. Die Rumänen, die Zigeuner vor allem werden von T.s Leuten als „abergläu-bisch“ und „unheimlich“ voller Misstrauen beäugt – „die Toten ansprechen, besprechen. ,Wer geht dort ohne Schritt und stumm wie eine irrende Seele um? Wer bist du? Wer? Woher kommst du, wie kommst du her? Mutter, bist du es, mir ist es so schwer.’ So sagtet ihr es, Maria. Wir aber waren dagegen wie Heiden. Die Barbaren aus dem Nor-den.“
Typisch siebenbürgisch-deutsch ist auch die Angst vor Geistern, vor Gespenstern, denen das Ich zum ersten Mal als Kind in einer Todeshalluzination begegnet:
„Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als ,Pelzkugel auf der Zunge’, aber der Kopf dick, wächst wie eine Wasserkugel […]. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel, den die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen hat, langsam herein, die Tür knarrt, der Mann will mich erwürgen, es ist ein Gespenst mit knotigen Fingern. Und Leute, die blendeten, sie hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand, als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da – hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, als wenn jemand Schubladen auf- und zumachen würde. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Unmöglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren natürlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, anderthalb Meter groß, die hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis, einem Lichtkegel, der sich durch die Türe auf mich zu bewegte, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie.“
Es sind Erscheinungen, die das Ich aber auch in seinem neuen Zuhause in C. aufsuchen:
„Eine Ecke ist da in meinem Zimmer, wo es hoch hergeht […] da die Unsichtbaren dort ,wohnen’, ganz nah am Fenster zum Wald, sind hoch und nie zu greifen, aber da. Mondsgefrieser, könnt ich meinen. Und wenn es Nacht wird, reichen sie herein, und rühren mich von hinten an. Da steh ich auf, dreh die Deckenlampe an, dann erst knipse ich die Schreibtischlampe aus und geh mit dem Gesicht der Tür zu, Rücken ihnen zu-gewandt und rückwärts, schnell, so schnell es nur geht, zur Tür hinaus zum Schlafen, zum Treffen mit ihnen im Traum, wo sie eher hingehören als in den Blick, der mich trifft und erschreckt, denn im Traum bin ich ja ganz bei ihnen, einer der ihrigen.“
Die allgegenwärtig beobachtende Funktion, die SIE (die Securitate) in Rumänien erfüll-te, wird in der neuen Heimat auf ,sie’ übertragen, „Anwesenheiten“, „die ich in großer Anzahl […] und wie einen starken Druck oder tausend Blicke hinter meinem Rücken verspüre.“ Als „glaubensmäßig nicht diszipliniert“ wird das Ich von seiner Le-bensgefährtin Jann ausgelacht, doch als Roman lernt das AlterEgo des Autors die „neu-en Gespenster“ kennen: „die neuen Chatfreunde […] und vor allem die vielen Chat-freundinnen.“ Diese „kamen nun nicht mehr nur wie beim bisherigen Schreiben aus der Phantasie, sondern ganz schön wirklich aus der Telefonleitung und leuchtend als FREMDE SCHRIFT, Chat und Email-Brief, manchmal auch als ein gescanntes Foto – so kamen die neuen wirklichen Gespenster im Raum hier an! Virtuell, wie das heute so heißt!“ Wir – die neuen „Internetphantome“ und „Bildschirmgespenster“!
Durch die Beschäftigung mit der Psychologie stößt Schlesak auf die wichtigste, die in-nere Grenze, die innere Zensur, die bei der Sozialisation in jeden hineingesetzt wird; darüber hinaus gibt es aber das, was die Psyche verdrängt, verschweigt, unangetastet lassen möchte und von der Parapsychologie untersucht wird: die Verbindung von Kör-per und Geist, die Todesangst, das Jenseits… (Einige Arbeiten Dieter Schlesaks zum Thema: Essays: Der historische Grund der Grenzwissenschaft, 1978; Zeuge an der Grenze unserer Vorstellung 1985; Delta T und Kabbala. Thomas Pynchons Versuch, die Zeit einzuholen, 1985; Gibt es ein Leben nach dem Tod? Der Philosoph Immanuel Kant und der Hellseher Emanuel Swedenborg, 1998; Radiosendungen: Weine nicht mehr, hoffe nun. Gibt es ein Leben nach dem Tod?, DeutschlandRadio Köln 1997; Liebe ist Leben für immer. Über die unheimliche Kommunikation zwischen Diesseits und jenseits in der Literatur und Parapsychologie, Radio Bremen 1997.)
Zum Untersuchungsbereich der Parapsychologie gehört auch die Körperangst, das erschreckende Be-wusstsein, in einer „Fleischzelle“ gefangen zu sein, aus der man nur durch den Tod befreit werden kann. Es handelt sich um eine normalerweise „verdrängte Körperangst“, da wir nicht leben könnten, „würden wir dieses Bewußtsein, im Fleisch unentrinnbar eingemauert zu sein, nicht dauernd vergessen.“ Für das Ich ist die Zwangsvorstellung des Körpergefängnisses aber nicht selten („Im Halbschlaf spürte ich die Haut wie eine elastische Mauer, die sich enger und enger um mich schloß“ ), und der Ekel vor „dem eigenen Fleischbalg, in dem ich stecke. Widerlich diese Kreatürlichkeit, zum Verfall bestimmt, ein Balg, der alle unsere Erfahrungen trägt – und dann mit einem einzigen Schlag vernichtet wird. Ist das nicht absurd? völlig unverständlich: wozu dann überhaupt soviel Mühe und Anstrengung.“
Eine Metapher für den Körper ist im Roman Der Verweser der Turm, in den Nicolao Granucci lebenslänglich eingesperrt wird. Jürgen Egyptien erklärt die Turm-Metapher als „Gefängnis für eine Wahrnehmung, die auf die materielle Außenwelt beschränkt ist und ihre Grenzen mit denen der Wirklichkeit verwechselt“.
Eine zeitweilige Flucht aus dem Körpergefängnis wird durch den Flug des Astralleibes, des Jenseitskörpers möglich. Nicolao Granucci erlebt diesen Flug zum ersten Mal in Begleitung seiner Geliebten Lucida Lucrezia Mansi, die dazu „die Salbe, das Losungs-wort und die Handlung“ einsetzt; allein macht Granucci die Flugerfahrung im Au-genblick seiner Aufhängung:
„Dann dieses Dröhnen, es drehte sich im Hirn, ein Brausen, ein Ziehen im Flug durch den dunklen Raum des Trichters, der Sog und das Licht strahlend…
[…] eine rasche Aufwärtsbewegung – und er, hingezogen, sah nur noch das Ver-schwommene dieser Aufwärtsbewegung, ungeheuer schnell ging alles, und er fühlte das Rauschen und eine Hand unter dem linken Ellenbogen, hochgehoben, geschoben wurde er von einer unbekannten Kraft. Und dann nach einer endlosen Reise, oder nur eine Se-kunde später vielleicht, stand er in einem großen hellen Raum […] Bin ich tot? fragte er sich, und antwortete auch gleich: Ich weiß es nicht? Und bin verwirrt. Dann aber sah er sich an, erwacht aus der Ohnmacht und er befand sich in einem Strahl-Leib, und wie bei den Benandante konnte er fliegen. Und ging zurück durch Felsen und Mauern und durch ganze Berge, den Apennin sah er jetzt von oben, auch Lucca sah er wie im Flug […].“
Michael T. hingegen erlebt den Flug im Schlaf: „Ich sah mich im Schlaf von oben, schwebte über mir und sah den T.: Lag da im Bett wie tot“ , oder während seines Auf-enthalts bei den Nahuatl-Indios, wenn er mithilfe der Dona Cecilia, einer der besten „curanderos“, seinem verstorbenen Vater begegnen darf:
„Ich fühle mich ganz leicht. Und schwebe einen Hang hinauf, es dämmert schon, und ich denke: Das sieht hier aber sehr nach Karpaten aus […]. Am Steinhaufen da stand Vater und sah mich erstaunt an […]. Ich wollte auf Vater zulaufen, ihn umarmen, doch er machte eine stumme, abwehrende Geste […]; hätte gerne gejubelt, weil ich hier ihn und alles Verlorene wiedergefunden hatte.“
Auf die Astralwanderung, die OOBE (Out-of-body-experiences) weist der Autor auch durch die Beschreibung von Michelangelos Deckenbild der Sixtina, dem „Flug der klei-nen Taube“ hin: „über die ganze Decke bis hin zu Jonah fliegt diese weiße Taube, und Jonah heißt auf hebräisch Taube: Flug des befreiten ,Heiligen Geistes’, der in unserem Körper eingesperrt ist, der Astralleib, der uns einmal in den Himmel führen wird.“
Die Faszination des „Todesdenkens“ ist einer der Gründe für Schlesaks Interesse am Werk und an der Biografie von Schriftstellern und Philosophen wie E. M. Cioran, B. Fondane oder F. Kafka, „Heilige der absoluten Negation“, die das Leben „wie eine Hin-richtung im Sekundentakt, wie eine endlos hingezogene Exekution [empfanden]. Der Tod als Erlösung, als Freund, und als die einzige Gewißheit, in der man frei ist.“ Auch bei Kant entdeckt der Schriftsteller die große Anziehungskraft des Jenseits und des Todes, der vom Philosoph als „Übergang, Steigerung, Hoffnung […], Wachstum, Fortsetzung geistiger Entwicklung“ interpretiert wird; und die Erde als „pädagogische Provinz, Erfahrungsbereicherung, die nach dem Tode ,hinüber’ genommen wird“.
Der Tod stellt demnach ein Tor dar, zu einer höheren Bewusstseinsstufe, zu einer neuen Daseinsform, die wir mit unseren antiquierten Sinnen nicht erfassen können, von der wir aber durch die Toten selbst Nachricht bekommen. Die Transkommunikation – vom Mainzer Physiker Prof. Ernst Senkowski in seinem Buch „Instrumentelle Transkommu-nikation“ (1996) beschrieben und durch Experimente belegt – bietet die Möglichkeit, Seins- und Bewusstseinsbereiche, zu denen der Zugang im Normalbewusstsein ge-sperrt ist, medial mit elektronischen Geräten zu erreichen. Beispielhaft ist die Aufnahme von Totenstimmen auf Tonband, vom Autor selbst nach 79 (dem Todesjahr seines Vaters) durchgeführt:
„Sie sind wirklich zu hören, diese Stimmen; die Deutungen gehen auseinander, manche meinen, es seien Stimmen unseres eigenen Unterbewußtseins. Vielleicht aber ist unser Unbewußtes einfach nur ein Tor, und es gibt keine Trennung der angeblich getrennten Sphären; daher die Angst, weil wir jene andere Welt vergessen, um überhaupt im Körper und im Alltag existieren und uns anpassen zu können an eine eigentlich nicht exis-tierende ,feste Welt’.“
Durch die Kontaktaufnahme der Toten, die eigentlich leben, zu den Lebenden, die schon längst tot sind, soll nicht nur das Vergessen aufgehoben werden, sie „löschen auch die Barriere der Verdrängung, heilen das Grundübel dieser Zivilisation, ermögli-chen einen neuen Kontakt mit der Natur, heben sozusagen Adams Fall auf“. Kriegs-tote und Opfer geben Auskunft über den Ersten und Zweiten Weltkrieg und mahnen; das Ich erlebt es immer wieder im Schlaf, sieht sogar „de[n] große[n] rote[n] Ball, das ungeheure Licht am Himmel, jeder Zeit möglich“ – die Atombombe. Das uns Men-schen umgebende Grauen, das als Erinnerung aus der Vergangenheit aufkommt und so-gar in der größten Trauerleistung nicht abgetragen werden kann, entschlüsselt der Autor als Erhellung und Zeichen dafür, dass sich die Menschheit auf den 8. Tag zubewegt, der in der Kabbala den Übergang zu einem anderen Zustand darstellt, wo die Körper aufge-löst werden in Licht.
Totenkontakt aber auch Déjà-vu und Traum bedeuten Zeitüberbrückung, Durchbruch durch die Zeit, Auflösung der Zeit, eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieses versucht Schlesak im Roman Der Verweser anhand des Gestalten-paares Erzähler – Nicolao Romano Granucci zu verdeutlichen. Während Granucci, der Schriftsteller aus dem 16. Jahrhundert, den Erzähler als eigenes, in die Zukunft proji-ziertes Alter Ego betrachtet, erkennt das erzählende Ich durch Traum, Visionen und Déjà-vu-Erlebnissen, dass Nicolao sein Gespenst ist und er selbst Granuccis Widergän-ger. Und im Zeitstillstand kommt es sogar zu ,blick-nahen‘ Begegnungen:
„Das Unterbrechen der Sinne. […] Das Unterbrechen der Zeit, hinter sie zu treten, zu-rückzukehren! Ich übte nun auch das, konzentrierte mich im Spiegel: Anschauen, sah mir selbst in die grünen Augen, fixierte meine Pupillen und es war mir, als steige von dort eine Form der Kraft strömend in mich ein, der eigene Blick traf mich scharf und das Bild erfüllte mich ganz, es veränderte sich, und plötzlich war er es, war es Nicolao Romano Granucci, der im eigenen Blick in mich einstieg, und wir fixierten uns, so schien es, als ginge mein Bewusstsein zwischen ihm und mir, zwischen Spiegelbild und Blick hin und her, und dann sah ich auch die vielfarbige Aura des Gesichtes, das von Flammen umgeben war. […] Und es gelang mir gut, auch das Gesicht von Nicolao in mir aufzubauen, und ihn sogar zu beeinflussen, so dass er protestierte, weil ich ihm meinen Willen aufzwingen wollte. Was ist das, murrte er, du, mein eigenes Geschöpf, lehnst dich auf, willst stärker sein als ich?“
Dabei wird dem Erzähler immer deutlicher bewusst, „dass ein Gedächtnis das andere überlagere, eines vielleicht aus einem anderen Leben, ,und der Augenblick hier ist jener Blick, der mich anschaut, und das Jetzt ist ein Immer, das große Rätsel, das niemand durchschaut!’“
Um Raum- und Zeitüberbrückung handelt es sich auch im Roman Terplan und die Kunst der Heimkehr und um die Verstrickung von Ich-Er-Erzähler-Michael Terplan:
„…ich, der Michael Terplan – wie immer zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, das im nächsten Moment gewesen sein wird, andauernd im Zweifel, ob es mich überhaupt gibt: gibt es nicht vielleicht nur ihn…“
„Und dann sagte mir Terplan, es sei schon so, ich solle nicht erschrecken, er sei ja ich, wenn er da sei, aber es sehe ihn niemand, nur ich, nun ja, er sei einfach ein Gespenst meiner Erinnerung… mein wichtigstes Gespenst… aus der Zeit als es mich noch gab.“ (111)
Ähnlich wie sein ,Vorgänger’ Michael T. wird auch Terplan – der Geist des toten er-zählten Ich, der simultan Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart erleben kann – nach-dem er von einem Medium in seinen alten Körper (der „längst ,hinüber’ und schon tot“ ist) gelockt wurde, vom Erzähler nach Hause geschickt, denn „da ist er am Leben…“
Die Notwendigkeit einer radikalen Bewusstseinsänderung, schon in der Eschatologie in der Bergpredigt angedeutet („Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist DA“ – Matthäusevangelium Kap. 5-7) , wird heute von der modernen Physik hervorgehoben, welche den überholten Begriff „lineare Zeit” durch den aktuelle-ren Begriff „natürliche Ereignis-Zeit“ ersetzt. In dieser Hinsicht teilt Schlesak die Auf-fassung des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker von einer neuen Logik der Zeit, die das „JETZT“ neu interpretieren soll: nicht mehr an formale Wahr-heiten gebunden, die das Jetzt verstellen, muss „die Struktur des Jetzt […] offen und somit rätselhaft bleiben […], unheimlich werden, um wahr zu sein; das heißt, der Zu-gang zu ihr muß jenes Moment des Nicht-Wissens beinhalten, das offene Zeit als unge-deutetes Jetzt voraussetzt.“
Wie unterschiedlich die Erfahrung des Zeitstillstandes ausfallen kann, stellt der Autor im Roman Vaterlandstage dar:
• wie im Traum für die siebenbürger Landsleute bei der Kriegswende: „Ein hohes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aussetzen der Zeit. Als wärs – plötzlich eine hastige Ewigkeit.“ (S. 111)
• irreal bei der ersten Verhaftung Michael T.s in Denndorf: „Nur noch Gespenster im Denndorf, kein Muckser. Da stand, aus dem Stand, Zeit aus. Still. Soooo still. Nix mehr bewegt, oben vom Turm traute sich die Glocke. Bingpang ping.“ (S. 408)
• unbeschreiblich grauenhaft für die Verurteilten in den KZ: „Und plötzlich reißt dann die Zeit ab. Die Menschen können nicht mehr gehn. Sie brauchen ihre Schuhe, ihre Hemden nicht mehr. Ein hoher schriller Summton bleibt, viel schrecklicher noch als bei einer Verhaftung, bei einem Unglück.“ (S. 113)
• als eine uns ständig auflauernde Gefahr nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Fall der Atombombe: „Seither bewegt sich die Zeit im Kreis, ist kreisrund, ist wie ein großes Loch, in dem wir langsam verschwinden; lautlos, vielleicht spurlos.“ (S. 262)
Einzig während der Kindheit paradiesisch: „Geschütztsein, Verstecktsein. Die Kostbar-keiten einer Kindersehnsucht; als gäbs kein Ende. Die Zeit ist aufgehoben. Und wir können fliegen.“ (S. 113)
Auf den Effekt der Zeitaufhebung stützt sich auch der narrative Aufbau des Romans: Nach der Verhaftung träumt Michael T. in der Zelle seine eigene Hinrichtung, doch die Zeit wird angehalten, „der Vogel steht in der Luft, der Regentropfen auf seinem Ge-sicht“ und die Kugeln des Erschießungskommandos „drehn sich vor seinem Gesicht, kommen nicht an…“ (S. 102). So entsteht der Rahmen für den zweiten Traum, dem Traum im Traum, in dem T. sein ganzes Leben wie ein Gericht wieder erlebt und sich die eigentliche Handlung des Romans abspielt.
Zeitstillstand, Auflösung der Zeit ist das „Delta t, die Hölderlinie zwischen Null und Eins, unendlich dichter Punkt“ und Vorbereitung auf das Licht des 8. Tages: „Licht nahe der Null, t, das dich auslöscht, das dich mitnimmt, Mitgenommener“, erklärt Adam K., denn das Ursprüngliche, t, […] erscheint nur, wenn unser Lebenslicht schwach ist; wenn dieses Zeichen, das wir sind, solange der Körper es zeigt, und als 1 gilt, nun durch die Zeit als 0 gesetzt wird, kann ER durchscheinen.“
Die Quantenphysik bestätigt die Tatsache, dass Intuition, Revolutionserlebnis oder Zeit-stillstand Durchbruchsformen des „Ganzen“ in uns sind: es handle sich um ein „univer-sales Zusammenhangssystem“, ein „einheitliches Informations-Gewebe“, das die „Weltseele“ bildet und an der auch jeder Einzelne von uns angeschlossen ist, „’Einbrüche’ aus jener andern Zone der kosmischen ,Information’ stehen am Ursprung der Kultur. Einfälle, Inspirationen, Träume. Aus ihnen entstand unsere ,wirkliche’ Men-schenwelt, sie besteht aus Geister-Apparaten, vom Computer bis zur Bombe; Einfälle, notiert in Formeln, werden technisch umgesetzt: Geschichte ist Vor-Schein, Projektion des geronnenen Geistes im Gerät.“
Und dasselbe gelte auch für den Künstler! Sodass sogar der Begriff ,Uto pie’ neu definiert werden könnte:
„UTOPIE wäre dann der Umgang mit dem MÖGLICHEN, dem Überraschenden, dem, was ist, dem, was Wirklichkeit erst begründet und unsichtbar bestimmt, überraschend nur, weil es alles Gewohnte und Vorgewußte überschreitet und zerstört.“
So wäre dann auch die Schlussfolgerung möglich: Öffnung, Umkehr zu Längst-Gewusstem, Bewusstseinsänderung als Weg aus dem Exil.


IV

Marian Victor Buciu
Die Welt als Text in Zeiten von Diktatur und Exil



I LITERARISCHE ONTOLOGIE

1. DIE FIKTION DES SCHEINS UND DER NICHTEXISTENZ

Der Erzähler im Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens urteilt und verurteilt die Wirklichkeit auch im Wort, das ja die Gegenwart schafft. Er nimmt sich die Welt nicht nur vor, sondern er nimmt sie auseinander, ja, er denunziert sie. In einem anderen Sinn verfährt er aber auch mit dem Text genau so wie mit der von ihm erschaf-fenen Realität. Er erweist sich als einer, der Welt im Text erschafft, dessen Schöpfer und Meister er ist, und der diese Textwelt beherrscht. Er ist also auch Autor einer Poie-sis; und es gibt ihn im Buch in dieser Rolle eines Kenners beider Welten, Systeme, Menschentypen. Nur er kennt die Natur der Freiheit, der Beziehungen, die Brüchigkeit oder die Mythologie und die Philosophie, die individuelle Vorstellung in seiner Welt und der Welt seiner Figuren.
Manchmal ist jener, an den er in einem Monolog das Wort richtet, seine Hauptperson Michael T., sein Doppelgänger, wie er selbst mehrfach zugibt, und den er als einen Ad-hoc-Erzähler einsetzt: „Für M. gibt es dich, T., nicht. Nur M. gibt es. Du siehst sie schweben…Wer bist du T., du existierst im Nirgendwo, denkt sie, dich gibt es dort in eurem Jenseits, dem goldenen, nur, wenn ich dich erfinde!“… (353). T. erhält ein Ge-sicht, Gestalt im gegenwärtigen Dasein, und dieses auch im Wort-Sinn, wenn der Erzäh-ler T. aus einer Fiktion, aus seiner Nichtexistenz herausholt, indem er ihm eine Rea-lität zuschreibt, ihm so reale Existenz verleiht.
T. ist ein fiktionales Wesen, das für Maria, die in Michael T.s Geburtsland Zurückgelas-sene und Verlassene, in der konkreten Wirklichkeit ja nicht mehr vorhanden ist, und so einem negativen Raum, jenem der Absenz angehört. Es ist eine Absenz freilich, die in ihrem Kopf eine metaphysische oder mythologische Aura hat; seine Absenz ist das ihr unvorstellbare West-Nirgendwo einer goldenen Transzendenz.
Die Ferne erhält hier in aller Evidenz einen paradigmatischen Status der Spannungser-zeugung. Das Modell dafür ist das künstlerisch vermittelte und gespaltene Biografische. Denken wir nur an die marginale Existenz von Brunelleschi, auf die Michael T. verweist, indem er diese, in einem Gespräch mit einer Person, die als G. im Buch erscheint, offensichtlich als eine alles Verwandelnde ansieht. Für G. (der übrigens ironisch als Chiffre für „Gott“ steht, und auch den Verleger meint), gehört das Leben nicht nur zur Ordnung des Ästhetischen und des Rhetorischen, sondern auch des Hermeneutischen, die auf einen mysteriösen und profunden Einheits-Sinn zielt und diesen umkreist; denn so, versteht T. den Status und die Ordnung dieses Symbols des Nirgendwo oder des Nichts (als das Eine), wenn er sagt: „Mit dem Leben ist es wie mit den Symbolen.“ Und: „Wo ist das Zentrum, fragte ich ironisch G…. Bist du das Zentrum? …Und ich merkte, dass er genug hatte, Anstalten traf zu verschwinden, aufzufahren womöglich… suchte in meinem Hirn nach einem bindenden Argument, sagte rasch: War nicht auch Brunelleschi eine Randexistenz? Man nannte ihn den „Stadtirren“... (290)
Auf diesen Koordinaten wird die Ontologie und Seinslehre des Humanen gerechtfertigt, nämlich als hypothetisch unterstellte Vergegenständlichung des Undenkbaren, als „Mensch, dessen Dasein hier fast ein Wunder ist“.
Der Erzähler lebt in der Ungewissheit, die er selbst erzeugt hat, lebt von der Zweideu-tigkeit der Wirklichkeit und ist vom Imaginären und Undenkbaren schwer belastet. Die fiktionale Wirklichkeit, die er herstellt, bleibt so dem Druck des Scheins und des Zwei-fels ausgesetzt. Der Diskurs, so stellt er fest, vernichtet alles, was als Sichtbarkeit mit Gewissheit existiert, und diese Vernichtung geschieht sogar im Prozess der poetischen und textlichen Verwirklichung. Es kommt so weit, dass sich die Hauptfigur selbst fragt: „Und ob T., Jann, Adam wirklich existieren, mag dahingestellt sein.“ (345)

DIE ONEIRISCHE – ODER DIE TRAUMEXISTENZ

Michael T. verweist auf seine eigene wie geträumte Existenz, auf den ontologischen Traum – auf die sinnträchtige und disziplinierte Vision, über die T. S. Eliot in seinem Dante spricht, und die das Individuum als einen wiedergeborenen Androgyn onto-erotischer Kommunion des Paares auslöscht: „Und einmal habe ich geträumt, Jann als süßes Mädchen sei in mich hinein geschmolzen, den Körper zogen wir aus wie einen al-ten Rock.
Erwachte also und sah den skeptischen Blick des langen Herrn G…. als wollte er sagen: Siehst du mein Lieber, was hättest du gemacht, wenn ich nicht kurz für dich Kino ge-spielt hätte…“ (292)
Wir sehen, wie der Traum Michael infantil sein lässt, er sich durch Traum-Thaumaturgie, als wäre er tatsächlich ein befähigter Wunderheiler, die Kindheit wiedergewinnt. Der weibliche Teil, die Frau, erscheint also vom Träumer regressiv in ein „süßes Mädchen“ verwandelt, in ein Wesen paradiesischer Existenz, das verloren schien, nun im Traum zurückgeholt wird, und zwar jenseits der bitteren Existenz alltäglicher Gegenwart.
Das sich des Körpers Entkleiden soll jedoch nicht als eine Auslöschung gedeutet wer-den, und ebenso wenig als unbedachte Leer-Schöpfung, im Gegenteil, sie bedeutet die Verwirklichung einer reinen, spirituellen Figur, die nach dem Modell des rumänischen Volksmärchens Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod ewig jung bleibt. Der Körper wird wie ein altes Kleid ausgezogen, um das Alter und die Gewissheit des Todes zu lö-schen, um die verrinnende Zeit zu verlassen und im angehaltenen Jetzt, das zum Hedo-nismus einer abstrakten Jugendlichkeit wird, bis in die Kindheit zurückzugehen. Die Magie des Traumes macht dieses möglich. Jedoch nicht als Wirkung auf den Träumer, sondern als Traumwirkung auf die Mädchen-Frau, zu der Jann wird, Jann, die neben T. im Traum erscheint.
Der Traum aber ist hier nicht auch Selbstverwandler. Die ibsensche Metamorphose ist für T. unmöglich. Die Kraft des Träumers erzeugt auch einen reflexiven Schöpfer, eine Kraft, die sich freilich nur auf die Textschöpfung und auf die geschaffene Traum-Figur auswirkt. Michael T. ist ein Pygmalion, Jann Galatea, beide aber werden festgehalten in der blitzartig vergehenden Traumlandschaft. Sie werden nicht getrennt in einen auto-nomen Akt, also in Textschöpfung und in ein Geschöpf., sondern sie sind gefangen in der spannungsreichen Figur einer ehebrecherischen Androgynie.
Es gibt nun in dieser auktorialen, spiegelhaften Vorstellung einen Exzess zum Körper hin , und dieses nun genau als Gegenbild zum Entkörperlichungstraum, in dem Mi-chael T. Jann verwandelt. Diese Körperlichkeitstendenz entstammt einer Feminisierung des Leibes. Der Erzähler bewegt sich innerhalb einer weiblichen Vorstellungswelt, in einer Frauen-Welt-Ordnung, einer Frauen-Erzählung, Frauen-Schrift, alles jedoch in ei-ner männlichen phalokratischen Perspektive. Die Feminisierung, die Erotisierung werden zu schmerzmindernden Rettungsaktionen, um dem geschlossenen ideologischen Druck des Gegenpols „Mann“ zu entgehen: Während eines Verhörs durch einen Securi-tateoffizier, einen überzeugten Kommunisten, fantasiert Michael T. die in der Haft ver-lorene Stadt, verwandelt sie in eine lustvolle Weiblichkeit: „Einige Augen sehen ein-wärts, winzige Monaden, drehen das Blatt um. Die Stadt aber schien ein weiblicher Körper mit großen Brüsten. zu sein.“ (362) Der nächtliche Traum war also paradiesisch, hedonistisch, rettend und behütend. Die soziale Realität, die totalitäre Politik mit Verhörern und Verhörten aber ein alltäglicher Albtraum. Hier ist der Eros eingeschrieben in eine exzessive Materie, die die Sinne überhitzt und exaltiert, ein Versuch, die vergewaltigte Seele Michael T.s, die verfolgte und gequälte Person und den Autor, gemeinsam zu verteidigen und zu heilen.

DIE PROVISORISCHE EXISTENZ

Die Existenz von Michael T. wird von Adam aus Anlass seines Besuches in der Ort-schaft C., die nur mit Initialen bezeichnet wird, offengelegt und beschrieben. Adam ist eine jener emanzipierten, widerständig-ludischen und pirandellianischen Personen, die über ihren Autor urteilen. Diese fiktionale, diegetische Existenz Adam ist autonom gegenüber dem Realen und Bezüglichen, dem Nicht-Buchstäblichen und Übertragenen. Im „Erzählten“ aber bleibt ja trotzdem das Geschöpf der Autor-Erzähl-Person Michael T. bestehen. Doch ist die Existenz, das Reale, eine seiner großen Schwächen ganz im eigentlichen Sinn. Alle leben an der Grenze zwischen Leben und Tod. Doch diese Grenze befindet sich in der Natur des Autors; und eine Grenzobsession beherrscht die Erzählung.
Die Existenz hat hier ihr Anfangslimit unter der tödlichen Zufallsdrohung. Die Erzähler-Person wie auch die von ihr geschaffenen Personen, erscheinen wie Schattengestalten, die in einem Abgrund entdeckt werden, in einem Dasein ohne das Schein-Werfer-Licht der platonischen Höhle. Indem er seine Personen beobachtet, beobachtet T. auch mittelbar sich selbst, und zwar in einem Zauberkreis, der als Folgebeziehung zwischen Geschaffenem und (Selbst-)Erkenntnis des Textschöpfers gesehen werden kann: „… dass sie so fahl und blass erscheinen, fast tot, sie als meine Figuren, die ich gar nicht am Leben erhalten konnte, weil ich selbst kaum mehr am Leben war…“(308)
Michael T. erweist sich als unfähig zu einer Distanzierung auf existenzieller Ebene, die, siehe da, auch eine kreative ist, also substanzgleich einer wortexistenziellen Ebene. Die Figuren und ihre Welt existieren in einem relativ schwachen und prekären Autoren-Ich, das sich selbst an der Grenze seiner Existenz bewegt. Und alles ist so adäquat dieser prekären Existenz. Michael T. notiert auch die „so unwirkliche“ Zögerlichkeit, die „Nachgiebigkeit aus Unsicherheit“ Adams.
Der ontologische Raum gehört zur Welt einer tragischen Feenhaftigkeit des Märchens. Adam erkennt, ja beschreibt seinen Autor Michael T. mit einer gewissen Überheblichkeit als eine Figur in einer zwischentextlichen und zweideutigen Räumlichkeit, der in der Wirklichkeit in Italien, in C. und auch im Märchen lebt, und der fast identisch zu sein scheint mit Dornröschen. Doch die Symbole, der Sinn der Märchen ist Teil eines planetaren menschlichen Ethos, als symbolische Figuren fantastische Vergegenständli-chung: „Dein Dornröschenschloss hier…“(308)
Diese Art Existenz, sozusagen als „Schutz im Entzug“, hält ein Mysterium offen, und öffnet in dem Grad wie sie zugleich verhüllt, denn sie kommt aus einer diskreten, ge-heimnisvollen Öffnung; dieses wird durch die Person Adams auch ausgedrückt, der sich schon weit genug von seinem Autor entfernt hat, und ihn betrachtet, indem er ihn mit dem Dornröschenschloss des Märchens vergleicht, dieses aber mit einer unendlichen Geringschätzung tut. Adam gehört einer oneirischen Ordnung der Existenz an, indem er eine Verwandlung verkörpert, die aber auch recht verhüllt, jedoch viel konkreter per-sonbezogen ausgedrückt wird, nämlich durch Mimik und auch in Worten: „Dabei ver-wandelte sich sein weißgraues Vogelgesicht, Ironie blitzte mitten in der Unschlüssigkeit auf. Freilich, der Mensch ist ganz in Sicherheit nur im schönen Inkognito, sagte er, im Verschwinden also. Da kann ihm ja gar nichts mehr passieren.“ (308)
Adam hat alle Eigenschaften der Traum-Figuren aus den verschiedensten Texten von D. Tsepeneag. Die oneirische Fantasie hat den in Rumänien geborenen deutschen Schrift-steller beeinflusst, er ist der Literatengruppe der Oneiriker-Kollegen immer nahe gewe-sen, auch wenn er nie zu der eigentlichen Gruppe Dimov-Tsepeneag gehört hat, doch hat er sich ihnen im Exil dann zugesellt, als diese Literaturströmung in Rumänien verboten wurde.
Adam (nicht zufällig der Name des ersten Menschen) ist hier jene Romanfigur, die ihren Autor bis in alle Tiefen und Abgründe kennt. Adam hält ihm auch sein buddhistisches Spiritualismus-Engagement vor, es sei eine nicht zufrieden stellende Option, kaum endgültig und eher eine Übergangslösung an einem Kreuzweg, und auch anzusiedeln vor oder neben dem christlichen Kreuz: „Aber du machst mir nichts vor: Dein ei-gentliches Problem ist jetzt diese Sackgasse, du kannst weder vor noch zurück, hast dich für diese Existenz entschieden, bist in ihr, in dieser Vorläufigkeit alt geworden.“ (308)
Es ist klar, dass Adam hier der Christ ist, aber auch in missionarischem Sinn, für den Konvertiten und Erzähler wichtig, ein Initiator, der durch eine Erfahrung durchgegan-gen ist, die begründet wird; er erscheint hier als Überich des unsicheren „Autors“ , der Michael T. heißt.
Nicht dieser Autor, sondern sein Geschöpf ist allwissend und bedroht mit den Vorzügen seiner wesentlichen Erkenntnis seinen Schöpfer. Immun gegen jede Autorenlist. Diese Romanfigur als auktoriales Überbewusstsein holt den Autor heraus aus seiner provisori-schen Lebensrichtung, in die er sich verrannt hat, und die sein eigenes Geschöpf für ver-fehlt hält, da Michael T. darin vergreise.
Nicht das Märchen oder der Mythos wären also der nachadamitische Weg, zeigt die Romanfigur, die sich Adam nennt. Ich wiederhole: nicht zufällig heißt sie Adam, im Sinne eines Neuen und nicht des abgestanden Alten Adam, eines Adam also, der einem nachfolgt, der am Kreuzweg nicht stehen blieb, sondern, um wiedergeboren zu werden, das Kreuz wählte, Jesus Christus also. Ich führe das vorherige Zitat, genau da, wo ich es abgebrochen habe, weiter, und meine, dass es in diesem Sinn demonstrativ wird, und den Moment sozusagen zwischentextlich festhält; es ist die Sequenz des Evangelientex-tes, dieser Neugeburt, der Dialog zwischen Nikodemus und Jesus, als der Geistliche nachts zum Erlöser kam; um von den Jüngern nicht gesehen zu werden, um zu erfahren und zu verstehen, wie der Mensch zum zweiten Mal aus dem Mutterleib geboren wer-den kann, sagte dieser: „ALS GREIS WIRD DER MENSCH WIEDER JUNG! ODER WIE KANN EIN MENSCH GEBOREN WERDEN, WENN ER SCHON ALT IST? KANN ER ETWA ZUM ZWEITENMAL IN DEN SCHOSS SEINER MUTTER EINGEHN? IHR MÜSST VON NEUEM VOM HIMMEL GEBOREN WERDEN…“ (208/209)
Und ähnlich wie Nikodemus, bevor er zu Jesus kam, sieht auch Michael T., der gespal-tene Autor, in seiner Romanfigur Adam, nicht die des Überbewusstseins der Gottheit mit allen ungläubigen unernsten Unsicherheiten, sondern das der Menschheit.
Der Name geht auf eine mysteriöse Weise dem Wesen voraus, das mit dem Sinn be-ginnt. Ein Wesens-Name hat in sich selbst einen Sinn. Nur jenseits der Sprache wird die Existenz unkontrollierbar. Denken wir nur an den Namen von Adam K. Was kann er uns sagen?Wir können dabei ebenfalls an einen Hyponamen denken, einen Ursprungsnamen, Adam K. aber ist ein Hypername, ein Namens-Derivat, und dient als Replik. Adam K. ist eigentlich ein Doppelname, aus zwei Hyponamen zusammengesetzt, einer ist biblisch, der andere literarisch, fiktional. Zuerst und ganz sicher: Adam, der Erste Mensch; doch auch der Mensch K, der kafkaeske Mensch, der eingeschlossen ist in einer immer mehr verlöschenden Existenz, von des Gedankens Blässe angekränkelt. Und am Abgrund des Absurden, des Morbiden, innerhalb dessen nur noch die Hoffnung auf eine Metamorphose im Leeren bleibt. Ein Feuer jener Blässe löscht ihn aus, saugt ihn auf und wirft ihn ins Leere, wo er wie in einem eigenen Plenum existiert.
Eine physikalische Theorie nur, die integral und erschöpfend im Ausdruck ist, vertröstet ihn in seiner metaphysischen Unzerstörbarkeit. „Adam also sagte, es gehe doch um ein Vernichtungs-Gesetz, das in uns brenne, wenn wir uns ablegen könnten, es gehe um je-nes Delta t, Licht nahe der Null, t, das dich auslöscht, das dich mitnimmt, Mitgenom-mener, denn das ursprüngliche t, sagte er, erscheine nur, wenn unser Lebenslicht schwach ist…“ (134)
Das Leben in Rumänien, das T. versucht wieder zu finden, hat eine Art Autonomie, die nun zur Erinnerung geworden ist. Jenes Leben, mit seiner ganzen surrealen, existenziel-len und poetischen Atmosphäre, ist für immer verschwunden. T.s Hedonismus hatte et-was Naiv-Paradiesisches, so meint der Erzähler, und grenzt an Idyllisierung und Mythi-sierung: „Er hatte sich entschlossen … sich einem dolce far niente hinzugeben, den Zu-fall spielen zu lassen… was ganz dem hiesigen Lebensstil entsprach und auf merkwür-dige Weise auch meist die Lösung bringt…“(46) Doch seine orientalisch-östliche Art erstarrt in Nostalgie. Er ist nun enttäuscht von der Absenz eines ihn Willkommen hei-ßenden Landes und der schönen Frauen auf der Bukarester Calea Victoriei.
Michael T. erscheint (in der Erinnerung des Zurückgekehrten) nun nicht mehr als ein organisch Gespaltener, wie bei den Romantikern, die von Schatten, die Fabelwesen wurden, beherrscht waren. Der Schatten Michael T.s ist ein Mensch, ein „Kollege“, es ist der Securitate Verhörexperte Jordan: „Mein Schatten hieß JORDAN; mein Schatten, der lud mich ein, zweimal wöchentlich zu einem FREUNDSCHAFTLICHEM TREF-FEN. (377)
Es ist so, als ob sich die konzentrationäre Gesellschaft in der Gefangenschaft abspiele, und seine „Bürger“ verspüren die Zeit ähnlich wie Häftlinge als einen nicht enden wol-lenden Druck und eine Bedrückung. In dieser Zeit, die sich nicht totschlagen ließ, son-dern ihre Gefangenen selbst tötete; sie lebten am Rande des Dahinvegetierens, gewöhn-ten sich an eine entwürdigende Lebensbedingung, die sie zerstörte. „Wir waren ja nur Mücken.“ (377). Sie lebten nicht nur in täglicher Unsicherheit, sondern das, was sie be-herrschte, war die Unsicherheit selbst. Sie gingen nicht durch eine eigentliche Existenz, sondern hatten eine subhumane Existenz zu ertragen. Nichts Wesentliches erreichte sie in ihrem Wesen, sondern sie wurden zu Scheinwesen degradiert. Und alles wurde für sie ein Trugbild und ein Scheinleben. So stellt der Erzähler auch fest: „Es schien DAS LE-BEN zu sein.“ (378) und wurde kompensiert durch das Glücksversprechen im Kino, nachdem sie sich klar geworden waren, dass jede Revolte sinnlos war, saßen die beiden Romanfiguren Michael und Maria dann täglich stundenlang im Kino.
Michael T. und Maria suchten das wahre Leben nicht in der scheinbar lebendigen Exis-tenz, in die sie sich festgefahren hatten – um sich zu reinigen, um sich in Beziehung mit dem Leben zu setzen, fuhren sie zum Bukarester Friedhof Bellu. Hier fühlten sich die beiden durch ein erschütternd nostalgisches Gedächtnis erlöst: „Hatten dort Kontakt zum wirklich Gewesenen, Mausoleen, Nationaldichter unter Linden, ganz echt, eine Aureole von früher…“ (379)
Es war eben nicht nur eine soziale und politische „Revolution“, die der Kommunisten, sondern ein ontologischer und tragischer Umsturz, in dem sich der Tod als Leben mas-kiert hatte und das Leben als Tod; alles hatte sich wie in einer tragischen Farce abge-spielt; wo das Komische das Tragische verdeckte, das Absurde aber Normalität gewor-den war. Auf dem irdischen Raum eines in seiner anatomischen Vitalität wie gestorbe-nen Landes waren nur die Totenunterkünfte noch lebendig, dieses auch nur, weil sie noch ihre Funktion und ihren Sinn behalten hatten. Deshalb zogen sie noch lebende und lebensdurstige Menschen so an: „Als gäbe es nur auf dem Friedhof noch Leben, als hätte es sich dort noch bewahrt.“ (379)
Michael T., er und Maria, beide noch jung in Rumänien, erinnert sich und fragt sich selbst aus über den Nachteil, da zu sein in jener Zeit und an jenem Ort, der dem Indivi-duum, dem Wesen so feindlich gegenübersteht. Er hatte damals ein junges und doch schon beschädigtes und selbstbeschädigtes Ich.
Ruth, die Psychologie und Medizin studiert hatte, die sich jedoch in dieser Welt immer fremder fühlte und mit der Michael T. in Italien ein Abenteuer hatte, ist ebenfalls eine von der Absenz faszinierte Person. Er fühlt das weiche „Verschwinden ihres Fleisches“, „Ruth sprach vom Zerfall ihres Innern, es löse sich auf; die Atome, so meinte sie, hielten nicht mehr zusammen…“(347)

DIE UNWIRKLICHKEIT DER EXISTENZ

Als ein Reisender in nahe Räume – niemals nur in die Nähe, sondern auch in die Ferne des Erdballs, weiß Michael T. nicht, „was wir in diesen Zwischenräumen und im Aus-Land, seit wir Überlebende sind, mit unserem Leben eigentlich angefangen ha-ben…“(439) Gibt es Leben nur noch im Über-Leben?
Michael T. ist der Bewohner eines Raumes nach dem Leben oder jenseits des Lebens. Nur durch die Erinnerung bewahrt er noch eine Verbindung zum verlorenen Leben, ei-nem Ort, der Boden (Vaterland, Haus) oder Lebenszeit (Kindheit) bedeutet. Daher un-terscheidet er zwischen einem verlorenen Leben, das noch lebendig ist, und dem Rest-leben, das ihn allerdings noch behält, jedoch nur als eine Art Übergang zum Tode. Daher erlebt er ein junges, aus der Gedächtnisfrische diktiertes Schreibglück, wenn er auf Verlangen des Securitatemannes Jordan seine Biografie schreiben muss. Das Kreuz kommt wieder in einer Art unerklärtem Nachwort-Kapitel, das er Es ist ein Kreuz mit dem Ende betitelt. Es ist aber ein Beginn, das Verlangen nach Anonymität des Erzählers offenbart. Es ist die letzte verbliebene Tugend, die letzte Form des Als-ob einer Wieder-gutmachung – auch sie nur als Möglichkeitsformel und verbunden mit einem in die Tiefe Fallen der Seele des Erzählers. Die existenzialistische conditio humana ist auch hier um- und umgeschrieben.
Doch die einzige Befreiung wäre:„…Wenn ich es könnte, Niemand zu sein, wäre der Untergang leichter zu ertragen.“ (438) Niemand . … Michael T. ist dieser Niemand, Deutscher und Jude, er lebt in der konfliktreichen Lage des Menschen schlechthin. Auf S. 130 wird T. mit dem „Freund Adam, dem Juden“, gleichgestellt.
Alles, was sich T. noch wünschen kann, ist, die Entwurzelung weniger schmerzhaft zu empfinden: „…wenn ich doch Niemand sein könnte …“ Das Leben fügt sich andauernd das Vergangene zu. Das Kreuz des Endes ist das Brandzeichen der Irreversibilität und der Kontinuität zugleich. Hier die entsprechende Beschreibung der Verwandlung und Metamorphose der Kreatur einfach durch die richtige Placierung in die Zeitlage: „Ein-mal lebtest du. Sie sagen: Nie wieder.“ (438)
Freilich ist dieses nicht etwa eine Verwandlung in den Christuskörper oder in den Heili-gen Geist, doch wenigstens ein Anfang von Verstehen und Ineinssetzung.
Die Welt ist nach dem Verlust jeder Wirklichkeit eine Gefangene der galoppierenden Historie, die von einer kontrollierten Unwirklichkeit beherrscht wird und vom Myste-rium einer aufgezwungenen Existenz, die einem bis zum Erbrechen widersteht.
Es gibt keine Konturen mehr, keine genauen Funktionen und Handlungen in dieser blinden Welt, wo die gefährlichen Grenzen der Erkenntnis bis ins Unerkennbare und Unendliche verschoben wurden. Sie vernichtet sich im Unsichtbaren und in der beque-men Banalität des Bösen selbst: „Früher, noch während des Krieges, da hatte es spürba-re und plötzliche Schläge gegeben. Die vielen Todesnachrichten, die Angst. Da war die Welt überschaubar, als die Katastrophe hereinbrach, war der wirkliche Zustand der Welt klar und eindeutig. Auch die Fronten. Heute ist alles verhüllt. Doch Zeit hat sich fürs neue Unglück gesammelt. Das Unvereinbare ist jetzt nicht mehr im einzelnen spürbar, es hat sich nur verteilt.
Wir aber machen es uns gemütlich! Vielleicht ist es gerade dieser fade, diffuse Zustand, der Leben so quälend unwirklich erscheinen lässt.“ (238/239)
Die Verhörexperten, die Michael T. verdächtigen, eine Revolte zu organisieren, foltern ihn, d. h., sie unterwerfen ihn einem Prozess der Entmenschlichung, der Vertierung, des Schweigens, der Selbstvernichtung seiner Würde, der Auslöschung seiner Persönlichkeit – die nicht im Rhetorischen Halt macht: „Ein Nichts, das bist du.“ (407) Der Dop-pelgänger von Michael T., der Erzähler, ist so versucht, gegen den Strich zu leben, die-ses ist die einzig mögliche Selbstkontrolle, indem er sich so für das meditative Satya und für das „Honigwissen“ des Tantra öffnet.
Michael T. wird die Erlösung am Ende des Romans nur im Aus-Land der bodenlosen Nichtexistenz finden. Welches Ende hat also dieser Roman, ein deprimierendes oder ein euphorisches? Aber diese Begriffe haben keinen entsprechenden Bezug dazu. Das Buch hat, so glaube ich, ein dysphorisches Ende einer allgemeinen Alltagsverstimmung , aufgezeichnet auf das Trugbild eines euphorischen Endes. Oder sie endet in einer Eu-phorie, die die simulierte Dysphorie, die banale Alltagsverstimmung, auflöst. Diese en-det mit dem Beginn des Exils, als Verbannung und Befreiung aus einem existenziellen, aber erzwungenen Vertrag, der nie unterzeichnet wurde. Die verlogenen Grüße des Prä-sidenten des Landes werden vom Obersten bei T.s Ausweisung vermittelt, als der ihm die Verbannung, die „Befreiung“, seine Nichtexistenz im Land, im Zuhause, fast höh-nisch mitteilt, das er erzwungen, aber auch innerlich befreit, verlässt:
„T. den es ab sofort nun nicht mehr gab, war blass geworden. Und eine eigenartige hys-terische Lustigkeit erfasste ihn, den Landlosen. Frei, für immer frei, rief er, um den Obersten zu ärgern. Was gelang. Der konnte ihm ja nun gar nichts mehr anhaben, ihn weder einlochen noch prügeln oder so. Er war ein Nichtvorhandener.“ (449)
Und bevor er seinen Wunsch nach Anonymität erfüllt sah, wird er ausgelöscht. Der Name bei der Trennung vom Gefängnis-Vaterland geht schneller verloren als das We-sen. Die Rede überlebt auch jenseits einer toten Ontologie und jenseits des Todes.

„DAS LEBEN ALS ABSENZ“, WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN

Das zweite Motto in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen schließt sich der Idee von Husserl in „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“ an. Es bezieht sich auf die Idee der vollkommenen Metamorphose, auf die Epoché, auf den Urteilsverzicht der Lo-gik, sie setzt diese in Klammern und in Bezug auf die Präsenz der Dinge, auf die Analy-se der Bewusstseinsphänomene; so wird die Akzeptanz auch unwirklicher Erscheinun-gen, wie die Anwesenheit der „Jenseitsstimmen“ zum Beispiel, ins Reale eingeordnet. Die Absenz wird so anwesend und zur Präsenz. Nicht nur der eigentliche Tod, der Tod als Tod, sondern auch der lebendige Tod, bezeugen es: „Stunde Null. Das Fehlende, das Vakuum, das Nichts. Die innere Aushöhlung der Welt hatte hier exemplarische Lebens-figuren hervorgebracht; das, was im Westen gedacht, was dort Theorie ist, was nur in Zeitstimmungen und im Untergrund, verdeckt durch Wohlleben, schwer auszumachen ist, wurde hier gelebt!“ (57)
1989 geschah eine religiös-spirituelle Zeitaufhebung, ein Eindringen in die Absenz der Realität, ins Nichts (auch im Sinne der Juden!). Die Absenz ist grundlegend für das, was wir erlebt haben, grundlegend fürs Überleben. Vor allem im Osten hat die Krise des Realen ihren Grund nicht verändert. Die Absenz macht auch heute noch Geschichte.
„Das Unberechenbare ist real, die Welt nicht planbar“ ist der Titel eines Kapitels in die-sem Buch, das mit einem besonders klaren Gleichgewichtssinn zu bedenken gibt, dass eine große Menge von Unberechenbarem in die Realität einbricht (53), das von Rudolf Otto als das „Numinose“ definiert wurde, und das auf schuldhafte Weise in den letzten Jahrzehnten vom Okzident negiert wurde, das „Rätsel des Daseins“, das immer da ist. Dieter Schlesak verweist auf den „Negativen Horizont“ von Paul Virilio , auf einen Autor, den vor allem die Vision des Intervalls und nicht etwa die der Gegenstände in Atem hält. Oder, in der Sprache unseres Autors, „…das Unheimliche daran, was unge-wohnt und aus dem Namen gefallen ist, kommt jetzt sehr nahe.“ (101)
Die angenommene Lösung aber ist die eines neuen Vertrags mit der Natur. Diese Idee wurde aus einem der letzten Bücher (1990) von Michael Serres übernommen. Diese ist allerdings kaum im Konsens mit der neuen Physik. Nach drei Jahrhunderten der Vor-herrschaft Galileis und Newtons, dem Hebelwerk des Sichtbaren, wird das Unsichtbare hinter diesem sinnlich Wahrgenommenen entdeckt, offen für die Transzendenz, für das Rätsel und begrifflich nicht Erkennbare, auch für das Sakrale. Die Postmoderne aber beschränkt sich auf Immanenz im Realen, und sie bricht so auch nicht mit dem eindimensionalen Denken des Ursache-Folge-Fetischs, und ist dazu noch eine schuld-hafte Negation des Numinosen.
Das Unerwartete als Mysterium hat nun 1989 sogar eine neue sichtbare Welt erschaffen, denn dieses ist in die Geschichte eingebrochen, und wir können somit verstehen, dass keine Wissenschaft, keine Theorie dies vorwegnehmen konnte. Es ist das Ende einer Epoche, genau so wie es die sensibelsten Beobachter vorhergesagt hatten, die dann doch vom Geschehen überholt und überrascht wurden. „Seit einem Jahr leben wir auf einem völlig veränderten Planeten“. (9) „Nichts ist mehr so, wie es bisher gewesen war.“ (28), stellt der Autor fest. Die Geschichte war doch nur ein Prä-Text und Vorwand in der Zeit, sie wurde nun davon wie durch ein Wunder getrennt. Die neue Welt ist eine Epoche, die ihre Revitalisierung durch den Dialog mit den Toten ermöglicht, so wie es auch das dritte Motto des Buches, ein Zitat aus Heiner Müllers Glücksgott, zeigt und er-klärt.

2. ZEIT

DIE KUNST DES ZEIT-VERSCHWINDENS
1. Die Gegenwart.
T. wurde das Leben, die Gegenwart, der Augenblick durch den eine wahre Existenz be-ginnt und sich alles fortsetzt, aberkannt. Die Erfahrung der unglücklichen Zeit ist eine der Unmöglichkeit, dem Moment (Kairos) in seiner ganzen Fülle zu begegnen. Die Un-fähigkeit, spontan und offen zu erleben, verwandelte sein Leben in etwas, wo das, was sich ereignen will, blockiert wird, und nicht mehr wirklich geschehen kann. Alles ge-schieht sozusagen nur noch von außen und wie abstrakt, auf unpersönliche Weise, er-schreckend fremd, wie bei Kafka, wo andauernd von außen Unheilvolles auf den Ein-zelnen zukommt. So ist auch T. wie ein Traumgespenst unwirklich, das Leben ungelebt, und alle Augenblicke seiner eigenen Zeit von Anfang an wie ohne Bezug zu ihm: „… daher ist es so schwer, den Augenblick zu leben, zur Kenntnis zu nehmen…“ (334). Sel-ten gelingt es ihm, den sichern „Boden der Gegenwart“ zu berühren. Die Gegenwart ist schon ein Teil der Leere, also eigentlich Teil eines Lebens, das nur mechanisch vorwärts geht und sich von sich selbst entleert, jeden zwingt, wie eine Marionette nur erstarrt neben der Zeit und nicht mit ihr lebendig da zu sein. In dieser besonderen Zeit hat sich Michael T.s Jugend zugetragen. Er war ein junger Häftling einer mechanisch auf-gesetzten Pseudo-Zeit, die niemals, wie Plotin sagt, „das Leben der Seele“ war; das ab-surde Vergehen der Tage, Stunden, Minuten, Sekunden, genau wie bei Häftlingen be-herrschte uns, die Zeit tot zu schlagen.“ (380). Doch nicht die Zeit, der Raum war es, der T. beherrschte, und als wäre der zeitlos und zugleich als Rahmen für das Sichtbare zu groß. Und er erinnert die Anfangszeit mit Maria in Sinaia, wie er sich die Zeit, die immer das letzte Wort hat, nicht aneignen konnte und die in seiner Umgebung ohne Konsistenz zerstäubte: „kein Halt war da, auch die Zeit schien im zu großen Rahmen zu verschwinden, wir waren nie im Bild… (380).. Ein Gedicht aus jener Zeit drückt das genau aus: „ZU SPÄT. Libellen, ein vergangenes Flattern, / das Überspringen ist mein Tod. / Versäumnis du, / o schönes Chaos, das mir meine Zeit anbot. / Nie eingefangen, als sie einzeln kamen, / stehn sie in wildem Schwarm nun hoch und grau; / und Klarheit geht im Schatten. // Nun bin ich schlaflos gegen Mitternacht / und taub im Hahnenschrei und in der Sonne alt.“ („Grenzstreifen“, Bukarest 1968, S. 39.)

2. Die Zukunft
Michael T. kann sich der Verführung durch die Zukunft nicht entziehen. Aurora wartet, und das geistige Auge wird so getrübt, um die reale Asche der realen Zeit nicht zu se-hen. Doch T. wird kein sicheres Opfer einer idyllischen Zukunftsauffassung. Wie immer vergeht der Mensch, nicht die Zeit. So verändert, trennt sich der Mensch nicht von sich selbst, er bereitet eine Kunst des Verschwindens vor, mit der er das Nichts, das ihn aus der Zukunft bedroht, erwarten kann. (…)
3. Die Vergangenheit
T. fühlt sich solidarisch mit der fernen Vergangenheit seiner Gemeinschaft, in seinem Verständnis aber ist es nicht die Geschichte, sondern ihre Innenwelt, und nicht irgen-deine mythische Innenwelt, sondern ein affektiver Zustand von Geschichts- Erzählung, so die Vergangenheit Spiegelung menschlicher Typologie. Mit diesem Gefühl denkt er etwa an die Kolonisation der Sachsen in Siebenbürgen, die vor 850 Jahren stattfand.
Die Vergangenheit ist dann sehr präsent als persönlich biografischer Bezug zum Er-zählten, und auch durch die Biografie der anderen bekannten Personen in bedeutungs-vollen Umständen, die für die eigene Existenz wichtig waren und in den Text über-nommen wurden.
Die Vaterlandstage sind ein Buch der Suchbewegung nach der vergangenen und verlo-renen Heimat, und diese wieder zu finden ist nur durch eine Kunst des Verschwindens möglich, die aber eine Kunst des Wegzauberns, das „Verwesen“ der Realität ist, um hinter oder in deren Kadaver verborgen das Skelett, Strukturen, Hintergründe aufzude-cken und sichtbar zu machen. Dieses Enthüllen durch Scheinvernichtung, Sichtbares ist ja für T. Schein und „Schleier der Maya“, wird zur Poetik der Erzählung. Und so zeigen die Erinnerungen von T., real oder erfunden, eine Frühreife des Erlebens und der Phantasie, wohl auch, weil dieses Erleben aus der vorbewussten Phase des Bewusstseins und der Sprache ins Bewußtsein strömt.

3. RAUM

ZUHAUSE. IM HIMMEL

1. Draußen. Der unendliche und umfassende Raum erscheint als einer des Vakuums, des durch Erzählung vermittelten Gedächtnisses, also als ein zeitlicher Raum, als Ab-grund, der evoziert wird oder sich selbst evoziert, und hinabreicht in das „Abgründige der Zeit“ Hitlers (394). Ihm entsprechen die Lager von Birkenau und Buchenwald einer vergewaltigten Geografie in dieser Geschichte des Verbrechens.
Dieses Grab der Geschichte wird vom Berg C. aus erinnert, einem überhöhten Ort, symmetrisch zur abgründigen Zeit, und Bezugsort von T. Dort wurden der Roman und das Tagebuch geschrieben. Doch C. bietet keinen Schutz und ist auch kein sicherer Ort. Er ist eher der spiegelverkehrte Bezugspunkt dieses Abgrundes unmenschlicher Ge-schichte, und der Berg T.s bleibt so ein Ort der Isolation und des Scheins , denn eben wegen jener Abgründe ist auch in C. zwar alles menschennah, doch „alles unsicher …“
Das Fragende und Fragwürdige bezieht sich auf T., den Bewohner dieses Ortes, der sich auf ein kompliziertes Exil eingelassen hat, das aus einer (ent-)mythologisierenden Ge-schichte mehrere Facetten hierher mitgebracht hat. Wie durchlebt T. das anscheinend definitive und doch auch provisorische Exil? Das Exil ist eine Welt, sogar mehr als das. Es bezieht nicht nur den Einzelnen und die menschliche Gesellschaft mit ein, sondern auch das transhumane und das erdferne Rätsel jenseits des Menschenlebens scheinen auf. Das Fragende und Fragwürdige schreibt T. eine existenzielle Ethik des Lebenssinns vor. “Was haben wir eigentlich in diesen Zwischenräumen und im Aus-Land seit wir Überlebende sind, mit unserem Leben angefangen…“ (439)
Nicht nur das Vaterland ist vorhanden. Das seelische oder das politische, das ideologi-sierte, das sakralisierte und mythologisierte Vaterland. Für die Häftlinge des absoluten Vaterlandes, die zwischen seinen Mauern (auch in der Freiheit) Eingesperrten, bleibt das Vaterland als ideologische Vergewaltigung ohne jeden Rest. Nichts umgibt es und setzt es fort. Der Rest ist genau das, was verloren wurde. Der Gefangene des Gefängnis-Vaterlandes glaubt, dass er „draußen“ jede Existenz verloren hat. Er beginnt an etwas zu glauben, was Andrei Codrescu, rumänischer Jude, der ein bekannter US-amerikanischer Schriftsteller geworden ist, auf dem Umschlag eines seiner Bücher als das „Verschwin-den des „Außen“ bezeichnet hat. Das Exil versinkt in der neu entdeckten Äußerlichkeit und nimmt auch das Bewusstsein des verschwundenen Vaterlandes mit in sich auf. Die-ter Schlesak entdeckt dabei, dass es (im Westen) „tatsächlich ein Außen gibt.“ (202) Er wird die Innerlichkeit suchen, die er als das Nächste seines Selbst erkennt. Die Neuge-burt, wie das Exil benannt werden könnte, ist für Michael T. weder Wahl noch nur Ent-täuschung – wie im rumänischen Märchen „Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod“, sondern ein äußerer Akt, der ihm mit Gewalt auferlegt wurde. Exiliert zu sein bedeutet für ihn (in doppeltem Sinne) ausgewiesen zu sein. Entfernt worden zu sein, vertrieben vom angestammten Ort, ohne Möglichkeit des sich Wiederansiedelns. Der Ausgewiese-ne folgt einer Entscheidung, die ihn lebensnah angeht, zu der er aber nicht gefragt wor-den ist. Das Ausgewiesen-Werden wird zu einem nicht mehr rückgängig zu machenden Akt, dieses sogar für jenen, der ihn durch Verordnung verhängt, und nicht nur für jenen, der ihn aus Mangel an Unterordnung provoziert hat. Die Ohren, die Erinnerung Michael T.s, bewahren für immer die Worte das Geheimdienstoffiziers auf: Des Landes verwie-sen für immer. Das Exil ist die Zeit an sich, irreversibel, „für alle Ewigkeit,“ dieses wird Michael T. akzeptieren, überzeugt davon, dass „nichts mehr wiederkehrt.“
Es gibt im Exil, so heißt es, nur ein andauerndes Fallen ins Virtuelle, einen Zusammen-bruch im Als-ob. Der Emigrierte löst die Hemmungen der eigenen Sprache, um weiter-leben zu können, um zu überleben. Das Bewusstsein wie auch die Psyche des Emigrier-ten klammern sich an die Sprache. Ohne das Exil, ohne dieses Sich-Verirren im Frem-den, wäre die Sprache ja nur ein Begleitphänomen der Psyche. Die westliche Pilgerfahrt aber entleert die Existenz bis zur Entseelung, und nicht nur die des menschlichen Wesens, das immerhin noch von der Sprache gedeckt wird. Für Michael T. wird das asein als Wortexistenz sogar eine Art Axiom: „Gott als der Tod, das Exil als Schrift.“ Das Mündliche, das Gebet werden zur Schrift. Obwohl gefangen auf dieser Erde, könn-te man über die Hauptfigur Schlesaks sagen, sie schreibe, wie der Erzähler in Gérard de Nervals Aurélia behauptete, er schreibe, um mit dem Chor der Sterne sprechen zu kön-nen, die an seinen Schmerzen und Freuden teilnähmen. Es gibt übrigens eine anerkannte Beziehung zwischen Emigration und Romantik.
Der Buchraum saugt tendenziell alles auf und wird zum einzigen Raum. In der Univer-sitätsbibliothek Bukarests erscheint in Michael T.s Erinnerung die utopische Vision des Einen Buches als Ausdruck des Seins-Raumes überhaupt. Sowieso gibt es nur ein „ein-ziges Buch“. Michael T. wird so und unwiederbringlich eine Buchgestalt, unfähig zur verlorenen reinen Unschuld zurückzukehren.
Die Lektüre wird zur Zuflucht des Sprachbewohners in einem permanenten Exil. Die Schrift beseelt ihn wie eine neue Geburt und ein anderes Exil, es ist wie eine große symbolische und rhetorische Gegenüberstellung und hegelsche Aufhebung der Zerstäu-bung und Zerstörung des Wesens. Sie bereitet die Kunst des Verschwindens vor:
„Und nun schlägt der voller Verzweiflung die Buchstabenhämmerchen auf dies noch unbegangene unwegsame Gebiet des Weißen Blattes, als wären diese Zeichen der Rest, den der Herrgott bei seinem Verschwinden hier noch zurückgelassen hat. Daraus bastele dir etwas Hoffnung, die bald schon abblättert, klar.“ (440)
Für T. bleibt als Ort der Beseelung und Fluchtunterkunft nur noch der verbale Raum: „… alles ist uns doch künstlich aus der Hand genommen, es gäbe nichts mehr, was in den Zeilengängen verblüffte.“ (440)
Als Schrift ist der leere Ort des Exils ein verführerisches Experiment. Von der Secu-ritate des Landes verwiesen, erfährt Michael T. dass er „ein Mensch ist, der zum LEE-REN Ort verurteilt worden ist.“ Und setzt sich so darüber hinweg: „ Na und? Im Lee-ren erst kann Neues beginnen und draußen…Welt ist groß, werde dich selbst-los ma-chen, Michael T., in der Qual.“(449)
Die Entfremdung kann für jenen, der im Leid einen Sinn sucht, auch ein Übergang sein, vom Vernichtetwerden durch andere, zum Entschluss, sich selbst auszulöschen. Michael T. hat die Verurteilung zum Kollektivismus nicht akzeptiert. Und strebt nach einer Selbstverurteilung zum solipsistischen Ich. Er verlässt ein künstliches und angenomme-nes Gleichgewicht zugunsten eines natürlichen, selbst hergestellten Ungleichgewichtes. Von Anfang an ist er Deutschland gram. Doch, und dies muss er zugestehen, ist Deutschland trotz allem allgemein positiv zu sehen. T. integriert sich im Westen nicht, der ihm wie eine Ruine erscheint, auch wenn ihm diese Ruine vertraut ist. Doch be-stimmend ist nicht der physische, sondern der psychische Raum. Dieser hält Michael T. eng verbunden mit der Unendlichkeit der Angst. Der nach „Draußen“ entkommene, durch die Fremde zum isolierten Ego gewordene T., ist eigentlich der Sprachbewohner „in einem Angst-Labyrinth“. Das neue Exil wird zur Tortur, und er sucht Schmerzlin-derndes. Das Gedächtnis kann es ihm nicht wirklich bieten. In der Konfrontation mit der Wirklichkeit löst sich die Erinnerung ohnmächtig auf, bietet keinen Halt mehr. Bei seiner Rückkehr in seine Heimat findet Michael T. auf dem Bukarester Magheru-Boulevard nur eine irritierte und im Gewoge sich hin- und her schiebende Menschen-menge. Das Zuhause existiert in der Realität der Gegenwart nicht mehr. „Hier hast du dich einmal zu Hause gefühlt.“ Dann entdeckt er dieses Palliative, Krankheitsmindernde im Traum. Für Michael T. ist das „Zuhause“ in Anführungszeichen jenes in Italien, in C., jenes ohne Anführung erreicht er draußen nur im Traum. Es ist der letzte Weg einer Erfüllung des Fluchtwunsches, des Fluges, der ihn von dieser Erde wegführen soll.

II. Vaterland. Heimat – „Heimat des Seins“, doch auch „des Gedanken-Seins“ als einzi-ge „Heimat“ (Heidegger) – ist Erinnerungs-Projektion und Imagination des Emigrierten.
Vaterland bleibt ein ordnender, unglücklicherweise aber auch ein zweideutiger Ort. T. hat allerdings keine Schwierigkeit der Wahl. Er erkennt die Ordnung der gemeinschaft-lichen Tradition an. So zitiert er seine Marie-Tante, die streng darauf beharrte, dass die Dinge an „ihrem Ort“ blieben. Eine unnatürliche Ordnung verteidigt nur die politische Polizei. Das ehemalige Vaterland, verloren schon vor der Ausweisung und dem Exil, war das Land „der Genossen“. Ordnung hieß damit nur Befehl und Tod. Oder zumin-dest Erstarrung. Mitten in der stalinistischen Epoche war nur eine Feststellung wahr: „Alles gestoppt im Stillstand.“
Auch die Securitate hielt auf Ordnung. Auf ihre Ordnung. Der Sicherheitsoffizier und Germanist Jordan „sollte mir das Bewusstsein wieder einrenken“ (397). Das enteignete Vaterland erschien wie ein Experimentierfeld des ver-rückten Seins: „Sogar die Zeit verschwand…“ Alles war entwurzelt, fern der Ursprünge. Nur der Mythos, die Erzäh-lung versucht das Verlorene wieder zu finden.
So ein einmaliger Ort, der die Wiederherstellung ins Eschatologische verwandelt, den Anfang in den Untergang, ist jener der Mythologie, des Deltas (t), und konkret jenes des Donaudeltas, ein Raum, den T. aus der gemeinsamen Zeit mit Maria kennt, „hier mündet alles…“ Doch die Donau ist auch ein Gefängnisort und eine geschlossene Frontlinie der Grenze. Die Donau wurde durch politische Entscheidung in ihrer Substanz denaturiert. „Unsere Mauer ist ein Fluss. Gnadenlos wird jeder abgeknallt, der versucht, diesen Strom zu durchschwimmen...“(44). Die Suche des Ursprungsortes wird so zu einer isolierenden Funktion des Sprachbewohners.
Die pathetische, mythologisierende Haltung schließt, auch wenn sie vorherrschend wirkt, eine kritische Mentalität nicht aus. Sie wird durch Satire ausgedrückt, die ich als wohlwollende Satire bezeichnen würde. Denn sie ist, auf jeden Fall und unzweifelhaft verständnisvoll. So wird mit präzisen Worten der rumänische Süden anvisiert. Im Ro-man wird dieser walachischer Bărăgan genannt.
Walachei bedeutet also hier der Süden. Michael T. hat dort seinen Militärdienst abge-leistet und konnte sich dabei keineswegs anpassen. Er hatte keine Wahl und er wider-stand, indem er stolz die Zähne zusammenbiss, so wie alle aus Nordrumänien Stam-menden, die dazu gezwungen wurden, unter Südrumänen zu leben, die andauernd bereit waren, sich über sie lustig zu machen.
Die Stigmatisierung der Nation durch Emigranten außerhalb des Landes wird von den mitwohnenden Nationalitäten seit Jahrhunderten in den Karpaten geübt. Diese Stigmati-sierung meint in ihrem geoeuropäischen Chauvinismus eigentlich ein außernationales Territorium. Elfriede Roth etwa ist verzweifelt, weil ihre Kinder in der Schule „Balkan-esen“ genannt und von den Mitschülern lachend eingeladen werden, die Schule zu ver-lassen, um den Strassendreck zu kehren.
T.s Jugendnostalgie meint seine Studienjahre in Bukarest. Er verließ das Land 1969, um 1974 zurückzukehren. Er erinnert aufmerksam jeden von früher bekannten Ort, vom Hotel Muntenia, wo er gewohnt hatte, zur Akademiebibliothek, die damals noch nicht aufgelöst worden war, das Tănase-Theater, die Kinos (im Kino „Lumina“ hatte er Ioana angemacht…), Capşa, Tarom usw. ohne die bedrückende Straße Grădina cu Cai, wo die Pässe ausgestellt (oder ausgegeben?) wurden, zu vergessen. Die Jahre der täuschenden Liberalisierung des eben erst geborenen Regimes Ceauşescu, das erst mithilfe des Wes-tens und der USA, die voll in die Falle von dessen Nationalkommunismus tappten, möglich wurde, motivieren die Nostalgien T.s als Mann, der hierher gehört hatte, und auch die Bewunderung des Touristen, eines Westfreundes von T., der von außen kam, und der völlig gefangen wurde von der vorteilhaften Propaganda des zentralistischen „sozialistischen“ Systems: „Sonst wars ja hier oft ganz lustig.“, wollte sich in Bukarest ansiedeln, gefiel ihm so gut… fabelhaft, sagte er, die merkwürdige Freiheit in eurer Ge-fangenschaft. Nur so scheinen überhaupt glückliche Zwischenräume möglich… Und verdienst besser als die Ärzte, Schreibender! Bei uns ist dieser Beruf echt ein Hunger-tuch, auf dem kannst du dich dann verewigen… hier genießt du allerhöchste Aufmerk-samkeit.“(54)

TRANSSYLVANIEN
Das mythologisierende zyklopische Auge öffnet sich für Michael T. jedes Mal, wenn der Blick oder auch nur der Gedanke in Richtung Transsylvanien geht - Transsylvanien, die geliebte Heimat, die er mit der typischen Geste eines überhöhten Regionalismus ver-teidigt. Doch die Liebe für sie ist geläutert durch den Verzicht auf jedes ethnische oder gar Klassenvorurteil. So ist diese Verteidigung jeder ideologischen Verzerrung bar. Sie ist im Grunde genommen durch nichts konditioniert und ein Akt der Integrität. In sie fließt nicht nur die eigene Herkunft ein, sondern die Herkunft generell und dieses in planetarem Maßstab. Was dazu führt, dass sich alles zu einer berührenden Hommage an die profunde Gastlichkeit der Region entwickelt. „ Mitte der Welt.“ Diese wäre also fast alles, was sich ein Mann und Sohn wünschen kann: „Frau Transsylvania oder Frau Welt, Geliebte und Mutter zugleich.“
Und was S. (Schässburg) oder auch Scheszbrich betrifft, identifiziert sich Michael T. total. Der Geburtsort wird von ihm als „MEIN ORT“ angesehen. Jeden Tag „denkt er an ihn“ und träumt oft von ihm. Schässburg wird, aus einer anderen Perspektive „Herz des Landes genannt.“
Doch, nach 18 Jahren als Fremder hierher zurückgekehrt, zwingen ihn die Vorschriften des politischen Regimes, im Hotel „Stern“, das einmal seinem Urgroßvater gehört hatte, zu übernachten. S. ist die Stadt, wohin er im Glauben „die Engel singen zu hören“, zu-rückgekehrt ist, und jetzt war es der „gefährlichste Punkt“ der Welt. So verliert er auch in der pathetischsten Erklärung niemals die Gedankenklarheit. Die Zeit in S. wird von ihm als eine Lawine, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart rollt, empfunden, Turmuhr des Stundturms dafür ein Symbol.
Der Emigrierte strebt, Jankélévitsch würde sagen, verzehrt sich nach seinem Zuhause: „Ich bin krank vor Sehnsucht“, bekennt T. sogar. Der Zustand „draußen“ hat ihn nie er-füllt. Die Systeme oder politischen Systeme können den Mythos eines Ortes, eines To-pos, fest verankert im „Zuhause“, nicht zerstören. Michael T. bleibt für immer ein Aus-gewiesener, ein Nichtangenommener, doch jederzeit bereit, die Heimat wieder zu fin-den, denn nur dort wird er seinem eigenen Wesen wieder begegnen können. In jedem Augenblick ist er da, dieser Impuls des Selbst. Im Flugzeug ist dieses die essenzielle Frage, die ihn beschäftigt: „Kehren wir jetzt für immer nach Hause zurück?“ Er hat kei-ne Ruhe „draußen“. Daher zitiert er aus einem Brief von Elfriede Roth einem – wie vol-ler Ironie präzisiert wird, aus dem „Goldenen Westen“ nach Rumänien geschickten Brief. Aus diesem Brief wird deutlich, dass T. sich damit identifiziert. „Jetzt erst sehen wir, wie schön wir es zu Hause hatten und wie leichtfertig wir gehandelt haben.“ (352) T. führt die Kategorie der Emigranten, die „draußen“ scheitern, vor. Und die, vom Land selbst zurückgewiesen, dann wieder ins Land zurückgekehrt, von dem sie doch angezo-gen werden mit einer unauslöschlichen Sehnsucht, eine Art Trost finden in einem meta-physischen Exil. Anstelle der Heimat können sie nichts anderes mehr setzen als den Himmel. T. wird’s nicht leicht zu wählen zwischen einem irdischen Vaterland und einem himmlischen. Und solange er die Hoffnung auf eine Rückkehr zu seinem „Ort“ nicht verliert, sucht er sie zu behalten: „Heimkehr in den Himmel? Wann? Wonn de schwarz Rowen weiss Fädderchen hun…“ (Wenn die schwarzen Raben weiße Federchen haben…) (314) Eden, Himmel sind analoge Begriffe für etwas, das von T. mit Nostalgie wieder erinnert wird. Übrigens sagt er es einem Freund, der sich in den USA niedergelassen hat, dass der Sündenfall wiederholt werden müsste. Die große Initiation ist der Übergang zu dieser Probe eines himmlischen Exils, von dessen Wahrheit sich Michael T. durch die Fähigkeiten der Sprache überzeugt, die ihn bewohnt, und jenes Himmlische widerspiegelt. Und als Stellvertreter-Bewohner kann Michael T. mit Be-stimmtheit sagen: „Oben, dort, jenseits der Zeit, wo die Toten sind, haben sie sprechen-de Beweise.“ (448)

ZWISCHEN DEM NICHT-ORT UND DEM JENSEITS DES RAUMES IM BUCH WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN

In Wenn die Dinge aus dem Namen fallen entdecken wir, dass der Metamorphose-Raum angesichts des simulierten, aber zugleich so anziehendem Erinnerungsraums, nachgege-ben hat. Die Veränderungen durch Geschichte bleiben weiter subtile Vortäuschungen, für die andauernd neue Mittel der Manipulation erfunden werden. Jean Baudrillard und andere Theoretiker konnten feststellen, dass die elektronischen Medien Raum und Zeit nicht wirklich ihrer Maske berauben und auflösen. In Rumänien wurde nur vergröbert und auf etwas linkische Art und Weise, die aber immer raffinierter wurde, entdeckt, wie die Wahrheit versteckt, die Lüge aufgezwungen werden kann. Die Toten und Märtyrer, die für eine jenseitige Existenz zeugten, wurden von einer verlogenen Rhetorik und von einer verfehlten Argumentation kleingeredet. Ersatzhandlungen dienten dazu – in erster Linie durch die elektronischen Medien, die technische Faszination siegte tragisch über die nahen menschlichen und persönlichen Beziehungen. Ein unguter Ort hat wieder sei-ne verführerische Macht gezeigt. Auch die authentische Revolution von der Straße wur-de durch die künstliche des Fernsehens ersetzt. Die Verkünstelung und Verkleidung des Raumes wurde nicht einmal mehr wahrgenommen „ein Nicht-Ort“ wurde zum Ort des Geschehens.
Der Raum gehört uns nicht, wir gehören ihm an. Alle zahlen wir den Preis des Identi-tätsverlustes, des Freiheitsverlustes, indem wir uns dem dämonischen Geist des künstli-chen Ortes überlassen. Ohne jeden Ausweg und ohne jeden Zweifel sind wir „Gefange-ne des Raumes“. Uns bewacht, ohne dass wir uns wehren könnten, die „Zeit-Raum-Mauer.“
Das soziale System ist im Grunde genommen selbst zeit-räumlich. Das ist eine Evidenz, von der die Totalitarismen ohne zu zögern und so weit wie möglich Gebrauch gemacht haben. Und zwar in erster Reihe durch ihre Ideologien. Der Memoirenschreiber hat sie erkannt, und diese Mauer durch die Familienerfahrung, die ihm ja sehr vertraut ist, aber auch durch die eigene Erfahrung, bevor er sich von ihr gelöst hatte, noch näher erfahren. Auf die unmittelbare Erfahrung zurückgreifend, erinnert er sich präzis „an dieses räum-liche Denken der Genossen“. Die Grenzen der Wahrnehmung, des Denkens, der Imagi-nation sind Grenzen der Sprache, des Wortes. So gesagt, Grenzen des trügerisch Leben-digen.
Die post-traumatische Normalität wird zu einem schwierigen und dauerhaften Prozess, und dies vor allem, weil die alles bestimmende soziale Beziehung vergiftet wurde. Die Basis der Gesellschaft hat sich verführen und korrumpieren lassen. Die Utopie freilich hat doch auch einen gewissen realen Raum gefunden. Sie hat sichtbar Wurzeln geschla-gen, indem sie die bisherigen Utopien verdrängte, und zwar an der Basis der Gesell-schaft, die begonnen hatte sich ein Fundament zu schaffen, und damit die Illusion, dass sich das Bauwerk mit der Zeit auf natürliche Weise selbst aufbauen würde. Die dauer-hafte Lüge hat zwischen ihren Zutaten immer auch ein Körnchen Wahrheit zugelassen. Die historischen Experimente kennen das Rezept allzu gut, und ihr zeitweiliger Erfolg verdankt sich diesem. Der Zusammenbruch dieses utopischen roten Konstrukts beruht auf dieser dünnen, aber beharrlichen Grundlage der verführerischen und korrupten Wahrheit. Die Erinnerung verliert die Beziehung zur Realität. Und verlöscht mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sich das Spektrum der falschen Realität zurückzieht. Der ehemalige Marxist, der nun zu Idealismus, Mystik, Esoterik und auch zu den neuen Wissenschaftstheorien neigt, hat jetzt mitten im zwischenräumlichen Fallen die Chance, dieses Licht einer alten Wahrheitspraxis als Kehrseite des roten Transzendenzverbotes neu zu bedenken. Und ist die Frage nicht angebracht, schreibt er, ob das alte Regime mit dem „Analphabeten“ an der Spitze den unteren Klassen doch etwas geboten hat, zumindest moralisch?
Der Autor hat die Hellsichtigkeit, einen „geschlossenen Raum der Imagination“, wie die Wortkunst genannt werden kann, zu sehen. Das Wort verschließt, und um diese Rol-le erkennend aufzuheben, wird es vom Autor selbst verschlossen oder entfernt. Ein Bei-spiel, das der Autor selbst gibt, ist das Wort Volk, das von der Ideologie ebenfalls miss-braucht, so „exiliert“ wurde, und jetzt sowohl zu den Deutschen als auch zu den Rumä-nen wieder zurückkehrt.
Es gibt keine Freiheit oder Befreiung außer in einem mit dem Tode im Grenzenlosen vereinigten ganzen Lebens, das außerhalb jeder immanenten Bedingtheit steht. Zu dieser Wahrheit haben nur jene Zutritt, die davon überzeugt sind, dass „die Toten in uns, jenseits von Zeit und Raum, weiterleben…“
Wenn der Tod das Undenkbare ist, bleibt das Denken Zwang, letztlich eine Grenze, und das unabhängig vom Ort, auf den es sich bezieht. Sogar der Kosmos ist „eher ein großer Gedanke als ein Objekt“.
Die Qual der Trennung vom „ehemaligen Zuhause“, der Wunsch zur Heimkehr wächst nach der Revolution, die als eine Art „Revolte der Toten“ begonnen hatte. Die Wieder-kehr bedeutet für den Ausgewiesenen eine Art Therapie. Die Begriffe für eine Neufor-mulierung des Geburtsortes sind äußerst verschieden, sie reichen bis zur widersprüchli-chen Zerreißprobe: Behütetsein, Widerstand, Armut. Das Herumirren findet kein Ende, und auch keine Zeit beendet es. Das Suchen im Irrealen wird zur existenziellen Ver-dammung. In Denndorf ist die Landschaft „öder als im Traum“ (28). Und der letzte Ge-danke bedeutet nichts anderes als eine nostalgisch gelebte Bestätigung durchs Buch, ei-ne schmerzlich erduldete Wiederkehr des „walachischen Nichts“ wie bei Emil Cioran. Der Emigrant, der ans Herkunftsland wie ein unheilbarer Heimwehkranker gebunden ist, kann das Land, das er im Gedächtnis mitgenommen hatte, nur als eine andauernd gegenwärtige Absenz wiederfinden. Die abwesende Heimat ist schwerer wieder hers-tellbar und erkennbar als die gegenwärtige. Und nach der Revolution wird sie für im-mer verloren sein.

4. HALLUZINATIONEN UND GEFÜHLE DES ICHS

Versuchen wir kurz dieses Gefühl und die Wahrnehmung in Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens zu beschreiben. Dieses Gefühl ist die Befreiung eines Grenz-erlebnisses. Oder besser gesagt, ein Erleben der Grenze, einer Grenze, die durch die Angst zwischen Leben und Tod erfahrbar wird. Das Leben verführt, der Tod bedroht. Die Angst kommt sowohl aus dem Unsichtbaren als auch aus dem Sichtbaren. Der Er-zähler als Person erlebt das in den Bildern der ihn schmerzenden Objekte, doch auch durch jemanden, der sich versteckt hält und ihn bedroht. Rückbezogene Notate zeichnen die Last zu existieren auf. Und der Daseiende ist umso stärker bedrückt, je weniger Sinn diese Last hat, oder nur den Sinn einer gesichtslosen Perplexität besitzt: Es ist eine „taube“ und sogar „merkwürdige“ Bedrückung. Und bei diesem abtötenden Erleben einer seelischen Leere, die sich jedoch nach Fülle sehnt, entsteht mit dem luziden Wissen von einer obskuren Schuld ein schlechtes Gewissen. Und was die Heimatwahrnehmung betrifft, wird diese durch die Vermittlung der Sprache und zugleich durch den auktorialen Voluntarismus beschützt, der bleibt zugleich auch die erste Zone des Psychologischen. Daher erhalten die von den Gefühlen isolierten und durch die erwähnten voluntaristischen Akte vom Bewusstsein getrennten Wahrnehmungen, sowie die Zone der Sinne, die ans Reine und Infantile grenzen, spontane Frische der Kindheit.

Wenn die Dinge aus dem Namen fallen ist eine vom Autor nach den Ereignissen im Dezember 1989 in Rumänien, die zum Sturz des diktatorialen Regimes von Ceauşescu geführt hatten, verfasste Untersuchung, die auch die vorhergehenden Ursachen und die Nachwirkungen erfasst, und zugleich Bericht, Tagebuch, Memorial ist. Es ist nicht mehr der Bericht eines fiktionalen Ichs, sondern der eines realen Erzählers. In solch einem Text erscheint alles aus der Perspektive des Autors. Das Ich des Memoirenschreibers unterscheidet sich nicht nur von jenem des fiktiven Ichs, sondern auch von dem Schrei-ber des Tagebuches. Einige Züge von Michael T. aus Vaterlandstage erscheinen jedoch auch in diesem Buch immer wieder. Ich nenne sie hier mit den Worten des Buches: fremd, arm, isoliert, jämmerlich. Das Bekenntnis zum Marxismus, dieses entdecken wir erst jetzt, war nicht fiktiv, sondern bis zu seiner Emigration und bis heute jenes von Die-ter Schlesak. Dazu erscheint im Buch selbstironisch sein Streit mit dem Vater: „Ich stritt mit ihm, denn ich wusste ja als Marxist alles. Ich fühlte mich ihm überlegen. Er hatte nur ein trauriges, sanftes Lächeln. Jetzt ist er tot. Was heißt das? Es ist unmöglich zu meinen, es wissen zu können.“ (39)
Die Stilart, das Vokabular, die Syntax der Beschreibung sind die gleichen in der doku-mentarischen wie in der fiktionalen Erzählung, ihre Identität hing ab von der Entschei-dung des Autors, er konnte präzisieren, ob er einen Roman, ein Tagebuch oder eine Mischform oder auch nur Memoiren geschrieben hatte. In keinem Tagebuch schreibt der Autor nur über sich selbst, so wie auch ein Roman in Form der ersten Person – ein Ich-Roman also – nur eine Fiktion des Ichs ist. Auch in solch einem Buch existieren die anderen, die Welt, das Universum, nur der Blickpunkt ist einseitig gerichtet, nur in eine Person verlegt, die Person und Erzähler in einem ist. Das Ich des Memoirenschreibers trägt aber auf seltsame Weise auch den Abdruck des intimen Ichs in sich. Wir könnten annehmen, dass es sich dabei um ein eitles und ruhmsüchtiges Ich handelt, doch es ist, wie in den Tagebüchern, ein elegisches Ich, nostalgisch, verwundet und verletzlich. Das allerdings manchmal aus der Haut fährt. Doch möglicherweise ist die einzige Form sei-ner „Eitelkeit“ die Rückerinnerung nicht nur an die eigne Person, sondern er spricht vor allem im Namen einer ganzen Generation nach Auschwitz, die er als eine verletzte an-sieht, und so spricht er von einer „traumatisierten Generation“. Die Einzelnen, aus denen sich diese Generation zusammensetzt und bei der die Ästhetik sogar die Ethik do-miniert, so, wie es Adorno gesehen hatte, sind auch der Motor einer Dialektik; es han-delt sich um eine Generation, die in Wirklichkeit eine Maske vor der Intimität trug, und trotzdem wurde das intime Ich bei vielen von der Geschichte, von der Politik von einer repressiven Gemeinschaft, die unter dem Kommando einer die Richtung bestimmenden Macht war, korrumpiert.
Diese vom Memoirenschreiber evozierte Generation war eine „unglückliche Generati-on…“ Sie stand zwischen Elternhaus und Staat im Niemandsland. Dieses hatte die Indi-vidualität korrumpiert und ausgelöscht, und die mystifizierende Macht des Kollektivs allen aufgezwungen. Weder die manifeste Ausstrahlung des Göttlichen noch die indivi-duelle Ausstrahlung, sondern die Geschichte hatte ihre Ressorts in einer undefinierten Zwischengesellschaft. Doch der „eigentliche Gang der Ereignisse“ ist ja nicht vom In-dividuum bestimmt… (36). „Das ist alles, was dem Autor klar und bewusst sein kann.“

Das Autoren-Ich des Memoirenschreibers oder auch das Ich des Journalisten, der die Edition des Bandes vornimmt, ist sozusagen „metanostalgisch“. Ich verstehe unter die-sem Wort einen besonderen Inhalt, den es ausdrückt, ihn jedoch gleichzeitig auch „theo-retisiert“, und zwar in einem allgemeinen Kontext, sodass die Gefühle von der Reflexi-on kontrolliert werden. „Das wichtigste ist ja die Hoffnung, die Sehnsucht, die sich dann plötzlich umkehrt, enttäuscht, resigniert, der nüchternen Erfahrung Platz macht: Es wird nie sein.“ (15) Doch: „Hatte mein Heimweh nicht auch damit zu tun, dass es dort noch Menschen gab, die in sich trugen, was ich verloren hatte?“ (38)
Eine ästhetische Nostalgie also.
Die Zeit ist hier eigentlich verloren, und weit davon entfernt, nur ein unpersönliches chronologisches Maß zu sein oder die Substanz einer autonomen Zeitlichkeit. Das Ich des Memoirenschreibers, der sich befragt, ist vom Wunsch beseelt, im Mittelpunkt zu stehen verharrt, jedoch gedankenklar in seinem rhetorischen Pathetischsein, das keine Antwort erwartet, sondern jeder Antwort misstraut.
„Wo sind diese schönen Zeiten, da das POSITIV ABSURDE uns bis zu Tränen rührte und gleichzeitig lachen ließ.“ (10). Zusammen mit jenen verbrauchten Zeiten ging auch das Ich verloren, das jetzt der „neuen Zeit“ hätte widerstehen können, um sie so zu er-tragen und sogar zu überwinden.


5. EROS

DIE ZERSPLITTERUNG DES ANDROGYNEN IN „VATERLANDSTAGE“

Die erotische Fantasie Michael T.s gibt ihm die Möglichkeit, starke biologische und energetische Mängel zu kompensieren. Diese Fantasie geht in Richtung einer anatomi-schen Übertreibung; in einer Welt, die als absurd beschrieben wird, kann vielleicht, so meint Michael T., durch eine erotische Utopie wieder geheilt werden. T., den Maria „Pi-ticule“, also „Zwerglein“, nennt, abstrahiert vom erotischen Kontakt, und drückt offen seine Obsession für das weibliche Geschlecht aus, etwa: „Ich habe mir eine große und erregte Klitoris vorgestellt…“
Die Tabus unter Kontrolle desavouieren sich selbst und dies nicht nur im Wort, sondern in der Übertreibung. So zeigt sich etwa die Weiblichkeit der freien Liebe, erkennbar, wenn auch umschreibend und verwandelt, in der Sprache der von den Rumäniendeut-schen, unter ihnen auch T, die sich als Fremde ausgeben, „angemachten“ Rumäninnen. Diese benützen den umschreibenden Sprachgebrauch der Neu-Ausländer, wenn sie z. B. den „angespannten Bleistift von Christian, der einer des Langlaufs ist“, lachend zur Sprache bringen.
Das Bild des überhöhten weiblichen Geschlechtes könnte eine Replik auf Kindheitser-lebnisse sein. Der fünfzigjährige T. erlebt die Anamnese der Kindheit wieder; für ihn ist die Kindheit gewissermaßen ein Kontrollmaß des Lebens. In der Kindheit findet er das sicherste Vergleichsmaß.
Einmal erinnert er die Anziehung, die sein Schässburger Großvater für einen gewissen Ort empfand – es war der Viehmarkt in unmittelbarer Nähe des Schlachthofes. Dieses war der Raum einer obsessiven und grundlegenden Begegnung zwischen Eros und Tha-natos, die sich hier ganz direkt einstellte.
Der Alte war von den Stieren kurz vor ihrer Opferung fasziniert. Sie und der Großvater lebten ihre letzte Zeit kurz vor dem Tod. In der Erinnerung des Enkels scheint, was über Jahre hinweg immer wieder in ihm auf, was als abstrakte Metapher aufgeschrieben wird, die Neugierde des Alten: „Uns sagte man, der Großvater untersuche die Stiere“, doch in Wirklichkeit war es ein kontemplativer voyeuristischer Akt, den das Kind nicht verstehen konnte. Daher hat er ihn als Gefühl aufbewahrt.
„Was das nun sein soll, das Besteigen der Kühe etwa, dachte T., und erinnerte sich an seine Angst vor diesen Stieren zu Hause, wenn sein Großvater auf dem Viehmarkt beim Schlachthof diese Bullen mit den schweren Hoden und dem wütenden Blick beschau-te.“ (162). Die chaotische Bedrohung blieb ihm. Die tierische Kraft, der Sexus, der Blick wurden aufbewahrt als Embleme der Bedrohung. Durch diese doppelte Evokation der direkten, der empirischen, biografischen Erkenntnis kommt es zur Selbstkonstruktion des Symbolischen, Mythologischen. Michael T. hat keine Muttermilch, sondern die von Ammen getrunken. Und deren Anzahl wird in kosmische Proportionen übersteigert; entsprechend seiner menschlichen Kleinheit jedoch in einer Zone minderer Konstellation angesiedelt: T. hatte „zwölf Ammen.“ Eine von diesen Ammen hätte er gerne besessen, sie über eine „Furche gelegt“. Doch er wurde dabei überrascht, was in ihm einen unheilbaren Schuldkomplex erzeugt hat.
Michael T. wuchs in einer puritanisch-religiösen Umgebung auf. Der erotische Akt blieb ihm ungewöhnlich lange Zeit fremd. Er hat erst mit 26 Jahren zum ersten Mal in einem Bukarester Park mit einer Frau geschlafen.
Es war kein glückliches Erlebnis. Die Frau hatte ihre Tage, sie passte nicht zu ihm, war „unten zu weit“, „und nichts gelang uns“, wie T. nach Jahren feststellt. Nach der Frau aus dem Park hatte T. eine neue Liebesbeziehung mit Maria. Diese zweite Beziehung erinnert durch Wiederholung in vielem an die erste: „Ich war lebensfern, gedanken-blass.“ Und auch sein „philosophisches“ Denken nimmt er nicht ernst. Das Paar scheint nicht zusammenzupassen. Die Reaktion von Maria ist konkret, sie nennt ihn „Piticule“ (Zwerglein)…
Ist es zärtlich gemeint? Oder ist es eine Reaktion darauf, dass Michael T. sich oft ins Abstrakte verflüchtigt, ein Bücherwurm ist, der das Buch einer ihm gut bekannten Au-torin liest und der fühlt, wie das Wort „Arm“ in seinem vom Irrealen besessenen Be-wusstsein wahrer und falscher Mysterien zu einer Art wirklicher Arm-Verkörperung wird. Unsicher, begrifflich und auch sinnlich frustriert, vom Nichtsein angezogen, ist Michael T. immer weniger imstande, in die Wirklichkeit, die auch sinnliche Fülle be-deutet, zurückzufinden. Alles erschien ihm als Wunder… Dieser Mann ist jedoch kein Weltloser, er ist einer, der gegen den Tod die Spannung des ludischen Eros erlebt.
Nur, er akzeptiert die Nebenrolle eines initiierten Lehrlings. Für ihn ist der Weise, der Dazuwissende, wie der Philosoph Mihai Şora sagen würde, ein Initiator, auch ein eroti-scher Initiator, nämlich Adam K., der nicht nur als Voyeur angesehen werden kann, „sehen und gesehen werden, das ist die größte Lust…“.
In einem Traum, in dem er die blonde Anna sieht, notiert er, wieder von der unpropor-tionierten Anatomie erfüllt, dass Anna lange Beine habe und dass sie im Redaktions-zimmer, während draußen auf der Straße obszöne Lieder gesungen wurden, Druckspal-ten korrigierte. Dabei entdeckt Michael T., dass das Voyeurhafte nicht nur individuell ist, sondern ein Gruppenphänomen: Zwanzig Paar Augen überfallen Annas Körper. Die erotische Versuchung wird zur obszönen Transzendenz: „ ...darin die abgezeichnete V., fiel ins Auge … in die dichte und haarige Dunkelheiten übergehen“. (356).
Wie er selbst hat auch Ruth eine schwächelnde Vitalität, daher ist trotz oder gerade we-gen ihrer gemeinsamen Skepsis die Verbindung mit ihr für kurze Zeit perfekt. Doch Ruth verkörpert im Verhältnis zu den anderen einen ganz besonderen Typ Frauen. Sie hat ein Geheimnis und die Sinnlichkeit einer quasi expressionistischen Persönlichkeit. Die Anziehung, die sie auf Michael T. bei der Begegnung in Italien ausübt, wirkt so, als wäre es eine Wiederbegegnung, eine Wiedererinnerung aus einer erotischen Biografie – eine Mischung aus poetischer Mythologie und Mystik: „Es war Ruth. Sie stand wirklich da vor mir und sagte…: Du gehst doch sicher zur Piazza Santa Caterina, oder? Sagte es mit einem sanften Lächeln, das mir freilich etwas leblos und wächsern vorkam, auch die Farbe ihres Gesichtes war wie Mondschein. Als ich bejahte, umarmte sie mich. Und ich verspürte durch den ganz dünnen weißen Stoff ihren warmen Körper, das weiche Ver-schwinden des Fleisches, Gott, die fromme Milch, ihre großen Brüste.…“ (347)
Ruth tritt wie ein „Mondstrahl“ ins Zimmer von Bekannten, die sie beherbergten, nackt, und fordert ihn auf, sich auszuziehen und ihr seine Wärme zu geben, und sie ihr Un-glück vergessen zu lassen. Der Liebesakt, er wird ohne jedes Tabu erzählt, gibt T. das Gefühl von geschmolzener Butter, einer weichen weiblichen Körperauflösung und my-thisiert alles zu einer Suche des Mondes nach seiner Sonne. Im Akt wird der einheitliche Vitalkörper wieder hergestellt. Und Michael T. bemerkt: „Ihr Körper hatte geglüht, die Atome halten also doch zusammen, sagte ich zu ihr. Leider nur sehr kurz!“ (350)
Michael T. erinnert dann Maria, mit der er sich im Winter auf nackter Walderde geliebt hatte, dabei hatte er eine Stalinbroschüre und eine Zeitung voller Slogans bei sich, eine Dokumentation für eine Sitzung, in der der Übergang von der Ära der Internationale zum nationalistischen Kommunismus behandelt werden sollte. Der Eros dagegen ist nur eine schnell vergängliche Linderung durch geschenkte Vitalenergie. Das nur zeitliche Wesen drückt ihn ganz aus. Die Zeit existiert nur als Voranrücken, als Verwirrung, ohne je anzuhalten, um eine Begegnung mit ihm so möglich zu machen. Er stellt sich selbst her, reduziert nur zur kleinsten Einheit, im Augenblick, in einem Kontinuum selbständiger und gehäufter Momente. Die Welt, die er so misst und aufhält, ist hier das Leid an der organischen Nichtmultiplizierbarkeit, die aus dem Einen, dem großen Zu-sammenhalt herauszufallen droht. Diese so unterteilte Zeit wird vom Erzähler verglichen mit dem Fall aus der androgynen Ganzheit des platonischen Urwesens. Leben und Zeit werden so fundamental und irreversibel gebunden, Frau und Mann laufen hinterei-nander her, doch sie erreichen sich nie, meint T.

6. DER TRAUM IST LEBEN
1. Primat des Traumes. Der Traum ist Leben, nicht das Leben ein Traum. Aber ein poe-tischer, archetypischer Traum, der das Erhabene der Existenz bestätigt. Der Erzähler evoziert ihn: „O Tannenbaum. Schnee und Wölfe. Herkunft. Als gäbe es da ein Tor.“ (426).
Neben dem Traum ist das Leben eher der Tod, eine Subexistenz in Auflösung, eine Mi-neralisierung ohne Ende und Ausweg, umso weniger eine Möglichkeit der Rückkehr. Sogar die Rückkehr nach Hause ereignet sich in Wahrheit nur im Traum. Neben dem Luxus des Traumes ist das Leben eher ein schäbiges Elend. Die Stille der Existenz hat nichts Mythologisches oder gar Spirituelles an sich, wie bei dem großen siebenbürgi-schen Poeten Lucian Blaga. Für Michael T. ist die Stille die letzte und wichtigste Stufe des Lebens, die eng an den Tod gebunden ist.
Der Traum beherrscht den Träumer und raubt ihm als Erstes das Gedächtnis.
„Im Traum von heute Nacht…“(179), so beginnt Kapitel VI, und bei dem, was folgt, wissen wir nicht mehr, was Traum, was Wachen ist: Das Gedächtnis des Träumers oder das Gedächtnis der Gruppe von Figuren, die dem Erzähler zugeschoben werden.
Ich mache einen kleinen Abstecher, um darauf hinzuweisen, dass Dieter Schlesak in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen als ein leicht betäubtes Wesen erscheint. In sei-nem Fall scheint der Lebenshunger befriedigt durch die Befriedigung der Erinnerung. Doch nicht durch abstrakte, vom Erinnernden getrennte Erinnerungen. Das wahre Ge-dächtnis gehört immer zuerst einem Raum mit der ganzen Detaildekoration an, nicht weniger auch mit den dazugehörigen Menschen, und dann erst gehört es der Zeit an. Die Hoffnung auf Rückkehr besteht ja in der Überwindung der raum-zeitlichen Mauer, die gerade eben evoziert wurde. Es ist ein Projekt, ein Traum des Willens. Wenn er dann scheitert, hat das seinen Grund in dem unmöglichen Willen zum Realen, der überdeckt wird vom mysteriösen und sicher auch souveränen Unvorhersehbaren.
Es gibt Momente, wo er sich sicher ist, dass ihm der Wille zu genügen scheint. Zum Beispiel dann, wenn er meint zu träumen, als er die Schriftstellerfreunde aus Bukarest wieder sieht. Doch der Wille zur Realität kann nicht durch Träumen erfüllt werden. Der Realitätstraum ist nur ein abstraktes Geschehnis, eine Form transitiver Unwirklichkeit, die in Richtung erhoffter Realität geht. Im Vor-Wirklichen kann sich das Bewusstsein selbst als ein abgründiger Traum vor-entwerfen Doch der Wirklichkeitstraum muss wie eine Art realitätssammelnde Lizenz gesehen werden, wie ein negatives Paradigma. Der Wirklichkeitstraum ist wie eine Aggression des Unwirklichen, eine Krankheit im Realen. Eine „neue“ Welt, ein „neuer“ Mensch schienen als Maß des Wahrscheinlichen zu gelingen. Sie folgten Schritt für Schritt dem Traum des Diktators, der eine verkehrte rumänische Realität und Welt befohlen hatte.
Es war sicher eine profunde Unwirklichkeit, die in einem Wirklichkeits-Schein verbor-gen war. Diese Enthüllung einer perversen Tarnung ist gewiss das wesentliche Werk je-des pervertierten Bewusstseins. In diesem komplizierten selbst entlarvenden Prozess ist übrigens auch das „nationale Trauma der Rumänen“ angesiedelt, wie es in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen heißt, „die materielle Misere hat uns hin zum Geistigen geöffnet“, und sie dürfe auch in der Freiheit nicht verloren gehen. (108) Doch das Ge-genteil kam. Und dies eben nach dem Karneval einer tragischen (revolutionären) Unfä-higkeit. Sie bedeutet im Wesentlichen die Entlarvung einer Illusion, der Utopie.
Ich kehre zu Vaterlandstage und zu Michael T. zurück, der bekennt, dass er sich eines Morgens nicht erinnern konnte, erwacht zu sein. Er lebt in einem kontinuierlichen Traum. „Lebe dein Leben“ wird zu „lebe deinen Traum.“ Und weil Zeit, Raum, Hand-lungen im Traum durch den Traum homogen sind, werden die Spannungen der abge-grenzten Details gelöscht. Die Synergie verhindert das Organische. Körper, Zeit, Raum, Handlung verlieren so jede Präsenz und jede Funktion. Der Traum zeigt sich auch jen-seits des Traumes:
„…es war, als hörten die Träume auch in der gewohnten Umgebung nicht auf, bis einer den Augenblick auf der Zeile erreicht, mit hineinzieht und vernichtet.
Wie im Weichen festgemauert lag ich in meinem Körper, lagen Hände, Arme und Beine, der Nacken fühlbar in sich selbst, ein Fleischbad, meine Gedanken darin kreisend, sie können nicht heraus, sie erschrecken, sie schreien mit meinem Mund; alles nur im Traum. Diese Dinge, nachts, ich völlig ausgeliefert: Das Haus brannte, Knistern und Prasseln, sprang aus dem Bett, riss Jann mit, sie rannte die Treppe hinab, ich ins Arbeitszimmer, wollte noch etwas retten, aber Flammen schlugen mir dort entgegen: im Türspalt kaum Luft, viel Qualm, viel Rauch, eine einzige Seite versengt in meiner Hand. Diese…“ (312)

Auch der Traum behütet nicht mehr, wenn die Entkörperlichung nicht ganz gelingt. Dann wird nämlich das Existierende grotesk und bedrückend, und dessen Sprache lebt die gleiche Panik, befreit sich erst durch einen Schrei mit ihrer präletalen Ausdrucks-kraft. Raum und Zeit konturieren die Form des Albtraumes, die Vergangenheit kommt aus dem Traum in die Wirklichkeit, jedoch in eine Wirklichkeit als Traum, wo das Feuer sich dranmacht, das Haus und die gerade noch gerettete beschriebene Seite zu verbrennen, denn die Schrift ist die letzte Grenze des Maßes zwischen Absenz und Prä-senz, Leere und Fülle zugleich.
Von diesem Traum bleibt eine vage zeitliche Spur, der Eindruck nämlich, dass der Traum „lang“ gedauert haben muss, der die Gedanken von T. aufwühlt, wenn der in die Wirklichkeit einer exzessiven Alltäglichkeit zurückgeworfen wird. Und diese erscheint auch ungemildert durch die Yogapraxis: von T, denn dieser trank, gab sich Exzessen hin.
Michael T. schließt das Primat des Oneirischen als Ausdruck des Bösen, in dem sich das Wachsein (das Wirkliche) und der Tod, („vielleicht ist alles nur ein Alptraum“) summiert haben, nicht aus. Dies ganz im Gegensatz zu Jann, die die Gewissheit des Realen in der korrumpierenden Versuchung des Virtuellen nicht aufgibt. Jann hat ein sensitives, visuelles Gedächtnis, das anscheinend allmächtig und allgegenwärtig ist, unmenschlich perfekt, als wäre es nicht von Zeit und Raum bedingt. Michael T. ist dafür der Zeuge: „Das Gesicht der Mutter blutüberströmt, die Glieder zerfetzt, ein Beinstumpf, abgetrennt, lehnt am Körper einer anderen Toten…Jann…. Kann nicht vergessen…“ (166)

2. Der Traum als Ersatz für die Wirklichkeit. Ein unendliches Heimweh wird oneirisch gemildert, denn der Traum ist Surrogat der Wirklichkeit, Feuerwerk, natürliche Magie durch die Zeit und Raum abhängig vom Träumer werden, der sich das eigene Konzept der Existenz erschafft: „Sogar das Heimweh war nur noch ein ganz leises Ziehen, ein Druck , leichter Schmerz wie ein Sprung in einem Glasgefäß, ein Gefühl, das ihn nie verließ. Und in seinen Träumen lebte er immer noch in jener kleinen siebenbürgischen Stadt, die er seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.“ (275)
Die Traumwirklichkeit ersetzt die geografische, ethnische, politische Utopie der Exis-tenz. Der Traum betäubt das Gedächtnis, das doch immer nur ein Schatten der repressi-ven und opressiven Realität bleibt. Die Beherrschung des Ichs wird das Geheimnis und das Mittel des Überlebens. Ein Überleben durch den geschriebenen Traum. Haus und Vaterland bleiben weiter nur die Sprache. Die Beherrschung des Realen hängt von sei-ner Überwindung durch den Traum ab. Die Erinnerung krampfte sich in T. schmerzhaft zusammen. Er hatte sich damals über die Grenzen hinausgeträumt, ja, wollte „Welt“ ha-ben und muss
nun die Folgen der Überschreitung tragen. Dabei war es ja gar nichts Besonderes, „dies Ostwestliche, dieser Grenzgang, dieser feine Riss, der in ihm, in den anderen alles spal-tet, alles bestimmt.“ (263)
Michael T. versetzt die nicht zu akzeptierende Wirklichkeit in den Traum, anders kann er sich ihr nicht entziehen und sich ihr auch nicht entgegenstellen. Ist dieser kriminelle Gedanke – er stellt sich vor, wie er ein Messer in Janns Bauch stößt – nun Wirklichkeit oder nur ein Traum? T. weist jede Verantwortung von sich, indem er die Tat dem Träumer zuschiebt! Ein anderes Mal träumt er von der Rückkehr nach Hause und dass er seine alte Redaktion aufsucht, wo er sich als Eindringling fühlt, weil er den Termin der Rückkehr aus dem Ausland nicht eingehalten hat. Dort In einer Art oneirischen Sitzung wird ihm vorgeworfen, dass er zu spät zurückgekommen sei. Dann wird ihm erklärt, hier folge „die Einübung eines neuen Stückes“, und es wird ihm das erwartete Detail dann mitgeteilt, „wurdest für schuldig befunden“. Das Motiv war sicherlich die zu späte Rückkehr aus dem Ausland. Der Zurückgekehrte widersetzt sich der Eingliederung in diese enge Welt. Anna ermahnt ihn, dass er jedwedes Recht verloren habe, und das erste Zeichen dafür sei das Löschen der bisher aufgebrauchten Zeit. Die Zeit wird ein in sich selbst zitiertes und privilegiertes Instrument, und zwar je nach der Lage, die jedem Einzelnen zugewiesen wird, und das Gedächtnis wird nachbarlich da angesiedelt: Ein kleiner Chef tut ihm kund, er sei „degradiert“ worden, und von jetzt an werde er einer ganzen Reihe von Zwangsmaßnahmen unterworfen werden, die Degradierung sei die „allererste Probe“.
Der junge T. hatte in der Zeit, als er mit Maria zusammen war, Albträume, träumte sich als einer, dem die Arme abgeschnitten worden waren, als einer, der fast verhungert war, und umgeben von Früchten, die er aber nicht haben konnte. Maria hörte in jener Zeit den Todesschrei von „Pitic“.

3. Das Ultimatum des Traumes. Doch der Primat des Traumes wäre ungenügend gewe-sen. Der totale Traum erweist sich integrierend wie ein Ultimatum. Der Traum im Traum, die Verkettung von Träumen erschaffen eine Art Boden, sie sind eine natürliche Traumdurchdringung. Michael T., der Träumer, ist Opfer dieser Traumdurchdringung, selbst ein Gefangener in einem aggressiven Spiegeluniversum, das scheinbar frei ist, aber nur ein Wort- oder Text-Labyrinth bleibt: „Und immer wieder merkwürdiges Erwachen in einen anderen Traum, wie in russische Puppen hinein, und große Säle, kleiner und kleiner werden und am Schluss nicht mehr raus können: rannten ja fort, auf den Raum-Spiegel zu, der alles öffnete und zugleich schloss: lag auf einer Matratze am Boden und hörte ein Flügelschlagen, draußen im Hof schrie ein Tier.“ (443)
Das Leben besteht aus Ungewissheit, einer Ungewissheit nicht nur der Realität, sondern auch des Traumes, und sogar einer Ungewissheit der Wörter, die T. nicht imstande ist zu äußern. So erklären sich auch einige Passagen die sibyllinisch scheinen, aufgeschrieben nach der surrealistischen Technik des autonomen Diktates.
Trotz alledem bleibt der Traum doch eine Sicherheitsgrenze der Realität. Das Traum-bewusstsein wacht wie eine letzte Alternative über die unsichere Existenz und erscheint wie geordnet durch Virtualität. Er weiß, dass er träumt, und bald erwachen muss, ist nah, nah daran zu erwachen. Doch der Traumzustand wird zur Beschreibung, Schrift- und Textzustand also: er ist unmittelbar oder erinnert, er erscheint auch in Form eines Palimpsestes (und sei es auch nur hypothetisch als Lektüre-Form) wie es sich ein Wachzustand vorstellt. Es ist ein Bewusstwerden des Traumzustandes selbst und nicht nur seine Beschreibung, dies Bewusstwerden erst (re)aktiviert die Erinnerung: Der Tod nämlich ist wie eine Grenze, die dem Traum folgt, aus der Realität, die bis an die Gren-zen des Traumes gemessen wird, herausgehoben; die Essenz des Traumes ist ja todes-nah: „Als Vater starb, war fast jede bewusste Sekunde, gerade das Bewusste, Sichbe-wusstwerden des Todes, solch ein Daueraufwachen, ein Schrecken, ein Einbrechen in die Ränder des Traumes: in dem er verschwunden war. (158)

7. DIE QUÄLENDE WAHRHEIT
Michael T. hat kein Talent für Ungewissheiten, obwohl sich ihm diese andauernd ge-waltsam aufdrängen; doch er ordnet sich ihnen mit Verstehen und nicht mit Resignation unter. Das Verstehen erscheint ihm als die wesentlichere Art, seiner Revolte gerecht zu werden.
Michael T. ist seiner Natur nach ein Gewissheiten-Sucher, und das in einer Welt, die Gewissheiten vernichtet und ihre Sucher tötet.
Er ist kein Epikureer oder Zyniker, sondern ein Stoiker in einem eschatologischen Universum, doch einer, der als Optimist auch während der Apokalypse selbst nie die Er-löserhoffnungen und Chancen verliert. Wenn das Leben zum Tod wurde, dann hat der Tod erst das Leben ganz in der Hand.
Michael T. nimmt sich seine Philosophie zu Herzen und schlägt sie so auch anderen vor, es ist eine tragische und unzerstörbare Ethik der Wahrheit. Der Sinn dieser Kom-munikations-Ethik der Wahrheit (vgl. J. Habermas, K.O. Apel Diskursethik) erscheint übrigens fast immer implizit im Werk. Sie wird ausdrücklich vorgeführt durch Paul Ce-lans Epigraf am Anfang des VIII. Kapitels: „Mein täglich Wahr- und Wahrer geschun-denes Später…“ Die Wahrheit gibt es, und sei es auch nur als Weg zu ihr, in einer tautologischen Ausdrucksform also, doch fortgesetzt und alltäglich. Je mehr Wahrheit, umso größer ist der sie begleitende Schmerz. Alles wird dabei entrollt und gespiegelt innerhalb zeitlicher Begrenzung, die die Wahrheit trägt und erträgt, und immer gegen-wärtiger wird dabei die physische, psychische und moralische Grenze, die Grenze des Schmerzes angesichts des Todes und des Verschwindens.

Dieter Schlesak ist in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen darauf bedacht, keinen motivationslosen Text, der nur subjektive Verwicklungen enthält, zu schreiben. Er urteilt nicht, sondern reproduziert nur genau das, was ihm aus jener Periode, in der er im nun entfremdeten Lande abwesend war, erzählt wird. Aus den spontanen Aussagen, die er vor Ort erhält, zieht er seine scheinbar ganz persönlichen Schlüsse, die eigentlich den allgemein bekannten sehr nahe kommen. Er stellt nur fest, und nimmt sich fast explizite vor, nicht zu deuten. Die moralischen Schlüsse sind wenige und allgemeiner Art.
Nachdenkend über die Schuld der Autoren, allerdings eher jener außer Landes, als jener, die hier lebten, wendet er mit maximalem „Verständnis“ die Kriterien von Jaspers an, vereinfacht sie und erkennt sie in zweifacher Hinsicht als nicht von der Hand zu weisende an, spricht so von einer ethischen und von einer ästhetischen Schuld, diese sieht er als „subtilere“ an. Ohne allerdings Details und Nuancen zu liefern. Er begnügt sich mit der Aufgabe eines Reporters mit der Nähe zum Ton der live erlebten Realität. So notiert er etwa, was ihm der Dissident, Poet und Präsident Mircea Dinescu in den Räumlichkeiten des Schriftstellerverbandes offenbart, dass dessen Mitglieder schuldig geworden seien an einem grundlegenden moralischen Delikt, dass sie die nationale Identität durch „pupincurism“ , Arschkriecherei, pervertiert hätten.
Und in Vaterlandstage erinnert sich Michael T., wie schlecht angesehen Autoren waren, die den Proletkult nicht unterstützten, die Konformisten dagegen wurden ausgehalten: „… ja, denen wurde zu meiner Zeit genauer auf die Finger gesehen, notfalls wurden diese Federfuchser und Besserwisser interniert. Ausmerzen muss man solche Asphaltli-teraten und Asphalttreter, die jede gesunde Volksgemeinschaft mit ihrem verspritzten Gift schädigen. Volksschädlinge hießen sie. Und Aufknüpfen! … Klar. Und Augen rechts…“ (175)

WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN
Dieses Buch bezeugt ebenfalls, dass es keine neutrale Reportage geben kann, daher bleibt auch eine subtile Widersprüchlichkeit im Buch bestehen, die freilich unvermeid-lich war. Bestimmend ist dabei aber auch das untersuchte Medium. Dieses bestand aus den Eliten der Opposition, die wie aus dem Nichts plötzlich aus der hart kontrollierten Dissidenz auftauchten. Dieter Schlesak übernimmt die These von der gestohlenen Revo-lution und eines Staatsstreiches der in totalitärem Geiste geplant worden war.
Dieter Schlesak schreibt sein Memorial, den Report und das Tagebuch der Rückkehr nicht nur mit Nostalgie, sondern auch voller Vertrauen und Hoffnung, die Hoffnung er-scheint mir moralisch, und vielleicht sogar spirituell. Und in einer luziden Distanz kri-tisch, sowohl dem Osten als auch dem Westen gegenüber. Ohne eine politische oder ökonomische Lösung anbieten zu wollen. Die Option des Autors ist ethisch und philosophisch. Er glaubt daran, dass der Osten dem Westen eine Lektion erteilt hat, und dieser wird sie nicht ignorieren können. Alles hielt freilich nur solange, solange die Re-volte alles beherrschte. Das war ein sehr kurzes Experiment und wurde sehr schnell schmerzlich und akut gestoppt. Doch der Autor glaubt daran, dass die Rumänen eine Erfahrung gemacht haben, die dem Westen (noch) fehlt. Aber auch: „Die Rumänen müssen sich jetzt der Realität stellen. Diese großen Chancen der rumänischen Kultur: die totale Skepsis und die Ironie, dieser Sinn für das Absurde: Tabula rasa total; und dann gleich auch die Instrumente der ÖFFNUNG, die sie ja haben: ihr Bauen auf dem leeren Platz.“ (36)

8. DIE GESCHICHTE. INSZENIERUNG DES POLITISCHEN
Für T. scheint es familiär, ja, geradezu intim-familiär zu sein, und es ist die innere Ge-schichte seines Volksstammes, dem er angehört, es sind jene berühmten achthundert Jahre der Sachsen seit der Einwanderung ins neue „Heimatland“, ein Gedanke, der bei ihm tiefe Spuren hinterlassen hat dor (Heimweh im Deutschen, Himwih im sächsischen Dialekt), auf den er mit viel Verständnis und Nostalgie hinweist. Die Geschichte seiner Vorfahren, des Volksstammes, ist eine sehr anrührende Geschichte, so wie sie sich in Siebenbürgen entwickelt hat. Die Geschichte ist für ihn die Erzählung. Im Einzelfall al-lerdings erst erhält sie ihre Relevanz, ihre Ausstrahlung und Aura. Aber durch ihre Uni-versalisierung hört die Geschichte auf, eine nostalgische Geschichte zu sein, sie beginnt eine furchtbare Geschichte zu werden. Doch ist sie dann noch eine Erzählung? Sie wur-de nun zu einem Drama, zu einer Tragödie. Das Eingehen in diese Geschichte bedeutet schon ein Eindringen ins allgemein und akut Böse, in den Terror. T. zitiert Mircea Elia-de, den Autor einer strengen Definition, jener des Geschichtsterrors. Hegel hat eine noch härtere Definition gefunden, indem er Geschichte „Schlachthof der Völker“ nann-te. Durch jene Leute aus der eigenen Familie, durch seine eigenen Erfahrungen, politi-sche Verfolgung, Exil,Gefängnis, befand sich T. andauernd in diesem Opfer-Raum, der nichts mehr von Heiligkeit an sich hat. Er wurde davon hart berührt, er hat ihn willent-lich oder ohne es zu wollen kennen gelernt, und er hat nie aufgehört ihn zutiefst zu ver-stehen.
Die persönliche Erklärung bleibt jedoch sekundär. Sie erscheint nach den Erzählungen und den Meinungen anderer, die oft mit einer höheren Zeugenqualität ausgestattet sind als seine eigene, und die manchmal den Status des Märtyrertums erreicht. Seine große Obsession bleibt die Gegenwartsgeschichte, der „lebendige“ Schlachthof, der brennen-de, in dem nicht mal die Asche abgekühlt zu sein scheint. Wer wen opfert, und das aus rassischen, ethnischen Gründen mordet, blind dafür, dass er eine Menschheit umbringt, der wir doch alle angehören? T. geht aus zwei Gründen vom Deutschtum aus; weil sich hier die neuen Geschichtsexekutoren zeigten und – weil er selbst Deutscher ist.
Mit Daniel diskutiert Michel T. über die Deutschen und ihren Chef, Adolf Hitler, der doch der „Führer“ der Deutschen, vor allem der deutschen Soldaten ist, die zu allem be-reit sein müssen, nicht aber die Deutschen an sich. Denn die Diktatoren sind ja nicht einmal Teil des Volkes, das sie führen, und das sie zu allem verpflichten, auch dazu, sein Blut ohne mit der Wimper zu zucken, zu vergießen; sie verbergen
ihr wahres Gesicht und ihre diabolischen Pläne. Kurz gesagt, sie vertreten dieses Volk nicht, sondern stellen es so vor, wie es ihnen beliebt. Ihre Verbindung zum Volk ist si-muliert. Und wer Mein Kampf nicht gelesen hat, ein Buch mit einer fast biblischen Auf-lage, hält Hitler für einen Gaukler mit tief verborgenem Wesen, und als einzigen Ver-antwortlichen, dasVolk und das Vaterland jedoch seien intakt geblieben, heilig für den Mann von der Straße, der schuldig wurde nur im Verhältnis zu seiner ehemaligen Rolle damals.
Diese Trennung des Volkes von seinem Diktator wird aufrechterhalten von einer Idee, die auf die Doktrin eines extremen und amoralischen Liberalismus zurückgeführt wer-den kann, durch das sich ein Volk dann von jeder Schuld befreit, indem es gleichzeitig den symbolischen Leader opfert; das geschieht dann im Rahmen einer Mythologie oder heidnischen, laizistischen Religion vom bouc émissaire (Sündenbock). Am Gegenpol steht die These vom „Messianismus“ des Führers. T. erfährt davon durch einen antise-mitischen Pfarrer, der Hitler mit den Insignien eines Racheengels und einer dämonisier-ten Apokalypse ausstattet, der das Jüngste Gericht usurpiert. In dieser exaltierten Vor-stellung war Hitler, der jene vernichtet, die Christus ans Kreuz geschlagen haben, „die beste Idee Gottes“.
Die erstere These wird von einem Juden, T.s Freund Adam, unterstützt. Es ist die These einer Einzelschuld und einer Befreiung der Völker von einer Kollektivschuld. Adam ar-gumentiert für dieses Unschuldsverdikt – überraschend – auch aus einer ethnischen Perspektive und mit transpersonalen Details: „… man solle Deutsche nicht so allgemein schlecht machen, zwei Millionen, mein Lieber, waren in den Lagern, Deutsche; dreißig-tausend hingerichtet; drittgrößte Nation der Opfer: – Ungerecht verschwiegen von den anderen Nationen, sagte mein Freund Adam, der Jude.“ (134)
Es scheint, als ob die Rhetorik und die individuelle Sophistik dabei gar nicht überzeugen wollten. Exklusion und Inklusion dabei, die Beschuldigungen und die Verteidigungen, die Verurteilungen und die Freisprüche haben einen gemeinsamen Bezugspunkt: das Überindividuelle. Gerechtigkeit jedoch wird hergestellt oder verloren durch Indivi-dualisierung, in einem Bereich, die immer in Richtung Gemeinschaft ausgeweitet wer-den kann? T. jedoch bietet hier nur ein pathetisches oder „schräges“ Engagement durch die Zeugenaussage einer anderen Person.
Der einzige Agent des Bösen, Hitler, wird verurteilt, die Deutschen aber, denen er ja nicht einmal angehört hat!, werden aus einer aktiven Tatzone in eine passive transferiert, aus Tätern werden Patienten.
Doch sehen wir, wie die eigentlichen Patienten, die Juden, behandelt werden. Wenn für die Wertung der deutschen Taten die jüdische Haltung wichtig war, und durch den jüdi-schen Freund von T., Adam, ausgedrückt wurde, so wird die Wertung der von den Ju-den ertragenen Folgen aus deutscher Perspektive durchgeführt. Was sagen und denken die Deutschen über diese grausame Geschichte, über die vor kurzem abgeschlossene Geschichte der Juden?
Die Deutschen konnten es nicht glauben, was den Juden in ihrem Namen, im Namen des deutschen Volkes, des Vaterlandes angetan worden war.
Die Bestürzung und die Rührung bleiben die überwiegenden Zustände, die von den Zeugen der Erzählungen anderer Zeugen, die bei den Opferszenen vor Ort waren, über-nommen werden können. Baila, eine Frau, erzählt, wie sie aus dem Lager entkommen ist, doch ihre Familie zu Hause nicht mehr wieder fand: Sie sah ihre kleinen Kinder, den Buben das Mädchen, „so giite Kindr“ nie mehr wieder, und war nicht dabei, als sie nach der „Mame“ gschrieen haben. Und als Mirjam erzählt, wie ihre Familie dem Tode und dem Schicksal, „Lampenschirme aus Feindeshaut“ oder Seife aus „rein jüdischem Fett“ (RJF) zu werden, entkam, weinen Mirjam und Tante Friederike gemeinsam. Menschli-ches Mitleid ist einem leidenschaftlichen Diskurs der Schuldlosigkeit gleichzusetzen! Es scheint, als wäre die Wahrheit nicht in der historischen Wirklichkeit zu finden, sondern im Bewusstsein des Individuums. Sie wird bestimmt durch Logik oder durch gesunden Menschenverstand und guten Geschmack, die jedes Horrorgeschehen ablehnen.
(…)
Und Tante Friederike sagt, „nein, mein liebes Kind, das können deutsche Menschen nicht getan haben!“
Der Antisemit Andreas aber bringt seine Argumente: „Das dreckige Gold, ja, das vereh-ren die Juden. Das goldene Kalb. Schon in der Bibel. Niedrige Menschen. Wucherer. Händler. Alles zerstören sie; seht, wie bucklig sie gehen, mit krummer Nase. Dicke Brillen, 15 Dioptrien, da siehst du, wie degeneriert und krank sie sind. Klare Sache: Ungezieferartig schädlich für den deutschen Volkskörper, der an sich rein ist. Blutmäßig und so.“
Michael T. nimmt mit seinem kleinen Tesla-Tonbandgerät die Stimmen der Verwandten auf, die an der „Erbauung“ des „Tausendjährigen Reiches „mitgewirkt haben, so Onkel A., der Töff genannt wurde. Die Erzählung kann so mit der Geschichte kommunizieren.
Dann kam die Zeit der „Russen“… Die Rasse wird durch die Klasse ersetzt. Die Rheto-rik wird jetzt umgekehrt, umgestülpt. Die Realität ist Securitate und Angst.

WENN DIE DINGE AUS DEM NAMEN FALLEN
Noch wird das „Wunder“, das Geschehen eines Unerwarteten, Unvorhergesehenen, von niemandem Geglaubten, erinnert. Und so befinden wir uns in einer Realität, die sich ei-nem Märchen nähert: Es war einmal, was niemals war. Und doch ist es auch in der his-torischen Szenerie gut bekannt: „Der Aufstand des Individuums wider die Staatsmumie im Osten mit ihren Apparaten blitzte nur in einem Geschichtsmoment der Öffnung auf. Er wurde überall abgelöst durch die Kaufhaus-Forderungen der amorphen Masse... Sie zerstörte den Aufbruch, Aufbruch von Personen, die scheue, friedliche Bewegung mit Fantasie, Sprache, symbolischen Handlungen: Kerzen und Blumen. Die zweite Phase des Ostaufstandes war die Restauration. Glück und Heil schien nur noch ein System auf der Erde bieten zu können, das mörderische Kapitalsystem avancierte zum Retter in der Not, eine Ideologie schien endgültig gesiegt zu haben.“ (31)
Heute ist, wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, auch dieses System am Ende, ge-scheitert! Die Hure Staat versucht es zu retten.

Die spontane Revolution, deren Initiatoren und Ursprünge im Dunkeln liegen, wurde schon 1990 langsam als gestohlene Revolution erkannt. Die neuen Elitefiguren müssen der Presse jetzt Rechenschaft ablegen, und ihre Taten werden unter die Lupe genom-men, sodass suspekte Dinge aufgedeckt werden. Aus den Erklärungen des Obersten Ra-du und des Generals Nicolae Militaru, die „Le Point“ veröffentlichte, zieht Dieter Schlesak den zweifelsfreien Schluss, dass jene, die Hoffnungen und Blut in diese Revo-lution investiert hatten, beseitigt wurden. Die Revolution wurde gestoppt, verraten und neu maskiert. Und es konnte gar nicht anders in dieser Medienära sein, es war eine wahrhaft postmoderne „Revolution“, sodass die rumänische Revolution in ein „postmo-dernes“ Spektakel verwandelt wurde. Das Authentische wurde überdeckt vom Falschen und das Tragische von einer Farce. Der Parteiapparat, zuerst in die Reserve versetzt, wurde schließlich reaktiviert, und dies mit einem klar erkennbaren Zweck, in den Gren-zen eines „gorbatschowartigen“ Traumes zur Auferstehung des Sozialismus, der sich im Bereich des chinesischen Foltertropfens befand … Es gab ja parallel zum Aufstand ei-nen Staatsstreich.
Zur Revolution und zum Staatsstreich werden vom Autor viele Zeugenaussagen ge-sammelt, die von Mihai, Ion, Dr. Tănăsescu, Ioana, Horia, F. Hodjak, Hans Klein etc. bis hin zu Victor Scoradeţ, dem Übersetzer des Buches ins Rumänische, stammen. Nach einem Hungerstreik kam die Dichterin Mariana Marin am 21. Dezember 1989 ins Gefängnis. Mihai Sin übernimmt im Dialog mit dem Autor, jetzt nachträglich und in Freiheit, die Themen jener Tage: foame, frig, frică, die drei rumänischen F: Hunger, Kälte, Angst. Die Sprache und die heutige Realität bringt sie nahe und entfernt sie zu-gleich. Wie es Petre ausdrücklich formuliert: „Wir haben Dinge erlebt, die nicht erzähl-bar sind.“ Es wird Marin Sorescus Bemerkung, die man nicht vergessen kann, gebracht: „Die Revolution bedeutet das Ende des Zweiten Weltkrieges für uns.“ Ich muss hinzusetzen, dass er dieses Verdikt schon einmal schriftlich geäußert hatte, und zwar in einer Beilage der Zeitschrift Ramuri aus Craiova, deren Chefredakteur er gewesen war. Alles in diesem Buch geschieht in einer Zeit, als es noch aussah, dass sich alles zum Guten wenden könnte.
Ein bibliografischer Voraustext bestimmt sozusagen den eigentlichen Text des Buches von Dieter Schlesak, ein Zitat nach Gert Bergfleth; es nimmt eine mysteriöse Intuition von Hölderlin über die „Umkehr aller Vorstellungen und Formen“ auf. „Der seit der Romantik erträumte Umsturz, den schon Hölderlin als „vaterländische Umkehr“ sah …, zielt auf einen Umsturz, den nur der eingebläute, historisch überholte gegenwärtige „Realitätssinn“ als Unmöglichkeit sieht; dessen Überwindung, damit die Überwindung des cultural lag, „hieße die heutigen Bedingungen des eigenen Fassungsvermögens auf-zusprengen, so in die Mitte der Zeit zu kommen; und genau dieses ist ja der Punkt, an dem auch die Wissenschaft längst angekommen ist, mit dem sie sogar praktisch um-geht…“ (33). Die neue Realität der Revolte erscheint nach dieser Hypothese, als „Na-tur“ der Einzelnen, „Übergewalt hemmungsloser Selbstverschwendung, das Gegenteil des herrschenden Prinzips Zeit und Nützlichkeit... Ein Aufstand der menschlichen Na-tur, die anderen Ordnungen angehört als der sozialen. Als wäre diese Explosion der menschlichen Natur der delegierte und kompensierte Ausdruck von der gewaltigen In-surrektion gewesen, die heute die Natur auf unserer Erde wider ihre Vernichtung und gegen das technokratische System der totalen Machbarkeit führt! … ,höhere Gewalt’, über die kein Staat, keine Gesellschaft, keine Industrie verfügen, sie gar als Besitz zu reklamieren. Und an dieser Lüge muss jeder Staat scheitern.“ (32/33)
Der Einzelne als ein surrealistisches und psychoanalytisches Projekt. Von hier aus gibt es fast keine Verbindung mehr zur Idee, dass die Revolution von Künstlern vorbereitet wurde und die Kunst immer die Revolution vorwegnimmt. Dann zusätzlich eine Idee, die genau in diese Übernatur zielt: die Revolte der Toten (revolta morţilor); sie gibt dem Autor eine große und essenzielle Erwartung einer Art Weltrevolution des Bewusstseins ein. Es ist wahr, dass er diese mit einem ängstlichen Skeptizismus betrachtet, wenn er sich fragt: „Werden Armut und kollektives Bewusstsein der Dritten Welt gegen diese Wegwerfkultur des Abendlandes aufstehen? Wird diese Revolte der nächste große Krieg sein?“ (106)
Vorerst jedenfalls entgeht dem Autor keine – psychologische, ästhetische, ethische – Nuance der weltweiten Revolution via Medien: die Revolution als Wahnsinn, die Über-schreitung des Ichs in Gefahrenmomenten als schöpferischer Zufall: „Was aber gab den Leuten Mut, sich gegen diese Macht aufzulehnen, sich schon zu den Toten zu zählen, ohne Rücksicht auf Verluste, als wären sie unsterblich. Es war ganz sicher nicht nur Mut der Verzweiflung.“ (72)
Politisch bemüht sich unser Autor „zu allem gleich distanziert“ zu bleiben und dieses mit dem Risiko, keine einzige theoretische Option zu behalten, denn, lebenspraktisch hat er schon das kleinere Übel, nämlich den Kapitalismus, gewählt, dem er aber keine Konzessionen macht.
Seine Prämisse überschreitet die heutigen Denkgrenzen, steht in jedem Fall im Wider-spruch zu der engen Ratio und der Tradition der Aufklärung, die doch Schuld ist an der Krise der modernen Welt. Der böse Samen wäre dann wohl die Pariser Kommune. Das, worüber das Buch jedoch direkt spricht, ist „das rote Imperium, Bastard der Aufklä-rung“. So wurde eine transzendenzlose, gefährliche, human begrenzte Welt begründet, um eine Formulierung von Paul Ricoeur zu zitieren, paradoxerweise führte diese zu einer enthumanisierten Welt. Nachdem dieser Samen ausgesät war, wurde der Osten und sein Wachstum zu einer Fatalität, gleichermaßen tragisch und grotesk. Dieses wussten auch jene, die seine Zügel übernahmen. Das Gedächtnis des Autors liefert eloquente Zeugenaussagen zur Genüge, um die Schizophrenie, den Konformismus, den Zynismus des kommunistischen Apparates und eines Systems zu beweisen, das nichts anderes tat, als die Existenz mit einer von ihm erfundenen Utopie, die überall eindrang und von vie-len wahrgenommen wurde, zu überschwemmen. Wie durch Ansteckung empfanden die-ses immer mehr Leute, bis sich dann schließlich die Phantome in lebendige Gestalten verwandelten und es zur Revolution kam.
Die Ideologen selbst schienen von einem Spektrum eines kommunizierenden Schwindels und der Übelkeit erfasst, fast wie eine Variante eines atheistischen Existenzialismus, wie es vor kurzem noch die Entwicklung von Jean Paul Sartre in Richtung eines Stalinismus mit marxistischen Reminiszenzen zeigt.
Die lebendigen Gespenster aus dem ideologischen Apparat definierten in der neuen Zeit und den neuen Beziehungen diese Auswirkungen und ihre Erfahrungen besonders luzi-de: „Der Kommunismus ist, wenn alle voneinander genug haben“, sagte der ehemalige Chef des Funkens, der Parteizeitung „Scînteia“. (36) Es scheint, dass diese lebendigen Gespenster als Erstes erwachten. Und es zeigte sich vehement, „dass das von der nach-metaphysischen und irreligiösen Kapitalgesellschaft anscheinend Gezähmte, Verdrängte, Vernichtete, vom Totalitarismus Negierte, ja (als enorme Explosivkraft) unter Strafe Gestellte, noch da ist und Geschichte machen kann“. (30)
Die Macht beherrscht das Recht nach Gesetzen und Regeln eines reinen Spiels, das durchaus nicht human ist: „Der eigentliche Sieger aber blieb das alles und jedes, auch den Tod oder die Geburt skrupellos verwertende Kapital.“ (31)
Die Ereignisse haben ihre eigene Begrifflichkeit und sie wollen auf Teufel komm raus der Gesellschaftszeit und jener der Individuen widersprechen. Die Deutschen sind ent-täuscht von einer zu späten Veränderung. Die Rumänen aber können erkennen, dass sie einer „Massen-Armengesellschaft“ angehören. In Klausenburg entdeckt der Autor eine Menge, die aus armen, proletarisierten Rumänen besteht. Die totalitären Systeme und, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, ihre Untersysteme, finden das schwarze Schaf, um einer Zeit, die ihrer Kontrolle entglitten ist, in alten nationalen und sozialen Lebens- und Denkweisen.die Stirn bieten zu können. Die Besiegten jeder Art zeigen mit einem moralischen Zeigefinger auf den Sieger, den „Weltpolizisten USA“, der sich angeblich mit List und Tücke und allein die Macht angeeignet hat.
Der Autor behandelt den Osten mit einer gewissen Sentimentalität. Anders könnte er nicht so ganz unschuldig daran glauben, dass sich alle im Osten dem Staat widersetzt hätten.
Die Industrialisierung habe, obwohl sie für fortschrittlich ausgegeben wird, aufgrund einer inhumanen Technik und Wissenschaft, so der Autor, „die Roboterwelt des Wes-tens“ geschaffen. Wenn der Autor glaubt, er habe eine postideologische Welt beschrie-ben, dann ist das nicht gerechtfertigt, es würde auch die wahren Probleme der heutigen Welt gar nicht erfassen, gar lösen helfen, so schreibt er gegen Ende des Buches: „Das radikal Böse war nicht die Ideologie!“ Die moralische und religiöse Sünde, so der Au-tor, entstand im Westen. Und wenn die „Menschen aus dem Osten eine Art Zigeuner sind…“, so trägt nur der Westen die Schuld für das verdrängte Numinose und für Gottes Tod, indem es nun überall die Existenz in einen simulierten Albtraum ver-wandelt.
Der Autor war Zeuge des exorzisierenden Ereignisses, als die Statue von Lenin mit ei-nem Kabel stranguliert wurde, wobei er bei dieser Gelegenheit begriffen hatte, dass die Spuren der Diktatoren eine Beständigkeit haben, die das symbolische Lebensniveau übertreffen. Doch die Vernichtung eines lebendigen Diktators kann nicht zur Regenerie-rung beitragen. Der Mord hat niemals etwas von einer Opferhandlung. „Der kleine Übermensch ist tot, aber seine Erblast lebt…“ Das Recht wurde annulliert, einerseits entleert von den Innereien der Diktatur, aber zugleich plötzlich entleert auch vom Sich-nicht-unterordnen-Wollen. Der von einer Ideologie, die sich anstelle der Religion gesetzt hatte, vergötzte, kehrt wieder durch die vom alten System infizierten Slogans, so der Schuster (Ceauşescu), der das Volk harmonisieren könnte, wäre er „gelyncht“ worden. „Ceauşescu verschwinde nicht / wir wollen Schuhe aus deiner Haut. “ (Ceauşescu nu pleca /vrem pantofi din pielea ta.). Gesiegt hat auf unglaubwürdige Weise das militä-rische Ritual. Und dem Conducător wurde ein juridischer Scheinprozess zuteil. Die Hinrichtung als postmodernes Kunstwerk ist das zehnte Kapitel überschrieben.

9. DER HERRGOTT HÄLT ALLES
Michael T. ist ein religiöser Jugendlicher. Besser gesagt, er ist religiös als junger Mann. Das lässt sich schon aus seiner eignen Rückschau als Fünfzigjähriger heraushören. Sie bestätigt den geistigen Kalender Kierkegaards mit seinen drei Lebensaltern: dem ästhe-tischen, ethischen, religiösen nicht. Michael T. ist religiös im ästhetischen Lebensalter, einem Alter, das er interferierend verlängert ins ethische Lebensalter. Er bezieht jedoch auch andere Dimensionen in einen persönlichen Synkretismus mit ein: die Philosophie, den Okkultismus, die Wissenschaft . Er wurde geboren und wachte auf wie fertig ge-formt und gebildet in einer im Wesentlichen familiären, ja sehr familiären Gemein-schaft, die durch die Historie erschüttert wurde, von der er durch das Exil getrennt wur-de, von der er sich nicht lossagte, sondern nach der er sich sogar sehnte. Die neuen, ihn verändernden Erfahrungen blieben seinem eigentlichen Werdegang äußerlich, gingen ihm aber sehr nahe. Seine asketischen Ideen wurden gedämpft durch eine vielfältige he-donistische Neugier. T.s Schicksal ist stärker als die Wahlmöglichkeiten. Er hat mehr Schwächen als Optionen. Doch das Exil nimmt ihm den Glauben nicht, so wie die Sün-de eher ein Mittel zu dessen Entdeckung ist.
Doch auch aus seiner Theologie, die sich in Grenzen hält, lässt sich erkennen, dass Mi-chael T. eine Eigenschaft Gottes nicht vergessen hat und gar nicht so weit von jener Ob-session, auf die er sein Leben aufbaut, entfernt ist: Jene Dimension des Einen, des ein-heitlichen Raumes. Gott ist, wie es im archaischen Sprachgebrauch heißt, der Alleswis-sende. T., der asketisch Evangelische, der einmal mit Maria bei ihrer Großmutter an der Donau gewesen war, hatte dort verstanden, dass Gott die einzige Realität ist, die AL-LES ZUSAMMENHÄLT. Die Obsession der gefährdeten Einheit durch den Zerfall wird sich im Exil und in den Jahren der Reife aus dem Geistigen ins Körperliche verla-gern. Diese wird beispielhaft deutlich während des Liebesaktes mit Ruth, der einen Moment der Angst zeigt, dass die Zellen zerfallen, da sie, so Ruth, nicht mehr zusam-menhalten, die Angst jedoch wird durch den Akt selbst für Augenblicke aufgehoben.

In Wenn die Dinge aus dem Namen fallen wäre die Bewunderung des Autors für die Orthodoxie in der rumänischen mioritischen Landschaft in sich selbst sublim, würde sie nicht nur eine angenommene persönliche Option im Rahmen eines Ritus und einer „plu-ralistischen“ Praxis „sublimieren“. Andererseits ist bei dieser Bewunderung auch das Zögern zu bedenken, das genügend dogmatische Lizenzen von klarer pantheistischer Herkunft mitdenkt. Übrigens ist sie auch eine Reaktion, aufgewühlt von der kamerad-schaftlichen „Demut“ des Glaubenszeugnisses einer Freundin aus Bukarest, das – in ei-ner totalitären östlichen Hauptstadt gegen ein atheistisches Regime ankämpft – und den wahren christlichen Glauben eines exklusiven Kultes erwählt hat. Freilich vergessen beide, dass sich dessen Kirche dem roten Cäsaren der Karpaten gebeugt hatte. Von T. wird, ohne auf diese Realität einzugehen, ihr Plädoyer anerkannt: „Ioana hat da ein star-kes Argument: das Orthodoxe kennt keine Mauern, denk an unsere Klöster mit den Au-ßenfresken, Osmose, da ist niemand in den Kirchen eingesperrt worden, Gott ist überall…“(38) Es wird vergessen, dass die Orthodoxie, die Alain Besançon einer „ver-ordneten Serie“ einordnet, mitgemacht hat, sich innerhalb der Partei-Mauern anzusie-deln, sogar, dass die eigenen Mauern ihrer Kirchen nicht selten von der Partei abgerissen wurden, wenn Platz für Neubauten benötigt wurde, wie in Bukarest. Nachdem Ioana sozusagen die Vertreibung Gottes von überall „verfügt“ hatte, erklärt sie brüsk, dass doch die hiesige Kirche ihn überall begleitet hätte. Dieses Urteil ist offensichtlich ein schnell gelöstes, und nicht, wie es doch nötig wäre, eines der Erlösung. Aber es abenteuert im Bereich eines nichtadäquaten Mysteriums, das eher in Richtung eines tra-gischen Karnevals geht. Doch auch die juridische Farce ist sehr entsprechend dem Un-tergang des kommunistischen Blockes. Der Autor hat leider keine Zeit für Nuancen, auch wenn diese offensichtlich existieren, er geht schnell von einer direkten und puren Verurteilung zu einer konzilianten über.

10. THANATOS
MORS ULTIMA LINEA RERUM

Der Fünfzigjährige T. fühlt voll das Herannahen des Alters. Sein Bewusstsein vermittelt ihm, das Herannahen des Verschwindens wie eine Schmerzstelle. Er sucht eine Rück-bindung oder zumindest eine Orientierung, doch befindet er sich in der prekären Lage eines Menschen, der nicht weiß, wohin es geht. Er befindet sich eigentlich auf der Suche nach einem Ort und nicht einer Richtung. Ich würde hinzufügen, das Wo schließt das Wohin aus. Die Immanenz beherrscht die Transzendenz. Das Wesen und der Raum be-wahren noch Bewusstsein der Autonomie und auf diese Weise auch die dieser Unzers-törbarkeit, die sich nicht ändert, das Prekäre wird dagegen erlebt im Reduziertwerden und in der Kleinheit, die anwächst. T.s Wesen ist eingespannt

in einer Regression ohne Findung und Bewohnbarkeit. Der Durst nach authentischen Räumen quält ihn wie ein unbefriedigter Instinkt.
Von da kommt dieses Viszerale, dieses mit dem Bauch Suchen vor Ort und auch ohne Ort, das ihm ein Gefühl eingibt, nicht zu existieren. T. kennt dieses menschliche und universelle Gefühl der Nichtexistenz. Gleichgültig von welchem Ort aus er spricht, wirkt er wie ein Stellvertreter des Nichts. „Ich, der gar nicht mehr existiert“, sagt er zu G. in Italien. Die Wahrnehmung eines bis zum Verschwinden im Vakuum zerstäubten Ortes teilt auch Adam mit ihm, wenn der sich auf den Sinaiberg bezieht, der das Kreuz der Gnade über sich trägt, wo das „Nichts erscheint“.
Michael T. sieht eine Rettungs-Chance in der Überschreitung seiner Lage als landloses Wesen. In diesem Sinn plädiert er für Stetigkeit und gegen die Flucht, für das Verblei-ben an einem Ort, ähnlich einer Pflanze, während „dem Tode niemand entkommt“. Mors ultima linea rerum, sagt T. und meditiert romantisch die Vergeblichkeit des Lebens, das eine Vergangenheit hinterlässt, die die Ferne mit der Nähe gleich klingen lässt.
Der Tod ist Michael T. als „Ganzes“ bekannt, insoweit es überhaupt einem präletalen Bewusstsein möglich ist, etwas darüber zu wissen, eben, dass dieses Bewusstsein über das existenzielle Vakuum und das Bücherwissen hinausgeht. Die Hauptfigur bekennt, dass sie das „Ägyptische Totenbuch“ lese. Beim Film Nostalghia, den T. gemeinsam mit Jann in einer Hafenstadt sieht, ist Michael T. von der Schönheit der Bilder, die ihre Wahrheit übertrifft, verführt. Die Kunst des Verschwindens wird zur Hoffnung eines au-thentischen Lebens.

Das Verschwinden ist das zweite Thema des Romans. Der Untertitel ästhetisiert dieses: Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens.
Vielleicht sollte man nicht von einem Untertitel sprechen, sondern von gleichberechtig-ten und kopulativen zwei Titeln, die im Paratext und als Oxymoron einen barocken Text anvisieren: Das Wiederfinden des Vaterlandes ist identisch mit der Kunst des Ver-schwindens. Nur der Diskurs oder die Rhetorik können trösten, sie befrieden und vere-deln das menschliche Wesen. Die Kunst, die Ästhetik sind die einzigen würdigen For-men für ein Wesen, das zu einem Ende ohne Ort und Sinn verdammt ist. Das Ver-schwinden ist die fundamentale und wahre Wirklichkeit, sie wird intensiv und konse-quent vom Erzähler in seiner Erzählung thematisiert. Die eschatologische Botschaft verbindet in einer „ideologischen“ Kette die sich im Buch Äußernden, die sich auf ver-schiedenen Stufen der Bekenntnis-Bedingungen befinden. Bei seiner Rückkehr in sein Heimatland hört Michael T. den Professor Dima über die „ganz allgemeine Kunst des Verschwindens“ reden. Und Dima beruft sich auf Professor Oberth, der in S. gelebt hat-te, und nun in Nürnberg-Feucht lebt, ein „Vater der Weltraumforschung“, der eine Theorie über den Brennpunkt, Delta t genannt, referiert! Von da auch die Schlussfolge-rung von Dima: dass auch dieser Ort zur allgemeinen „Kunst des Verschwindens“ etwas beigetragen habe. Dieses ist die Antwort eines universellen spiritus loci , der sich vor-genommen hatte, dem Tod Widerstand zu leisten, da dieser in die menschlichen Ge-meinschaften durch einige Individuen, die diesen Gemeinschaften fremd geblieben sind, eingedrungen war. So war es auch in der politischen und militärischen Geschichte im Falle Hitlers. Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Wissenschaftsgeschichte wurde dann vorgestellt. Der Tod dringt in die Welt auch über einen so großen Wissenschaftler wie Robert Oppenheimer, der, so Michael T., er sagt es zu Jann, wie ein dämonischer Poet des Bösen beim Anblick der Atombombenexplosion und des lichtüberfluteten Himmels, erklärt habe:
„Ich bin der Tod, der alles raubt,
Erschütterer der Welten“ (263).
Die Agenten des Todes bleiben unsichtbar, dieses ist der Raum, der ihnen eigen ist: der Tod und die Unmöglichkeit der Kommunikation, sogar dann, wenn sie an den zerstörten Ort zurückkehren. Nach dem Atombombenabwurf über Japan am 6. August 1945, kurze Zeit danach, im September, kehrten der Bomberpilot Tibbets und der Bordschütze Fere-bee an den Tatort zurück, um ihn zufrieden zu begutachten. Sie kauften Souvenirs und „wunderten sich, dass die Japaner weder feindselig, noch abweisend waren“. (265)
Dima, der Freund, hält Michael T. wahre Vorträge, und ist davon überzeugt, dass diese nichts als verbale Einlassungen bleiben werden, weil der Weggegangene jede Möglichkeit des Verständnisses dafür verloren haben dürfte, was es heißt, die letzten 18 Jahre in einem kommunistischen Regime gelebt haben zu müssen. Hier wurde sogar die Sprache zu einem Nichts. Sie konnte den Tod nicht mehr besänftigen oder gestalten. Das Verschwinden kann der Ethik der Kunst des Verschwindens nicht mehr begegnen. Hier ist der Mensch aus der Zeit und aus der Existenz gefallen, nahe daran, nun auch aus der Sprache zu fallen in ein soziales Universum, das von der Unmöglichkeit jedwe-der Kommunikation beherrscht ist.
In der Grossen Kreisstadt A. konnte Michael T. nicht mehr leben: „Ich meinte hier, wo die Wände mit ihren Bildern und Fotos so unmittelbar zu mir sprachen, ersticken zu müssen, in dieser dicken Luft der Vergangenheit und wollte sofort abreisen. Ich konnte diese Unentrinnbarkeit kaum mehr ertragen, diesen Umgang mit den Toten, die mich in den Träumen nachts besuchten, mich zu einer unbewussten Schlaf- und Gedächtnisar-beit zwangen, die auch in den Tag übergingen, sodass ich meinte, nicht mehr wach sein zu können… schwach, ausgeliefert im Dämmer, ausgeliefert allen Stimmen…“(175)
T. lernt, nicht zu sterben, sondern wie er zusammen mit den Toten, die als Stimmen auf Tonbändern weiterexistieren, leben kann. Jenseits der Existenz, im Tod, in einem neuen Leben bleibt ihre manifeste Existenzform die Sprache. Und die Toten, so meinte er, waren immer anwesend, an die Gedanken und an dünne Lichtfäden gebunden.
Das wieder gefundene Vaterland ist ein Land der Toten, die über die Sprache und in ei-nem Traumzustand (G. Genette) wiederkehren, und das ist bestimmend aus der poeto-logischen Perspektive. Die Sprache beherrscht nicht nur das Wesen und ist auch parasi-tär für das Wesen, sondern zermalmt es bis hin zum prekären Zustand einer äußersten Verletzlichkeit. Die Thanato-Rhetorik überschwemmt T. bis hin zum Verschwinden.

DIE REVOLTE DER TOTEN

Die Revolte der Toten ist der Titel des Buches über die Revolution in rumänischer Übersetzung. Die Metamorphose der rumänischen Enklave hat sich in einem Grenz-Augenblick des drohenden Verschwindens zwischen Leben und Tod vollzogen. Nach einem toten Leben einer verhafteten Geschichte war der lebendige und befreiende Tod möglich. Die lebendigen Seelen wurden von den toten Seelen eingelöst, und der Autor weiß, dass dieses möglich war, als die Grenze zwischen Leben und Tod ganz dünn ge-worden war.
Der erste Beweggrund und Titel des Buches ist übernommen aus einem legendären Slo-gan eines wirklich geschehenen Wunders, einem verwirklichten Schwur und Glauben der Zeugen, die standhaft blieben, um die von den Märtyrern unumkehrbar begonnene Metamorphose zu vollenden: „Nu plecăm acasă, / Morţii nu ne lasă“ (Nach Hause gehen wir nicht / die Toten lassen uns nicht), hatten die Überlebenden im Chor angestimmt. „Zu Hause“ war der fremde übrig gebliebene Ort, von dem sie sich selbst nun entfernt hatten. Und die Beziehung zwischen Zeugen und Märtyrern war Verbindung und ethi-sche Bindung zugleich.
Daher war jener „negative“ Imperativ im Grunde genommen regenerierend. Und er-schien als ein neuer Sinn, eingebracht als Musik, als Vers aus dem Refrain eines neuen Gassenhauers. Die Metamorphose war – ich greife dazu auf ein Zitat von Lucian Blaga zurück: durch das herabsteigende Licht der Transzendenz möglich. Das Natürliche wur-de wiedererlangt durch die Ausnahme. Es erscheint als Wunder und bestätigt die so lan-ge Zeit nur als Niederlage vorhandene Überzeugung, dass nur die „Engel… Oder die Toten jetzt normaler wären.“
Anstelle der Ästhetik des Verschwindens, die während der ganzen Zeit der betäubten Existenz im Totalitären wirkte, trat nun eine Ästhetik des Erscheinens und der Neuent-deckung. Diese Neuentdeckung ist die Folge eines Dialoges, der die Gegensätze ver-söhnt und vereint, indem er die Lebenden und die Toten rhetorisch solidarisch auch un-terschwellig zusammenführt.
Vom toten Dialog der Lebenden nun zum lebendigen Dialog mit den Toten. Er ist auch zu finden in Heiner Müllers Ästhetik des realen Erscheinens, das an Paul Celans Poetik erinnert, ja, mit ihr fast identisch ist der Autor entnimmt diesen Dialoge mit den Toten aus Gesprächen mit Lebenden, Dialogen, die er noch bevor er sein neu erlebtes Land als neues Haus erlebte, führte, und zwar war das im März 1990 auf dem Platz der Universi-tät. Damals war die Gemeinsamkeit der Lebenden mit den Toten ein ungewohntes Wunder. Sie war genauso spontan wie die Entscheidung, sich von jenen, die diese Of-fenbarung möglich gemacht hatten, indem sie für immer verschwanden, nicht trennen zu lassen. „Die Toten sind in mir, sagte Ioana.“ Doch das Verlassen dieses Ortes der verschworenen Bindung, brachte den Fluch einer Rückkehr vom notwendigen Tod, der jeder Auferstehung vorausgeht, zum Leben innerhalb der normalen Grenzen des Todes mit sich. Es war ein bekanntes und vorgeschriebenes Gesetz, von Jean Baudrillard, fast genau mit diesen Worten hier zitiert: „Wer sich nicht austauscht mit dem Tod, muss ein todähnliches Leben führen.“
Die rumänische antikommunistische Revolution wurde nicht nur usurpiert, sondern auch verraten, denn jene , die geschworen hatten, zu bleiben, waren nicht in der Lage, ihren Schwur einzulösen, und noch weniger gar, aus Zeugen Märtyrer zu werden. Die Revolution wurde so nicht abgeschlossen, denn sie wurde – unter den gegebenen histo-rischen Umständen verständlich, doch vom metaphysischen Standpunkt unverständlich – verschoben. Das Volk, das in der Geschichte schlief, hatte die Chance gehabt, jenseits der Geschichte zu erwachen. Eine Chance, die es vertan hatte, nun von ganz hoch bis in den Abgrund zu fallen – wieder in die Geschichte. Diese böse Herrin holte sich das Volk zurück als betrogene Sklaven. Das Opfer blieb unfertig. Die abwesenden Märtyrer wurden von ihren Zeugen verlassen. Ein Wunder war viel zu früh gekommen und verloren gegangen. Wir erfahren aus dem letzten Satz des Buches: „Die Toten allein warten noch auf die Revolution.“(188)

II. RHETORISCHE POETIK

DIE ORDNUNG DER SPRACHE

Der Sprecher, Erzähler oder Akteur ist eine Figur der Sprache.
Michael T. ruft Adam die eigne Nichtexistenz in Erinnerung, und dieser, der die Gefahr einer Kommunikation mit dem Ziel zu pulverisieren und auszulöschen sieht, mahnt an: Sprache verliert sich selbst, wenn sie sich vom Sprechenden löst. Der Sprecher jedoch ohne Sprache verliert seine Verständigungs-Möglichkeit, und der Mensch wird so zu einem Tier der Kommunikationslosigkeit. Das Verstummen erzeugt Erstarrung. Michael T. aber rettet seine eigene Sprache. Er ahnt schon die Gefahr ihres Verlustes und sagt es auch Adam. Das Wiederfinden seines eigenen Wesens ist noch möglich durch einen Zugang zum unmittelbaren Diskurs, unvermittelt, ja, physisch, und mit einer nicht kanonisierten und entsymbolisierten Sprache, und das sei möglich nur über das Tage-buch, meint Michael T. Er schreibe Tagebuch, bekennt er Adam, und dies in Freiheit, nicht im Totalitarismus, und Adam sieht darin eine Art schriftliche Wiederauferstehung. Das Paradox der Sprache besteht darin, dass sie Gefangene eines politischen Systems sein, gleichzeitig aber die gefährdete Freiheit beschützen kann. Als letzte Zuflucht be-freit die Sprache das Wesen des Menschen aus einer totalen Gefangenschaft. Die Spra-che ist, auch wenn sie zwischen Frivolität und Verwüstung schwankt, sogar noch mehr als das Wesen, das sie mit unverminderter Treue beschützt, zur Solidarität fähig. Zu diesem Sinn kam sie durch den Akt der Selbstfindung. Die Solidarität der Sprache wird zu ihrem vielstimmigen Ausdruck.
Das archetypische Bild von Babel wird auch zu einem reaktualisierten Symbol. Die heutige Form der Existenz erweist sich als eine Art Babel nach Babel. Michael T. ent-deckt dieses in Mailand und notiert es wie eine empirische Wirklichkeit und nicht wie ein unterschwelliges Symbol, als ein Sprachgewirr, das um den Dom zu hören war. Adam spricht, nachdem er an die Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus erinnert, von dem Austausch der himmlischen durch die menschliche Sprache, spricht über die zweite oder die andere Sprache und dann vom BUCH ALLER BÜCHER, der „Akasha Chronik“, einem Buch, das sich nie verändert, in das alle Ereignisse auf der Erde einget-ragen sind. In der Wirklichkeit, im Traum, in der Offenbarung oder der Transkommuni-kation behält die Sprache ihren lebendigen Geist.
Folgendes Fragment enthält eine unterschwellige Tiefe, die aufmerksamer analysiert werden müsste: „Alle Wärme schien wieder aus der Umgebung wie ausgelaufen, fort-geflossen zu sein, und ich fand die Verbindung nicht mehr. Und hatte Angst … die Un-heimlichen könnten wieder auftauchen, hochkommen … versuchte zu schreiben, dachte das bindet, denn …Die Sprache weiß, was Ordnung ist; sonst ist Ordnung nur bei den unschuldigen Dingen … die es nicht mehr gibt.“ (307)
Die Ordnung der Sprache ist auch ihre Macht, die sich nicht in der konventionellen Schrift und Grammatik zeigt, „wozu Grammatik, alles verfließt ja doch am Schluss“. (316)
Die pervertierte Sprache, über die Barthes gesagt hatte, sie sei faschistisch, erprobt ihre Härte im totalitären Regime. Auch Michael T macht seine Erfahrungen mit der Sprache („Grammatik“) des kommunistischen Ostens. Hier erscheint die Sprache schon einge-körpert in den Untertan, und sie wird als ein Golem gesehen. Michael T. wird von einer Gegensprache beherrscht, ich würde sogar sagen, von einer Antipoetik des Diskurses und mit doppeltem Gegenüber: da ist einerseits die konventionelle Sprache, kodifiziert nach dem öffentlichen Rezept der hölzernen Sprache, und auf der anderen Seite die Op-positionswirklichkeit einer ungewohnten Spannung zwischen Existenz und Erstarrung:
„Ich besaß nämlich einen Schädel mit einem gefährlichen Sprengstoff staatsfeindlicher Waffenarsenale: die Sprache; Syntax, Sprengsätze. Obwohl ich ein „Überzeugter“ war, trauten sie mir nicht; Interlinearversionen, Metaphern, Transportmittel in kaum ver-nehmbaren Nuancen: Hauptwörter, abgestuft in Schattierungen von Eigenschaftswör-tern, Tunnel der Adverbien, die langen Züge und Flugzeuge, ja, die Verben; dies fürch-teten sie; in ganzen Armeen rannte die Phantasie an gegen die Elefanten und Monster der farblosen, abgetrennten Jubelplätze schreiender Fahnenschwenker und missbrauchter Transparente, gegen Reden und Leitartikel, Verfügungen und Paragrafen, wir, dort noch eine Gegenmacht, dass jeder Westwortmacher, Privatliterat, vor Neid erblassen könnte.“ (397)
Nur die Sprache im Kontext unmittelbar-engster Kommunikation garantiert die Exis-tenz, und sei es auch nur virtuell. Dem existenziellen Bruch trotzt zwischen Nähe und Ferne, Trennung und Wiederfinden, Exil und Heimkehr die Sprach-Gemeinschaft.
„Auch im Satz fiel Abschied. Als wäre T. nun endgültig geheilt und tot am Leben.“ (449)
„Oben, dort, jenseits der Zeit, wo die Toten sind, haben sie sprechende Beweise! Als wäre ich so gewappnet, denn ich hatte jeden Satz hinter mir.“ (448)
Michael T. provoziert andauernd seine Abneigung gegenüber der Mündlichkeit, doch er unterwirft sein Schreibtalent „permanenten Monologen“. (304) Den, wie er sie nennt, Transgesprächen. Es sind eigentlich jene Gespräche mit den Toten, und nicht in letzter Instanz die mit seinem Vater: nur so sei eine so schwierige Verbindung mit dem Drüben möglich, „Vater, der mir ja Zeuge wäre“. „Der Tod als Gott, das Exil als Schrift.“ (446)
Wenn die Rückkehr in Geschichte und Biographie in der Zeit unmöglich ist, kann sie doch gerettet werden durch Kommunikation, und mit einem Satz wäre dann die Wie-derkehr möglich.

DIE FATALEN WORTE. UND DIE NICHT-WÖRTER

Michael T. stellt sie fest, manchmal beklagt er die Fatalität der Wörter, die das men-schliche Wesen fesseln und in Fesseln schlagen, es ist zu ihrer Freiheit verurteilt oder zumindest in ihre Freiheit hineingezwungen. Die sprachliche Bedingtheit ist allgemein menschlich. Die Henker wie die Opfer kennen sie und ertragen sie. Michael T. hat Ver-ständnis für alle. Denn alle leben unter der Tyrannei der Wörter. Auch wenn sie in einem Verhältnis von Herr und Sklave stehen. Durch den Nebelspiegel der Sprache versuchen sie sich alle zur Realität durchzuschlagen. Doch die Sprache bietet ihnen nicht mehr als die Illusion oder nur ein Phantom der Realität.
Aber niemand kann sich von ihnen oder von der Realität befreien.
Die Illusion wird zur Notwendigkeit, und die Sprache wird das entsprechende Instru-ment, um diese zu befriedigen.
Die Phantome können, einmal anerkannt, zum Doppelgänger der Realität werden. Mi-chael T. hat die Gedankenklarheit, die Illusion anzuerkennen und sie zu assimilieren. So wird er nicht zur ausschließlichen Beute der Phantome. Er weiß, dass die Geister nur dann verjagt und besiegt werden können, wenn man sie sich maßvoll und begrenzt selbst aneignet, um sie sich dann vom Leibe zu halten. Der Erzähler und die Hauptfigur sind durch einen lebendigen Austausch von hellwacher Gedankenklarheit miteinander verbunden. Der Erzähler ist der Erste, der die Phantome des Realen vertreibt, und das, indem er erklärt, dass ihm die autonome Wirklichkeit verborgen bleiben muss. Daher geht seine realistische Beobachtung mit einer inneren Spaltung und mit Zweifeln an der Konsistenz der Realität einher, deren Plan unbekannt und der Erkenntnis verborgen bleibt, nur verschoben von der leuchtenden Barriere der Worte. T. läuft in den Hof, und denkt, dass es doch ein „Worthof“ sei, wenn er sich „sagt“, was er „getan“ hat. Ein an-dermal wird der Bruch Realität/Sprache schon unterschwellig mitgedacht. Der Raum der Sprache tritt an die Stelle des Realen. Die Authentizität der Worte ersetzt die Scheinhaftigkeit der Realität. Und nicht einmal ihre Virtualität interessiert dann weiter. Die Wörter-Realität bestätigt eine falsche Gewissheit. Daher wird der suggestive Da-seins-Hinweis des Erzählers fast mit der Person von Michael T. identifiziert, die Enthüllung im Raum der Sprache folgt sicheren und klaren Wegen: „… es sei kochendes Wasser vom Himmel gefallen, es wollte uns verbrühen.“
„Aber es war doch nur gebündeltes Wasser oder ein Spiegelbild im Worte-Spinnen, un-terhalb der rechten Silbe, die linke aber drohte mir, jetzt schlag ich dich tot, damit du zu Friederike kommst, denn die ist schon im Himmel.“ „… und stieg ab in den Worthof. Unten erwartete mich meine Mutter.“ (434)
Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen jenen, die mit einer luzid-bewussten Aneignung der sprachlichen Phantome leben, und jenen, die die Illusion ig-norieren und diese als genuine Wirklichkeit ansehen.
Die Tyrannen sind die Herren, aber auch die Sklaven, die sich selbst, in ihrer inszenier-ten Stellung einer vernichtenden Sprachwelt, ignorieren, deren Objekt sie dann schließ-lich selbst werden.
Michael T. denkt, während er am Gebäude des ZK vorbeigeht, an den kommunistischen Präsidenten. „So muss sich auch der Präsident in seiner sterilen und abgeschotteten Umgebung fühlen, wenn er sich nicht dauernd mit Größenwahn und hektischer Aktivi-tät betäubt, den Abgrund dieser Leere füllen würde… ein Papierberg, nichts als Wörter, wenn man daran rührt, fällt alles auseinander: Paragraphen, Verordnungen, Sprüche, Versprechungen.“ (361/362)
Ein anderes wesentliches Moment ist die Isolierung eines reflektierenden Individuums wie Michael T. angesichts der Isolierung des Gespenster-Tyrannen in seiner Rolle und seinem Absolutheitsstatus. Nur Michael T. empfindet die Tyrannei der Worte, den Fa-schismus der Sprache (Barthes) und begreift ihre Relativität im Verhältnis zum Absolu-ten, der idealen Gewissheit des Wortes. Eine Poetik des Zweifels entsteht so: „Von ir-gendwo schien ich losgerissen. Fad allein. Es kamen keine Gefühle mehr: Ich war wie abgeschnürt. Maria sagte, DAS WORT Gott fehle mir, das habe auch Onkelchen, der Pope, gesagt …Wozu Worte machen, die wie zufällig sind, irgend etwas bedeuten, wei-ter nichts.“ (370)
Doch gibt es eine Kommunikation außerhalb der Sprach-Fallen. Der Erzähler stellt aber ihre vorsprachliche oder transsprachliche Authentizität fest. „Ein Gefühl der Sicherheit. Lässt sich nicht (in Worten) festhalten.“ (375) Der faule Kompromiss ist nötig, um die Existenz begründet herzustellen, da jeder gezwungen ist, dies mit Worten zu verwirkli-chen. So erscheint es, als würde sich auch das Wort selbst begründet herstellen. Es ist Figur, aber auch Körperwesen, Kreatur. So erscheint es in der Realität sowohl tropolo-gisch (formethisch) als auch anthropologisch.
Der Pakt zwischen real und figurativ hat auch mit einer Klausel des Lesers und der Lek-türe etwas zu tun. Von hier wird auch die Wahl von umfassenden Aussagen in dem an-gewandten Regime der Einheit von Widersprüchen nötig, etwa in der Art „Das Wort atmet“. Oder das Abgleiten in einen barockartigen unterbrechenden Zwischenraum des Seins-Sprachlichen (Onto-Rhetorischen), das vor allem einsetzt und auch benannt wird, wenn der Sprachbewohner nicht mehr weiß, ob „sich die Dinge im Wort oder draußen ereignet haben“. Die Rolle der Worte besteht in einer Zeugenaussage nach den Ereig-nissen, die sie selbst und direkt nur in dem Maße erzeugen, indem sie sie mitteilen. Die Geschichte als ontischer Prozess – eine Art immanente hellseherische Vision – liegt im Sinne von Michel Foucault außerhalb der Begrifflichkeit. Doch die Geschichte als Dis-kurs wird zum Ausdruck des grenzenlos Rhetorischen. Und dies bis in die Abgründe des Schweigens: „Wie klein kommt mir die Wohnung vor, unbedeutend, mein Gefühl, vergilbt, verschlissen; das Hinüberdenken ist frischer, da meine ich, etwas zu durchbre-chen, was mich gefangen hält, mich hemmt; es scheint etwas anderes in Gang zu sein als nur die Anstrengung des Begriffes, eine Art Ahnungsvermögen; wortwörtlich sind zu nehmen: die Sprachlosigkeiten.“ (161)
Das Schweigen kann demnach auch ein Territorium der Auslöschung sein. Michael T. denkt an fatale Worte, die den Tod nach sich ziehen können. Nicht nur das Apokalyp-tische, sondern auch das wirklich Existierende umschreibt, das unbarmherzig Unauf-haltsame der Zeit, nicht der Wort-Zeit verfolgt. Die Sprache vermittelt nur eine Freiheit in der letzten Zuflucht und ist eine Erweiterung der Isolierung, eine Enklave, in der man noch atmen, hoffen, existieren kann; im besten Fall erleichtert die Sprache eine Existenz in Agonie, in einer widerstreitenden Gegensatzbewegung, die verspricht, den Triumph der Sieger und die Unterlegenheit der Besiegten zu vergessen. Michael T. greift noch einmal die Utopie des semiotischen Krieges, ausgetragen in den Arenen der deutschen Sprache, auf.
Das Wort ist der Vermittler der Erzählung oder des Textes. Das Incipit der Fiktion im rumänischen Tagebuch der Vaterlandstage: „Transsylvania“ (Siebenbürgen), wird zum Topos und Chronotop, ohne dass es auch seine wesentliche Funktion als ein sich selbst produzierendes Wort im Text verliert. Und das geschieht durch ein Sprechen, äquivalent dem spontanen, unwillkürlichen Gedächtnis des Unbewussten; es ist ein rhetorisches und Sprachgedächtnis, eine Brücke zur Seele, in ihre nostalgischen, dramatischen Tie-fen, ein Raum der Rückkehr und des Abschieds, der Beständigkeit des Bleibens und der Flucht: „Siebenbürgen … das sag ich so vor mich hin und hör die Stimmen und bin mitten drin in diesem Riss, Heimweh, Fernweh teilt uns diese Zeit aus. Und ein Echo: Aus.“ (13)

BUCHSTÄBLICHKEIT UND BUCH-LITERATUR

Nichts von dem, was die Sprache angeht, wird ignoriert. Die Sprache ist für Michael T. ein „buchstäblicher“ Ausdrucksorganismus, also nicht fiktiv. Sein Schreibenkönnen wird erst durch einen Solipsismus der selbstreflexiven Verständigung ausgelöst. Anders die sprachliche Natur: der Emigrant Michel T. schweigt in Anwesenheit von Adam und Jann, „er verstand die Außenwelt nicht einmal mehr als Buchstabenreihe“. Die beiden, die sich begrifflich befreit hatten, lachen über ihn, er aber nennt sich einen „Buchsta-benmessias“. Eine Gnosis der Buchstaben-Mitteilung schien ihm wirklich vertraut nahe zu sein. Die Regentropfen erinnern Michael T. an die biblischen „Buchstaben des An-fangs“. Die vorsprachliche Agonie wird von diesem Visionär, der von da herabstieg, „wo die Vokale Konsonanten auffraßen im Sirren der Kugeln“ (410) manchmal esote-risch oder sibyllinisch ausgedrückt. Ein Buchstabenerzeugnis wird schließlich die ein-zige Motivation für dieses onto-rhetorische Universum: „Überall die Zeit, t, und die Entropie, wirkliche Form, Tod im Kleinsten …“ (410)

DIE HAND SCHREIBT IM MUND

Das Schreiben, für Michael T. außerordentlich lebenswichtig, erscheint wie eine zusätz-liche wesentliche und existenzielle Sorge innerhalb der Beziehung des Paares Michael und Jann, die die Einsamkeit à deux erträgt, und er fragt sich, was sie denn hier tun, er mit seinem Schreiben, beide in eine m Eremiten-Leben ohne Kinder. Die Ehefrau von T., Jann, auch wenn sie weniger unmittelbar präsent ist, ist eine eher zärtliche als ironi-sche und sarkastische Xanthippe, sie ähnelt der Ehefrau des Schriftstellers Dumitru Tsepeneag aus seiner Trilogie Hotel Europa, Pont des Arts, Maramureş. Was die beiden Ehefrauen gemeinsam haben, ist ihre kritische Haltung gegenüber dem Werk ihrer Ehemänner: „Komm, schreib mal was Richtiges, einen Scheck“, spottet sie.
Dieter Schlesaks Erzähler ist ein Besessener des Schreibens und daher luzid, er bleibt sich des Schreibaktes immer bewusst. Er bereichert sogar die Theorie von Blanchot über die schreibende Hand um eine Nuance. Hier eine neue Stilart in der Typologie des handgeschriebenen Textes. Vorstellbar in einem Raum, genauso unvorhersehbar und mysteriös und nahe dem Organ, das denkt, und das die vor dem Schreiben existierende und beschützende Vitalität organisiert, eben die Hand, die im Mund schreibt:„Aber im Mund hast du nicht nur die Zunge, die Zähne, sondern auch eine kleine Hand, die eine scharfe Zunge ist. Und Atem. Da beginnt die Schrift. Und beginnt die Möglichkeit, sich wehren zu können.“ (370)
Jenseits des Mund-Raums und der Hand, die schreibt, nahe der anatomischen Zunge, er-scheint der buchstäbliche, der literarische, der semiotische Raum, der von der menschli-chen Sprache nur mit Schwierigkeit besetzt wird, dem Surrogat der Gottessprache, der einzigen imaginären, hypothetischen Spur der Gottheit selbst:
„Und nun schlägt er voller Verzweiflung die Buchstabenhämmerchen auf dieses noch unbegangene unwegsame Gebiet des Weißen Blattes, als wären diese Zeichen der Rest, den der Herrgott bei seinem Verschwinden hier zurückgelassen hat.“ (440)
Der Schriftraum des Schreibbewohners wird anerkannt als der Doppelgänger des wirk-lichen Raumes. Er wird von einem handelnden Sprecher, der auf seiner diskursiv-existenziellen und onto-rhetorischen Fahrt jenen Raum durchstreift, der zugleich (poeto-logisch) „erzeugt“ wird: „Und ich zwischen den Zeilen ins Nirgendwo.“ Das Vakuum und das Schreiben sind also das Fundament seiner „Religion“: „Ich glaube ans Nichts, zwischen dessen Zeilen ich mich fortbewege.“

DIE ERFINDUNG DER MASKEN

Michael T. erscheint wie ein blinder Narziss oder wie ein Narziss, der zögert, sein Spie-gelbild im Spiegel der Wörter wieder zu erkennen. Denn er wollte nicht die Spiegelung oder die Reflektierung, sondern die romantische Projektion einer idealen Einbildung, unter Vorspiegelung des Entsprechenden. Er hatte gelebt, um diese Projektion wieder zu finden, und es gelang ihm nicht, weil sie sich als verletzlich, unfertig und am Ende ver-fremdet und fremd erwies. Er habe sein ganzes Leben versucht, ein Bild herzustellen, das ihm entsprach. Der Erzähler bekennt hier seine Propädeutik eines Proteus und eines Zarathustra, Ausdruck eines barocken Dynamismus einer extremen existenziellen Span-nung, die zu schöpferischen Impulsen führte und zu ebenso vielen Masken des Küns-tlers: T. sei ein Ich-Versteck, eine dieser Masken, eben eine personalisierte, Versteck für seine Schwäche und den Willen als Überflieger, um sich nie ergeben zu müssen, sondern zu überleben.
Die emblematische Stilfigur der Verständigung scheint mir die Ironie zu sein. Sie allein kann noch die Vitalität der Sprache garantieren. Eine Hauptfigur, die eher etwas aus-drückt als etwas „realisiert“, wie die meisten außer Michael T., Chris, wird bekennen, dass er die Ironie als Erkenntnisinstrument versteht und auch so verwendet. Die ironi-sche Motivation von Chris ist diese, sagt er selber, nur mit Ironie könne er die „deka-dente Welt“, ihren blassen Status als Begriff ertragen: Diese abstrakte Existenz wird aber bei Michael T. zum Objekt, die ethisch und poetologisch in ihm etwas auslöst und ihn weiterbringt. Erinnern wir uns an einen Satz, den er zu Adam äußert und der ent-scheidend ist für das Verständnis seiner ethisch-ästhetischen Perspektive: „Weißt du, Adam, ich habe Angst vor der Zahllosigkeit, vor der unfassbaren, sinnlosen Nähe; und versuche, ihm meine Schwäche für IHR „Gezeter“ zu erklären: In der BEGRIFFSUM-GRENZUNG hole ich mir Mut.“ (369)
Die Benennung der Dinge ist immer etwas Uneigentliches. In C. lebt Michael T. seine Obsession der Verständigung, Obsession der Sprache mit ihrer wunderbaren Benen-nungsfunktion, die das ganze (Un-)Bewusste beherrscht, und das als Gedankendichter und „neoexpressionistischer“ Poet des Abstrakten. Seine Notiz, „die Bäume würden sich wundern, wenn sie wüssten, dass ich sie Bäume nenne“, erklärt seine ganze impli-zite Poetik, die er, so scheint mir, mit Nichita Stănescu gemeinsam hat, einem der rumänischen Poeten, die er profund und konstant bewunderte und den Dieter Schlesak auf Deutsch bekannt gemacht hat. Das oben genannte Beispiel seiner Poetik ist also kein Einzelfall, und nicht zufällig. Hier ein weiteres Beispiel: „Weiss wohl die Biene, dass ich sie ,Biene’ nenne?“. Die Befragung und Infragestellung der Benennung ist im Grunde eine wesentliche onto-rhetorische These Schlesaks. Sie wird mit ausreichender Klarheit auch so definiert: „Es ist grauenhaft, wenn die Dinge aus dem Namen fallen.“ So reflektiert Michael T. im Flugzeug am Himmel über Rumänien nahe dem Augenblick, sein verlorenes Land wieder zu finden. Solche metatextlichen Aussagen, die die Aufgabe haben, die Autorenpoetik festzuschreiben, aber auch ihre besondere Funktion und ihre Frequenz zu erklären. Ihre Texte sind nie neutral, sondern selbstkritisch, ja so-gar polemisch: Da eigentlich die Dinge nie richtig in ihrem vibrierenden Sein umfassend benannt werden (können), so wie auf Erden nichts zu Ende geführt wird. Doch die Spannung daraus sei furchtbar…

DER LESER / DIE LEKTÜRE, DIE SCHREIBENDEN

Michael T. gibt spontane und erschöpfende Erklärungen ab, und sie sind gewinnend durch ihre Offenheit, weil sie eine überzeugende Vollständigkeit erahnen lassen; die Existenz, ihre Schrift und Lektüre, ist an der spannungsreichen Grenze zwischen Erle-ben und Theorie mit einer lebendigen Gedankenklarheit bedacht. Als Leser arbeitet Mi-chael T. wie in Lehrjahren zwei alternative Dogmen ab, die sich manchmal überschnei-den, manchmal gleichziehen, sei es durch die konjunkturelle Kraft eines literarisch ma-nipulierten Erlebens, sei es durch freie Lektüre, aber immer und bis zur Obsession damit beschäftigt, sie in Übereinstimmung zu bringen.
Die Lektüre der Evangelien und der alten Hebräer geschah im Falle von Michael T. un-ter väterlichem Druck, oder wenn das zu viel gesagt ist, unter der Anleitung des Vaters und auch eines Theologen-Freundes. Doch als junger Mann in Rumänien wurde T. ein vom Marxismus Besessener, wie er selbst bekennt: „Weltrevolution fällig. Großes Ka-pital und das Unrecht die Armut. Lies nach, kein Reicher ins Himmelreich.“ Daher widmete er sich dem Studium der Klassiker des Marxismus-Leninismus. Und er erinnert sich, wie er Zitate aus den Klassikern „konspektierte“, gefolgt von praktischen Bei-spielen; die Seminarien, wie er später selbst bekennt, erschienen ihm wie Beichten.

TODESSPRACHE

In Wenn die Dinge aus dem Namen fallen wird vom Wort als Grund und Begründung gesprochen. Ausdrücklich wird der „apriorische Charakter der Wörter“ anerkannt. Ein linguistischer Determinismus hemmt die dialektischen Möglichkeiten der Onto-Rhetorik. Die Existenz wird nur noch geschrieben. Sie wird ins Wort ein-geschrieben. Ein fatum der Sprache wird also anerkannt, beklagt „manipuliert“. Das Wort in seiner autonomen, ja autistischen Syntax, löscht, verhindert die existenzielle Syntax und ab-sorbiert ihre Aussageformen für das wirkliche Ding, beginnend mit den Aussageformen für die Zeit. Die Schrift verbietet sich die Wirklichkeit, anstatt sich ihr unterzuordnen. Und so wird sie zum unwiederbringlichen Verlust und verhindert jede Erlösungs-Hoffnung, die als Erstes eine Befreiung von sich selbst wäre.
„Worte, Worte, Worte“, darin bestehe die Sünde der Autoren, in etwas Grundsätzli-chem, der Wort-Zeit also! Das Wort ist so nur noch vermittelndes Zeichen, nahe, ab-strakt, obwohl es zur Annäherung, zur Verkörperlichung und zur Konkretheit geeignet wäre, freilich am besten in dichterisch-fantastischen Worthof-Weisen.
Doch immer ist das Wort abhängig vom Selbst, das es begleitet und beherrscht, indem es seine Befreiung verhindert. Und darin besteht auch seine Grenze, gesetzt von dem es begleitenden und beherrschenden Selbst. Das sich offenbarende Wort kann also nur das autonome Wort sein. Ein Sprechen also ohne Aussagenden oder Sprechenden. Sprache, die eine Kommunion mit dem Transzendenten und zugleich ganzheitlich auch mit der Immanenz erreicht. Und nur so ist das Wort lebendig, gegeben, eingegeben. „Worthöfe“ wären Berührungsereignisse, so der Autor, und wenn er dieses sage, so denke er auch an diesen inneren Dialog und an die Totengespräche, und das ergäbe einen neuen Anhalt-spunkt. Könnte das Wort eine größere Rolle spielen, eine nämlich, die weit über uns hi-nausgeht, anders als nur in einem gefangenen geschlossenen Raum der Imagination?
Die (über) menschliche Natur des Wortes wird „diktiert“ aus jenem Ort, woher die Aus-sage ausgestrahlt wird, in Sinn und Richtung eines Ganzen. In seiner Beziehung zum Sprecher-Selbst erscheine das Wort ständig in einer schwächeren Position, als ihm ei-gentlich zustehe. „Kein Glück etwa oder gar Befreiung. Nur das Stillgelegte ist aufgeb-rochen mit neuen Toten. Und kein Wort ist mächtig genug, das Geschehen in uns zu er-kennen, jene entstandenen Lücken (die die Toten hinterlassen) einzuholen…“ (182)
Die Ohnmacht des Wortes. erscheint sozusagen organisch, physisch, materiell. Die ge-samte Materie des Wortes verliert ihre Energie und Dynamik dann, wenn es sich von seinem Geist entfernt, und „die Worte ohnmächtig werden“ oder in Bereichen, wo Wor-te, Begriffe nicht hinreichen, etwa in Lichtbereiche der Atome. An dieser Todes-Grenze gibt es andere Mittel: Sprache ist da nur ein Hindernis: „Auferstehung bliebe nicht nur der Bibel vorbehalten, sondern ist denkbar auch mit den modernen Apparaten, die ins unsichtbare Tiefengewebe der Schwingungen eindringen; was die Akustik, die Atome tun, Buchstaben vermögen da nicht viel…“ (177). Und es gibt auf dieser subatomaren Ebene keinen Kontakt zwischen dem lebendigen Wort und dem lebendigen Menschen, der auch zu jenem Raum gehört. Aber der lebendige Mensch, der sein Geheimnis ver-gisst, bringt den Fetisch Wort zum Erstarren, und auch das lebendige Wort hat die Ga-be, das redende Menschenwesen, das gerade dabei ist, der wirklichen Existenz zuzuge-hen, zu zerstören, weil es von jener Welt nichts weiß, sie auch nicht ausdrücken kann. Es erscheint hier die Spracheinführung eines Opfermythos, die Begründung eines ver-lebendigenden Schriftraumes durch die Grenze, den Tod. Der tote menschliche Körper etwa wird hier zur Begründung eines erneuernden Wortes, das freilich auch weiter nichts anderes bleibt als Buchstabe: „Dann Mustafa Petre, er ist halb verbrannt, der Körper schwarz, eine große Letter aus einer neuen Schrift, nicht löschbar, rein wie eine Flamme.“ (183) Es ist wie die Metapher einer neuen Zeit. Das Rätsel des Todes, des Überganges, der Grenze, die in Worten nicht auflösbar ist, die Lettre dieses Rätsels, auch des Unsichtbaren hinter dem Körper, fasst die sterile Buchstabenwelt nicht.

Die ungerettete und unrettbare Sprache kannte bisher kein lebendiges Sprechen, sondern nur ein erstarrtes, gefangenes Sprechen im Körper- und Seelenraum, das keinen Aus-gang, also auch keinen Sinn mehr hat, sondern nur eine Art Ephemeride, eine Rückerin-nerung auf Sprache und nicht auf ein lebendiges Wesen, das nicht nur Körper ist, bleibt. Doch gibt es eine Möglichkeit, in jene „sprachlosen“ Räume zu kommen „Es ist das Prinzip Einsamkeit, ein Abgrund des Autismus, nirgendshin, nur in sich und seiner Sprache kreisen an der Grenze des eigenen Todes, Sinnsuche in der Sprache selbst und ihrem Gedächtnis. Dieses freilich gilt nur für wenige. Sie werden dafür gehasst. Die große Masse funktioniert dazu spiegelverkehrt, die … künstliche Außenwelt, der Schein ist es, der im Kopf sitzt, das simulierte Leben …“(138) Die Sprache verbirgt die Person, sie entpersönlicht oder personalisiert. Wenn sie auf Unsicherheit gebaut ist, wird sie Unsicherheit begründen. Dann kommuniziert sie nicht, sondern kommuniziert nur sich selbst durch „Gerüchte“, einer gewitzten Mündlichkeit. Das in sich selbst Rotieren der Sprache wird so zu ihrem vom Sprechen losgetrennten Eigen-Sinn, ein unter- und un-pragmatischer Sinn, der auf einen unreinen Code, auf einen konnotativen Doppelgänger setzt, der nach einer langen Tradition den natürlichen Code vernebelt, der noch sichtbar, aber eingeengt ist in der freien und befreienden Tiefenstruktur der Sprache (die seelische und ahnende Prozesse spiegelt, also auch dem Totengespräch näher steht!). Es ist der „u-topische“ Ort, vom Autor gesichtet, der sich den Normativen der Ideologie, die gemeinsam mit der Sprache gleich alles kassiert, nicht beugt, vor allem der Ideologie-Sprache nicht:
„Übergreifendes Kontrollorgan war die pervertierte Sprache.
SPRACHE als Spiegel einer verfehlten engen Logik. Die Wurzel liegt tief im abendlän-dischen Denken: Die Schrift war einmal das Fassbarmachen des Unfassbaren. Mit der Zeit schrumpften Unendlichkeiten auf dem Papier. Jenseits davon aber sind die realen Rätsel, die nicht unter Kontrolle zu bringen sind, weder verwaltet noch eingesperrt wer-den können.“ (174)
Nur, dass die Sprache herrscht und so nicht über sie geherrscht werden kann. Das Spiel mit ihr wird immer gefährlich bleiben. „Die Sprache kann tödlich sein.“ Denn die Spra-che gehört nur sich selbst, frei, sogar, sich selbst aufzuheben, im Untergang etwa des „finis saxoniae“ in Siebenbürgen: „Wird Deutsch hier bald nur die Sprache der Grab-steine sein.“ (23) So wie auch sie es ist, die Sprecher und Sprachbewohner wählt, um eine lebendige Verständigung zu gewährleisten. „Die Toten also leben. Sie haben etwas zu sagen. Die Lebenden finden keine Ruhe, die Gewissen schlagen. Der Austausch ist da…“ (183) Die losgetrennt autonome Rhetorik erhebt eine Mauer und schließt sie vor der Zeit. Die rhetorischen Strategien und die rhetorischen Taktiken ahmen die militäri-schen nach, wie es schon Nietzsche gewusst hatte, der übrigens hier zitiert wird: „Eine Armee von Buchstaben…“ Diese macht die Geschichte unleserlich, vernebelt die Reali-tät. Die Klarsicht wird gedämpft von der Sprache, die fatalerweise zur klischeehaften Festlegung neigt, so wie auch das Gefühl eine vorbestimmte Neigung hat, den aktiven Vorgaben des Ichs zu folgen. Der Freiheit, dem Widerstand gegen die Ideologie und den repressiven Staatsapparat bliebe dann nur der Weg einer (trans-)linguistischen Eks-tase, um Sein und Seiendes jenseits des Rückgriffes auf Sprachfiguren aufhellen und anders feststellen zu können. Die Möglichkeiten des Scheiterns und die Auswege aus dem rhetorischen Labyrinth werden selbstbewusst ausgedrückt: „Doch immer nur Me-taphern, Topoi umkreisen dieses Phänomen, das nicht direkt zu zeigen, nicht aussagbar ist. Freiheit bleibt in letzter Instanz Zeit- und Systemfreiheit. Loslassen wie bei einem meditativen Vorgang, Transzendenz jenseits der sinnlichen Gefängnisse.“ (55) Die Re-Volution aber macht diese Transzendenz erlebbar: „Viele Freunde und Bekannte konn-ten jenen Augenblick der Massenerhebung nicht anders beschreiben als mit Begriffen wie „Angstlosigkeit“, „Inspiration“ und „Ekstase“, ja, mit „Wahnsinn“. Es ist eine Ta-bula rasa, eine Re-Volution, Abwesenheit all dessen, was bisher mächtig und wichtig schien. Ein sich ins Absolute verwandelndes Heimweh kennt jeder, es ist die Substanz des Fehlenden, wird auch als Metapher „Gott“ bezeichnet. Es ist die Hohlform unver-zichtbarer Hoffnung, seiner noch nirgends erkennbaren Gestalt.“ (74)

NAMEN LOS

Die Erfahrung der Namen-Losigkeit, der Verwirklichung oder der Vereigenständli-chung der aus dem Namen gefallenen Dinge, Aufhellung ihrer „Eingeschriebenheit“ in eine andere Zeit und Dauer als Krise, sei diese persönlich, oder eine Krise von ganzen Völkern, ist erreicht und erkannt: „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen, wird nur der gedachte Zusammenhang zerstört, eine andere Zeit ist da.“ (11) Doch dieses bleibt eine ungewöhnliche Situation, vor allem für einen Schriftsteller. Die Schrift realisiert sich in der Utopie (im Erwartungsimpetus) oder im Topos, indem sie sich der persönlichen Selbstreferenz anpasst. Sie ist somit normal. Doch was passiert beim „Zusammenbruch der Weltbilder… mit dem sich leben ließ… ein langsamer Prozess, den die Revolution vorbereitet hat. Bis hin zur Verzweiflung am Schreibtisch, dass jede Zeile in der Luft hängt, von nichts beglaubígt wird.“ (11) Die Schrift bleibt dabei kalt und souverän, ab-sorbiert alles, macht alles zur Gestalt, erbringt eine „Realität“ der Genügsamkeit und den Schein des Kompletten; aber wie der Autor feststellt, „du denkst, schreibst, doch lebst du nicht, was dir entgeht, ist ja gerade ,das Leben’, „auch beim Schreiben schieben wir ja den Tod, das Leben auf, dabei vergeht es trotzdem…“ (179)
In einer Diktatur jedoch wird das Schreiben nicht mediumartiges Erleben der Verbin-dung zur ebenbildlichen Selbstmimesis, sondern eingegrenzte kontrollierte und manipu-lierte Imitation in einem zwischen-sprachlichen Krieg künstlicher und verfremdender Idealisierung. Die Sprache ist nicht mehr „das Haus des Seins“ (Heidegger), sondern Schützengraben einer fremden Macht. Eine minimale Rettung ist dann möglich, wenn das Rhetorische fähig ist, die Register des Diskurses zu verschieben, etwa – in gelunge-ner Dosierung – den Pathos in Lächerlichkeit zu verkehren. „Irgendwie waren Schrift-steller Parodien eines Diktators, der sich auch mit Sprache verbarrikadierte.“ (41)
Das Schreiben selbst übernimmt die Funktion des Sprachbewohners. Der Sinn des Sprechens als Anti-Absenz, Traum, Zufall, Koinzidenz, Energie, die uns übersteigt – wird in „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ am Ende des III. Teils, Kapitel 11, erklärt und würde verdienen, viel aufmerksamer untersucht zu werden: Die Beherr-schung der so ausgesprochenen Zukunft durch Aus-Sprechen der Zeit als Illusion. Das Leben wird so überschwemmt vom Tode (Grenzerfahrungen), durch eine neue Kosmo-gonie – aufgrund eines neuen Kontraktes mit der Natur. Die Geschichte, die Wissen-schaft und vor allem die Literatur und Kunst entstehen auf neuen (Ab-)Gründen neu, die einer perspektivisch selbst vereinigenden Poetik entsprechen:
„Literatur, Kunst werden zum vorgreifenden Erfahrungsfeld und Brückenbauer jenes Neuen im ,Tun, was geschieht’, also im sorgfältigen Aufzeichnen jener Einbrüche aus einer Gegend des ,Zufalls’, die eine Gegend ist, wo beide Erlebnisfelder (bewusst-unbewusst, Traum und Tag, Begriff, Metapher, Diesseits und Jenseits) nicht mehr ge-trennt sind, wie sich schon bei Dante nachlesen lässt.“ (86)

1. ERZÄHLER

DER AUSGEWIESENE

Die bestimmende Bedingung des Erzählers ist die eines Ausgewiesenen (in doppeltem Sinne). Er weiß, dass er einer von jenen, gar nicht so wenigen ist, die der Verbannung ausgesetzt wurden. Ein Teil der Ausweisung ist der Abschied, der in geschlossenen to-talitären Welten ein Privileg ist. Daher ist er auch verführt, nur diesen zu sehen. Und manchmal erkennt er auch an, dass er sich eher darüber freuen müsste, von IHNEN, dem politischen Polizeiapparat, der Partei mit ihrem verlängerten Arm, der Securitate, vertrieben worden zu sein.
(…)
Der Ausgewiesene – Un exclu pensif pour sa patrie (V. Hugo) – entwurzelt, landlos, ist zur dauernden und raumlosen Einsamkeit verdammt, und wird erkennen, dass er nicht mehr er selbst ist. Sie haben ihn in etwas anderes verwandelt. Die Vaterlandslosen leben nicht nur in einem „Jenseits“,. sie leben auch in einer geschlossenen und unnatürlichen Welt. Für die einen wie für die andern wird die sichtbare Heimat, unmittelbar oder nur im Gedächtnis zu einer Unbekannten oder zumindest zu einer nicht Wiedererkennbaren. Alle waren sie gezwungen, eine weder irdische noch paradiesische, eine Zwischen-Welt zu bewohnen. Und wurden so zu Sprachbewohnern einer dritten Zone, einer U-Topie, die sich auf dem Weg befindet, universell zu werden. So stehen auf der einen Seite jene, die die „Vaterländer konfiszieren“, auf der anderen Seite aber die vielen Betroffenen. Dieser Zwischenpol wird vom Erzähler durch einen Topos umschrieben, einer Metapher der Ungewissheit in einer Grenzzone, ausgedrückt und festgehalten als Unbestimm-theits- und Unsicherheitsfaktor: „Dort, wo wir uns alle befinden, also sehr weit draußen und an einer extremen Grenze.“
Der Autor des Tagebuches lebt auf den Hügeln der Toskana, in einem Weiler mit nur zehn Häusern, unter Menschen, die Oliven und Kraut anbauen oder Schafe züchten und Weiden haben. Dort gibt es noch einen rustikalen, isolierten, natürlichen und von jeder Korruption freien Raum, ein idealer Fluchtort für eine Sensibilität, die begierig nach Natürlichkeit ist. Was übrigens in diesem Raum eine notwendige Bedingung zu sein scheint. Und auch nicht zufällig offenbart der Erzähler, dass in diesem toskanischen Dorf vor nicht allzu langer Zeit Eletta lebte, eine neunzigjährige alte Jungfer, die sich weder von ihrer Kindheit, noch vom Boden, wo sie geboren worden war, getrennt hatte. Als bekannte Hellseherin war Eletta „eins mit der Natur“. Hier also gibt es die mythisie-rende Lebensbedingung, die auch T. ersehnt hatte. Doch er bleibt hier nur ein Fremder, ein Entfremdeter. Die Zeit, seine Lebensexistenz wurde unterbrochen, gebrochen.
Er ist hier fremd, doch nicht als Einziger. Und ist nicht gerade einsam und allein. Er hat letztlich einen multiethnischen Raum gewählt, bewohnt von wenigen, doch sehr unter-schiedlichen Menschen: Neuseeländern, Engländern, Amerikanern, einem Prager, einer Triestinerin. Er hatte nach nur drei Jahren Deutschland verlassen, um eine Existenz der freien Wahrnehmung zu finden. Die Vaterlandslosen können sich noch mit und in sich selbst wiederfinden, ihre eigenen Wurzeln, die die eigenen Sinne sind. Frei geworden, können sie den Traum eines Lebens ohne Tod beginnen. Hier in C. erfährt T., wie die Toten durch den Traum wieder ins Leben zurückkehren. Aus der Kindheit erinnert er einen nächtlichen Traum-Flug. Jener, der sein Vaterland verloren hat, optiert nun für ei-ne Ordnung des Mutterrechts, und dieses mit dem Wunsch, den eigenen Archetyp, des-sen Wurzeln wiederzufinden. Und hier in C. ist tatsächlich die wesentliche Ordnung ei-ne matriarchale Ordnung.

„ICH, DER FLÜCHTLING“

Dieser untergangsgefährdete Mensch trägt die Kulturobsession als große Leiderfahrung in sich. Er ist nur vage begeistert von den Erleichterungen, die sie ihm beim Vergessen der Bitterkeiten im Exil bringen könnte. Er ist im Grunde ein Schriftsteller, also jemand, der ein „Handwerk“ ausübt, das in einer Welt exklusiver Nützlichkeitszwänge schwer einzuordnen ist. Er ist vom Laster oder der Krankheit des Schreibens befallen. Und das Schreiben von Literatur ist, jedenfalls was ihn betrifft, befreiende thaumaturgische Pra-xis seiner vielfältigen Ichpersonen. Im Prinzip ist er gespalten in den anonymen Erzähler und in die Figur Michael T.
Indem er sich in seiner Schreibtätigkeit auf seine Spaltung Erzähler-Hauptperson be-zieht, erklärt er, warum er sich Michael T. „erfunden“ hat. Und zwar deshalb, damit ihn dieser im Text vertritt. Die Spaltung oder die Verwandlung des Erzählers in die Figur erweist sich als Erzählstrategie eines Menschen, der so versucht, seine Jugend wieder-zufinden. Doch die Figur beherrscht dann ihren Erzähler. Sie verwandelt ihn in ihren äußerst unruhigen Sklaven, der von der Schreibdynamik des Textes, wo Seite um Seite gefüllt werden muss, wie besessen erfasst wird. Die sinnlich-textliche Nostalgie ist ein Kampf mit der Leere, die unaufhörlich mit Sprache gefüllt wird, und mit dem Chrono-top der Tinte, sowie dem Bewusstsein, dass die Heimkehr ein weißes Blatt ist; so heißt auch ein Kapitel des Romans.
Dies Bewusstsein der Persönlichkeitsspaltung bleibt als Trauma konstant und hell-wach. Das Ich, „das sich selbst in der dritten Person anspricht“, behält so die eigene Kindlichkeit. Und auch die Paranoia, wissend, dass es so handelt, wie es „nur Kinder und Irre tun“. Ein unzerstörbares Ich vervielfältigt sich nur, um sich gegen die immer drohende Entropie des Verschwindens zu wehren. T. zeigt es an, wenn er sich auf die innere und „feuchte“ Unordnung bezieht, die er als eine Art Lähmung fühlt. Er zieht dieses dem Zustand eines Wesens vor, das der Wahrnehmungs-Entropie ausgeliefert ist, und zwar mit allen Sinnen.
Nicht einmal die Idee des Paares, so scheint es, wird akzeptiert. Eine Art Philosophie der Einsamkeit des Paares legitimiert ontologisch etwas, was von einer ganzen Literatur abgelehnt, analysiert und moralisch dramatisiert wird: „Das Leben setzt die Fähigkeit einer Einsamkeit zu zweit voraus.“ T. glaubt, niemandem anzugehören, nicht einmal der Frau seines Lebens, es ist in seiner narrativen Präsenz: Jann.
Das Ich, das er anerkennt und das er präsentiert, beschreibt sich selbst als „Ich, der Flüchtling“. Er ist eine Art Wortbewohner und Ersatzich, nicht aber wirklicher Bewoh-ner eines wirklichen Ortes, immer in einer ungewissen und paradoxen Lage: Der fremde Einheimische und der einheimische Fremde. Die begangenen Taten werden von ihm manipuliert. Er gehört keiner Welt an, nicht dem verlassenen Osten, und auch nicht dem von ihm nicht anerkannten Westen, und er ist letztlich überall dort unbekannt, wo er nicht bleiben wollte. Bei der Wiederbegegnung mit seinem alten Freund Dima in S. bringt er in den konzentrationären Raum des Ostens ein jämmerliches und ablehnungs-würdiges Bild des Westens. Der Westen sollte gesehen werden als eine künstliche Welt, eine andere Art von Haft, naturfern in ihrer Substanz. Der Flüchtling und Emigrant hat dort eine andere Art von Illusion entdeckt, eine ungerechte Menschengesellschaft, die auf unnatürliche Weise ökonomisch polarisiert wird; der, der die Macht hat, nährt die Furie der Aufrüstung, um jene Welt zu erhalten. Das Leben ist für ihn anderswo, jeden-falls nicht in dem Sinne atrophierenden und den Sinn verwirrenden Westen, in einer Existenz des angeblich freien Konsums, die eher die eines Konsumzwanges ist. Und all dieses wird Dima, dem Freund, gegenüber geäußert. Es entsteht das Bild eines Okzi-dents der fundamentalen Mängel, feindlich gesinnt einem Emigranten, einem, der krank vor Heimweh ist und der es vorziehen würde, in einem Vaterland, das er als ein wieder gefundenes sieht, zu hungern.
Dima wird dann sagen, dass sie, die weggegangenen Sachsen, sich nicht befreien kön-nen von einer krankhaften und verrückten Sentimentalität. Wie eine Person aus einer Erzählung von W. Saroyan sei er ein armer Sachs, verbrannt von Sehnsucht.
Die tiefe innere Rührung ist bei T. natürlich und zugleich literarisch. Er, die zwischen-textliche Figur, bekennt einmal: „Aber du bist ja nichts als ein Zitat.“ Und er rechtfertigt sowohl seine Zerrissenheit als auch die ungewöhnliche Harmonie, die ja eigentlich nur literarisch ist, durch eine Idee, die er aus Dantes Convivio übernommen hat, nämlich die Seele, die ohne Gott seit der Geburt oder der Umstände wegen neben sich selbst leben müsse.
Einsam, aber vom Herdentrieb bewegt, Voyeur, auch besessen von erotomanischer Fantasie, unscharf als Person, auf einer barocken Linie und in Richtung des Postmoder-nen, schwankt Michael T. zwischen Klage und Lächerlichkeit, mit einem kleinen Ruhe-punkt am Ort der Bedingungen eines romantisch Verfluchten. Als ein, wie er selbst sagt, unangepasster Schlemihl Er weiß mit Sicherheit, dass er kein „Verlorener Sohn ist, sondern ein vom Schicksal Geschlagener. Geschlagen auf jeden Fall.“
Hier würde ich anmerken, dass vor allem ein Dialog mit dem Gewissen stattfindet oder ein Dialog mit einem gespaltenen Bewusstsein und verteilten Rollen: Jener, der fragt, und jener, der antwortet. Das überfiktionale Doppel wird ironisch und pathetisch gleichermaßen. Die Ironie betrifft auch den von ihm „gemachten“ Text, sie ist hier die grundlegende rhetorisch-poetische Stilfigur. Durch Ironie wird auch der Antrieb zu „schriftstellerischen Hochleistungen“ behandelt, sie sind aber jämmerlich, solange alles im dünnen „Regenwasser“ des Schreibens stattfindet. Die Ironie macht die Rhetorik immer narrativ. Das Pathetische festigt die Ontologie der Erzählung. Nur ein zweideuti-ger oder doppelsinniger Text, der sich von sich selbst lossagt, entspricht einer scheinbar überall und nirgends seienden, aber faktisch utopischen Existenz. Ein Mensch, der aus seinem Vaterland vertrieben wurde, der also nirgends zu Hause ist, kann diese wesentli-che Absenz mit einem Geisterwesen füllen. Und dieses ist nun eben diese Hauptperson und ihr Doppel Michael T., der sich mit unersättlicher ironisch-pathetischer Verve auf die Suche nach einem glaubwürdigen Grund begibt, um zu erklären, warum das so und nicht anders ist. Dem inneren Monolog sind dabei keine Grenzen gesetzt. Und der Er-zähler, der diese grenzenlose Befragung zu begründen versucht, zögert in einer dieser Begründungen nicht, zu erklären, dass ja auch die Toten befragt werden müssten.
Die Welt hat ein Bewusstsein, doch auch dieses ist angreifbar und unsicher. Dieser Ge-danke ergibt ein erhöhtes Maß für die Grenzen des Flucht-Ichs. Ausgehend von den früheren Reisen ins nahe Mediasch bis zum kleinen Bahnhof von Viareggio. Und das Gedächtnis, das vor allem familiäre Szenen – aus der Hitlerzeit, den Lagern, der russi-schen Anwesenheit im eignen Zuhause, dem Widerstand der Partisanen gegen die Rus-sen und gegen die Securitate, erinnert, erweist sich als trügerisch.
Eine mögliche Übergangs-Rettung, den Umständen angemessen, könnte vielleicht in der wie eine Turbine wirkenden Ich-Selbstwahrnehmung bestehen; Energie, also sich selbst erzeugender Glaube, diskursiv und dem Wesen verbunden, in seinem bedingten Sein als eine Kreatur, die fähig ist, kreativ etwas zu gründen und zu erzeugen: „Du verwandelst dich“, meint Michael T., „in jenes Ding, an das du glaubst.“ Der onto-rhetorische Ausgang aber ohne Himmelshilfe bleibt für ihn, der durch eine strenge puritanisch-protestantische Erziehung gegangen ist, dann in ihrer Verwandlung in die marxistische Ideologie als letzte Lösung. Und nach der Entdeckung der Existenz von Kon-zentrationslagern quittiert T. den nun verlorenen Glauben und die verlorene Hoffnung mit furchtbaren Worten: „Gott ist tot, Gott war der Tod.“ T. wird weiter leben und sich mithilfe der Schrift (als Verweser) selbst annullieren, aber auch in der Verve, Toten-stimmen aufzurufen und anzurufen, in einem grenzenlosen Dialog, der alles Bisherige sprengt, gut dazu geeignet, die Toten zu erwecken. Und er ist damit einverstanden, dass diese dann alles umfassende Utopie von einem alles begründenden Nichts überflutet wird. Der Diskurs macht einen letzten zwischentextlichen Rückgriff auf den fragenden Menschen: „Höret mich, ich komme vom Berge, sagte Zarathustra, der Mensch ist ein Nichts zwischen zwei Fragezeichen.“

2. ONTO-RHETORIK

DIE FIKTION: EINE DIKTATUR DER SPRACHE

Wenn die Dinge aus dem Namen fallen ist ein Buch an der Schnittstelle mehrerer Gat-tungen und Stilarten, und dies in der Absicht, das Gesellschaftliche in drei repräsentati-ven Hypostasen oder Hypothesen zum Thema zu machen: Die Liebe, den Tod, die kol-lektive Revolte. Der Raum ist entscheidend für die irdische Existenz, der einzige hier, der obsessiv wird und in dem der Bewohner auch den stellvertretenden Sprachbewoh-ner, wie ich mehrfach betont habe, enthält. Am und vor Ort geschieht, auch wenn wenig geschieht, alles. Die Zeit spielt wegen ihres unklaren und ungeklärten Ablaufs eine se-kundäre Rolle und hat einen sekundären Sinn. Der Ort und die Zeit-Spur drücken allem ihre markanten Eigenschaften auf. Die Zeit verwischt die Markierungen in Richtung ei-ner verstörenden, aber faszinierenden Streuung abfallender Felder. Der Ort wird gese-hen, die Zeit aber unsichtbar empfunden. Für den vertriebenen und wandernden Pilger aber wird der Ort zum Zweck und Ziel. Die Zeit zeigt sich wie in einem Kaleidoskop. Der Raum fixiert die Markierungen der Beschreibung, die Zeit die der Erzählung. Die Beschreibung verleiht dem Außen Kontur, sie kann das kontemplative Innere nicht un-bewohnbar machen, das von der Zeit gestaltet wird. Daher erhalten wir solche begren-zenden Betrachtungen: „All dieses ist in uns, ich kann es nicht beschreiben.“ (30) Be-schreibbar, auch literarisch, bleibt vor allem das mitgeteilte Erleben. (7) Die Zeit gleitet gleichermaßen unberührt über das Soziale, Historische, Mythische, Rätselhafte hinweg. Diese drücken aber die Zeit aus, und gleichermaßen modellieren sie auch den hybriden Diskurs des Buches, indem sie unaufhörlich vom Faktischen, Dokumentarischen bis zum Fiktionalen (G. Genette) dessen Formen verändern, und dies im Laufe einer be-schränkten Zeitdauer. Man hat von der Zeit, die zum Umsturz in Rumänien führte, ge-sagt, es sei „ein Wunder“ gewesen. Und die Geschichte nahm darauf hin sehr schnell die Gestalt des Mythos an: „Die Revolution von 1989. Heute fast ein Märchen.“ (1). Der Mythos erscheint beschädigt und wie verdorben., denn das Ästhetische wurde wie ein Wrack versenkt durch das Ethische, entsprechend der Art des Ortes und des Genius Loci. Eine krankhafte Dialektik löscht die Identität, annulliert die Differenz zwischen Fiktion und Realität. In der Sprache der ideologischen und ethischen Aussage annulliert die balkanische Lügenhaftigkeit die Differenz zwischen real und irreal. Auf dem Weg vom Physischen zum Metaphysischen nehmen in Rumänien die Prozesse oft die Form einer manipulierten Farce und des Verdrängens an. Die gewohnte Erfahrung liegt dann unter dem erwarteten Ereignisverlauf. Es ist eine Erfahrung der Kontinuität, die unfähig zur Diskontinuität ist.
Die Realität ist von der Wissenschaft „gemacht“, die ihr begegnet und in ihr „explo-diert“, sie ersetzt sie durch das Bild als Alternative zur Realität und zur Simulierung der Realität (J. Baudrillard). Das Bild und seine Magie triumphieren über die Realität. In den Sendungen über den Golfkrieg, so verzeichnet es Baudrillard, annulliert das Bild die Realität.
Auch in der rumänischen Dezemberrevolution von 1989 hat das Fernsehen die Revolte nicht nur geführt, sondern auch manipuliert. So kam es zu dem unvermeidlichen Betrug der Medien, vor allen Dingen auch, weil ja schon vorher der Informationsmarkt zum gegeninformativen Monopol des totalitären Staates geworden war, sodass im „Osten In-formation schon Revolution war“.
Das Reale ist ja schon an sich Zeichen. Die Philosophie Mircea Eliades wird hier über-nommen, der Glaube, dass das Menschenleben und auch die Geschichte selbst nichts als Zeichen sind. Das Zeichen wird „enthüllt“ wie ein nahes Schicksal, das unterschwellig immer (an den Sinn gebunden) mit-gedacht wird. Der Sinn muss auf abduktivem Weg (Thomas A. Sebeok) erkannt werden, und dafür ist eine transzendierende Kraft notwen-dig, eine „Intuition des Sinnes“. Das Unbeschreibliche der Innenwelt zeigt eine fremde, befremdende und verfremdende Sinn-Sättigung an. Der Autor drückt dieses so aus: „Zuviel Sinn, der nicht meiner ist.“
Der Autor verteidigt, nicht ohne Pathos, das Gedicht nach Auschwitz. Sogar der Gulag hat es noch möglich gemacht. Er gab ihm eine neue Gestalt, das als Gegenbild und Al-ternative zur Wirklichkeit und sogar zur Irrealität der Geschichte. Alle Mythen werden aufgerufen und eingesetzt, außer dem Mythos des Konkreten, Unmittelbaren, weil die-ser vor allem ein utopischer und zeitloser Mythos ist. Ein akutes und komplexes moder-nes Bewusstsein siedelte sich in einem Refugium an – und widerstand der Versuchung, es zu ersetzen.
Zur ideologischen Chimäre, die sich als Realität sah, war die dichterische Alternative eine parallele Wirklichkeit, die sich ebenfalls als Chimäre ansah. Eine Metaphysik des Immanenten garantiert den poetologischen Kompromiss: „Gute Zeiten für Poesie“. Je-doch nicht außerhalb der Sprache. Heidegger wird zitiert, für den sich nur das ereignet, was als Sprache existiert. So rettete sich ein besonderer und paradoxaler Neomodernis-mus, der von der Selbst-Verurteilung zur Selbstblockade alles in einen verschiedenarti-gen Kontext verlegt, der darauf angelegt war, attraktive Spuren zur Prüfung und Unter-suchung in einer neuen Perspektive zu legen: „Die Poesie aus dem Osten ist so herme-tisch geworden und hat sich in ein Versteckspiel mit der Metapher verwandelt.“

DAS RHETORISCHE WESEN

Michael T. ist ganz und gar ein Wesen, das ich als rhetorisches Wesen bezeichnen wür-de. Wir könnten unter dem rhetorischen Wesen ein Wesen verstehen, das zur Kommu-nikation und vor allem als Zeichen-Wesen vorbestimmt und dadurch gezeichnet ist. Ein Wesen also, das geradezu zur Kommunikation verurteilt, zu einem Gefangenen der Zei-chen (Lettern) wird, in jedem Fall den Worten unterworfen ist. Und dies bis zur Auslö-schung durch Entpersönlichung.
Alles, was eine Verständigung mit Worten betrifft, steht ihm nahe. Und alles, was jen-seits der Worte, aber allzumenschlich ist, bleibt ihm eher fremd. Für Jann, seine Ehefrau, ist das ein Horror, und sie ist kaum geneigt, seine so geartete menschliche Natur anzuerkennen. Jedenfalls erkennt sie in ihm einen Mann jenseits der Normalität, der ge-neigt ist, sich selbst auf ein Wortwesen und auf eine Art Sprecherexistenz zu reduzieren. „Du bist krank, ein Mann aus Wörtern., da packt einen das Grausen.“
Doch als rhetorisches Wesen fühlt sich Michael T., anders als erwartet, gar nicht wohl, gar bequem in seiner (Sprach-)Haut. Die Ontologie der Worte hemmt ihn, und er sieht darin nicht ungezügelt eine unbegrenzte Freiheit. Das Unpersönliche des rhetorischen Wesens ist weit davon entfernt, ihn so frei zu machen, damit er sich bei sich selbst gut fühlen könnte. Ganz im Gegenteil, er ist davon beengt und eingeengt. Das Nurgespro-chene ist existenzentleert, da es bis zur Übersättigung aus Zeichen besteht. Jann dagegen ist durchaus nicht eine Frau, die aus Worten besteht. Sie bewahrt einen genau abge-zirkelten lebensnahen Status. „Und ich habe ihr alles vorgesagt, im Buch sei alles er-funden, auch sie, Jann, sei eine völlig zusammengesetzte Person.“ (343) Paradox in ih-rem Fall bleibt, dass sie, obwohl sie eine zusammengesetzte Person ist, doch die ers-taunliche Fähigkeit hat, mit den andern zu kommunizieren: sie ist natürlich und genau.
In ihrer Verständigungsfähigkeit hat Jann nichts von einem barocken Wesen. Alles, was sie sagt, hat schon einen vorbestimmten Sinn. Für sie ist das Gesprochene niemals ir-gendwo im Jenseits oder autonom. Jann ist nicht wie Michael T., ein Kommunikations-Medium. Doch sie wird zu einer Akteurin, einer Handlerin. Und dazu noch eine volle Beherrscherin des Existenziellen, der lebensnahen Ordnung, wenn nicht gar eine Mani-pulatorin des Existenziellen, und vor allem der menschlichen Kreatur durch ihr Wort. Ihr Paradox besteht darin, dass eine zusammengesetzte, also weitschweifige Person, zu einer Person wird, deren Wort gilt, die Autorität hat, wenn sie spricht, deren Wort je-doch nicht nur als glaubwürdig angehört, sondern auch befolgt wird. Und diese ihre Be-gabung verwundert und beschäftigt vor allem Michael T. fast neidisch, nämlich mit welcher Natürlichkeit es Jann gelingt, auch im Dorf mit den Leuten zu reden. Und er fühlt sich als ein Hinausgeworfener und muss auch hier beiseite stehen, niemand spricht ihn an, niemand sieht ihn an, immer nur Jann wird angesehn. Sie ist so die „Angesehe-nere“.
Solange er schreibt, hat Michael T. die Gewissheit zu leben. So viel Schrift, könnte man sagen, so viel Leben. Verhaftet vor den Augen von Maria, im Gefangenenstatus ge-zwungen, immer wieder seine Biografie zu schreiben, fühlte er sich nicht als Gequälter, so wie viele Gefangene des GULAG. Auch dort schreibend, meinte er, angeschlossen zu sein an das, was ihn eigentlich ausmacht. Und zwar in der Aussage, das schreibende Ich zu liefern. Auch wenn er dieses unternimmt, tut er es sibyllinisch und als Mysterium aus großer Distanz zur verborgenen oder gar zum Verschwinden gebrachten Realität: „Buchstabhochsprung.“
Das Schicksal, die homerische aisa: Vorhersage, fari, fatum oder Hasard, fortuna – hat hier eine buchstäbliche Bedeutung, verpflichtend wie eine Verurteilung und wie im Se-fer ha-Zohar. Michael T. ist der Überzeugung, dass es die „hebräischen Buchstaben sind“, die unser Schicksal bestimmen. Die Notwendigkeit oder die Chance steigt durch die Sprache herab bis zu den Buchstaben. Das rhetorisch Buchstäbliche erhält das exis-tenziell Buchstäbliche. Auch wenn in der totalitären Welt der Gulage „das Schicksal ei-ne Kaderakte sein könnte“, der rettende oder auch der vernichtende Buchstabe entschei-det immer den zu verfolgenden Weg.
Wenn der Buchstabe Notwendigkeit verkörpert (fatum), ist das Wort Zufall (fortuna). Adam, eines der wichtigsten T.s Initiativen beeinflussenden Vorbilder, plädiert so für die hebräische Kabbala. Adam sieht in den Buchstaben Körperformen, die den Lebens-atem enthalten. Drei Buchstaben, Pe, Kaf, Jod, stehn für die Organwelt, die aber für das unfertige Mängelwesen, die Kreatur Mensch, unerreichbar, unmöglich und äußerlich bleibt. Weil dies Mängelwesen begrenzt und reduzierbar auf einen einzigen Buchstaben, Kaf, bleibt, wie Adam glaubt. Und das, obwohl Michael T. behauptet, auch er habe eine Hand im Mund, nämlich durch die Zunge. Adam rät Michael, er solle keinen (Sinn-) Buchstaben überspringen und sich nicht auf das chaotische Terrain der Nur-Worte eines unerkennbaren Sinns, also des Zufalls (fortuna), begeben.
Die buchstäbliche Transzendenz, die als ontologischer Fehler bewertet wird, würde die fatale Körperlichkeit der Schrift ignorieren. So den Worten hingegeben und verfallen, setzt sich Michael T. dem Zufall, auch dem aleatorisch willkürlichen Zufallsspiel aus, die nichts anders sind als verschiedene Seiten der Entfremdung:
„Adam sagte mal in der Bibliothek, er las im Gersholm Sholem: Schau dir den hebrä-ischen Buchstaben Pe an, sagte er dort unter der Leselampe, da ist ein Kaf, das Ge-schlossene, der Mund darin ein Jod, Zunge oder Hand. Das Diesseits und das Jenseits verbinden sie. Du aber hast nur den Mund. Wozu Worte machen, die wie zufällig sind, irgendetwas bedeuten, weiter nichts. Und dies gilt nicht nur beim Sprechen, mein Lie-ber, dies ist der Zustand deines Lebens jetzt, Herr Pessach. Das könntest du nur über-winden, wenn du die eingeschriebene Schrift, das Kind in dir, als die immer gegenwär-tige Ausnahme vom Gesetz des Körpers erlebst!!“ (370)
Der Erzähler bezeugt die Schreibbegabung Michael T.s, die gleichzieht mit dessen exis-tenziellen Bestrebungen. Und nur wenn er schrieb, kam wieder Hoffnung in ihm auf. Das Schreiben beseelt ihn, genauer: es vergeistigt ihn, indem es ihn in eine ontologische Transzendenz hinaufkatapultiert und die opake biologische Lebensbedingung vergessen lässt, ihn so vom Nachteil geboren zu sein, wie Cioran definiert, befreit. Denn, so T., „wenn ich schrieb, wurde mein Körper wieder transparent“.
Die Buchstabenzeichen verkörpern, verleihen den Wesen Leben, während sich das Schreiben der biologisch oder als Bücherkreatur Verkörperten entledigt, der Körper müsse verschwinden, wie auch der Körper der Bücher. Das Schreiben vernichtet, bringt Erstarrung. Aber der Tod wird identisch mit einer „in den Körper eingeschriebenen SCHRIFT“. Diese Tatsache gilt nicht nur im Fall von Michael T., denn der Erzähler be-zieht sich auch auf die Opfer und auf das mit dem Leben bezahlte Schreiben der Ermor-deten von Plötzensee.
Es bleibt nur das Überleben durch ein Sich-Entfernen. Abschied zu nehmen heißt, den Tod jenseits der Buchstaben, durch Worte, in eine vollkommene und ewige Existenz (einzu-)schreiben. Anders gesagt, in das Göttliche im Leben: „Der Gott als Tod, die Schrift als Exil.“ Ein Kapitel trägt die Überschrift Verhaftungen. T. erlebt die Sprache als Exil. Und ein anderes asymmetrisch dazu: Die Heimkehr ist ein weißes Blatt.
So also ist die Sprache nicht die Hüterin und Unterkunft des Seins, sondern, indem sie es verlässt, befreit sie es. Doch es ist ein seltsames, nicht menschliches Privileg, Michael T. stellt es fest, als er bei seinem Hund, Floh genannt, entdeckt: Ein seltsam nahes Wesen, auch ohne Sprache…
Ich würde aber anmerken, dass der wichtigste Chronotopos, also die „Raumzeit-Gesetzlichkeit“, die die Bedingungen der Möglichkeiten der Erzählung festlegt, einer der Schrift ist. Der Weg des Rhetorischen ist ein Weg, der den Tod auf den Fersen hat. Es gibt einen Schreibenden oder einen symbolischen und konventionellen Sprecher, und das ist der Erzähler, doch niemand kann den passiven Zustand überschreiten, der von den aktiven Bewegungen der Aussage beherrscht wird. Weil Michael T. diese Bedin-gung anerkennt, sagt er zu Jann: „Ihr seid mit mir zusammen im Satz gefangen, während der Tod unterwegs ist.“
Für Michael T. existiert das Leben nur als krankhafte Traumart, die von der oneirischen Sprache kontrolliert und beherrscht wird. Oder, um einen Ausdruck von Genette zu verwenden, von der Sprache im Traum-Zustand des Gedichtes. Die Onto-Rhetorik enthält also eine gewisse poetologische Begründung. Alles, nicht nur die menschlichen Wesen, ist der Halluzination unterworfen. Das Leben ist immer ein Buch, doch von Ihm geschrieben.
Der Weg seiner Initiation, der Michael T. gezeigt wird, ist der Ausweg aus den einen-genden Zeichen, da sie die Existenz ersticken. Der „rechte“ Weg, den T. wählt und der ihm eigen ist, ist jener der (Trans-)Kommunikation. Michael T. tritt mit den Toten in Verbindung, von denen er verstreute Sätze hört, die er einmal auch aufschreibt: WIE DU BIST LIES… Es scheint eine umgekehrte Sprache zu sein oder eine Sprache im Spiegel, wie jene, die David John Oates in „Beyond Backward Masking“ (1987) ent-deckt hat.
Doch Michael T. „lebt“ keine angebliche Euphorie des autonomen Schreibens. Und wenn ihn diese Versuchung anrührt, versteht er am Ende, dass er sie ersticken muss. So reagiert er nach dem Dialog mit G., der Jann erzählt wird, nachdem er über dessen Rat-schläge und Hinweise nachgedacht hat, kann er sich wieder besser mit der Realität er-den. Und dieses ebenfalls durch die Vermittlung der Rhetorik, also doch durch die Schrift, freilich einer Schrift, die nach dem Realitätserlebnis käme und nicht ihr voraus wäre oder sie vorprägen würde.

3. ERZÄHLUNG/TEXT
„DIE WEISSE STADT DES TEXTES“

Die Handlung der „Vaterlandstage“ beginnt als Tagebuch mit allen genauen Daten, Ort, Zeit (Jahr, Monat, Tag), skrupulöse Notate, so zum Beispiel: ,Toskana, Montag, 2. Mai’, usw. Die Erzählung führt eigentlich mehrere Tagebücher zusammen, wieder erinnerte Episoden, ausgehend auch vom Nachdenken bei der Betrachtung von Fotografien. Die Erinnerungen wechseln mit der Tagebuchform ab, die sich als allen andern Formen übergeordnete Erzählweise durchsetzt, sie begleitet und sie integriert: „Mein Begleiter ist das TAGEBUCH.“
Erzählung oder Text? Rar sind die erzählten Sequenzen. Der Erzähler berichtet am An-fang über eine Hochzeit in der Toskana. Hermann erinnert etwas später sein Versteck bei den Huzulen-Partisanen, der Schrecken der Russen, vor allem aber die „Organe“ fürchteten ihre Zauberhexen, eine unter ihnen, Vila, war „überirdisch schön“ – und sie wird im Wald ermordet, stirbt in den Armen von Wonthus, eine rührende und tragische Sequenz. Doch Vaterlandstage, Tagebuchroman oder Roman-Tagebuch, muss auf jeden Fall als eine Anti-Erzählung angesehen werden. Der erfundene Autor bekennt es in ei-nem Metatext, und dies mit höchster Klarheit: „Schluss jetzt mit dem epischen Fluss.“(199) Nicht wenige der Sequenzen sind in ihrer Transkription als eine gewollt schwierige Verständigung gedacht, ähnlich wie in Norman Maneas Roman Plicul Negru (Der schwarze Brief) (1986):
„Der Alphatyp will Autos, Kalbsleberwürste, Fernreisen, Karriere. Der Omega muss sich quälen mit Schlaftabletten und Neuro. Wenn er’s wenigstens bis zu Beta bringen würde: Business, Biedermann, Bankkonto, Bügelfalte und Butterküche. Betas sind für Kernkraftwerke und reagieren positiv auf Werbung. Daher Glückstypen. Kappa, Sigma, Gamma – gar Omega –, reine Versager, abgestuft im Unglücklichsein. (203)
Diesen Kategorien von Personen würde ich andere Sequenzen hinzufügen, mit Titeln wie A1, A2, B1, C, wie die auf S. 242.
Im ganzen Ablauf, vor allem aber in einigen Sequenzen, verknüpfen sich zu viele Situa-tionen oder Personen in einer wahrhaft erzählerischen Lawine. Das Lächerlich-Gemachte in einem stürmischen Wachstum schafft sich selbst seine eigene Sinnkontur. Die Erzählung ist integriert in ein inneres Kaleidoskop. Der Satz ist ausdrucksstark und vielsagend in dem der Erzähler T. so charakterisiert wird: Seine „Seele ist gefangen in einer Art Mühle.“ Der Text inszeniert eine Parallelisierung der Verstreuung oder Zer-streuung wie im Schwarzen Brief von Norman Manea, aber auch in Arpièges von D. Tsepeneag.
„Morgensonne blendete damals durch die Äste des Nussbaumes. Morgengeruch. Alles noch selbstverständlich nah wie der Geschmack eines Apfels, wie Wind, Regen, Schnee, Sonne: wie die angewärmte, wie die nasse Erde. August. Schaukel am Batullapfelbaum, dahinter geöffnet ein Schlafzimmerfenster. Durchs Laub und Geäst fielen dumpf die Äpfel. Es war ja Kinder-, also Paradieseszeit, letzte Sekunden. Mutter stand im geblümten Morgenrock unter dem Apfelbaum. Und in der Ferne eine Glocke. Baum-langer Milchmann, klapperndes Kannenblech. Stand neben uns sagte: „Stiţi doamnã – vin ruşii.“ „Kuurt“, schrie Mutter erschrocken, „die Russen kommen.“ Vater kam raus-gelaufen, er hatte keine Pyjamajacke an, der Oberkörper nackt, sein Fleisch rosig und weiß. Sagte der Milchmann: „Im Radio kam´s!“ Und hinter dem schwarzen Bart beweg-ten sich rote Lippen,
kleine Ungeheuer; „im Radio, nachts, der König... seine Rede. An mein Volk.“ Die Erwachsenen flüsterten dann den ganzen Tag. Sie hatten verwapelte, blasse Gesichter und gingen ins kleine Großelternschlafzimmer, um sich zu besprechen. Radio. König. Milchmann. Russen. Umgeschwenkt. Sie glaubten zu träumen. Ist es denn die Möglich-keit? Ein hohes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aussetzen der Zeit... Als wär´s – plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Alles fiel ins Wasser, obwohl alles so geblieben war, wie vorher auch.“ (109)
Nach dem Prolog nach dem Ende, Zusammenfassung und zugleich Vorwegnahme, scheint der Roman mit dem Anfang zu beginnen, auch mit der Absicht, die Chronologie zu beachten. Und ein anregend-belebender Fragmenten-Kosmos erlaubt sich zahlreiche vorwegnehmende Interferenzen. Die erzählende Instanz ist eine Mischung aus Ein-stimmigkeit und auseinanderklingender Vielstimmigkeit, die durch die Spaltung des Tagebuchschreibers in die Figur und umgekehrt erreicht wird. Es sind auch Hinweise auf den eigentlichen Autor, dessen Namen auf dem Umschlag des Buches zu finden ist, vorhanden.
Auch die Erzählperspektive ist nicht einheitlich. Das Spiel mit den Erzählperspektiven gehört zum Stilschatz des Neuen französischen Romans, der die Grammatik des Romans auf allen Literaturkontinenten verändert hat. Die alles wissende und dominierende dritte Person, die dann manchmal fast unbemerkt in die erste hinübergleitet, viel seltener in die zweite Person , sind leicht zu finden.
Der Text wird in einer Atmosphäre des Sprach-Misstrauens geschrieben.
Als Folge zeigt der (Meta-)Text in einem tiefsinnig-schweren Register, hier sogar in einer doppelten Hypostase des Wortbewohners, des Sprechers, der zugleich eine onto-logische Figur ist, an: Michael T. sagt, er habe „kein Vertrauen“ in den Text, in dem er sich gerade befinde! Und viel früher, lange vor seiner Geburt, habe es diese „weiße Stadt des Textes“ schon gegeben.
Die Realität, sei sie nun existenziell oder historisch, bleibt immer eine vor dem Text: Mit Sicherheit und als letzte und ultimative Präsenz ist sie da: die Posttextualität als Realität. Sie erscheint, wie in Wenn die Dinge aus dem Namen fallen als ein Zustand der Ambiguität und der körperlich-thanatischen Ambivalenz. „Und Schwarz auf Weiß mit Hilfe DER SCHRIFT kann der Gerichtsmediziner nun ,beweisen’, dass es Obduktions-narben sind – Text eben!“ (127).
Die inter- und innertextlichen Netze beschreibt dagegen das Roman-Tagebuch. Ich nehme an, dass es sich dabei um eine Romanhaftigkeit des imaginativ-rhetorischen Ge-dächtnisses handelt, des diskontinuierlichen Gedächtnisses, das die Hoffnung auf ein Überleben der Vergangenheit beibehält („Und wenn ich nun die Fiktion der Erinnerung aufgebe, hier mich wieder in C. umsehe: wo ich jetzt sitze: Frühjahr 1985: und auch das als Fiktion erkenne, denn den Augen dürfen wir seither nicht mehr trauen, weiß ich, dass mein Vater damals etwas Richtiges getan hatte [im Krieg]: ein Schwejk geworden war.“) (415) Auch dass es sich hier nicht um ein unwillkürliches Gedächtnis handelt. Obwohl, auch dieses ist hier kaum abwesend. Es ist da, etwa wenn der Veilchengeruch für Michael T. der Auslöser einer Erinnerung an Maria ist, mit der er weiter kommuni-ziert, und das durch eine nichtlinguistische Sprache, eine Sprache ohne Worte, so wie es bei den Toten üblich ist.
Die Reise oder die Aufenthalte werden begleitet von auslegenden Lektüren, und haben zu tun mit einer Schrift, die sie mit einem Siegel der narrativen Grammatik versieht. Das Zitat ist relativ häufig anzutreffen, das die obsessive zufallsbedingte Identitätssuche damit verbindet und ist abgeschrieben, oft mit, oder wie hier, ohne Quellenangabe: „Es ist dem Zufall überlassen, ob das Individuum…“ Denn es scheint so, als wäre das Zitat nach der Abschrift wie angeeignet. Andere Zitate behalten die auktorielle Identität. Das ist der Fall bei den Zitaten aus Cioran über die nicht gewalttätigen Alltagstraumata, die aber ähnlich wie die Zeit vernichtend sind, oder über die Erschöpfung, definiert als Ekstase oder als Letzte Erkenntnis.

4. DIE HAUPTFIGUR

ENTWURZELUNG

Michael T., Siebenbürger Sachse aus Rumänien, wird politisch verdächtigt und verfolgt, dann ausgewiesen und zum Emigranten erklärt, eine Kategorie von Menschen, die in der Ära der Totalitarismen im heißen und kalten Krieg immer größer wurde. Der Lan-desverwiesene misst seinen Zustand an der geographischen Bedingung: Heimatboden, Vaterland, Landschaft, und dann an dem ethnischen, kulturellen und spirituellen Status; die politische Unfreiheit bestimmt das Schicksal dieses entwurzelten Siebenbürgers. Dieses war eine äußere Bedingtheit, umso schmerzlicher, als es ihm nicht gelungen war, von innen her eine Gleichgewichts-Form zu finden, um alles zu ordnen und sich anzu-passen. Der innere Widerspruch, vor allem spiritueller Natur, ist einfacher zu bestimmen. Er ist klarer in seinem Wesen, und so leichter zu erfassen. Auch wenn seine Ans-trengungen, diesen inneren Widerspruch, seine Folgen zu glätten, nicht erkennbar sind, außer vielleicht durch seine Ausweitung ins zum Sammelsurium gemachte Sakrale, das zu einer Unreinheit des Göttlichen beiträgt. Zum theologischen Geist in Beziehung ge-setzt, erscheint die barocke Art von Michael T. wie ein exemplarischer Fall von Nicht-anpassung. Hier bringt das Schicksal eine Verbindung zwischen fatum und fortuna her-vor, des Zufalls mit etwas Imperativem, T. als eine bizarre „unheilige“ Figur, die nach Heiligkeit strebt.
Der „Pitic“, wie ihn Maria, seine erste Frau, nannte, ist zu klein für solch eine große Welt. Er ist ein von den fehlangepassten Eigenschaften geschaffenes, durch seine Natur und Eigenart, wie auch durch die unnatürlichen Umstände ein opfergezeichnetes Be-wusstsein, das den ermunternden Ratschlägen Nietzsches zur Selbstbeherrschung, als Bedingung zur Beherrschung von Welt, nicht folgen kann. Erkenntnis ist bei ihm Gleichgewichtsstörung, Machtfähigkeit und Lebensmächtigkeit gehen ihm so ab, von da kommt alles Zögern und alle Verzögerungen seines Tat-Bewusstseins: „T. ist nicht Herr dessen, was er weiß.“ Wenn für das Barocke die Definition von Eugenio d´Ors stimmen kann, es sei das, was nicht weiß, was es will, gilt für Michael T., dass er nicht in der Lage ist, das zu sein, was er weiß. Dieses ist auch die wichtigste Quelle seines Schuld-bewusstseins, nicht nur ethisch, sondern auch ontologisch und metaphysisch. Eine Schuld, für die er theoretisch bezahlen muss, indem er Schuld, die aus seiner ethnischen Herkunft erwächst, für sich in Anspruch nimmt, und sich als ihr Gegner, indem er sie analysiert und entschlüsselt, so ins Positive mystifiziert. Was einem raren Fall einer transethnisch und mystisch angeeigneten Schuld gleichkommt. Und dies wird nur korri-giert durch die
Pflicht, die der zur Identität gewordenen weiter suchenden menschlichen Haltungsrolle zukommt, in einer Welt, die, um einen Ausdruck von Paul Ricoeur zu benutzten, ge-fährlich selbst beschränkt human, also gottlos geworden ist. T.s neue, als Rolle ange-nommene Haltung bleibt aber weiterhin seltsam und paradox, jedoch schließlich heilend durch den soteriologischen Sinn, der sich auf den gemeinschaftlichen bezieht, und die-ses aus einer nicht nur ethnischen, sondern auch aus der ethischen und metaphysischen Perspektive: „Ein Rumäne bist du nicht, kaum ein Deutscher, bist ein Jude, T.“ (553) Auf diese Art erreicht er, seine eigene Identität positiv zu diskriminieren und so zu ret-ten; der arme transsylvanische Sachs, in dem eine tiefe Sehnsucht nach der heimatlichen Landschaft brennt.
Die exzentrische Art wird von Michael aus der Geschichte der eigenen Familie abgele-sen, und das beginnt mit dem Agnethler Großonkel „Misch“, der auch noch den Namen „Fernengel“ trägt und in dem er den ersten Exzentriker der Sippe erkennt.
Eine widersprüchliche Beziehung besteht zwischen Michael T. und seinem Vater. Ei-nesteils ist diese vererbt, genau bezeichnet und komplex, andererseits wird sie auch durch einen psychoanalytischen Kastrationskomplex bestimmt. Im ersten Fall ist der Sohn beherrscht und geformt von einem Vater, der ihm die Last einer existenziellen Traumbildfähigkeit vererbt, die charakterisiert wird durch eine natürliche Neigung, Le-ben für Traum zu halten. Im zweiten Fall verhält sich der Vater wie ein strenger Jupiter, der die „Präsenz“ des Sohnes einesteils einfach bezweifelt, und doch Bodenständiges von ihm fordert: Von hier kommt ein anderes belastendes Erbe des Nachgeborenen, die. Obsession des Nichts. Dieses Erbe des Vaters wird fast ein Fluch, eine vom Vater ge-schaffene Nicht-Realität, die der Vater dann aber dem Sohn vorwirft, wie der Sohn im Rückblick erkennt, zu Unrecht vom Vater beschuldigt zu werden. Er sieht die Heftig-keit, mit der der Vater ihm Entfremdung und das Fehlen „eines Gefühls der Zugehörig-keit und der Gemeinschaft vorwirft, als Unrecht an, weil sich diese Gemeinschaft ja, abgesehen von ihrer Nicht-Existenz“ schuldig gemacht hat! Der Seinskonflikt zwischen Vater und Sohn verwandelt sich in einen rhetorischen Konflikt, durch den der Sohn eine Art Revanche nimmt. Wenn der Vater dem Sohn das Fehlen einer Gegenwartspräsenz vorwirft, so stellt dieser eine rhetorische Präsenz des Vaters in Frage, ja, entlarvt die-sen Mangel, und nachdem der Vater dann gestorben ist, weitet er dieses Nicht-Sein bis über den Tod hinaus als ironische, nun geradezu fehlende onto-logische Seinsbegrün-dung: „Vielleicht wenn Vater von ,drüben’ spräche, doch wäre das ja auch nur Name, aus einem Wort also? Einem, das es gar nicht gibt, auf dieser Seite also gar nicht vor-handen ist? – Wer sucht?!“ (185)

DIE SACHSEN

Solange der Vater lebte, gab ihm die Mutter das Gefühl, behütet zu sein. Es war mehr als ein seelisches Gleichgewicht, es war die Sicherheit eines Bewusstseins, wirklich da zu sein. Und das war mehr als nur da und präsent zu sein. Die Mutter, die nicht nur die Verschrobenheiten aus der eigenen Familie mit ihren Sonderlingen kannte, sondern es darüber hinaus als ein buntes ethisches Stigmata der Sachsen ansah, sie nennt eine ganze Reihe verrückter Stadtsonderlinge. Die Mutter war nach dem Tode ihres Mannes dann keine Bewusstseinshilfe mehr für T., und sie verzichtete auf ihre außerordentliche Überidentität. Und sie verlor für den Sohn anscheinend auch die frühere Attraktivität, ja, unter dem Einfluss des Vater-„Fluches“ folgte er weiter seiner Sucht nach Abwesen-heit. Vor der Mutter floh er in seine „Bäder des Chaos“ , „verkrümelte“ sich in die vom Vater angezweifelte Irrealität der Präsenz.
Eine partielle Vorform von Michael T.s Art finden wir beim Onkel Andreas, dem 1941 vor Moskau einige Finger abgeschossen worden waren, und der bekannte, dass ihm Musik und Poesie in Auschwitz geholfen hatten, „das“ zu ertragen. Der existenzielle Vatertraum der Absenz und die Kunst haben Michael T geholfen. zu überleben.

FRAUEN

Im Gedächtnis von Michael T., und dies unabhängig von seinem Alter, sind die Frauen anziehende und provozierende Präsenzen. Sie haben keine Bewusstseinsdramen, sie sind eher realistisch, praktisch, und gewohnt, sich egal in welcher Lage zurechtzufinden. Die Tatsache, dass eine von ihnen, die Ehefrau von Adam, Selbstmord begangen hat, ist nur eine Ausnahme. Die Frauen werden von Michael T. entweder als erotische Obsession oder, und dieses geschieht seltener, als existenzielle Lebensobsessionen zitiert. Manchmal bleiben sie einfach nur Namen. So wie es etwa mit T.s Schwester Carmen geschieht, vielleicht die verschwommenste Figur des Buches, ähnlich wie der Doktor Hermann.
Durch die Straßen seiner Jugendzeit in Bukarest flanierend, erinnert er sich an die schö-nen und leichtfertigen Frauen von damals, die es nun nicht mehr gibt. Es geschieht so-gar, dass er die Identitäten der Frauen, die in sein Leben getreten waren, verwechselt. Die Gestalten, ihre Körper, wie verschiedene Sprachen und Schriften, legen sich über-einander und verquicken sich, als würden sie eine Art Erinnerungs-Palimpsest bilden „:..da sagte ich zu Jann; oder wars Ruth, Maria? Eigentlich musste es Mirjam sein…“(444)
Im Geburtsland werden die Paare überwacht, manchmal sogar von der politischen Poli-zei gejagt. Die Eindringlinge erscheinen anwesender als die Partner. Ihre Gespräche un-tereinander werden mit Wanzen abgehört. Ioana Ezel bat Michael T. aus Vorsicht, sie nur zu Hause anzurufen und nicht im Büro. Die Trennungen wurden nicht durch das Feuer der Gefühle bestimmt, sondern durch die Asche der Handlungen politischer Res-sorts. Maria arbeitete in einer gynäkologischen Klinik des ZK der Staatspartei. Sie blieb bei der Ausreise von T. schwanger zurück.
T. erinnert sich an eine alte unerfüllte Liebesbeziehung, und erfuhr, dass die Frau drei uneheliche Kinder in Brettheim, wo Jann ihre Kindheit verbracht hatte, aufgezogen hat-te. Jann, die er in Frankfurt kennen gelernt hatte, träumte davon, wie ihre schwangere Großmutter, ihre eigene Leibesfrucht erstickt hatte. Obwohl es so scheint, als ob diese Todesobsession die beiden, bei Jann das Ungeborene, bei T. die Sehnsucht nach Prä-senz, zusammenbringen könnte, ist Jann sehr verschieden von ihm. Jann hat nicht einmal ein Gefühl der Kommunikation mit ihm, und lebt so, als lebe sie allein, frustriert von durch ihn unerfüllte eher bürgerliche Wünsche. Sie hätte gerne in Mailand oder Rom gelebt.

DIE ZWISCHENTEXTLICHE HAUPTFGUR

Die Beziehung mit einem Schriftsteller bringt Jann der Typologie einer Xanthippe nah. Sie fühlt sich gar nicht wohl in ihrer Rolle als Figur in einem Buch. Sie ist es, die sein Schreiben von allen am wenigsten begreift und ihm humorvoll sagt, er solle doch endlich etwas Richtiges schreiben, eben einen Scheck ausstellen. Sie ist viel weniger an Literatur interessiert als etwa die Ehefrau in der Trilogie, die Dumitru Tsepeneag in den letzten Jahren geschrieben hat. Jene hat wenigsten Lektürewünsche und manchmal auch scharfe kritische Bemerkungen. Jann hat eine Abneigung gegen T.s Buch im Schreibprozess, aber nicht etwa nur, weil sie darin als Person vorkommt.
Zu den erotischen und existenziellen Obsessionen fügen sich die künstlerischen hinzu, und auch diese erzeugen Figuren. Eine von diesen ist Chris, der in Westberlin lebt, eine Figur aber, die weniger Relief zeigt als etwa Zeno, der eine wahre lebendige Faszination auf den Fantasieautor und auf seine Lieblingsfigur ausübt. Zeno, Chris und Michael T. – in Abwesenheit von Adam, der Figur, der eine initiatische Rolle zukommt, befinden sich im gleichen Flugzeug, in dem auch der endgültig ausgewiesene Michel T. fliegt. Zeno wird auch in New York ausgemacht. Als der junge, sechsundzwanzigjährige T. von der politischen Polizei verfolgt wurde, war Zeno schon verhaftet und im Gefängnis. Zeno, der Griechisch und Französisch beherrschte und den Status Gefangenschaft-Freiheit erlebt, hat viel von der literarischen Biografie Marin Sorescus. Über Zeno er-fahren wir, dass er Verfasser von „intelligenten und mysteriösen Kurzgeschichten“ und Autor eines Theaterstückes mit dem Titel Iona war. Ein Stück, das T. in Bukarest ge-meinsam mit Maria gesehen hatte und das er wegen seiner ästhetischen und politischen Schockwirkung bewunderte:
„Es war ein Stück von Zeno gewesen, und es hieß Jona, Jona im Fischbauch, Jona der Prophet… Und es sei erstaunlich, dass die Zensur dieses Stück habe durchgehen las-sen… denn ist dieses Stück… nicht eine Parodie auf den Weg der Genossen?“ (274)
Dieter Schlesak gibt offen zu, dass es einen Personentyp gibt, den er als intertextuell bezeichnen würde, und der aus lauter Zitaten zusammengesetzt ist. Dem erfundenen Autor wird das als erstaunliche Realität vorgesetzt: „Ich habe ihm gesagt: ,und wir…? Nur Zitate?’“ Ich sagte erfundener Autor, doch wie in jeder Erzählung, die sich ihre (Post-)Modernität eingesteht, hütet sich diese nicht, auch die Anwesenheit des realen Autors anzuzeigen, und sei es auch nur als vage nominelle Spur: „…das Sch aus meinem Namen …,“(387)

5. DAS ABSORBIERNDE SCHREIBEN

Das Schreiben zeigt sich hier als postmodernes Bewusstsein, zentrifugal, entropisch, doch alles erfassend. Die Syntax in litotischer oder analytischer, poetischer oder nar-rativer Form, hat Vielfalt und ist unvorhersehbar. Die Semantik steht zwischen Erhel-lung und Stildunkelheit.
Die Notate sind manchmal voller Passion – übrigens wird das Pathos von einem mora-lisch-nostalgischen Ethos dominiert, dann ist der Stil wieder fast kalt, neutral intertex-tuell, indem Dieter Schlesak so schreibt, als würde er nur zitieren, parodieren, nachah-men, im Sinne eines Fabelmechanismus und einer proteisch gearteten Schrift. Die Aus-sagen erscheinen aber manchmal wie ein mentales Emporzischen, ein Feuerwerk in einer strahlenden und selektiven Vielfalt und Kombinatorik.
Ich habe Aussage-Ähnlichkeiten mit der narrativen Grammatik von Norman Manea entdeckt. Hier noch ein Fragment, das unmittelbar auf den eben erwähnten Prosaautor verweist:
„Weißt du, was mich im Lager am Leben erhalten hat, wiederholte Adam: Die kleinen Dinge, Gras, ein Käfer, ein kleiner uns zugelaufener Hund, ja, meine Hände, die ich immer wieder ansah wie ein Wunder, diese blaue Äderung, das Kunstwerk der Finger, ihre Bewegung, das Klopfen des Pulses, ihre Wärme.“
An der Grenze dieser Schreibmöglichkeit kann man eine opake Verwerfung der Ereig-nisse und ihrer Protagonisten bemerken, ihr Aufsaugen durch die Schrift. Die abgründi-ge Kommunikation schafft sich Schreibregister mit zufallsverfremdenden Kombinatio-nen.

6. POETIK, RHETORIK, HERMENEUTIK

„IN DIESEM GEBREMSTEN RAUSCH“

Metatextuelle Fragmente, die die Erzähl-Poetik offenlegen, haben verschiedene Spre-cher: den Erzähler, sein Doppel, episodische Instanzen. Eine Selbstbeobachtung Michael T.s enthält dagegen Zeichen einer narrativen Poetik: „Im Bad (im Hotel Stern, in Schässburg) gings in meinem Kopf hektisch kreuz und quer und hob ab ins Gewesene, als wärs an jedem Stein; mir schien es psychometrische Filme einzugeben, Bilder rollten so ab, in diesem gebremsten Rausch.“ (57)

Michael T. kam zurück an den Ort, den er erträumt hatte, als er ihn nicht mehr wirklich sehen konnte. Die mentale Dynamik wird in einem unerwarteten Moment mit einer un-motivierten Intensität des gelebten Augenblickes ausgelöst. Der Kopf ist brüsk einem Außenwelt-Angriff ausgesetzt, und der dominierende Agent ist die wiedererstandene Zeit, die energetisch und synergetisch in einer familiären und zugleich verfremdeten Rahmenszenerie ausgedrückt wird. Das Bewusstsein erreicht einen schier präletalen Punkt und entweicht der Kontrolle des Subjektes – es ist ein entindividualisiertes Sub-jekt und das Gedächtnis projiziert wie in einem Kaleidoskop, ganz autonom und frei, sein vor-barockes Imaginationskabinett eines gebremsten, aber nicht erstarrten Rausches. Die Idee, dass die Rückkehr in die Heimat eine große Spannung des (aus der Ent-fernung) Vorgestellten mit sich bringt, ja, eine Kunst der Rückkehr, in der wiedererin-nert durch die Umkehr aller bisherigen Vorstellungen und Formen, wie sie im Hölderlin-Zitat (aus der Anmerkung zur Antigonae) im Anfangsmotto der „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ anklingt, bewahrheitet sich.
„Was diesen Mitarbeiter in jener Zone interessant macht, ist das Persönliche daran, dass in seinem Fall alles noch einigermaßen überschaubar bleibt, so schön: ein Ende im Kleinformat, wobei nur das Unbarmherzige Stil zeigt, die Grausamkeit zur Wahrheit führt, Ironie zur Stelle sein muss, nach der schon bei Kleist geübten Einsicht, dass nur das Ganze ernst zu nehmen sei, da uns dieses vernichtet, einzelnes darin verschwindet, durchstrahlt oder getötet, Anteilnahme, gar Abschiedsunfähigkeit nur stimmungsvolle Literatur ist, sonst Nichts.“ (261)
Diese Poetik, die sich hier als Handlung spiegelt, zeigt als erstes Element einen biogra-fischen, persönlichen, tagebuchartigen, und realen, spontan aufrichtig-offenen Aspekt. Der Terminus „persönlich“ könnte uns an den Personalismus des amerikanischen Poeten Frank O´Hara denken lassen. Dieses wäre ein postmodernes Kennzeichen. Die akute und sofortige Unmittelbarkeit. des Verstehens ist nicht nur vorhanden, sondern ein Markenzeichen des gesamten Ausdrucks, mit der Besonderheit des vielfach gebroche-nen Stils. Und dieser erzeugt die Spannung in der Kommunikation und die eines zwies-pältigen und paradoxen Biografismus. Es ist ein Kennzeichen der postmodernen Poetik, einer Poetik des Signifikanten und der existenziellen Oberflächen, die wir als eine para-digmatische Krise oder als ein Trans-Paradigma, gar als Antiparadigma verstehen müs-sen. Der Zusammenhalt, die Kohärenz – und hier will ich die ganz und gar nicht zufälli-ge Frage aus einer anderen Textstelle anmerken: „Wer macht den Vers Zusammenhalt“ (394). Die Bewahrung also der teleologischen Zielabsicht, das Vertrauen auf die Tiefen-struktur eines Ganzheitsregisters (Kleist), muss aufmerksam gemacht werden, denn die-ses sind Eigenschaften vormoderner (romantischer) Poetik. Und der Verzicht auf tropo-logische, also moralisch Einfluss nehmende Vermittlungen, außer der Ironie, die eine dekonstruktive Funktion hat, gibt es die Stileigenheit, um einen Wahrheitseffekt zu er-zielen oder ganz allgemein das Aufgehen und Absorbieren des Individuellen, des Indi-viduums in der Erzählung oder im Text und der Schrift zu erreichen. All dieses sind Ei-genschaften der postmodernen Poetik. Alle zusammengefasst arbeiten sie mit an einer hybriden, unreinen Poetik, an einer Literatur der Atmosphäre.

BUCHSTÄBLICHKEIT

Der Erzähler entlarvt den auktorialen Skeptizismus der erzählenden Hauptperson Mi-chael T., in die er sich selbst gespalten hat. Das Unfertige und Unbefriedigende, einfach nur da zu sein, wird diesmal aufgefangen mit dem Schreiben, das Sinn berührt und nach einer Soteriologie der Buchstäblichkeit strebt. Die Wirklichkeit ernährt sich nicht mehr durch Worte und durch Text, und diese (re-)produzieren nicht mehr die Existenz, auch wenn die formalen Mechanismen weiter erzeugt werden.
„Was aber am schlimmsten war, er setzte sich nur noch ächzend an seine Arbeit, schrieb ohne das alte Schreibvertrauen, dass er so in einem selbstgeschaffenen ,Zusammenhangssystem’ das Gelebte einbringen, diese alte Verlorenheit aufheben, ,in einem Hauch von Sinn’ alles retten konnte, er also im Alleingang sozusagen eine private Erlösung der Welt betrieb, größenwahnsinnig, ein Buchstabenmessias“ (321), sondern die Realität, der festgefrorene Schein verdrängt alles, lässt keinen freien Raum mehr zu – und so auch keinen Glauben. Diese dynamische Poetik strebt nach etwas, das wir mit einem etwas unscharfen Terminus von M. Bahtin antiideologische Erzählung nennen könnten, die aber gleichermaßen durch eine abgründige Psychologie und den Surrealismus geführt wird. Sie wird andauernd durch die Aggressionen des Banalen be-drängt: „Gefangen auch wir von der Idiotie dieser Mikrogedanken, gleich einem alten Weib, das tapsige Selbstgespräche führt, inneres Gebrabbel stundenlang. Das dann bei uns in der sogenannten Zweisamkeit zum peinlichen Dialog wird.“ (328) Umso kompli-zierter wird die Schreibmethode und Gegenwehr des Autors, der in sie flüchtet! Die epi-sche Methode umschreibt so nicht eine narrative Konstruktion, sondern die Löschung der Aussage, der Kommunikation, die zurückgehalten wird in einem profunden Register einer Vor-Mimesis: „Denn diese wirkliche Form findest du dazu kaum hier … Lauter Vorspiegelungen.“ (424)
Eine Schwächung der erzählerischen Kausalität impliziert eine Neuwertung der Anwe-senheit von analytischen Registern. Die zu überbewussten Schwingungen können ihren Rhythmus nicht mehr halten. Es bleibt die Flucht in einen neuen Solipsismus:
„Da ist eine Art Wachtraum, daraus erwachen, aus dem Erwachen wieder erwachen, und fürchtest, es gibt dich gar nicht mehr, jemand, bitte schön, hat dich nur geträumt. Ob Er es war? Oder nur die Gene?“ (429)

V
SPRACHE, DIKTATUR, EXIL UND DIE POETIK DER ABSENZ

Hier ist, um mit Musil zu reden, nicht nur eine neue Seele da, sondern auch der dazugehörige Stil. Das vitale Sprach- und Erfahrungsmaterial ist in großräumige Rhythmen übersetzt, die in der Ferne die Zentnerschwere einer lyrischen Tradition von Gryphius bis Günter und Klopstock ahnen lassen, bei denen die Form gerade noch die alles sprengende Erfahrung fasst... Man möchte auf die formale und sprachliche Kunstleistung hinweisen, auf die Vielfalt der Themen - und könnte doch nur sagen: Ecce Poeta. Viele dieser Gedichte lassen den Leser nicht los, sie greifen seine Erfahrung, sein Bewußtsein an.
Walter Hinderer, Frankfurter Allgemeine Zeitung


„Ein sich ins Absolute verwandelndes Heimweh ist die Substanz des Fehlenden“

Christina Weiss

Am Wortstamm die Schlange

„Sprache ist eigentlich das einzige Haus, das ich habe. Die Sprache leuchtet mir heim, sie weckt Sehnsucht, eine Sehnsucht, die weit hinausgeht über das, was man Heimat nennt, und sie stillt gleichzeitig diese Sehnsucht. Ich will fast sagen; in Worthöfen, in Berührungen führt sie in eine imaginäre Transzendenz, sie ist eine Art Boden und auch ein Glücksmittel.“
Diese Antwort gibt Dieter Schlesak auf die Frage danach, wie er mit dem Riss zwischen Heimweh und Fremdsein fertig werde. Dieter Schlesak ist 1934 im siebenbürgischen Schäßburg geboren. Er wuchs also auf im Bewusstsein einer sprachlichen Minderheit in Rumänien, zweisprachig, mit gespaltener Zunge sozusagen. Die sprachliche Bedingtheit der Identität ist vorgegeben, das Wissen um die besonderen Bedeutungshöfe der Wörter geschärft.
1969 verließ der rumäniendeutsche Schriftsteller die gespaltene Heimat, um in der sprachlichen Heimat Deutschland zu leben. Der Konflikt zwischen zwei Welten ist ge-blieben: Die unablässige Grenzüberschreitung zwischen Abwesenheit und fremder An-wesenheit, die nie befriedigte, nie befreite Suche, die Sehnsucht, nach dem sprachlichen Ort, nach dem sprachlichen Fundament des Ich-Bewusstseins ist das zentrale Thema dieses Dichters auf der Suche nach Heimat. Heute lebt Dieter Schlesak in Stuttgart und in Italien, dem dritten, dem Ort der Distanz, von dem aus die Reflexion über eine dop-pelzüngige Heimat zugleich sehnsüchtiger als auch kritischer möglich ist.
„Anstatt Selbstmord beging er die Fremde, sprach auf, sprach ab“, schreibt er von sei-nem – autobiographischen – Helden in dem Roman „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ (1986), den er mit dem Land, das er verlassen musste, mit der Diktatur in Rumänien, in ungewöhnlich sprachintensiver Weise abrechnen lässt.
Lyrisch hat Dieter Schlesak seine Erfahrungen seit 1968 als „Briefe über die Grenze" oder als Schrift in die "Weiße Gegend" (1981) ins Wort gebannt. Der Dichter hat als Heilmittel gegen den Riss der Entwurzelung „nur“ die Sprache parat.
Die allerdings beherrscht Dieter 'Schlesak mit der präzisen Strenge, die nötig ist, um die Zwischentöne aus den Wörtern zu reizen, um die Bedeutungshöfe der Sprache zum Klingen zu bringen.
,,Aufbäumen“ nannte er seinen jüngsten Gedichtband, der wenige Monate nach der ru-mänischen Revolution erschienen ist: „Die eruptionsartigen Prozesse der osteuropäischen Revolution arbeiten dramatisch im Sichtbaren auf, was im Innern der Geschichte längst schon latent da war: die Zerstörung fester Weltbilder und Sicherheiten, Ideologien und alter Machtstrukturen; so wird eine Öffnung vorbereitet“,
schreibt er im Nachwort dieses Bandes, dessen Titel bereits die poetische Vieldeutigkeit ausspielt: Denn zu dem rebellischen Aufbäumen im politischen und weltanschaulichen Sinn kommt die strenge Struktur des Bandes hinzu, die dem kabbalistischen Sprachraum folgt – und zwar in umgekehrter Reihenfolge aufgebäumt vom „Prolog nach dem Ende“ zu dem Kapitel mit der Ziffer I am Ende des Buches. Der Autor erklärt dazu: „Das letzte, oder erste, Kapitel von AUFBÄUMEN, NICHTS STOCKT, fasst alle anderen zusammen. Nichts ist im Hebräischen gleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von Auge. Dieses letzte Kapitel, das Eine als treibende Absenz, ist in allen anderen enthalten, ein sich ins Absolute verwandelndes Heimweh, ist die Substanz des Fehlenden.“
Das Eine, das im Grunde genommen nicht aussprechbar ist, denn ausgesprochen sind es schon zwei: derjenige, der spricht, und das, was ausgesprochen wird, heißt in der Kab-bala der unaussprechliche Name. Es ist die Metapher Gott, die den Gedichtband Dieter Schlesaks durchzieht.
Das Nichtsagbare ist das, was der Dichter an den Sinnrändern aus dem Gedächtnis der Wörter aufblitzen lässt.

„WIRKLICHKEITSWAHN
aber noch immer im Satz
und am Wortstamm die Schlange
verführt. Weißes Blatt, kühl.
Und erinnert. Dazwischen liegt Er, Ja,
eine Schatten Furcht Einst
und noch leer.“

Hier sucht einer an den Wörtern entlang nach den Gründen des jüdischen und christli-chen Denkens. Hier droht natürlich die Gefahr, dass der Gestus der Sprache in bibli-sches Pathos gerät, aber die Suche überzeugt.
Die Gedichte Dieter Schlesaks schreiben ihre Schrift an die Wand wie Menetekel gegen die Oberflächlichkeit des raschen Verstehens, des geschwinden Abtuns von politischen Ereignissen und fixen Beobachtungen.

Wolfgang Schlott

Poetik der Absenz. Der Gedichtband „Tunneleffekt“
Aufgrund der verschlüsselten Wahrnehmung unserer Welt erweisen sich immer häufiger jene Dichter als Wegweiser durch die Undurchschaubarkeit, die mithilfe von inter-pretierenden Nachworten und begleitenden Essays ihren lyrischen Texten eine größere Transparenz verschaffen. Dieter Schlesak, aus dem siebenbürgischen Schäßburg stam-mend, seit den frühen – siebziger Jahren– in der Bundesrepublik und in der Toskana le-bend und schaffend, unterzieht sich dieser Aufgabe in seinem Gedichtband „Tunnelef-fekt“ mit einer besonderen Intention. Eingebettet in den „Licht Tunnel“, in dem der ei-gene Körper zum Exil geworden ist, umgeben von der „Wand der Augen“, den „Exi-len“, der „Poesia erotica“, dem „Licht, die schnelle Grenze“ und den „parallelen Uni-versen“ entwirft sein lyrisches Ich eine Poetik der Abwesenheit, in der die Archipele ei-ner Sinnhaftigkeit angesiedelt sind, die dem Leben in der entchristianisierten westlichen Welt verwehrt wird. In der nun anbrechenden Epoche sei der Mythus des Christentums ebenso abgeschafft wie die Zeit: „Die Zeitlose / droht“, und in ihr ist „der Körper – nur noch ein aufgelöstes Kleid / die Vorgabe, die wir waren / reißt“. Womit ist aber der Raum besetzt, wenn aufgelöste Zeit und aufgelöster Körper nicht mehr als Orientie-rungsraster funktionieren? Sind es die Fremden, die „Embryonen des Futurs / mit den Hypnose-Augen“ oder ist gar die „Unfertige Welt“ – ein Modell der Hoffnung? hinter der „Wand der Augen“, so die Vor-Erkenntnis nach dem 1. Abschnitt des Bandes, er-weisen sich nur die „Engel (als) unsere Helfer“, sie scheinen die Träger einer Poetik zu sein, die das „heimliche Leben / das einmal kommen wird / denn nichts vergeht“ mit ei-ner (noch) abwesenden Sinnhaftigkeit erfüllen. Doch vorerst bleiben die „Exile“, die künstlichen Welten, die Grundlage jener Trostlosigkeit des Ersatzes, die beharrlich nach der neuen Subjektivität fragt. Für Schlesak, dessen lyrisches Ich aus der Poetik der Ab-senz seine tief greifenden Wortwurzeln holt, ist es das Fehlende, „das ins Herz des Wirklichen zielt.“
Wer bis zu dieser Passage in den komprimierten Texten gelangt ist, dem sei das Nach-wort des Autors dringend empfohlen. Anderenfalls ertrinkt er in der Flut der Gedanken, die oft weniger linear als zyklisch angeordnet sind. Absenz sei heute der allgemeine Zu-stand geworden. „Und erst in den Zwischenräumen des ,Realen’ kann es Hoffnung ge-ben, sie ist bildlos und hart, es ist eine Leerstelle im Gewohnten, die Voraussetzungen sind günstig, die Zeit selbst hat Abschied im Blick, ,Gott ist der Tod’“. (S. 179) Ich ge-stehe, dass mich solche apodiktischen Sätze nicht wissender machen angesichts der Phi-losophischen Einsicht des Autors, dass wir nur zwischen Leben und Tod eine andere Bewusstseinsform erlangt können.
Andererseits finde ich immer wieder über eine neue Passage Zugang zu einem Poetolo-gischen Weltmodell, das die Transzendenz des Lebens in der Ungeheuerlichkeit des Todes erfassen möchte. Aus diesem Grund gehören Schlesaks polemische Anmerkungen zur Hilflosigkeit unserer zeitgenössischen Dichter, die nach Celan oder Brodskij sich in einer geschichtslosen Lyrik verstecken, ohne aus dem Sprachgefängnis ausbrechen zu wollen, zu den anregendsten poetologischen Anmerkungen über die Undurchschaubar-keit der Welt in diesem Band (...).
Zu den eindrucksvollsten Lektüren gehören die Zwiegespräche mit Celan, Ernst Meister, Walter Benjamin, in denen die Poetik des Posthumanen jene Konturen erlangt, die sie in vielen anderen Passagen nur ... bruchstückartig entwickelt. Es bleibt das vorläufige Fazit: Hier schreibt sich ein aphoristischer Lyriker durch die lichten Höllen einer Menschheit, die in der von ihr potenzierten Geschwindigkeit und der rasanten Verwer-tung des Lebens keinen Zugang mehr zu einem humanen Tod schaffen kann. Wer also gibt das Signal zur Umkehr?


Wolfgang Schlott

Vom Reisen der Zeithäftlinge, LOS, Reisegedichte

„Warum reise ich? / Weil ich unbeschwert nirgends sein will.“ (S. 23)
Wer sich nach dieser Antwort mit Dieter Schlesak auf die Reise macht, der muss sich darauf einstellen, dass weder die Sinne noch das Gehirn einen zuverlässigen Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen, da das Unbehagen an ihr durch die gestörte Wahrnehmung der Zeit ausgelöst wird. Was der Autor gleich zu Beginn seiner Zeitreise durch reale und virtuelle europäische Landschaften mit diesem hier paraphrasierten Zitat von Günter Eich seinem Leser mitteilen will, ist in drei Schlüsselbegriffen angesiedelt: Zeitparadox, Zeit-Maschine und Zeithäftling. Der prickelnde Rausch, durch Reisen hervorgerufen, erweise sich als paradox, weil er in der Erinnerung zu einer Zeit-Falle werde, in der der Gewinn an Leben durch „Tapetenwechsel“ in einer Verlustspirale ende. Er löst sich in der Erinnerung auf, „als wär`s kein Jahrzehnt gewesen“. (S. 7) Das somit signalisierte gestörte Verhältnis des Reisenden zur Zeit findet seinen Ausdruck in dem Menschen als „eine kranke Zeit-Maschine“. (S. 7) Diese Maschine sei von Langeweile und Wahr-nehmungsverlust gezeichnet, mehr noch: „Die Leere, sitzt/ und sitzt in dir, du / Zeithäft-ling.“
Der Mensch als Reisender, der zwischen Verlust-Ängsten und Leiden an der Zeit, ein-gepfercht in das Zeit-Gefängnis der Leere, seine Reisen absolviert, ist in Schlesaks Ge-dichten ein Getriebener, der von Ort zu Ort eilend oder auch vor sich hin sinnierend mitten in der Bewegung erstarrt ist. Warum aber begibt sich sein lyrisches Ich mit dem Ruf „LOS“ auf die Reisen quer durch Europa? An der Ligurischen Küste sucht es „ei-nen anderen Geschmack von / Vaterland, / als die Trimmpfade unter den Schneisen / mit Düsenjägern“. (S. 11) Bei der Ankunft in der Toskana bewegt es das Schicksal des exilierten rumänischen Philosophen Cioran, der, keinem Land angehörig, sich als neuer Jude empfindet. Im heimatlichen Siebenbürgen angekommen, überfluten es die Erinne-rungen „an die unvorstellbare Langmut der Zeit“ (S. 40), in der sich dichte Bilder von Gerüchen, heiligen Trinkern und süß-verlockenden Geliebten von Angstvisionen (Wachtürme, Hubschrauber) überlagert werden. Auf dem Mittelmeer verknüpft es die eben „erlebten“ maritimen Bilder von flatternden Segeln, die „große gepeinigte Seelen“ sind, mit historischen Zeitschichten, in denen fantastische Helden, Piraten, legendäre Admiräle und Heerführer wie Topoi und Bücher angesiedelt sind, die „wie Zahnräder und Technik (in) in mich eingreifen“.
Immer wieder jagt das lyrische Ich, das als autokommunikatives Du, als pseudo-kommunikatives Wir und in vielen anderen selbstreflektierenden Formen auftritt, zwi-schen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit hin und her. In „Marciana Marina“ ist es der „innen genommene Blick / (der) führt ins Futur, weg aus dem, was eben vergeht:
Damals wars Napoleon hier in Madonna del Monte, hier / bei Marciana, mit der schönen Gräfin Maria Walewska:
Jetzt, hörst du die Sommerzikade: Schein war nie / anders als Jetzt im veränderten Blick“. (S. 68)
In „Rom“ beginnt in der Sixtinischen Kapelle ein langer philosophischer Diskurs über die Schöpfung, die Zeit und das Muster Mensch (ohne Wert) und die Wunde Michelan-gelos, „die unsichtbare, sie gibt’s noch immer“. Er endet in der Vision von der Außen-welt der Farben, die in einen Schacht aus Blut und Bein stürzen, und den schreienden Körper in seinem Schmerz allein lassen. Rom ist auch der Ort, wo das lyrische Ich in seinem Bewußtsein herumblättert, ohne einen Bezugspunkt für seine Reflexionen zu finden: „Merke plötzlich, / dass ich GENAU DA DRIN SITZE und mit meinen Händen / meinen Kopf aufstütze.“ (S. 78)
Der Süden Italiens, einschließlich Sardinien, ist mit Erinnerungen an Dichter (Tasso, Andres, Rene Char) und Orte (Positano, Amalfi, Capri, Neapel) besetzt. Die konkreten, poesiegeladenen Bilder aber stammen aus Bari, La Maddalena, Messina, Elea. In „Elea“ ist es die fiktive Begegnung mit Xenophanes, bei der das Du im Traum immer wieder in dieses Tal der Ruhe zurückkehrt; in der „Straße von Messina“ ist es der lachende Ullys-ses, der einen Autounfall verursacht; auf „La Maddalena“ fallen die Begriffe ab „wie Lärm, Summen der Luft“; in „Bari“ identifiziert sich das Ich mit jenen Albanern, die an ihrem Fluchtschiff „und dachten, sie kämen ins Paradies“.
Und Griechenland? Ein einziges Gedicht ist dem Wunschtraum vieler europäischer Touristen gewidmet. Doch bei Schlesak ist das kretische Meer voller rosagiftiger gräss-licher Quallen, am Tag brennen die Fußsohlen im heißen Sand und der Zeithäftling ist gleichsam erstarrt beim Anblick einer antiken Landschaft, in der es vor Touristen wim-melt, wo einer, der „das Wort für / die Dinge ergreift, erstarrt“. (S. 97) Wohin, Freunde / ohne zu sterben – mit diesem, an Hölderlins Leiden erinnernden, wenig tröstenden Ausruf verlässt das Schlesak’sche Ich die griechischen Inseln.
In einem Zustand der Aporie sucht das meandernde Ich nach einem „unbekannte(n) Ort möglicher Erfahrung“ (vgl. den achten Teil des Bandes). Er erweist sich als ein Chrono-topos, der vielerlei Koordinaten hat. Es sind die mit Todeserlebnissen verbundenen Orte des 2. Weltkriegs, die Klangfäden in Hölderlins Visionen, die Flughäfen mit Namen Wahn und Hoffnung, eine Kosakenmelodie bei der Überfahrt über den Bodensee. Doch der Ausweg aus der Zeit- und Ortlosigkeit ist wiederum ein Trugschluss: In die „Flüge“ (vgl. S. 113-115) wartet ein ,Wir’, in dem die gesellschaftliche Erfahrung von Enttäu-schung über die nicht eingelösten Utopien angesiedelt sind, auf die Sterntaler, die sich als Papier offenbaren: „Vom Osten die Pässe. / Vom Westen das Geld – und den Toten Schein.“ Der Flug um die Erde verwandelt sich in einen „Horrortrip“:

„Das erregte Netz der Meridiane
explodiert in mir / dieser Stau:
Warschau / Moskau / Madrid. /
Dann Brasilien und bis zum Eismeer
Kontinente Metropolen: ach, so global unter den Sohlen
Den Tragflächen, dem Fernweh:
Denn die Haut der Natur ist dünner geworden
vibriert, gräbt sich in den Köpfen
lichtgeschwind um.“ (S. 114)

Und was bleibt vom Ende der Vorstellung durch Raum und Zeit? „Ein Atompilz über New York / doppeltes Babel / getroffen von fertig gemachten Ideen / im höllischen Flug ...“ (S. 119) Und der Lesende hält betroffen inne. Es ist die zur Realität gewordene Zer-störung des World Trade Centers in New York am 11. Dezember 2001. Für Schlesak ist der terroristische Akt auch die Auslöschung des Menschen zugunsten von Physik und einem (mohammedanischen) Gott, dem Abgrund dieser Gegenwart, in dem die Formel für „den längst begonnenen Krieg ...“ bereits ausgesprochen ist.

Dieter Schlesaks Zeitreise ist von bereits ausgelöschten Gefühlen für das Erlebnis von anderen Welten geprägt, die seine Generation nur noch als simulierte Wesenheiten wahrnimmt, und deshalb um so lust- und angstbesetzter in die Urlaubsländer am Mit-telmeer oder in entfernteste „Paradiese“ fliegt. Und das Unbehagen an der Wirklichkeit, die Zeit heisst? Und der Verlust an realer, erlebnisgesättigter Zeit? Und der von terroris-tischen Anschlägen zerstörte Raum? Nach der Lektüre der Gedichte, mit ihren rhyth-misch gebrochenen Verszeilen, die jegliche Illusionen von Reisebildern im Ansatz auf-lösen, bleiben die zahlreichen Assoziationen an Barock- und klassische Dichtung im Gedächtnis, in dem ein stream of consciousness alle Untiefen möglicher Reisen auslotet. Ohne freilich ans Ziel zu kommen. Insofern erweist sich auch der Titel als sarkastische Aufforderung, sich auf eine Reise zu machen, der die Warnung auf dem Fuße folgt: Bleib zu Hause, du Zeit-Häftling!


Hans Jürgen Schmitt

Mails und Küsse
Erotische Liebesgedichte
von Dieter Schlesak

Im Minnesang war es der vorgeschriebene Nicht-Vollzug der Liebe, der mit einem Schatz an Formeln und Bildern umspielt wurde. Die Mariendichtung des Barock hat die ekstatische Liebe mit Frömmigkeit camoufliert, und ein Schwärmer wie Quirinus Kuhlmann deckte in seinen Sonetten Jesus mit „Himmlischen Liebesküssen“ zu. Die Form, die Struktur, des erotischen Gedichts ergab sich immer aus der gebotenen religiö-sen und gesellschaftlichen Grenzziehung. Rilke konnte mit seiner Mariendichtung dann schwül-erotisch sein; und provokativ wohl zum letzten Mal der deutsche Expressionis-mus (Benn: „Männerhellbraun taumelt auf Frauendunkelbraun”). In der enttabuisierten Mediengesellschaft hat das erotische Gedicht vielleicht nur eine Chance in einem rück-haltlosen Subjektivismus.
Dieter Schlesak, deutsch-rumänischer Dichter und Essayist, wissend, dass Subjektivis-mus auch wiederum Formgefährdung und Klischee bewirken kann, probiert in seinem Band „Lippe Lust” (Lyrikedition 2000, Book on Demand Verlag, München 2000, 140 Seiten, 39,80 Mark) allerhand durch, sogar Reime, Binnenreime, Schlagreime, rhythmi-siert das Gedicht wieder, findet volksliedhafte Töne: „Ja ich weiß es wird so kommen / wie es tausendmal erlebt / erst dem Meer der Liebe zugeschwommen / erstes Tasten Brennen Mails und Küsse – Dann die Kälte der Verrat / Werd ichs sein wirst du es ma-chen / flichst du mich aufs schwarze Rad / nichts mehr nichts vergeblich alles / rast da-von mit Eis und Lachen ...”
Nicht voyeurhaftes Ausstellen, sondern alle Nuancen der Liebe zwischen Willkommen und Abschied, Lust und Verzweiflung an der Liebe machen Sog und Reiz der eroti-schen Gedichte Schlesaks aus. Es ist von daher aber eher weniger die Lippe-Lust-Tendenz als wiederum das Umspielen und Verschweigen, was immer noch ein gutes (erotisches) Liebesgedicht auszeichnet.
hjs.
Perlentaucher-Notiz zur SDZ-Rezension. Nach Ansicht des Rezensenten mit dem Kürzel „hjs“ scheint Schlesak hier den Beweis zu erbringen, dass man auch in der „enttabuisierten Mediengesellschaft“ noch schöne erotische Lie-besgedichte schreiben kann. Dabei gefällt ihm besonders, dass Schlesak mehr mit Reizen spielt als mit plakativen Ef-fekten. „Alle Nuancen der Liebe“ sieht „hjs“ hier erfasst, und offenbar hat es ihm besonders Schlesaks gelegentliches „Umspielen und Verschweigen“ angetan. Was die Form betrifft, so weist der Rezensent darauf hin, dass Schlesak sich zahlreicher Reimformen bedient, rhythmisiert und sogar „volksliedhafte Töne“ findet.

Jürgen Egyptien
Transsylvanien und Transzendenz
Zu Dieter Schlesaks neuen Reisegedichten
Wolfgang Koeppen bekennt in seinem Essay „An Ariel und den Tod denken“, er suche auf Reisen „das Fremdsein ganz und krass“, das Eintauchen ins Unvertraute, Bindungs-lose. Ganz ähnlich definiert auch Dieter Schlesak in seinem neuen Gedichtband das Mo-tiv seines Reisens. In dem Text „Warum reise ich?“ sieht das lyrische Ich im Reisen die Chance, „unbeschwert nirgends sein“ zu können. So verstanden ist das Reisen die adä-quate Existenzweise des Utopisten, als welchen man Schlesak ansehen darf. Dabei rich-tet sich sein utopisches Bestreben nicht auf ein politisches Traumland, sondern auf eine viel elementarere Grenzüberschreitung. Das Gedicht „Du sagtest, eine Zeitreise, bitte“, das als eine Art Exposition fungiert, nennt den Menschen einen „Zeithäftling“ und eine „kranke Zeit-Maschine“. Das Reisen erscheint unter diesem Blickwinkel als Therapeu-tikum, als heilender Ausbruch aus dem Kerker des Vergehens und der ewigen Wieder-holung. Was die Reise leistet, ist also eine Unterbrechung, die von Schlesak emphatisch als Befreiungsakt gedeutet wird.
Wer mit seinen Ideen einer posthumen Existenz, die das übliche Raum-Zeit-Kontinuum aufsprengt und die Seele sozusagen durch die Jahrhunderte und in höhere Dimensionen surfen lässt, ein wenig vertraut ist, der wird diese Vorstellung vom Reisen als ihr dro-mologisches Äquivalent verstehen. Es treten neben die Reisen durch den Raum und über seine dreidimensionalen Grenzen hinaus auch solche ins Innere des Ichs. In dem gelungenen Gedicht „Dann dieser frühe Morgen“ wird die Selbstbegegnung des Ichs mit seinem unvergänglichen Astralleib in einer erleuchteten und luziden Sprache evo-ziert: „Da sah ich dich ganz transparent / an einer Grenze zwischen Augenschein / und dem Gedanken // [...] du liegst in mir und bist der Andere der ich bin / und der ich im-mer war der nie verging // [...] du wortlos überlebst im Licht / nicht in den Sinnen.“ Im Gedicht „Korsika. St. Florent mit dem Segelboot“ hingegen löst das Schattenspiel der Steilküste im Ich die schockhafte Erkenntnis aus, „ein ganzes Leben // als fremdes Ge-spenst“ verbracht zu haben.
Diese existenzielle Instabilität und Ortlosigkeit, die dem Ich der gemäße Zustand ist, haben freilich ihre biografischen Ursachen. Bereits Ende der 60er Jahre ist der aus Sie-benbürgen stammende Schlesak in den Westen gegangen und pendelt seitdem zwischen Italien und Deutschland hin und her. Sein rumänischer Landsmann Cioran hat ihm mit der in einem Motto verwendeten Formulierung, die Exilanten seien „die neuen Juden“, das Siegel auf seine ahasverische Lebensauffassung geprägt.
So vermittelt der Aufbau dieses neunteiligen Gedichtbands eine gewisse Atemlosigkeit, ja, wirkt beinahe hektisch. Von der ligurischen Küste springt das Ich in ein erinnertes Transsylvanien, kehrt in die Toscana zurück, um sogleich wieder in das Rumänien der Gegenwart aufzubrechen. Wieder folgt im Pendelschlag eine Segelpartie im Tyrrheni-schen Meer, bevor der Reisende über Rom und die amalfitanische Küste nach Sizilien jagt, um sich quasi vom italienischen Stiefelabsatz ins Imaginäre abzustoßen. Am von Touristen entstellten Gestade des kretischen Meers holt den Fliehenden die Frage ein: „Wohin, Freunde/ohne / zu sterben?“ Was folgt, ist eine Coda mit lyrischen Gedenk-blättern, die an deutschen Orten fällig werden.
Die Sprache von Dieter Schlesaks Gedichten ist von ihrem Thema bestimmt. Sie ist ru-helos, sprunghaft, gehetzt, kennt keine weiten Schwingungen oder melodiösen Bögen. Es gibt immer wieder aufblitzende, von fernher kommende Bilder, „als sei der Schlaf / plötzlich träumend / erwacht“, aber auch manche ungeschliffene Prosabrocken. Ein Zyklus fällt aus dieser Beschreibung weitgehend heraus und weist einen ruhigen, ein-fühlsamen und stimmungsvollen Duktus auf. Es ist – sicher kein Zufall – der nostalgisch gefärbte transsylvanische Erinnerungszyklus, der sich auch durch seine präzisen und atmosphärisch reichen Naturbilder von den übrigen abhebt. Der Reisetrieb wirkt hier obsolet, denn hier findet das Ich „im Blumenauge die Welt“.

Luciano Zagari

Zur Neubegründung der Lyriksprache nach Auschwitz

Dieter Schlesak vorstellen, heißt einen großen Dichter der modernen Poesie vorstellen; wir haben es hier mit einem Dichter zu tun, der die moderne Poesie deutscher Sprache und Europas seit den Anfängen des achtzehnten Jahrhunderts, die in Deutschland mit Hölderlin beginnt und ihren Höhepunkt mit Paul Celan erreicht, bis an ihre extreme Grenzen führt. Nicht zufällig beeinflussen die Themen und Rhythmen Hölderlins und dann die Paul Celans die Gedichte von Dieter Schlesak.
Ich glaube, es ist wichtig, was die Einmaligkeit des Phänomens Schlesak betrifft, einen anderen Standpunkt zu beachten: Die Themen in Schlesaks Poesie sind an einen histori-schen Moment gebunden! Und da muss von einem Werk der Grenze gesprochen wer-den, einem Werk, das als „Zwischenschaft“ bezeichnet wurde. Es ist ein Wort, das un-möglich ins Italienische übersetzt werden kann, ursprünglich aus „Wissenschaftler“, „scienziato“, gebildet, führt es in einem Wortspiel zum „Zwischenschaftler“…, also an die Grenze, ins „Zwischen“; wir haben es hier mit der Überwindung einer Schwelle, was historisch und auch poietisch zur Deutung dieser Poesie sehr wichtig ist, zu tun. Ich erinnere bei diesem Terminus des Übergangs in der Lyrik von Dieter Schlesak an Clau-dio Magris – Magris sprach vom ersten Roman Schlesaks und von der Tatsache, dass dieser Autor bei einem Colloquium in Triest unterstrichen habe, wie es nach dem Zwei-ten Weltkrieg durch eine komplexe historische Situation, und durch all das, was in die-sem geschichtlichen Tod offenbar geworden war, nachdem tödliche Grenzen überschrit-ten, Öffnungen sichtbar geworden waren, es für die Poesie unmöglich wurde, nur bei sich selbst zu bleiben …
Und mir scheint auch von einem anderen Standpunkt wichtig zu sein, die Art wie Schle-sak neben anderen Autoren deutscher Sprache jenes Veto, das Adorno ausgesprochen hatte, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könnten, zu über-schreiten sucht, jedoch weiter mit diesem Veto Adornos rechnen muss, dass jedes Ge-dicht nur noch privat oder ein zwiespältiges Unterfangen sein kann. Wichtig also ist, wie Schlesak dieses Veto überwinden und die Poesie bis hin zu extremen sprachlichen Konsequenzen weiterführen konnte. Und diese in einem fundamentalen Gestus der dichterischen Erfahrung, die in sich den Anspruch enthält, zu einer neuen poetischen Imagination zu kommen und zur Neuerschaffung eines poetischen Bildes. All dieses bedeutet für eine neue Poetik, die in sich selbst ruhende Möglichkeit des Gedichtes und des Bildes als Sprache wiederzuerschaffen und neu zu begründen.
Ich habe meine Aufmerksamkeit genau auf jene Gedichte dieses Bandes gerichtet, in dem dieser Gestus einer Neubegründung der Möglichkeit poetischen Sprechens offenbar wird, gleichzeitig aber paradox dessen Unmöglichkeit im Posthumen heute sichtbar macht. In dieser Differenz und Spannung zwischen beidem zu einer Form zu gelangen, die eben gerade auch zu Adornos Veto und dessen Überschreitung gehört, ist das Ver-dienst dieser Poesie. Sie gelangt dabei zu extremen Formen, die sogar die Existenz des Satzes infrage stellen, und in diesem Sinn auch die Syntax deuten. Dieses ist in Schle-saks Gedichten evident, zumindest bei jenen, die meine gespannte Aufmerksamkeit auf sich zogen, denn hier gelangt er bis zum Zerstören, Zerbröckeln des poetischen Diskur-ses, und so könnte man meinen, dass er teilnimmt an der postmodernen Erfahrung, die auf einer Art spielerischer Bastelarbeit beruht, sodass sich dabei die Konsistenz des Ausgesagten verliert, da es sich um Elemente eins Puzzlespiels handelt. Für Schlesak aber ist Poesie nicht im Geringsten ein Spiel, und dieses ist der radikale Unterschied zum Postmodernen. Die Substanz, die poetische Energie von Schlesak geht in Richtung eines überaus starken Engagements. Dieses führt dazu, dass er dazu tendiert, zu einer Form zu gelangen, die auf der ungeheuren Schwierigkeit beruht, zum Sinn des Bildes zu kommen, eine Stileigenheit, die seit Hölderlin und dem achtzehnten Jahrhundert gilt. Wir wissen es seit Heideggers Hölderlin-Deutungen, die eine Konstante der großen mo-dernen Poesie untersuchen. Doch nach Schlesak ist heute die Kreation von Wortorga-nismen, die mit traditioneller Syntax arbeiten, passé, er glaubt an und arbeitet mit „Wortzwischenräumen“, so bilden sich, meiner Meinung nach, sehr spannungsreiche und sehr moderne Beziehungen extremer Intensität, die den Leser in den Sog ziehen, ihn nicht wie sonst in die Distanz zwingen und den nicht professionellen Leser draußen lassen. Ich habe den Eindruck, dass Schlesak ganz im Gegenteil den Leser in ganz be-sonderer Weise einbezieht; der Leser dieser Texte muss selbst im syntaktischen Rhyth-mus Möglichkeiten der Verbindungen, der Teilnahme – von Vers zu Vers gleitend, schaffen, also sein eigenes Gedicht herstellen…
Sie vergeben mir, dass ich bisher nur allgemein und abstrakt gesprochen habe, um nun ein konkretes Beispiel anzuführen, lesen wir auf Seite 132:

DAS GEDICHT
Die Hoffnung die sich selber löscht

Leichte Vögel / nehmen sich frei
oder Schneeflocken gleich
vergehn auch Seifenblasen wie sie
versuchen ein großes leichtes Herz
zu haben.

Kein Vers erreicht den Hunger
Schreie / unter der Folter die Wand
nicht nur der
Erschossenen wenn der Kopf
sinkt.

Hier gehn wir schmerzlos über die Zeile

Was es an Hoffnung noch gibt steht /
fällt im Gedicht.

Georg Aescht
Der „Zwischenschaftler“ Dieter Schlesak findet Heimat im Wort
Der Literaturbetrieb lebt von der Literatur und soll sie seinerseits beleben, doch ist der Verbrauch an Substanz mitunter so hoch, dass kaum noch etwas davon zum Lesen bleibt: weder Zeit noch Neigung, geschweige denn so etwas wie Zuneigung. Der poten-zielle Leser wird ständig aufgefordert, hinaus in den Betrieb zu gehen, wo nicht nur Buchstaben schwarz auf weiß, sondern leibhaftige Autoren, Vorleser und Events, Ge-spräche und Besprechungen seiner harren, auf dass er ja nicht allein bleibe mit dem Text. Wer sich dieser Betriebsamkeit entziehen will und es vorzieht, mit den Worten allein zu sein, ist bald sehr allein.
Und doch geschieht es, dass ein Schriftsteller gerade bei einer solchen Begegnung dem Hörer ein Gefühl der Vertrautheit vermittelt, als läse dieser selbst, als wäre er ganz bei sich. Solches gelang Dieter Schlesak im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus. Gleich vier Bücher hatte er mitgebracht; zwischen Lyrik und Essayistik, Anekdotik und Litera-turvermittlung im Dreieck Deutschland – Rumänien – Italien bewegt sich der Sieben-bürger, später Bukarester und schließlich Stuttgarter Deutsche mit Wohnsitz in der Tos-kana so virtuos, dass auch ein weniger Privilegierter den Reiz einer Existenz als „Zwi-schenschaftler“ zu ermessen vermag. Als solchen bezeichnet sich Schlesak nicht nur, sondern versucht dem erfundenen Wort auch Verbindlichkeit zu erschaffen.
Zwischen alle Stühle gefallen zu sein ist aus seiner Sicht kein bequemer, aber der Er-kenntnis, Reflexion und literarischen Produktion förderlicher Zustand. Sitzen bleibt er dabei keineswegs, sondern ist auf dauernder Suche nach dem Neuen, von dem besagtes kulturelles Dreieck bei aller vermeintlichen Bekanntheit soviel zu bieten hat. Deshalb hat Dieter Schlesak auch in seiner Heimatstadt Schäßburg, in die er nach Jahrzehnten des roten Bannes zurückgefunden hat, eine „Kulturvereinigung“ mit seinem Namen ge-gründet, die sein trialogisches Beginnen in der siebenbürgischen, in der rumänischen Öffentlichkeit verankern soll.
In Düsseldorf aber sprach nicht primär der mit dem Ehrendoktor der Universität Buka-rest ausgezeichnete Wertevermittler, sondern der Dichter und Nachdichter, selbst wenn es ihm in dem einen Buch über „Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung“ gerade um zeitgeschichtliche Problematik zu tun ist, ob sie nun aus der Perspektive der westeuro-päischen Rumänen Cioran oder Fondane oder aus jener des siebenbürgischen KZ-Arztes Capesius betrachtet wird. Am ersprießlichsten aber spricht der Dichter mit sich selbst, im „Gedicht aus der Hand in den Mund, als wäre es Brot“. Allenfalls der rumänische Kollege Nichita Stănescu, der die „rote Zeit“ in einer „Metapoesie“ sublimierte habe wie Paul Celan die braune, ist ihm ein gleichgestimmter Partner. Darum hat er auch dessen „11 Elegien“ übersetzt, die im kommunistischen Rumänien zum subversiv aufgefassten Gemeingut geworden waren.
Seine eigenen neuesten Texte, darunter viele Liebesgedichte, hat der sprach(en)gewandte Lyriker in einer deutsch-italienischen Ausgabe vorgelegt, dem Gemeinschaftswerk einer Gruppe, die sich in seiner Drittheimat Italien gebildet hat und in der junge italienische Freunde dem eigentümlichen Klang des deutschen Idioms sie-benbürgisch-rumänischer Prägung und seinen Mehrdeutigkeiten nachhorchen und die Schlesak’schen Arbeiten in Werkstattgesprächen zu italienischen Gedichten ummünzen.
So pflegt Dieter Schlesak eine, wie er sagt, „Kunst der Rückkehr“, wohl wissend, dass es keine Richtige ist, wenn sie nicht auch immer wieder einen neuen Aufbruch und Fortschritt bedeutet. Die Hörer in Düsseldorf jedenfalls haben die Lesung als Zeugnis für Letzteres aufgefasst.

Physik und Gott

Der in Siebenbürgen geborene, 1969 in die Bundesrepublik übergesiedelte Dichter hat mit „Tunneleffekt“ seinen bislang umfangreichsten Gedichtband veröffentlicht. Schon 1997 erschienen bei Galrev unter dem Titel „Landsehn“ Gedichte, in denen Schlesak Prozessen des Wahrnehmens und Erinnerns nachspürte. In „Tunneleffekt“ nun entfaltet er ein breit angelegtes Panorama von Zeit- und Augenblicksreflexionen. Das Programm des gesamten Bandes steht unter dem Signum der Präzision, das der Verlag mit seinen wunderlichen Umschlagfotos aus der Welt der Nanografie, der feinsten mikroskopi-schen Registratur, plastisch werden lässt. Der Blick nach innen, so die Konnotation der Buchgestaltung, reicht über Impressionen und Gefühligkeiten weit hinaus bis ins ver-wirrende Labyrinth der Tunneleffekte. Schlesaks Gedichtbandtitel spielt nicht auf Angst- und Fluchtmotive an, sondern auf einen physikalischen Begriff. „Tunneling“ meint die Steuerung von Informationen mit Überlichtgeschwindigkeiten. Nun hat – seit Grünbein – die Korrelation von Poesie und Naturwissenschaft in der Gegenwartslyrik hohe Konjunktur. Schlesak nimmt diese Spur auf. Die Titel einzelner Gedichtzyklen heben den Zusammenhang hervor: „Die Wand der Augen“, „Licht Tunnel“, „Licht, die schnelle Grenze“, „Parallele Universen“. Vom „Blitz der Gedanken“ und vom „innern Hirngewitter“ ist gleich im Eingangsgedicht „Tiefen. Harmlos“ die Rede: „Gedichte auf ein Reißbrett / geworfen / geträumte Welt / schieß zu.“

Auf die Frage „Mein Freund, was liest du hier noch mein Gedicht“ folgt eine verblüf-fende Antwort: „ich schreibe jedes Wort mit einer Wunder Lampe / der Bildschirm strahlt mir jeden Reim schon ins Gesicht / die Augen sehen grob die Worte, doch blind die Zellen.“ Dort, wo „Schrift“ und „Cyberlicht“ korrelieren, zeigt sich die Topografie eines gefährlichen, gefährdeten Ortes – „global und tödlich“. Schlesaks Gedichte bieten weder Lösungen noch Fluchtperspektiven. Sie umkreisen ihre Gegenstände immer wie-der, verzichten auf Pointen und Schlusseffekte, sodass die Gedichte manchmal unfertig wirken und bei entsprechender Offenheit einen Dialog untereinander beginnen. Leitmo-tive wie das Auge, das Lid, die Schrift und der Tod kehren immer wieder in immer neu-en Facetten: eine Hommage an Celan, dessen produktive Rezeption in Schlesaks Lyrik an vielen Stellen aufscheint. Celan hat er eines der Schlüsselgedichte des „Tunnelef-fekts“ gewidmet, „Für Paul Celan“: „Aus ihm lesen Augen / Wimpern im Wasser unter der Haut / die Zeile lang wie das Samentelegramm in / uns und entzogen die Vor-Schrift / gelesen vom Baum der wie ein Schatten entstand. // Wortlos gehaucht / mein Haus.“
Schlesaks lyrische Schreibweise ist fließend; sie lässt sich nicht auf einige markante Techniken festlegen. Seine kürzesten Gedichte sind oft auch am konsequentesten durchgearbeitet, während andere einen unabgeschlossenen Parlando-Stil pflegen, der mit seinen Verästelungen und Verzweigungen auf merkwürdige Weise den Geflechten der Nanowelten gleicht. Meditativ und reflektiv sind die meisten der Schlesak’schen Gedichte, leise, zurückgenommene Stimmen. Einen Kontrapunkt dazu bildet Schlesaks Liebeslyrik. Und obwohl im Gedicht „Meere. Poesia erotica“ sich Verse finden wie „Und Worte sind Hülsen wie die Haut des Gesichts ohne Küsse / und gelten nicht viel“, so schlägt der Autor doch sein Thema mit Pathos und Emphase an, bis das Gedicht zu einem wortgewaltigen Liebespoem wird, das sein Catull-Motto „Wolltest dich von ih-rem Schoß nie trennen“ Vers für Vers durchdekliniert.
Schlesaks „Tunneleffekt“ erschließt sich nicht auf Anhieb: Hier gibt es nichts zum cross-reading und zum Durchblättern, sondern eine Poesie, die zum Wiederlesen verführen und zur eigenen Reflexion einladen will. Seinen Anspruch und seine Schreibmo-tivationen hat Schlesak als „Fragmente zu einer posthumen Poetik“ im Anhang des Bu-ches erläutert. Schon der Umfang deutet an, dass der Begriff des Fragments hier nicht einen Statement-Stil zu rechtfertigen versucht, sondern ein Schlüssel zur Autorpoetik Schlesaks bieten soll. Schlesak grenzt sich von jungen Lyrikerinnen und Lyrikern wie Grünbein, Waterhouse und Oleschinski ab, während er zugleich auf Celans Poetik, vor allem aber auf dessen Sprachbegriff rekurriert. Man muss seine Position nicht teilen, dazu wird niemand aufgefordert, dazu ist sie (im besten Sinne) höchst individuell kon-zipiert: als Summe einer „Wahr bleiben nur solche Sekundenbilder, mit Sprache zu-sammengesetzt wie Fotos im Labor, vergrößert, verkleinert, Momentaufnahmen, Aus-schnitte, Vorder- und Hintergründe herauspräpariert und vertauscht in Großaufnahmen, wo das ganze Gedicht dann wie eine strukturelle Metapher wirkt! Auch eine Umkehr der Bilder oder Schnitte von innen kann es geben, die zum Sinn führen. Und dann wer-den sie auch noch mit dem Formgefühl des lyrischen Ichs retuschiert, als wären sie nur Schablonen.“ (hk)

Michael Braun

Wiederkehr des absoluten Gedichts
Dieter Schlesaks Lyrik-Band „Aufbäumen“

„Worte, Worte –, Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtau-sende entfallen ihrem Flug“: Mit solchen pathetisch glühenden Sätzen formulierte einst Gottfried Benn das Evangelium seines „absoluten Gedichts“. Seine monologische Dich-tung der „Wallungswerte“ und semantisch aufgeladenen Einzelworte ist seit den sechzi-ger Jahren oft totgesagt worden. Man kritisierte die Geschichtsferne von Benns Konzept und seine metaphysische Überhöhung des poetischen Prozesses.
Die Texte, die nun der rumäniendeutsehe Autor Dieter Schlesak in seinem Gedichtband Aufbäumen vorlegt, arbeiten unübersehbar an einer Rekonstruktion des „absoluten Ge-dichts“. Zwar will Schlesak keineswegs die Benn’sche Kunstmetaphysik revitalisieren. Im poetologischen Nachwort, das er seinem Band beigefügt hat, rekurriert Schlesak auf Paul Celans Dichtung der Sprachmaterie und auf Denkfiguren der jüdischen Sprach-mystik, der Kabbala. Aber in der poetischen Praxis führt dieses Konzept zu ähnlichen Ergebnissen wie bei Benn.
Denn auch Schlesak vertraut in seinen Gedichten auf die evokative Kraft des seman-tisch aufgeladenen Einzelwortes, auf die magische Aura bedeutungsschwerer Substanti-ve. So flattern in seinen Gedichten die „Gleichnistauben“ auf, registriert das lyrische Subjekt den „Sphärenklang“ des Seins. Ziel seiner lyrischen Exkurse ist die „weiße Ge-gen“, jene Zone des Unvordenklichen und Unsagbaren, in der sich die Geheimnisse der Welt offenbaren. Die „weiße Gegend“ setzt Schlesak synonym mit einem Zentralbegriff der Kabbala: dem unaussprechbaren „Nichts“, das den Urgrund des Seins bildet. Über die mannigfachen Analogien zwischen der Bilderwelt der Gedichte und den Symbolen und Motiven der Kabbala wird man im Nachwort eingehend unterrichtet. Aufbäumen, der Titel des Gedichtbands, verweist nicht nur auf den biblischen „Baum der Erkenn-tnis“ und den „Sprachbaum“ der Kabbala, sondern zitiert auch Bilder der revolutionären Auflehnung und der Katastrophe: etwa das von Celan überlieferte Bild der verbrannten Toten, der sich aufbäumenden Leiber im Feuer. Im Nachwort signalisiert Schlesak auch den hohen Erkenntnisanspruch seiner Gedichte. Der Lyrik, heißt es da, falle die Aufga-be zu, in „Worthöfen“ und „an Sinn- und Sprachrändern das Nichtsagbare anzugehen“ und „sich den offenen Augenblick, dem Unvorhergesagten zu überlassen“. Das sprach-mystisch inspirierte Gedicht ist für den Lyriker Schlesak der letzte Ort, an dem man sich den von einer funktionalistischen Welt verursachten Trennungen und Spaltungen wider-setzen und zur Erfahrung des Ursprungs und des Welt-Zusammenhangs gelangen kann.
Es geht aber in diesen Gedichten nicht nur um mystische Erfahrung, sondern auch um historische Erinnerung. Neben die des Eingedenkens der jüdischen Leidensgeschichte tritt bei Schlesak die poetische Erinnerung an die verlorene Heimat. 1969 hat der Autor Siebenbürgen, das Land seiner Herkunft, verlassen, ohne seither je wieder an einem Ort heimisch werden zu können. Dieser schmerzhafte biografische Bruch hat sich in seine Gedichte eingeschrieben, erscheint dort in hermetischer Chiffrierung. Denn fast alle sinnlichen Wahrnehmungen, persönlichen Beobachtungen und Erinnerungen werden in diesen Gedichten in eine dunkle Metaphorik transformiert. Schlesaks sprachsystemati-sche Poetik realisiert sich in Texten, die sich um große existenzielle Schlüsselwörter gruppieren: Nichts, Sein, Zeit, Ewigkeit, Gott, Tod und Grenze bilden die elementaren Vokabeln dieser Poeme. So entstehen fast durchweg hermetische Gebilde:
„Hebräischer Block / kommt näher. Fels nach dem / Ende. Kein / Fließen mehr. Nach / dem Fall / Jahrtausendespät / versteinert das Hirn // Erschüttert, / aus dem Mund, / kein Gott, Gebrochenes Hier.“
Schlesak sucht das ästhetische Risiko: Das Gedicht wird von ihm zum transzendenten Schöpfungsakt erhöht, der alle profanen Erkenntnisprozesse weit übersteigt. Auch hier entsteht also ein „absolutes Gedicht“, das die der Sprache immanente Magie entfalten und mystische Epiphanien vermitteln will.
Diesen selbsterteilten Auftrag kann Schlesaks Gedicht nicht immer erfüllen. Auf der Suche nach kosmischen Urworten verfallen seine Gedichte zuweilen in ein sakrales Raunen, das suggestive Erlösungsformeln herbeizitiert. Die „radikale Umkehr aller Vorstellungen und Worte“ bleibt hier eine poetische Utopie. Aber es finden sich in Auf-bäumen auch Texte, die in ihrer Genauigkeitsemphase an die Dichtung Celans heranrei-chen. „Das absolute Gedicht“, formulierte Celan 1959, „nein das gibt es gewiss nicht, das kann es nicht geben!“ Aber, so Celan weiter, es gibt den „unerhörten Anspruch“ des Lyrikers, der „mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“. Dieter Schlesak hält an dem „unerhörten Anspruch“ des Gedichts fest.
Und das ist schon viel.

Walter Hinck

Elegie des Abschieds

Dieter Schlesaks Dichtung ruht im Elegischen. Im Band „Herbst Zeit Lose. Liebesge-dichte“, in dem diese Verse stehen, mischt sich noch in den Taumel des Sinnlichen und den Jubel der Sprache ein Zug von Trauer; über alle Himmel Schlesaks zieht eine Wolke. Der 1934 im rumänischen Transsylvanien als Angehöriger der deutschen Minderheit geborene Lyriker, Romanautor und Essayist, nach seinem Studium in Bukarest Redak-teur der Zeitschrift „Neue Literatur“, kam 1969 in die Bundesrepublik und lebt seit 1973 in der Toskana und in Stuttgart. Seine bedeutendste Übersetzung rumänischer Dichtung ist sicherlich die Übertragung der „Elf Elegien“ von Nichita Stănescu, dem Dichter der inneren Emigration zur Zeit der Diktatur Ceauşescus (Neudruck 2005). In der italienischen und rumänischen Literaturkritik gilt Schlesak als einer der wichtigen Vertreter moderner deutscher Lyrik; ein Band von siebzig Gedichten mit Übersetzungen ist kürzlich in Pisa erschienen. Jenseits der Alpen hat Schlesak ein Echo gefunden, das man ihm auch in Deutschland wünscht.

Mit seinem Band „Herbst Zeit Lose. Liebesgedichte“ schließt sich Schlesak an die Tra-dition einer Liebeslyrik an, die man heute leicht in den Verdacht der prickelnden Ober-flächlichkeit bringen kann, wenn man sie erotische Lyrik nennt – einer Lyrik, mit der wir Namen wie Catull und Horaz verbinden, die Liebesgenuß und -erfüllung preist. Sie begegnet uns auch in Goethes „Römischen Elegien“, deren Titel in einer Handschrift noch „Erotica Romana“ lautet. Zumal Schlesaks Gedichte im Abschnitt „Komm, schlaf jetzt mit mir“ zieren sich nicht, beschreiben Liebe als „Vulkan“ in „Flammen“. Aber fast immer geht aus dem Aufruhr der Sinne das Besinnen hervor. Ein an barocke Ver-gänglichkeitsklagen erinnernder Ton ist Signal: das Begehren nach dem Augenblicks-begehren verstummt; wahre Liebe will Ewigkeit. „Doch die Liebe ist Leben für immer“, heißt der Sammeltitel für eine der Gedichtreihen.

Im Gedicht „Meine Liebste lass uns gehen“ ist nach der Zeit der wilden Vereinigungen nun die Zeit des Abschieds gekommen. Die über die Augen gelegten Hände deuten an, dass sich der Vorhang vor der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen schließt. Aber noch einmal bringt sich Erotisches in Erinnerung, das weibliche Geschlecht, als poetisches Bild für Geburt und Zeugung. Was den Augen mangelt, kann das Herz bewahren – Herz verstanden als Inbegriff für jenes Unbeschreibbare, das mit der Seele, dem ebenfalls unbeschreibbaren Spirituellen, verschwistert ist. Unendliche Traurigkeit durchdringt die vierte Strophe. Trennung der Liebenden und Einsamkeit des Einzelnen werden unwiderruflich, und nicht zufällig wählt Schlesak in der Zeile „doch gehen ja gehen“ eine die Gemütssaite berührende Wiederholungsform des Volkslieds. Noch gewähren die Erde des Grabes und „die Seele im Flug“ eine „Umarmung“. Aber bleibt auch das poetische Bild des offenen Himmels in Kraft, so besiegelt doch der Schlußvers eine Endgültigkeit: „Denn alles fällt ab was wir waren.“

Es gibt im Band auch Gedichte von geringerer Direktheit, Beispiele wie in der Strophe: „Denn was dann nicht mehr ist / und war / die Erde, jede Zelle / Atome dieser Hand die wir so warm berühren werden! / Du meine und ich deine Hand / Sind ihre Elemente. Sie drehen sich rasend schnell / wie Glücksgefühle / und duften weiter.“ Von „Verjüngung“ wird gesprochen. Die Abschiedselegie „Meine Liebste lass uns gehen“ ist von herber Trauer. Hingenommen wird das Bedingte unserer Existenz mit einer Kraft der melan-cholischen Gefasstheit, zu der wohl nur eine Liebe verhelfen kann, die ihrer Unverlier-barkeit gewiss ist. Dieses Liebesgedicht schön zu nennen wäre zu wenig; es macht dem Gefälligen keine Zugeständnisse, ist aber nicht fatalistisch, es ist bewegend, doch nicht erweichend, die poetischen Bilder leiten uns unaufdringlich, aber unausweichlich zur Frage nach unserer Endlichkeit, kurz, dies ist ein großes Gedicht.


Redaktion Marcel Reich-Ranicki

Kastentext:

Dieter Schlesak
Meine Liebste lass uns gehen
sieh wir haben uns schon die Hände über die Augen gelegt.
War nicht dein Geschlecht schon wie immer der Aus- und der Eingang zur Welt?
Bleib mir im Herzen wenn wir vergehen.
Der Himmel ist uns hier offen doch gehen ja gehen muss jeder allein diesen Weg.
Die letzte Umarmung Liebste die letzte ist wenn wir uns nicht mehr sehn der Leib in der Erde die Seele im Flug
Denn alles fällt ab was wir waren.

Maria Irod
Lippe Lust. Poesia erotica zwischen Erotik und Mystik

Dieter Schlesak in einer Tradition der Liebeslyrik zu orten ist schwer. Vielmehr lässt sich sein Liebesbegriff, der sich ja aus den unterschiedlichsten intertextuellen Bezügen zusammensetzt, jedoch mehr als einfaches Gelehrtsein ist, aus dem gesamten Weltbild des Dichters herauslesen und nur im Zusammenhang mit seiner Poetik der Zwischen-schaft verstehen.
Man kann also Schlesaks Gedichtband Lippe Lust (Lyrikedition 2000, Book on Demand Verlag, München 2000) nicht außerhalb eines Netzes von Topoi und Leitmotiven be-trachten, die in seinem lyrischen, narrativen wie essayistischen Werk immer wieder vorkommen und von einer kohärenten Weltanschauung zeugen.
Wiederholt spricht Schlesak in seinen Selbstreflexionen (in den Interviews und Essays) von einer gemeinsamen Funktion der Lyrik und der Erotik.

Im Absoluten lebendig zu sein, bewusst zu leben – oder im kleinen täglichen („ökonomischen“) Tod einer angepassten Existenz als „Sozialtier“ dahinzuvegetieren. Schreiben, Inspiration, Liebe können es verhin-dern.

Oder:

Heute aber ist der Widerstand ontologisch, das heißt vor allem poetisch, denn die stärkste Macht jener Mattscheibenwelt und ihres Raubbaus an Natur und Seele ist der menschenvernichtende Irrglaube, dass das Sichtbare „alles“ ist, der Tod ein endgültiges „materielles“ Aus sei. Und das stärkste Tabu (...) wird nur im Traum, in der Imagination, in der Sehnsucht, ja in der Liebe und auch in der Erotik, in ihren Ekstasen gebrochen: Ekstasen in der Liebe – in Diktaten der Kunst und Poesie, in grenzüberschreitenden Praktiken von Medien und Meditierenden. Und in numinosen Zuständen von dazu Begabten, bei allen aber im Traum und in Zuständen der Gefahr zwischen Leben und Tod ist jenes tremendum des Numinosen da.

Damit wird eine feste Verbindung zwischen Lyrik und Erotik einerseits und einem eso-terischen Wissen andererseits hergestellt. Es geht dabei um die Opposition zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt und um den angestrebten Zugang zu einer ganzen Rea-lität, die die unsichtbare spirituelle Dimension nicht ausgrenzt. Schlesak schreibt in einer postsäkularen Gesellschaft, die, um mit Habermas zu sprechen, „gleichsam osmotisch nach beiden Seiten hin, zur Wissenschaft hin und zur Religion hin, geöffnet“ ist. Der von Max Weber postulierten „Entzauberung der Welt“, die durch rationalistische Strategien des fortschreitenden Kapitalismus zustande kam, hält der nachmoderne Dichter Dieter Schlesak die Sinnsuche in neuen Formen der Metaphysik und ein holisti-sches Menschenbild entgegen. Zu dieser Einstellung tragen auch die neuen wissen-schaftlichen Zugänge bei (z.B. Heisenbergs Theorie der Unschärferelation oder die Schriften des Physikerphilosophen C. F. von Weizsäcker, die von Schlesak mehrmals erwähnt werden), in denen eine Annäherung der denkbar gegensätzlichen Bereiche der negativen Theologie und der Quanten-Logik stattfindet.
Das Projekt Dieter Schlesaks könnte man wohl als Remythisierung nach dem „Tod Got-tes“, d. h. nach dem Ende jedes in Gott resümierten Sinns der Welt, beschreiben. Darin äußert sich keine naive Wiederaufnahme der subjektphilosophischen logozentrischen Tradition vor Nietzsche. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich vielmehr um ein säkulari-siertes Element im Denken des Dichters, der die Wahrheit nicht einer einzigen Glau-benslehre zuspricht, sondern die „Pluralität und Offenheit heute“ anerkennt und darin einen Versuch sieht, „dem entlarvten ideologieverdächtigen „Absoluten“ zu entkom-men“ . Zugleich warnt er aber davor, dieses herkömmliche Absolute mit dem „Einen“ der negativen Mystik, dem unfassbaren Ursprung des Seins, zu verwechseln. In diesem Zusammenhang kommt der Lyrik die Aufgabe zu, mit Mitteln der Sprache die Grenzen des Gewohnten zu sprengen und den „Erfahrungskern der Existenz mit Metaphern [...], innern (Hervorhebung: D.S.) Bildern und Traumbildern“ zu umkreisen. Dieser Poetik liegt ein Zeichenbegriff zugrunde, worin sich eine Identifikation von Wort und Ding, von Wort und Heiligem vollzieht. Das Gedicht wird also einem göttlichen Schöpfungs-akt gleichgesetzt, der im Sinne von Hölderlin eine radikale „Umkehr aller Vorstellungs-arten und Formen“ herbeiführen sollte. In diesem Kontext könne die Lyrik auch Epi-phanien des Numinosen vermitteln, die das Zeitkontinuum unterbrechen und die Grenze zwischen Leben und Tod auslöschen. Die Gedichte Dieter Schlesaks bewegen sich ständig auf dieses Desiderat hin und erheben damit den Anspruch, den Techniken der mystischen bzw. der erotischen Ekstase gleichzukommen.
In diesem Zusammenhang sollte man meines Erachtens die erotischen Gedichte Dieter Schlesaks betrachten. Der Begriff Erotik bennent bei diesem Dichter ein Phänomen, das über die sexuelle Attraktion zwischen Mann und Frau hinausweist. Er beschreibt viel-mehr eine kosmische Kraft, die imstande ist, den Riss in der Schöpfung, die artifizielle Grenze zwischen Geist und Materie wenigstens für einen Augenblick zu überbrücken und dadurch dem Menschen zu einer „mythischen Wahrnehmung“ der Wirklichkeit zu verhelfen.
Mein Beitrag ist einer doppelten Absicht verpflichtet. Zum einen versuche ich Schlesaks Poesia erotica vor dem Hintergrund der kabbalistischen Tradition der Weltschöpfung aus den Buchstaben des hebräischen Alphabets zu lesen. Zum anderen möchte ich aus einer feministischen Perspektive auf einige interessante Aspekte des Frauenbildes aufmerksam machen, die in diesem Gedichtband zum Ausdruck kommen. Die erste Interpretationsrichtung wird sowohl von vielen Textstellen angeregt, wo es sich um kosmologische Schemata handelt, die als Figuren des hebräischen Alphabets gefasst werden, als auch von den theoretischen Überlegungen des Autors .
In seiner Lyrik geht Schlesak von einer Metaphysik der Sprache aus, die zugleich eine Kosmologie enthält und von der kreativen Magie der Buchstaben Gebrauch macht. Dar-in vollzieht sich eine Wendung zu vormodernen Herkunftswelten, die freilich nicht ver-einzelt ist, sondern mit dem Interesse vieler Autoren des 20. Jahrhunderts an Hermetik und Okkultismus vergleichbar ist. „Zukunft braucht Herkunft“, heißt es in einem Vor-trag von Dieter Schlesak und diese Überzeugung drückt sich nicht nur in seiner inten-siven Beschäftigung mit der jüdischen Mystik aus, sondern auch im wiederholten Ver-weis auf solche unterschiedlichen Denker wie Swedenborg, Friedrich Weinreb, Laotse usw., die man alle einer esoterischen Tradition zuordnen kann. Im Folgenden werde ich auf eine Untersuchung der intertextuellen Bezüge bei Dieter Schlesak verzichten müssen und mich stattdessen auf die konkrete Funktion der kabbalistischen Symbolik im Gedichtband Lippe Lust konzentrieren, die ich am Beispiel einiger ausgewählten Ge-dichte beleuchten möchte. Meine These ist, dass für Schlesak der Antrieb des Schrei-bens in einer theurgischen Intention liegt. Unter Theurgie verstehe ich die von Moshe Idel definierten Praktiken – Gebete, Meditationen, Rituale –, denen die Macht zuge-schrieben wird, auf die Gottheit Einfluss ausüben zu können. Das Brückenbauen zwi-schen „der alten Sinnenwelt und jener anderen, immateriellen Welt, die geister- und geistnah ist, wo Zeit und Raum aufgehoben sind“ , die Vermittlungsfunktion der Lite-ratur, die die Kritiker schon bemerkt haben und die eine sinnbildende Wirkung in der posthumanen Welt nach Auschwitz und dem Gulag anstrebt, ist ja eine säkularisierte Form von Theurgie.
Auf den ersten Blick scheint eine feministische Lektüre der Gedichte mit einem aus der Kabbala inspirierten Weltbild schwer zu vereinbaren. Man könnte jedoch in der eroti-schen Lyrik Schlesaks eine gewisse Abweichung vom tradierten Frauenbild feststellen, die u. a. einer intensiven Auseinandersetzung des Autors mit der Kabbala entspringt. Feministische Ansichten werden im Text nicht explizit artikuliert, sondern bieten sich als Interpretationsmöglichkeit an, vor allem weil der ganze Gedichtband auf einer durchgehenden Polarität von „männlich“ und „weiblich“ aufgebaut ist. Eins soll vorweg gesagt werden: Lippe Lust ist der Ausdruck einer deutlichen Aufwertung der Körper-lichkeit und der Sexualität, die von einem patriarchalischen Frauenbild abweicht. Ob-wohl die Frau immer noch als die Andere imaginiert wird, ist diese Alterität durchaus eine Kategorie jenseits der essenzialistischen Geschlechterdichotomie. Männlichkeit und Weiblichkeit sind Archetypen, deren Komplementarität in ein mythisches Sinngefüge neu eingeschrieben wird. Die erotische Begegnung der Geschlechter beruht weiterhin auf einer Dialektik von Eigenem und Fremdem, die anders als das tradierte Muster keine Hierarchie voraussetzt. Bezeichnend ist auch die dialogische Struktur mancher Gedichte, wo sich die männliche und die weibliche Stimme bis zur Undifferenziertheit abwechseln. Die artikulierten Ichs changieren vom „radikal subjektiven Ich“ zum „poe-tologischen Ich, das seine eigene Funktion innerhalb des Gedichts reflektiert“ , wobei das Du auch nicht mehr ausschließlich auf die in Liebesgedichten naheliegende Anrede-form bezogen wird. Manchmal ist die zweite Person vielmehr im Kontext einer Ich-Spaltung zu verstehen, vermutlich als Jung’sche anima, die der Liebende auf seine Ge-liebte projiziert:

ALS ICH ZU DIR KAM
War die erinnerung da
ein mädchen in mir
so laut so stark so heftig noch
und du nur da
es leis zu übertönen.

Die Stimme der inneren Weiblichkeit wird dem Schreibenden erst nach dem „kleinen Tod“ des Orgasmus bewusst, die ähnlich dem Schreckerlebnis oder dem poetischen Einfall die alltägliche Reizüberflutung durchbricht und das „Heraufkommen von ande-ren Archetypen und Bildern von jenseits der Grenze“ ermöglichen, „die die gewohnten löschen.“

Da kamst du an in wilder zärtlichkeit
und immer stärker war die stimme
die du bist
in mir erwacht
Dann die gefahr dass deine liebe geht
erst nach der liebesnacht kam diese stimme
sie brannte mich wie feuer
und die absenz schlug ungeheuer
wütend an die leere
ein loch das keine seiten hat
und keinen ausgang keinen eingang
so dass nichts wiederkehrt
nur seine mitte ist
ein sog des abgrunds
schmerz

Wenn die Frau als passive Andere und im kulturell codierten Oppositionspaar „männ-lich“ – „weiblich“ als vom männlich-aktiven Geist Verdrängte erscheint, wird sie in ein ähnliches ungleichgewichtiges Muster hineingebracht, wie die Juden, die von den kultu-rell „Eigenen“ Deutschen zu Anderen gemacht wurden . Schlesak selbst deutet auf

einen Dialog zwischen Deutsch und Hebräisch in seinem Werk an, der dem Verhältnis der empirischen zur geistigen Welt entspricht. Deutsch wird dem Sichtbaren und der Handlung gleichgesetzt, während das Hebräische eine von der Oberfläche verdrängte Tiefenstruktur darstellt. Hebräisch ist die Sprache, die sich nicht verweltlichen lässt, der man – um mit Gershom Scholem zu sprechen – „den apokalyptischen Stachel“ nicht ausgezogen hat. Die heilige Sprache ist ein Abgrund , der sich unter der säkularisierten Oberfläche auftut. Wenn man bedenkt, dass laut Weinreb Begriffe wie „Jude“ oder „Israel“ die nationale Konnotation verloren haben und mentale Tendenzen bzw. Einstel-lungen gegenüber der Wirklichkeit symbolisieren, erhält die Parallele zwischen dem Jü-dischen und dem Weiblichen noch eine tiefere Bedeutung.
Diese lyrische Konstellation ist existenziell verankert und entsteht aus der Lebenssitua-tion eines „Zwischenschaftlers“, d. h. eines Nur-in-der-Sprache-Beheimateten. Die Exilerfahrung ist zentral im Werk Dieter Schlesaks, das in der heutigen von Absenz und Immaterialität bestimmten Welt um eine Erweiterung der Perspektiveauf die „mythi-sche Wahrnehmung“ der Wirklichkeit bemüht ist. In der Doppelnatur der Sprache (geis-tig und körperlich) widerspiegelt sich die Ordnung der Welt, was einer esoterischen Auffassung entspricht .
Die unaufhebbare Fremdheit und Einsamkeit der Existenz ist ein Grundton der moder-nen Lyrik, der auch in diesem Buch mitklingt. Schon die biblischen Genesis-Erzählungen erklären das Leben des Menschen als ein Leben im Fremden. Dieses all-gemein-menschliche Bewusstsein der Unheimlichkeit und der verstörenden Fremdheit des nachparadiesischen Menschen wird noch bei Dieter Schlesak von den historischen Ereignissen verstärkt, die die tradierten sinnstiftenden Einrichtungen „Familie“, „konk-rete beschränkbare Heimat“, „vertraute eigene Kultur“ als illusorische Tröstungen ent-larven. In der räumlichen Ordnung des Textes befindet sich der einzige Begegnungsort, wo sich das Getrennte und Fremde wiederfinden kann.
Die Erotik ist in diesem Zusammenhang eine Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Fremden und Wiederherstellung des ganzen Menschen vor dem Sündenfall. Ein utopi-scher Wunsch, ein Streben nach Einheit und Identität, die nur flüchtig und annähernd zu erreichen sind. Schlesaks erotische Lyrik bewegt sich an der Grenze zur Mystik. Der Titel eines Kapitels von Lippe Lust lautet sogar „Unio Mystica Erotica“ und im letzen Gedicht des Bandes ist von Hierosgamos die Rede.
Trotzdem – und das ist ein wesentliches Kennzeichen des Liebesbegriffs bei Dieter Schlesak – haben die aus dem Bereich der Erotik stammenden Bilder nicht ausschließ-lich eine Verweisfunktion, die dem Leser höhere religiöse Inhalte anschaulich machen. Im Gedichtband Lippe Lust kommt eine Einstellung zum Ausdruck, die sich deutlich von Augustinus’ antisexueller Integritätsvorstellung im paradiesischen Zustand abwen-det. Die enge Verknüpfung von Geschlechtlichkeit und Sterblichkeit im Denken des Heiligen Augustinus hat jahrhundertelang die abendländische Kultur geprägt und die Körperfeindlichkeit der größten Mystiker und Visionäre beinflusst. Die Hochschätzung der Jungfräulichkeit beruht auf einer Vorstellung von Sexualität als einer Form der Gottunähnlichkeit, die zugleich eine Mahnung an den Tod und die Vergänglichkeit sei. Augustinus entwickelt die Fantasie einer Fortpflanzung ohne sexuelle Lust, einer Inti-mität ohne Überschreitung der Körpergrenzen, wo „ohne Stachel brünstigen Begehrens, in voller Ruhe des Geistes und Körpers und ohne Verletzung ihrer Unversehrtheit, […] der Gatte seines Weibes Schoß befruchtet.“
Von dieser dominanten theologischen Auffassung ist Schlesak meilenweit entfernt. Er bringt zwar die Geschlechtlichkeit auch in die Nähe des Todes, spricht sie aber von der Sündhaftigkeit los. Die letzte Konsequenz des Sündenfalls sei, so Schlesak, die Unfä-higkeit, die spirituelle Dimension der Wirklichkeit zu erfassen. „Nur getrennte (mate-rielle) Körper zu sehen, ist eine Art Sündenfall, weil wir so im Körper und unseren Sin-nen – also dem Schein und der Illusion – gefangen bleiben!“ Unsere Vorstellung von Erotik müsste also vielschichtiger, umfassender, mystischer werden und die Aufspal-tung des Begriffs Liebe in Eros und Agape überwinden. Mehrfach kommen in den ero-tischen Gedichten Schlesaks Bilder der Verschmelzung vor, die das göttliche Konzept der nach Ganzwerdung strebenden Sexualität wiederherstellen. So wird der Körper nicht mehr vom Geist getrennt, sondern die Sexualität vielmehr als jenen Punkt der menschlichen Person anerkannt, an dem der Körper am ehesten zum Geist durchbrechen kann. Die erotische Vereinigung grenzt an ein Versinken in den Urzustand freu-dentrunkener Ekstase und das Einswerden mit dem Universum.

LUST WILL ICH DIR GEBEN LUST WEIL ICH DICH MAG
so dass du untertauchst in meinem fleisch
und wir uns ganz vergessen
die härte weich wird: du und ich
wir sind das erste paar
wir sind ein jedes paar
wir sind in diesem augenblick
vermengt & nichts als das
seit hier auf diesem blauen stern
die liebe brennt
& liebe dreht uns um
dass wir die lange reihe sehen können
oh komm und lösch mich aus mein ich
verschmelzen wir im feuer.

Der Dichter bettet die Sexualität und die Geschlechterpolarität in ein kabbalistisches Muster ein, um sie von der „Gefangenschaft im ausweglos Materiellen“ zu retten. Das Gedicht Rondinara / Korsika Sommer aus dem Kapitel Unio Mystica Erotica ist ein relevantes Beispiel dafür. Am Anfang erweckt der Text den Eindruck, es handele sich einfach um eine zufällige erotische Begegnung an einem sonnigen Meeresstrand. Die erste Sequenz des Gedichts arbeitet mit Bildern, die Wollust und Weiblichkeit evozieren („gespaltene Früchte“, „nasser Sand“, „schwarze Muschel“, „haariges Geheimnis“) und auch ausdrücklich an ein sexuelles Erlebnis erinnern, das wiederum mit Plötzlichkeit („Spontanfick“) und der „Sehnsucht nach einer fremden Berührung“ verbunden ist. Es entsteht ein Bildergeflecht, in dem die kabbalistischen Chiffren schon präsent sind. Die Frucht ist ein stark besetztes Symbol, das nicht nur für Fruchtbarkeit steht, sondern zugleich auf die vom Ur-Baum getrennte Frucht andeutet, die die Idee der Spaltung in sich birgt.
Die konkrete Situation, von der das Gedicht seinen Ausgang nimmt, wird auf die biblische Schöpfungsgeschichte bezogen, was eine Reflexion über den Sündenfall, die Entstehung der zwei Geschlechter und die Kluft zwischen Körper und Geist auslöst. Dieser ursprünglichen Spaltung steht die Gier entgegen, die im Gedicht unter verschie-denen Erscheinungsformen („Lebensgier“, „Neugier“, sexuelle Begierde) auftaucht. Vor dem bereits erwähnten esoterischen Hintergrund kann man wohl die Lebensgier auch als Gier nach Eva interpretieren, deren hebräischer Name Chava Leben bedeutet . So wird die Sexualität in den breiteren Rahmen des spirituellen Strebens nach Ergänzung integriert, das der Mystik nahe steht: „…hier also mystica erotica das ist der Kern der Welt.“
Die erotische Begegnung als reales Geschehen versinkt in Mehrdeutigkeit, die das We-sen der Allegorie ist. Schlesaks Gedicht gleicht in dieser Hinsicht dem Weinreb’schen Mythoskonzept, das ebenfalls auf der Nahtstelle zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen erstellt wird. Im Fortgang des Gedichts, vor allem in seiner zweiten Sequenz, wird das sexuelle Motiv zu einem kosmogonischen und anthropogonischen transfor-miert. Das bringt die LeserInnen gleichsam zur Erkenntnis Weinrebs, dass das Wich-tigste in der zusätzlichen Bedeutung innewohnt, die von einem bestimmten Objekt oder Ereignis wahrgenommen wird.
Das erotische Erlebnis am Strand findet bezeichnenderweise in der Nacht von Freitag auf den Samstag statt, also auf der Schwelle zum siebenten Schöpfungstag. Bis zu die-sem Zeitpunkt der Schöpfungsgeschichte gab es im paradiesischen Zustand keinen Tod und auch keine Trennung und keinen Identitätssinn. Der Ur-Mensch, der von den Kab-balisten Adam ha-Rishon genannt wird, war eine androgyne Riesengestalt, die nicht mit physischen Augen sah, sondern mit einem unendlichen Bewusstsein ausgestattet war . Damit verbunden ist die Idee, die bereits in der antiken Midrashim-Literatur vorkommt, dass Adam und Eva gleichzeitig und gleichwertig geschaffen wurden. Diese Auffassung liegt dem Frauenbild zugrunde, das den ganzen Lyrikband durchzieht:

Die Frau ist nicht die „Rippe“ (Unsinn: Luther!)
nein, sie ist „tsel“ wie es hebräisch heißt
ist Schatten Bild und Seite IST unsre andere Hälfte
sie tritt nicht aus dem Mann sie IST
der Schatten stößt sich ab die Frau sein Traum und doch
viel wirklicher als er…

Von dieser ontologischen Ebenbürtigkeit von Mann und Frau gehen alle erotischen Ge-dichte Schlesaks aus und dekonstruieren damit die patriarchalische Geschlechterhierar-chie. Die Tatsache, dass die Frau hier als „Schatten“ bezeichnet wird, heißt jedoch nicht, dass sie ein ontologisches Derivat des Mannes sei. Das hebräische Wort tselem (Bild, Antlitz), in dem auch das Wort tsel (Schatten) mitklingt, kommt in der Genesis vor, wo es heißt: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ (1:27, Mose). In der esoterischen Tradition bezieht sich tselem auf den Astralkörper, den Vermittler zwischen dem physischen Leib und der immateriellen See-le. Im Zohar sowie bei Dante in der Göttlichen Komödie wird der Astralkörper im Zusammenhang mit dem Schatten erwähnt, was auf das hebräische Wortspiel zwischen tsel und tselem zurückzuführen ist . Wenn in der mystischen Interpretation der Schat-ten eines Menschen die Projektion seines inneren tselem ist, dann könnte man wohl meinen, dass hier die Assoziierung von Frau und Schatten – „…diese Frau in dir ersetzt die Stelle wo / mein Schatten war der fliegen konnte“ – eigentlich als eine Anspielung auf das Jung’sche Modell von anima und animus zu verstehen ist.
Der Begriff „Erotik“ wird also auf der Dialektik der Spaltung und der brennenden Sehnsucht nach Verschmelzung aufgebaut. Diese prototypische Spaltung, die sich nicht nur auf die Geschlechterpolarität bezieht, sondern auch die Trennung von Körper und Geist, göttlich und menschlich, Eigenem und Fremdem mitrepräsentiert, ist ein Grundmotiv im Denken Schlesaks. Die Unüberwindbarkeit der uranfänglichen Spaltung ist Ursache des Leidens, aber im Umkreisen dieses Themas mit Bildern und Metaphern liegt ein unerschöpfliches kreatives Potenzial.

Es ist die Trennung in der Welt
die wehtut / und das sind wir
weißt du dass hier in unserer Nacht
wir Eins sind in seinem Widerhall
kennst du die „Gotteszahl“ von der
wir durch die Trennung abgefallen sind
wie eine Frucht von dem verdammten Baum
der alles schön entzweigeschnitten hat?

Die poetische Kraft solcher Meditationen liegt in der mythischen Aufladung der Spra-che und dem Vermögen, äußerst konzentriert ein dichtes Bezugsgeflecht entstehen zu lassen. In der oben zitierten Stelle kann man die Lehre über die Entstehung des Kosmos aus dem Einen erkennen, die sowohl den Neuplatonikern als auch den Kabbalisten eigen ist, sowie die esoterisch fundierte Beziehung zwischen Buchstaben und Zahlen und das ganze Paradigma „Spaltung“.
Auch in der erotischen Lyrik bleibt Dieter Schlesak durch seinen Stoff ein Me-taphysiker. Sein kosmologisches Weltbild ist der kabbalistischen Hermeneutik und auch der pythagoreisch-platonischen Tradition der sakralen Mathematik verpflichtet. In sei-nen Essays lehnt er ausdrücklich das rationalistische Konzept ab, das „Zahl und Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise“ voneinander trennt. Für ihn haben die Zahlen eine tiefere Bedeutung jenseits der rationalen Beziehungsgrößen. Die wechselseitigen Verknüpfungen zwischen Zahlen und Buchstaben und ihre mythisch-metaphysische Signifikanz fangen schon mit der „Gotteszahl“ an. Diese „Gotteszahl“ bezieht sich einerseits auf Aleph, den ersten Buchstaben der heiligen Sprache, die un-begrenzte und lautere Gottheit, d. h. das En Soph oder die ewige Eins, aus der die Welt hervorgeht. Andererseits wird damit das Tetragrammaton J H W H gemeint, ein Buch-stabengeflecht, das in der jüdischen Tradition als verborgener Name Gottes gilt und dessen richtige Aussprache verloren gegangen sei, weshalb es üblicherweise als ha-Shem (= Name) umschrieben wird . Im Sinne der Gematria denkt Schlesak über Weltordnung, Stellung des Menschen gegenüber der Gottheit und die Rolle der sexuel-len Vereinigung zwischen Mann und Frau nach.

Jetzt rätsle nur an Seinem Namen: J H W H
so hieß er doch, J ist die Zehn und H die Fünf
und W heißt Mensch ein UND das trennt
die eine Fünf der H von ihrer andern H
was Fenster heißt. Die Zehn (die Eins) zerschnitten
durch uns: in Mann und Frau! Das Ganze aber
samt dem Schmerz der Trennung
die wir doch täglich brennend spüren
und wollen tief ineins zusammen
kommen – ist Niemand /Anders
als der ganze „Gott“!

Es ist vielleicht nicht unbegründet, wenn man hier auch eine Andeutung auf eine gnosti-sche Lehre erblickt, die u. a. im Zohar vertreten wird und die die Spaltung in die Got-theit selbst einschreibt. Die transzendente Eins (oder En Soph) bringt zehn Sefirot (d. h. Gefäße der göttlichen Kraft) hervor, die unterschiedliche Attribute von J H W H aktua-lisieren. Die zehn Sefirot werden hierarchisch dargestellt als eine vertikale Struktur, die die absolute Transzendenz mit der irdischen Welt verbindet. Überdies wird im Zohar die Emanation der niedrigeren Sefirot aus den höheren als Geburt aufgefasst und das Verhältnis der Sefirot-Paare in erotischen Bildern anschaulich gemacht. Die niedrigste Sephirah, Malkhut oder Shekhinah genannt, wird als weiblich betrachtet und steht für die Anwesenheit Gottes auf Erden . Im Zohar wird eine Remythisierung der bibli-schen Texte unternommen, indem die zehn Sefirot als Gestalten in den biblischen Ge-schichten interpretiert werden . So etwa nach der Episode des Goldenen Kalbs findet eine Selbstspaltung Gottes statt. Infolgedessen wendet sich die männliche Hälfte der Gottheit voller Wut von den Menschen ab, während die weibliche Hälfte Shekhinah das Volk Israel ins Exil begleitet.
Wichtig für unser Anliegen ist im Falle dieses Mythos vor allem die Idee, dass die Natur der Gottheit ebenso wie die des Ur-Menschen androgyn ist. Mit dieser Auffassung geht eine gewisse Gleichstellung des männlichen und des weiblichen Prinzips einher. Zugleich beinhaltet der im Zohar vorkommende Mythos eine Kritik an seiner eigenen gnostischen Quelle. Die Spaltung Gottes bedeutet also nicht unbedingt, dass die irdische Welt verdammt ist, da der wütende und strafende Gott-Vater nur eine männliche Persona des J H W H ist.
Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Spaltung Gottes der Spaltung in der Darstel-lung entspricht, und zwar der Kluft zwischen Zeichen und Gegenstand. Daraus erklärt sich die Vehemenz, mit der Schlesak den Wirklichkeitswahn des Realismus und die fal-sche Mimesis bestreitet. In diesem Zusammenhang lesen sich folgende Verse wie eine Erinnerung an die theurgische Funktion des Liebesaktes:

…wenn ich nachts ins freie renne
seh den eingesperrten baum
bin ichs auch und renn und renne
mir entkomm ich kaum
doch sagst du so fließe
fließe lieber menschenfluß sei mein
arme beine leib und pflanzer sind
ja nicht nur dein
[…]
eingebildet alles feste:
NICHTS als irrer sinn!
komm mein lieber: wir verschmelzen
sind dann fließend endlich wahr.

Das Feste, das durch die erotische Vereinigung überwindbar wird, ist das Handgreifli-che und Nur-Sichtbare, die Illusion des Goldenen Kalbs. Die Sprache der Poesie ver-sucht wiederum dem Fließenden der erotischen Ekstase gleichzukommen und an man-chen Stellen entstehen echte Glossolalien, wie etwa die folgende Passage:

…wie der Ertrunkene
im Lächeln an Kommendes ist er vergeben
fast schon ein Kind im Schrei jetzt des Orgasmus
des Sexuellen Tropfenglanz Zauber warum so großen Blickes dans des cas pareils sperrbeinig fenster-sturzläuternd c´est toujours unbedacht blindlings die gleiche Sache…

Diese Auflösung der Syntax verweist zum einen auf eine Dekonstruktion der klassi-schen mimetischen Verfahren und zum anderen auf die semiotische Ausdrucksweise, die Julia Kristeva dem weiblichen Schreiben zuspricht . Ohne an dieser Stelle auf die Opposition männliches Schreiben – weibliches Schreiben eingehen zu wollen, sei jedoch kurz darauf hingewiesen, dass im von uns besprochenen Lyrikband Dieter Schlesaks das Schreiben vorwiegend männlich codiert wird . Abgesehen von den semiotischen Passagen im Sinne Kristevas finden sich darin zahlreiche Formulierungen, die auf eine enge symbolische Verbindung zwischen dem Schreibinstrument und dem Phallus andeuten. Es seien hier nur einige Beispiele gegeben: „…jetzt fließt mein Same zu dir / hier auf dem weißen Papier erigiert der Finger wie das Glied…“; „Abwesend hier / doch mitten drin / ein Liebes Buchstab ja, mein Baum / oh der Zaddik mit seinem Phallus / das vögelnde Gebet…“ oder „Erlöst mit uns / geöffnet seine weiche Schrift / mein Griffel ist der Menschenstab / und schreib und schreib damit / in deinen nackten Leib jetzt tief hinein.“ (Hervorhebungen: M. I.)
Trotzdem lässt sich die Lyrik Schlesaks kaum einem ideologischen Hintergrund zuord-nen. Durch seinen Bezug zum Mythos grenzt er sich grundlegend von jeder Ideologie ab. Da Mythos sich wie Religion auf ein Numinoses gründet, hat er seinen Bezugspunkt außerhalb des geschlossenen geistesgeschichtlichen Systems und unterscheidet sich da-durch von der Ideologie, die ein innerweltliches System mit Allgemeingültigkeitsans-pruch darstellt. Zum Mythos kommt noch das numinose Zeichen als Bestätigung hinzu, dass sich das Gesamtsystem nicht nur aus Elementen dieser Welt zusammensetzt. In diesem Rahmen lassen sich auch die erotischen Gedichte Schlesaks am besten interpre-tieren, die ebenso wie die Liebe selbst als theurgische Akte aufgefasst werden und de-nen die Macht zugesprochen wird, wenigstens vorübergehend die Wunde in der Schöp-fung heilen zu können.

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WEINREB, Friedrich: Die Symbolik der Bibelsprache. http://www.geocities.com/fweinreb_documentation/

Cosmin Dragoste

Utopie-Heimat oder die Heimat als Beruf
Dieter Schlesak: Transilvania, mon amour

Schon der Titel des neuen Bandes zeigt eines der Lieblingsthemen des Lyrikers Dieter Schlesak und ist gleichzeitig ein Glaubensbekenntnis, denn der siebenbürgische Dichter hat nie sein Land vergessen und war immer danach bestrebt, es für sich und für die an-deren immer wieder zu vergegenwärtigen. Dieser Schriftsteller hat sich immer nach Siebenbürgen gesehnt, das bezeugen seine Verse, seine Prosatexte und seine Essays. Denn „Transsylwahnien“ war für ihn Pattern, geistliche Matrix und der Ort der ewigen Wiederkehr.
Transilvania, mon amour ist ein Buch der Suche, des Findens, ein Buch der Vergan-genheit, die über die Gegenwart in die Zukunft transzendiert. Heimatlyrik? Ja und nein. Ja, Heimatlyrik in ihren besten und produktivsten Zügen. Schlesak benutzt manche der Konventionen der Heimatliteratur, wie z.B. die Rückkehr eines Fremdlings in sein Heimatdorf. Es ist aber ein anderer Fremdlingstyp, der von seiner ursprünglichen Welt nur geographisch entfernt war: die Heimatlandschaft lebt in ihm als mentale Gegend. Eine mentale Gegend, die nicht irgendwo in der Vergangenheit geblieben ist (an einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung), sondern ein anderes, stark subjektives Leben geführt hat. Die Rückkehr bedeutet eine Gegenüberstellung des mentalen Bildes des Landes mit dem wirklichen. Die infolge dieser Konfrontation entstandenen Unterschie-de sind riesig und sie verursachen Risse im Weltbild des lyrischen Ichs. Diese scheinbar paradoxale Situation wird lyrisch in einem extrem gespannten Zustand ausgedrückt: „Abwesend bist du / Und immer da [...] Wir sind, was niemals war / Und was niemals mehr sein wird.“ (Abwesend bist du).
Eine andere Konvention der Heimatlyrik, die von Schlesak sehr einfallsreich und pro-duktiv verwendet wird, ist der abgeschlossene Schauplatz, eine isolierte Welt, die vor ihrem endgültigen Sterben beschrieben wird. Die historischen Ereignisse und Beding-theiten führen nicht zu rhetorischen und pathetischen Fragen, das lyrische Ich verliert sich nicht in Klagen, sondern versucht, immer nüchtern, die Gründe des Verschwindens zu finden und zu befragen. Ein interrogatives lyrisches Ich organisiert die Suche, das Wiedersehen mit der Heimat, verwandelt die ursprünglichen poetischen Koordinaten, indem es in ihnen die verschiedensten Valenzen entdeckt. Ein durchaus modernes lyri-sches Ich, dem es gelingt, einige der Konventionnen der Heimatlyrik gründlich zu ver-ändern.
Wichtig in diesem Lyrikband ist auch die Grenze, die die Vergangenheit von der Ge-genwart trennt, aber auch das Leben vom Tod, das Erdachte vom Wirklichen. Es ist eine sehr bewegliche Grenze, eine ontische und strukturale und die poetische Instanz ver-sucht nicht, diese Grenze zu verfestigen, sondern überlässt es dem Leser (der dadurch zu einem interaktiven wird), sie zu erkennen und sie dort zu schließen, wo er es für nötig hält. Diese Grenze kann aber auch aufgehoben werden, es ist eine Grenze mit einer virtuellen Existenz, die von der Subjektivität entfaltet und ununterbrochen versetzt wer-den kann: „Ein Grenzlid. / Floh ich in die Gegend des Endes? // Und dann / Nach einem Jahr nach zweien / Vernarbt der Flüchtling in uns / Nachts zwischen zwölf und eins / Geht er manchmal noch um // Tastend die Hände verletzt / am Grenzpfahl.“ (Ein Grenz-lid)
Höchstinteressant ist das poetische Spiel mit dieser Grenze, denn es strukturiert die Wirklichkeit als Text, der immer wieder interpretiert und destrukturiet werden kann. Wenn die Grenze versetzt wird, entdeckt man nur noch Löcher, Vergessen, eine unmög-lich zu verinnerlichende Vergangenheit, Verschwinden, Leere. Die Grenze trennt nicht, sie enthüllt die überall lauernde Angst als allherrschendes lyrisches Gefühl, das verunsi-chert und dem Text eine besondere Dynamik verleiht. Alle Versuche, die Vergangenheit wieder lebendig zu machen (oder die Welt als mentalen Zustand, als selbstständigen Prozess zu verwirklichen), sind zum Scheitern verurteilt. Die Suche nach der alten und geliebten Heimat gehen apriorisch fehl, denn diese Heimat ist eine Utopie, ein „Nicht-Ort“, im Sinne von Bernhard Schlink (Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Suhrkamp, 2000), eine Sehnsucht, eine Hoffnung, ein Gefühl, die nur im Exil erlebt werden können und nur aus der Distanz zu begreifen sind. Die Heimat ist da, nur wenn sie fehlt. Bei Schlesak findet man eine doppelte Abwesenheit der Heimat: die vom Exil verursachte und die konkrete, da die siebenbürgische Suche, eine komplexe und komplette, nur eine verwüstende Leere entdeckt. Die Heimat besteht aus Vergangenheitsfetzen, Resten, Erinnerungen, die der Vielfalt des damaligen Lebens einen neuen Wert zu geben versu-chen. Das Eintauchen in die Vergangenheit bewirkt keine Neuentdeckung der Heimat, keine Auferstehung oder Verlebendigung, sondern nur einen fehlenden Sinn. Trotz der verzweifelten Versuche ist das lyrische Ich nicht imstande, die alten Zeiten noch einmal vollkommen zu erleben; es bleibt zwischen „zwei Steppen“ (wie Tudor Arghezi schrieb) gefangen.
Die Heimat wird manchmal in einer Art Traumzustand erlebt, die Umrisse lösen sich auf, sogar die Schmerzen werden taub. Nur in diesem Zustand kann es eine Erfüllung der Sehnsüchte geben, eine Rekonfiguration der Topoi (im Sinne des Philosophen Nis-hida Kitarō mit seiner „basho“-Lehre). Es gibt keine Grenzen mehr zwischen Innen und Außen, die poetische Konstruktion spiegelt sich selbst wider.
Das lyrische Vorgehen geht aber noch tiefer: genauso wie in vielen seiner Werken ver-sucht Dieter Schlesak die Geschichte eines Volkes neu zu entdecken. Die Maske des ly-rischen Ichs erforscht die Ursachen des Untergangs der Sachsen in Siebenbürgen, wobei es nichts verheimlicht. Das „Deutschsein“ bestimmt nicht nur die Weltanschauung, sondern auch das ontische Verschwinden. Wie ein lyrischer Archäologe sucht Schlesak alle Reste einer gesellschaftlichen Vergangenheit, die inneren und äußeren Gründe, die den Untergang bewirkt haben. Der Zweite Weltkrieg ist eine noch nicht geheilte Wun-de, Schuld und Sühne werden nicht mehr manichäistisch betrachtet, weil das poetische Verfahren den kleinsten Nuancen folgt und sie erklärt. Die Risse und Unzulänglichkei-ten der Welt beeinflussen das Wesen, das darum bemüht ist, sich selbst zu erkennen. Das „Deutschsein“ ist von zwei gegenseitigen Bewegungen geprägt: Bleiben und Zu-rückzugehen, also den eigenen Ursprung wiederzuentdecken.

WARS NICHT DAS DEUTSCHSEIN
schwer zu halten in dieser Gegend / Trotz –
dem Boden aufgezwungen. Tüchtig
und fehl am Platz.
Und jetzt / rückflandern.
Ich weiß dich, Magdalena, du,
mein Opfer.
Fremd / für die Väter / fremd –
vom Volk der Heiligenverehrung,
Weihrauch und Myrhe.
Ganz oben steht der brave
Protestant. Ganz unten sind
die Fiedler und die Träumer.
Geht durch uns nicht
der Riss der Welt:
Der Krieg / von
Nord und Süd?
Die Welt auf eignen Kopf
zu stellen: In Deutschland nun
zuhaus.

Wichtig für die Erfahrung der Heimat ist das Sehen, das Auge, das der Augen-Blick ermöglicht. Das Öffnen der Augen hat esoterische Merkmale, ein Blitz kann sie so ge-waltig aufmachen, dass das optische Wahrnehmen zu einem schmerzhaften Prozess wird. Das unter Schmerzen geöffnete Auge ermöglicht dem Ich das Sehen hinter den Dingen; so wird das Betrachten der Heimat zu einer Beobachtung der Urphänomene, die das deutsche Wesen in Siebenbürgen bestimmen. Schlesak gelingt es meisterhaft, diese Urphänomene durch Partikularisationen auszudrücken. Es ist eine „Partikularisa-tion der poetischen Anschauung“, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik geschrieben hat. Durch diese Partikularisation werden auch zentrale Fragen zum Aus-druck gebracht: Gott, Tod, Leben.
Das ununterbrochene Suchen der Heimat bringt auch die Erfahrung der Identität, ein anderes zentrales Thema bei Dieter Schlesak. Die von der Heimat (auch als poetisches Konstrukt) bestimmte Identität geht mit dieser unter, was wesentliche Veränderungen auf allen ontischen Ebenen bestimmt. „Am Rande sein“ wird sympthomatisch für das lyrische Ich, auf die zentrale Stellung wird verzichtet, das Leben, die Heimat, die Wirk-lichkeit werden wie von einem Außenseiter wahrgenommen, und das verursacht eine Repolarisierung der poetischen Konventionen im Spiel zwischen Distanzierung und Annäherung.

In Deutschland kein Deutscher
in Italien kein Italiener
in Rumänien kein Rumäne
in Deutschland ein Italiener
in Italien ein Rumäne
in Rumänien ein Deutscher

Anderswo
und nie dort
wo ich bin
für euch nur Mensch
ganz am Rande
zu sein

Die Erfahrung einer total veränderten Heimat, das Bedürfnis, die Zeit zu überschlagen, führen zur „Geburt der Erinnerung“, die Urlandschaft kann nur in einem ahistorischen Zustand gefunden werden. Wenn die Erinnerung den lyrischen Diskurs vorantreibt, dann erscheinen auch die Gestalten der verstorbenen Freunde, denen Dieter Schlesak Gedichte widmet. Es sind nicht nur einfache Widmungen oder ausgezeichnete Wieder-holungen und Nachahmungen von Stil und lyrischen Bildern, die in den Werken jener Bekannten auffindbar sind, sondern es geht mehr um einen transpersonalen Dialog. Wie bei Paul Celan oder Lucian Blaga werden die Toten wieder lebendig, die entstehenden intertextuellen Gespräche bilden eine neue Heimat: die Dichtung.
In seinem oben erwähnten Essay schreibt Schlink, dass für manche Menschen die Hei-mat der eigene Beruf ist. So kann man auch über Dieter Schlesak sagen: Seine Heimat, der er treu und ergeben durch sein Schreiben dient, bleibt für ihn das wichtigste künstle-rische Mittel, sein Leben zu gestalten.

VI
DIE VIER NEUEN ROMANE SEIT 2002 UND EINE TRANSSYLVANISCHE REISE


Jürgen Egyptien
Totenschrift und posthume Ästhetik
Zu Dieter Schlesaks „Verweser“-Projekt

Totenreich, darin
Lebendiges sich träumt.
Es scheint, ich sehe,
Ich sehe Schein,
Kadaverspur dazwischen.
Ernst Meister

Schon seit Jahren arbeitet der rumäniendeutsche Schriftsteller Dieter Schlesak, der im siebenbürgischen Schäßburg geboren wurde und seit 1969 im Westen lebt, an seinem großen ,Verweser’-Projekt, das in dieser Zeit bereits eine Reihe von Metamorphosen durchlaufen hat.
Schlesak, der mit seinen beiden Gedichtbänden „Weiße Gegend“ (1981) und „Aufbäu-men“ (1989) zu den interessantesten und anspruchsvollsten Lyrikern zählt, knüpft mit seinem Geisterroman „Der Verweser“ formal an seine Prosapublikationen der letzten zehn Jahre an. Gemeinsam war dem Roman über die Kunst des Verschwindens, „Vater-landstage“ (1986), und den beiden essayistischen Bänden „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ (1991) und „Stehendes Ich in laufender Zeit“ (1994) die Verschlingung von historischer Reflexion, kritischem Zeitkommentar und poetischer Fantasie auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen. Diese Struktur weisen die Verweser-Fragmente ebenfalls auf, wenngleich hier die Erzähltechnik von weit höherem Komple-xitätsgrad ist. Was in den „Vaterlandstagen“ noch weitgehend im Raum der Kommen-tarebene angesiedelt war, nämlich jene für Schlesaks Denken zentrale Vorstellung von der Durchlässigkeit der Grenze zwischen Lebenden und Toten, ist im Verweser-Projekt selbst zum erzählerischen Sujet geworden. Übernommen hat Schlesak die Figur des Mi-chael T., die hier als Michael Templin auftritt und ein Alter Ego des Autors ist. Michael Templin selbst ist nämlich seinerseits ein um Jahrhunderte in die Zukunft projiziertes Alter Ego des italienischen Renaissance-Schriftstellers Nicolao Granucci, der wegen ei-nes ,Zauberbuches’ und einer Liebesaffäre in einem Turm gefangen gehalten wird. Wie es eine Spiegelung der Vergangenheit in der Gegenwart gibt bzw. eine Wiedererinne-rung von reinkarnierender Kraft, so ist in der jüngsten Entwicklungsphase des ,Verwesers’ auch ein Korrespondenzverhältnis in die Zukunft hinzugetreten. Das von Prof. S. übersetzte Gedicht, das am Anfang der hier mitgeteilten Fragmente auf dem Computerbildschirm Templins auftaucht, trägt die Unterschrift von Granucci und Cris. Cris ist der von Templins Erzählgegenwart her gesehene tote Erzähler, der aus der Ab-geschlossenheit seiner posthumen Existenz heraus die Kommunikation mit den Leben-den sucht. Auch Cris, das sei nebenbei erwähnt, begegnete bereits als – noch lebender – Chris in Schlesaks „Vaterlandstagen“, und zwar gemeinsam mit dem Ich-Erzähler Mi-chael T. in einer Bukarester Kneipe mit Namen Turnul, was soviel wie ,Turm’ heißt. Der TURM im ,Verweser’ ist zugleich Metapher für den Körper selbst. Er erscheint nicht minder als Gefängnis für eine Wahrnehmung, die auf die materielle Außenwelt beschränkt ist und ihre Grenzen mit denen der Wirklichkeit verwechselt. Diese nämlich umfasst als Weltinnenraum das Reich der Toten so gut wie das des eigenen GeWesen-Seins. Aus der Perspektive des Futurs II versucht Schlesak den Blick auf die eigene Existenz wie auf die Geschichte zu werfen und damit eine allmächtig erscheinende Chronokratie zu erschüttern, die als totalitärer Utopiekerker wie als Konsumparadies das utopische wie das paradiesische Potenzial eines grenzüberschreitenden Tuns pervertiert. Dabei ist nicht bloß an die halluzinative Loslösung, d. h. Absolution des Denkens und der Seele vom Körper gedacht, wie es einem konventionellen Verständnis von Ein-bildungskraft entspräche. Es liegt dem vielmehr das Konzept eines Paradigmenwechsels auch in der physikalischen Theorie zugrunde, welcher das Raum-Zeit-Kontinuum prak-tisch zu transgredieren erlaubt. Die Literatur freilich hat schon immer über technische Mittel verfügt, andere Ziele und Räume zu vergegenwärtigen, und auch Granucci ist ja im Besitz eines Chronovisors gewesen, der ferne oder vergangene Geschehnisse einzu-fangen vermochte. Im frühen 20. Jahrhundert gehörte Mynona zu den Autoren, die etwa in Erzählungen wie „Goethe spricht in den Phonographen“ oder „Die langweilige Brautnacht“ technische Neuerungen und mediale Keimformen zu Spekulationen über leibliche Verwandlungen oder das Hörbarmachen von Totenstimmen nutzten. Auch Mi-chael Templin experimentiert an einer „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“ (Hölderlin), die in der Erkenntnis mündet, dass sich das Leben nicht auf den Tod, son-dern die Geburt zubewegt, oder – um eine Äußerung von Novalis zu variieren – ,Sollte es nicht einen hiesigen Tod geben, der eine jenseitige Geburt ist?’ Das ist allerdings nicht im christlichen Sinne zu verstehen, vielmehr als Rückgeburt zu einer ursprüngli-chen kosmischen Existenzform, von der uns im hiesigen Leben nur in Augenblicken mystischer Helligkeit, künstlerischer Inspiration oder im Traum eine Ahnung streift. Das Modell einer konsequenten Inversion der Lebensalter begegnet übrigens in einer der surrealistischen Sequenzen von Werner Warsinskys merkwürdigem und streckenweise faszinierendem Roman „Kimmerische Fahrt“ (1953), wo der Ich-Erzähler belehrt wird: „Wir alle werden als Greise geboren und sterben als Kinder.“ Entsprechend heißt es denn auch von den im Mausoleum Aufgebahrten, die in großen goldenen Eiern liegen, sie seien nun „entboren“ worden.
Der Tod also bildet das Tor zu einer höheren Bewusstseinsstufe, zu einer Daseinsform, die sich dem Leben gegenüber verhält wie der Schmetterling zur Puppe – und der Volksglauben nannte ja auch einmal die Schmetterlinge nicht ohne Grund Totenvögel und sah in ihnen die Seelen der Verstorbenen. In diesem Sinne wäre das ,Verweser’-Projekt tatsächlich als ein radikal anderes Modell eines ,Entwicklungsromans’ zu ver-stehen, wie Schlesak es brieflich einmal bezeichnete. Den Schritt, der damit vollzogen wird, charakterisiert Schlesak in seinem „Stehenden Ich“ als „Einsatz für das neue fälli-ge Paradigma, wo die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist, die raumzeitli-che materielle Welt sich als Illusion erweist“. (S. 32) Das Leben geht nach dem Tod weiter, die Kraft unseres Werdens „geht in unserer Entelechie über unseren Tod hinaus“ (S. 261), das behauptet Schlesak nicht nur im rückversichernden Verweis auf eine Äu-ßerung Lessings am Ende der „Erziehung des Menschengeschlechtes“, sondern als zeit-genössischer Halter elektronischer Haustiere aufgrund einschlägiger Erfahrungen mit der ,Instrumentellen Transkommunikation’. Dies ist zudem der Titel einer Schrift des Physikers Ernst Senkowski, welcher sich hinter dem Prof. S. des Textes verbirgt. In die-sem Werk geht es um die praktischen Möglichkeiten, die die neuen Medien bei der Kontaktaufnahme mit den Transwesenheiten – so der Fachjargon für Tote – eröffnen. Ungeachtet der Frage nach Solidität einerseits und Gefahren andererseits ist für die prä-sentierten ,Verweser’-Fragmente dieser Hintergrund insofern auch von ästhetischem Gewicht, weil sich hier der exzessive, Einsatz verschiedenster Schriftarten, Schriftgrade oder gar ASCII-Zeichen herschreibt. Schlesak versucht den Computer auf ganz eigene Weise bei der literarischen Arbeit zu nutzen, fern den kontingenten Produkten tüftelnder Textgeneratoren. Was Lukian als Gattung mit seinen „Totengesprächen“ einst in ausschweifender Fantasie stiftete, das führt Schlesak auf ungeahnte Weise zur Vollendung
An Schlesaks ,Verweser’-Projekt schreiben die Toten selber mit, darin liegt die einma-lige, aber auch in mehrerer Hinsicht beängstigende Qualität dieses ambitionierten Vor-habens, der Literatur das Terrain eines „kosmischen Esperanto“ zu gewinnen.
Der Schriftsteller ist für diese Grenzüberschreitung prädestiniert. Das Schreiben ist ja selbst die Opferung des Lebens, der Schreibende ein Lebendig-Toter. Schlesak spricht in einem Brief davon, dass der Schreibakt den Toten im Ich simuliere und überhaupt als eine Art „Jenseitstherapie" begriffen werden könne, die die Tagesreste des Albtraums Leben im Bewusstsein tilge. Das Schreiben ist im JETZT die hiesige Erscheinungsform einer posthumen Möglichkeitsform von Existenz. Das Wort erscheint ja im voranste-henden Textausschnitt auch als „letzte Brücke“, die den Weg in diese Dimension ästhe-tisch vermittelter Erfahrung offenhält. Diese Metapher ist äußerst treffend gewählt, weist doch Mircea Eliade in seiner Studie über „Das Heilige und das Profane“ auf die in allen mythologischen Überlieferungen präsente Vorstellung eines Übergangs vom Dies-seits ins Jenseits über eine schmale Brücke hin. Der Weg über diese Brücke ist gewis-sermaßen der Aufenthalt im Intermundium, im Zwischenreich von Leben und Tod, an-ders gesagt: im Moment seiner Kreuzung. Hier lauert noch die Gefahr des Verschellens, die Kafka immer wieder gestaltete, dessen „Jäger Gracchus“ Schlesak im ,Verweser’ variiert und zu einer weiteren Emanation des perseushaften Granucci macht. Zuletzt sei noch eine Anmerkung zu der Orgie in Weiß gemacht, die den ersten Textauszug be-schließt. Mir will scheinen, dass es Schlesak hier um die Koinzidenz zweier Absencen geht, um die tiefe Verwandtschaft des Weiß mit der Null. Es überschneiden sich hier ästhetische und theologische Aspirationen auf Vollkommenheit: an Mallarmé ist einer-seits zu denken, an Celan und kabbalistische Strömungen andererseits, einig in der Ans-trengung, ein Unsagbares durch die Konstellation einer abgründigen Leere zu evozieren. So stehen auch bei Schlesak die Verfahren der Inversion und die Denkfigur der Pa-radoxie im Zentrum. Wir Dichter der Moderne, denen die Reflexion auf Existenz keine Mode und keine Ideologie abmarkten kann, stehen geradezu im Bann einer Negativität, die dem metaphysischen Bedürfnis nur im insistenten Ringen um eine schicksalhafte Epiphanie des Nichts künstlerischen Ausdruck verstattet. Schlesak wies im Nachwort zu seinem kabbalistisch inspirierten Lyrikband „Aufbäumen“ darauf hin, dass im hebrä-ischen Gott und Nichts über das Wort ,ajin’ in sich vermittelt sind. Erlaubt man, Gott, Nichts und Kosmos als Eins zu denken, so ist der inversiven Poetologie im Tikkun der jüdischen Mystik die Verfahrensweise präformiert. Scholem schreibt dazu: „Der Tikkun, der Weg zum Ende aller Dinge, ist zugleich auch der Weg zum Anfang. Die Lehre von den Geheimnissen der Schöpfung, vom Hervorgang aller Dinge aus Gott, wird in umgekehrter Richtung zur Lehre von der Erlösung als der Rückkehr aller Dinge zu ihrem ursprünglichen Kontakt mit Gott.“ Im ,Verweser’-Projekt Dieter Schlesaks geht es um diesen ursprünglichen Kontakt, freilich im Bewusstsein um die Ununterscheidbarkeit von Gott und Tod. Sein posthumer Erzählerstandpunkt ist daher in concreto dort angesiedelt, wo ihn Ernst Meister in einem seiner eindrucksvollsten Gedichte potenzia-liter entwarf: „Die Toten nämlich, / unfähig sind sie / der umständlichen / Fabel ihrer selbst.// Dabei / wäre das Grab / gerade der Ort / von Erzählen.“

Maria Irod

SCHRIFT UND MELANCHOLIE

Die Bedeutung, die dem Schreiben als Lebensbewältigung oder sogar Lebensersatz im Werk Dieter Schlesaks zukommt, ist nicht zu übersehen. Bereits in den Vaterlandstagen verbindet sich erzählte Autobiografie mit imaginärer Produktion; durch das Schreiben werden also eine Erfindung des eigenen Lebens sowie die Bewältigung des Heimatver-lustes angestrebt. Die Aussichtslosigkeit, die die Situation des damaligen Emigranten charakterisiert, bildet die Grundlage für eine Erzählform, die Oliver Sill als eine neue Variante autobiografischen Erzählens betrachtet: „Das Gegenwarts-Ich spaltet sich und stattet auf diesem Wege das abgespaltene Alter Ego Michael T. mit einem offenen Zu-kunftshorizont aus, den das in C. zurückgebliebene Ich für sich verloren glaubt.“
Die imaginierte Figur des Ich-Erzählers wird also auf die damals unmögliche Heimreise geschickt und aus der Schockerfahrung seiner Verhaftung in Bukarest entsteht ein limi-naler Bewusstseinszustand, den man wohl als „Traum im Traum“ oder Fiktion in der Fiktion bezeichnen kann. Schlesaks Literatur der Erinnerung folgt also nicht dem übli-chen Muster der literarischen Selbstdarstellungen, d. h. der Spaltung zwischen erzäh-lendem und erzähltem Ich, sondern produziert eine Stellvertretung des erzählenden Ichs, von deren Handlungen und Wahrnehmungen in Er-Perspektive berichtet wird. Das ima-ginierte Alter Ego verfügt also um eine beschränkte Autonomie und bewegt sich aus-schließlich im geschlossenen Spielraum der Fiktion.
Das gegenwärtige textimmanente Ich weiß sich durch Geschichtlichkeit in seiner äußer-lichen Handlungsmöglichkeit eingeschränkt und reagiert auf diesen Verlust mit einer Steigerung der Autoreflexion. Als Beobachter seiner selbst reflektiert der in Italien iso-liert lebende Schriftsteller seinen gegenwärtigen Mangel an realer Existenz, den nur durch eine rege literarische Produktivität auszugleichen ist, und weist auf das Zusam-menspiel von Trauer- und Erinnerungsarbeit als Bedingung des Schreibens hin. Indem diese Literatur ihren Ausgang von der Jetztzeit des schreibenden Erzählers nimmt, ver-leiht sie der Ohnmacht des handelnden Individuums vor der Geschichte konstitutive Bedeutung im Prozess ihrer Entstehung.
Der Ort also, von dem aus das Material des eigenen Lebens organisiert wird, ist kein af-fektneutraler. Er trägt vielmehr Wesenszüge der Melancholie. Zum einen entsteht der Roman aus einer Hoffnungslosigkeit heraus, die keine „Wunschbilder“ kennt, die über das „Jetzt“ hinausweisen könnten . Zum anderen wird das reflexive Moment, das sich in die Nichtigkeit alles Handelns vertieft und den Sinn- bzw. Sinnenverlust in der „Mattscheibenwelt“ der Konsumgesellschaft thematisiert, von einer starken Einbil-dungskraft begleitet, die den fiktiven Helden Michael T. in einer für den Ich-Erzähler nicht mehr zugänglichen Welt jenseits des Eisernen Vorhangs agieren lässt. Sowohl der „Hang zur Kontemplation“ als auch die rege Fantasie, die die Vertiefung in sich selbst fördert und zugleich souverän über Bildkonstellationen und Handlungszusammenhänge regiert, sind Leitmotive im modernen Melancholiediskurs .
Wenn man dazu noch die zerbrochene Einheit des Ich zählt, das sich selbst nur als lei-dendes erfährt und dessen Versuch sich durch das Schreiben „ästhetisch zu totalisie-ren“ die erklärte Intention des Textes ist, dann darf man die Inszenierung einer me-lancholischen Ausgangssituation vermuten.
Das Motiv der Melancholie lässt sich also bereits in den Vaterlandstagen finden, auch wenn es dort nur implizit vorkommt und dessen Bedeutung erst vor dem Hintergrund der späteren Romane Der Verweser und Vlad. Die Dracula-Korrektur deutlich wird.
Nach dem Fall der totalitären Regimes in Osteuropa hat das Grundthema der Literatur Schlesaks, und zwar die „Erfahrung der Grenze (...) in nahezu jedem Bereich menschli-cher Existenz“ , keineswegs an Bedeutung verloren. Wie erwartet jedoch sind die Themen der Auswanderung und des Exils sowie des Systemvergleichs von Ost und West dem Sujet der Grenze in „subjektiv-psychologischer“ und vor allem in ontologi-scher Hinsicht ausgewichen. Nach 1990 befasst sich Schlesak immer intensiver mit grenzüberschreitenden Phänomenen, die in erster Linie die Grenze zwischen dem sinn-lichen und dem geistigen Bereich, zwischen Leben und Tod betreffen. Dabei geht es ihm um die Erweiterung des Wirklichkeitskonzepts über die Grenze der materiellen Außenwelt hinaus und zugleich um die Herausarbeitung einer adäquaten Schreibweise, die den Erfahrungen der radikalen Fremdheit gerecht wird und sich am besten als „Ablehnung des ‹Realismus› eines festen Weltbildes und seiner Sprache“ beschreiben lässt.
Als Konstanten seiner Literatur bleiben das Schreiben als existenzielle Notwendigkeit und der Anspruch erhalten, das „Erprobte“ in der literarischen Darstellung und die damit verbundenen Konzepte eines identischen Selbst hinter sich zu lassen.
Aus Schlesaks theoretischen Schriften, vor allem, wird ersichtlich, dass das Streben nach einem Paradigmenwechsel größtenteils mit dem Kampf gegen die so genannte „Chronokratie“ zu tun hat. Indem er vom Realismus als „mimetischem“ Schreiben Ab-stand nimmt, macht Schlesak die Achronie zum Erzählprinzip. Bereits im ersten Roman wird die klare Entscheidung für eine Erzählform getroffen, die das Geschehen nicht chronologisch, sondern vielmehr nach Sinnzusammenhängen ordnet. Die von Schlesak in seinen Essays immer wieder vertretene Ansicht, das Erzählen habe nach den großen Schockereignissen des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Deterritorialisierung ausgedient, betrifft eher die Chronologie als die epische Gattung an sich. Folglich arbeitet der Autor in den Prosawerken ebenso wie in der Lyrik mit „aufblitzenden Se-quenzen“, die sich „je nach Verwandtschaft und Sinn-Nähe“ zusammenfügen. Das sei die einzig adäquate Schreibweise, weil das Schreiben an sich „eine Übersetzung aus jener anderen Zeit-Ebene, wo Zeit aufgelöst ist“. sein sollte.
Solche Sätze muss der Leser ganz ernst nehmen. Die Ablehnung der Chronologie beruht nicht allein auf dem Wunsch nach stilistischer Erneuerung, sie ist vielmehr weltan-schaulich begründet. In „unsere[r] Zeiteinteilung, unser[em] Verbrauch, unser[em] chronokratische[n] Lebensstil” liege „die Wurzel des heutigen Weltruins“.
Damit formuliert Schlesak seine Zeitdiagnose, die in der Beharrlichkeit des veralteten Newton’schen Weltbildes und dessen Verherrlichung durch die Konsumgesellschaft ei-ne Ursache des Bösen ausmacht. Worauf seine Kritik vermutlich abzielt, ist die Vor-herrschaft des „gemeinen Verstandes“ (common sense bei Hannah Arendt ) und des ausschießlich auf die Welt der Erscheinungen gerichteten Nützlichkeitsprinzips zuun-gunsten des Denkens. Dass die Denktätigkeit den Rückzug aus der Alltagshektik, d. h. das Innehalten, die Muße, das Otium voraussetzt, ist seit der Antike ein Gemeinplatz der Philosophie. Treffend sagt Plotin, die Zeit sei das Leben der Seele. Und auf diese Aussage bezieht sich Dieter Schlesak in der Auseinandersetzung mit dem Kulturschock, den er beim ersten Kontakt mit dem Westen erlitt. Dort fiel ihm insbesondere der ständige Zeitmangel auf. Die Übersteigerung des carpe-diem-Prinzips, das Diktat der Effizienz, die Zeitnot und die Massenhysterie des Jetzt-sofort-alles-Wollens in unserem Medienzeitalter führe zu einem allmählichen Verschwinden des Privaten und Kreativen: „Die Gebrauchswelt des westlichen Kapitalismus legt mehr Wert auf den Raum; die Zeit wird selbst zu einem ‹Produktions-Raum› (Lukács), wo es keine Zwischenräume der kreativen Individualität mehr gibt, und verliert damit ihren qualitativen Charakter.“ Daraus folgt, dass jeder Widerstand – der hier mit der Kunst, jedoch im allgemeineren Sinn mit dem Denkvermögen identifiziert wird – notgedrungen aus dem Bereich der Zeit, der Erinnerung, der Utopie kommt und von der Möglichkeit, nicht von der Wirklchkeit gespeist ist. Damit ist die wohlbekannte Fähigkeit des Geistes gemeint, Abwesendes zu vergegenwärtigen und vom Anwesenden abzusehen, worin implizit auch die Annäherung zwischen dem Denken und dem Tod mitgedacht wird. Auf den Tod als Metapher, die den Denkprozess beschreibt, geht Hannah Arendt ausführlich ein, die diese Vorstellung eher dem gemeinen Verstand als dem Denken zuschreibt. Wenn das Denken die Augen vor dem sinnlich Wahrnehmbaren verschließt, schafft es Raum, damit sich das Abwesende in entsinnlichter Form zeigen kann. Das Denken stellt sich also außerhalb der Ordnung, der kollektiv halluzinierten sichtbaren Wirklichkeit, weil es alle lebensnotwenidgen Vorgänge anhält und alle gewöhnlichen Beziehungen auf den Kopf stellt. Alles, was für den gemeinen Verstand als „Tod“ er-scheint, ist vom Denken her gesehen das wahre Leben. Ein Leben ohne Sinn wäre für den Geist eine Art Tod bei lebendigem Leib.
Indem die Zeit mit der Innerlichkeit gleichgesetzt wird , wird zugleich auf die irrefüh-rende Auffassung der linearen Zeit und die Täuschungen aller Fortschrittsideologien hingewiesen. Der Zeitbegriff hat folglich bei Dieter Schlesak einen Januskopf. Einerseits ist es die alles zerstückelnde Zeit, die seit Anfang der Moderne eine Beschleunigung erfährt und heutzutage in der vorherrschenden Schnelllebigkeit auf die Spitze getrieben wird. Die Chronokratie als Krankheit des modernen Menschen wird von Schlesak in Verbindung mit dem Tod Gottes gebracht: „Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit ‹nützen möchte› und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die Betroffenen krank macht.“ Andererseits handelt es sich um eine Art Zwischenzeit, die im ihr zugrunde liegenden Impuls, zeitweilig das Raum-Zeit-Kontinuum aufzulösen, wohl eher der Zeitlosigkeit als der Zeitlichkeit nahesteht. In diesem Zusammenhang weist Schlesak nicht nur auf die vielbesprochene Theorie der radikalen Opposition zwischen Denken und Tun hin, die die evidente Allmacht der Gedankenlosigkeit im Alltagsleben aus der Dringlichkeit der menschlichen Geschäfte und dem Zeitmangel he-rauserklärt. Bei ihm vereinigen sich die Kunst, die Mystik und die Wissenschaft in dem Versuch, die scheinbar unerschütterliche Chronokratie, die das Leben zwischen Geburt und Tod bestimmt, auszuhebeln durch eine Öffnung gegenüber dem so genann-ten Unheimlichen oder Numinosen, die eine Unterbrechung des Zeitflusses bewirkt. Solche Erfahrungen der Entrückung ereignen sich meist durch einen plötzlich einfallen-den Schock und Schlesak befasst sich tatsächlich sehr intensiv mit der Thematik des Schreckens und seiner bewusstseinserweiternden Auswirkungen. Außer der bereits er-wähnten Schockerfahrung, die Michael T. in den Vaterlandstagen erlebt, stellt der Autor zumal in seinen Essays zahlreiche Bezüge zur negativen Theologie und zur Ästhetik des Erhabenen her (von Rudolf Otto bis hin zu Karl Heinz Bohrer).
Überdies kommt dem Begriff der Aufmerksamkeit bei Schlesak eine mindestens ebenso wichtige Rolle zu. Die Aufmerksamkeit, so wie sie die Mystikerin und Widerstands-kämpferin Simone Weil versteht, ist die Grundlage jedes authentischen Denkprozesses und das effizienteste Mittel gegen die Langeweile und die geistige Zerstreuung. Auch wenn der Begriff als solcher in Schlesaks theoretischen Schriften nicht vorkommt, ist er doch, wie mir scheint, von zentraler Bedeutung in seiner Gedankenwelt. Immer wieder geht es bei ihm um das Eintauchen in eine zeitlose Gegenwärtigkeit, was eine Befreiung von allen vorgefertigten Wahrheiten sowie das Sich-Abwenden von der Flut der Außen-reize voraussetzt und nicht nur das vorurteilsfreie Betrachten der Phänomene, sondern auch den Einbruch des Transzendenten ins Leben des Individuums ermöglicht. In einem für die Thematik der Zeitlichkeit wichtigen Essay heißt es:

Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenen Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das „Etwas“, nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, dass er sich mit seinem Ich beim kreativen Prozess nicht einmischen darf, sonst blockt er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Kunst korrespondiert damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung der äußeren Sinne, um mit dem inneren Auge zu sehen, dem inneren Ohr zu hören. In dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden.
Was hat denn all dies mit der Melancholie zu tun? Der Melancholiebegriff hat eine sehr lange Tradition und trägt ein Spektrum symbolischer Bedeutungen mit sich herum, das hier unmöglich erörtert werden kann. Was jedoch im Kontext unserer Diskussion von großer Bedeutung erscheint, ist die enge Beziehung, die zwischen der Melancholie und dem antiken Zeitgott Kronos / Saturn besteht. Daher sollte im Folgenden kurz auf die komplexe Entsprechung zwischen der melancholischen Anlage und dem akuten Be-wusstsein der Vergängnis eingegangen werden.
Eine unbesiegbare Melancholie liegt über Schlesaks Texten, eine Trauer – wie Freud sagt – nicht über etwas Bestimmtes, sondern eine Stimmung der Vergeblichkeit, die in engem Zusammenhang mit der vernichtenden Gefräßigkeit der Zeit steht. Hinzu kommt noch der Zerfall von Erfahrung und tradierter Identität, d. h. die Unmöglichkeit die Welt als Ganzes in ihrem Bedeutungszusammenhang zu erfassen. Daraus ergibt sich ein unstillbares Begehren nach Sinn, der das Schreiben für das einzige Mittel hält, das Wirk-lichkeit zu konstituieren vermag.
Der Zwischenschaftler Dieter Schlesak verwirft jede falsche Geborgenheit und bekennt sich zur radikalen Fremdheit und zum Status peregrinationis als ontologischem Kenn-zeichen des Menschseins. Identität gibt es für diesen Fremden nur punktuell, nämlich im Augenblick der inspirierten Selbstherstellung durch das Schreiben. Und die diskon-tinuierliche, zerstückelte und imaginative Schreibweise entspricht der Erkenntnis, dass es in unserer Zeit keine organisch bruchlose Welt mehr gibt: „Der Zerfall im Vers spie-gelt einen realen Zerfall: dass es nirgends mehr einen stimmigen, einheitlichen Lebens-hintergrund gibt, der (wie früher einmal, allerdings erzwungene) Einheit verbürgt.“ Der Heimatverlust geht mit einem „Wahrnehmungsverlust“ einher, mit dem „grauen-hafte[n] Gefühl, eine lebendige Leiche zu sein.“
Zwischen einem vom Tod als der wahren Gestalt des Lebendigen geprägten Weltbild und dem brennenden Wunsch nach schöpferischer Gestaltung und nach Überschreitung der naturgeschichtlichen Grenzen bewegt sich die melancholische Wahrnehmung des Autors Dieter Schlesak. Diese Dialektik der melancholischen Natur entspricht der dua-listischen Kronsvorstellung, die bereits seit der Antike bekannt ist. Im Frühmittelalter vollzieht sich unter arabischem Einfluss die Annäherung zweier hellenistischen Wissen-schaften, aus denen die Melancholiekonzeption sich nährte: der Temperamentenlehre und der Astrologie. In der antiken Humoralpathologie wird der Trübsinn, der Humor melancholicus, dem Überfluss des trockenen und kalten Elementes im Menschen zuge-schrieben. Als dieses Element galt die schwarze Galle (gr. μέλαινα χολή → μελανχολία), auch unnatürliche Galle genannt im Gegensatz zur gesunden gelben Galle. Laut dieser Auffassung gilt der Melancholiker als „neidisch, traurig, habgierig, geizig, treulos, furchtsam und lehmfarben“.
Erst im 4. Jahrhundert v. Chr. und vor allem durch Aristoteles wird die medizinische Symptomenlehre der Melancholie an den platonischen Begriff des göttlichen Wahnsinns (θεία μανία) gebunden. So entsteht bereits in der Antike eine dialektische Auffassung der Melancholie als Gemütsart, die nur außerordentlichen Menschen eigen sei und die sich in geistiger Überspanntheit und sogar seherischem Vermögen manifestiert. „Die Gegensätze der intensivsten, geistigen Tätigkeit und ihres tieftsen Verfalles“ charak-terisieren den unter dem Zeichen von Saturn stehenden Melancholiker. Im berühmten XXX. Kapitel seiner Problemata entwickelt Aristoteles ein Konzept, das die melancho-lische Veranlagung als Abweichung von der Norm betrachtet. Das Wort περιττός, das in diesem Kontext verwendet wird, bedeutet außerordentlich, ungewöhnlich, übermäßig und ist in seinen Konnotationen durchaus neutral. Ob der Melancholiker aufgrund seiner Anlage zur höchsten Kreativität beflügelt wird oder im Wahnsinn zusammenbricht, das hängt allein von den Proportionen der schwarzen Galle in seinem Organismus oder, im Grunde genommen, vom Schicksal ab.
Spätestens seit der Rezeption der astronomischen Werke von Abû Ma sar durch europä-ische Autoren besteht die enge Verbindung zwischen der Theorie des melancholischen Temperamentes und der Lehre von den Gestirneinflüssen. Der Höhepunkt dieser Theo-rie der Melancholie im Grenzbereich nicht nur von Medizin und Astrologie, sondern auch von Literatur und Philosophie wird in der frühen Neuzeit erreicht. Darin tritt die immanente Antithetik der Melancholie, die zwischen trüber Grübelei und höchster intel-lektueller Schöpferkraft sich bewegt, sowie die Ambivalenz des Zeit- und Saatengottes Saturn deutlich zutage. In der Renaissance, vor allem im Neuplatonismus eines Marsilio Ficino, erfolgt „die Umdeutung der saturnischen Melancholie im Sinne einer Lehre vom Genie mit einer auch im Denken der Antike niemals erreichten Rücksichtslosigkeit.“ Die Spannungen zwischen konkurrierenden Melancholiekonzeptionen spitzen sich zu dieser Zeit stark zu. In ihrem Buch über Saturn und Melancholie gehen Raymond Kli-bansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl ausführlich auf diesen Aspekt ein. Neben der positiven Einstellung, die die Melancholie als göttliche Erleuchtung und Quelle geistiger Kreativität betrachtet, finden wir auch die christlich geprägten negativen Auffassungen, die mindestens ebenso wirkungsmächtig sind: einerseits die schon im Mittelalter herauskristallisierte acedia oder Mönchsmelancholie, d. h. Verzweiflung an Gottes Gnade, andererseits die angstgetriebenen Vorstellungen protestantischer Theologen – beispielsweise Luthers oder Simon Musäus` – welche die Melancholie als teuflisch verwarfen und sogar eine ganze Satanologie des Melancholischen entworfen haben.
In beiden Romanen Schlesaks, in deren Mittelpunkt historische Gestalten aus der frü-hen Neuzeit stehen, wird die Thematik der Melancholie explizit behandelt. Nicolao Granucci, eine Art weit in die Vergangenheit projiziertes Alter Ego des Ich-Erzählers im Roman Der Verweser (Allitera Verlag, 2002), ist ein homo literatus aus dem 16. Jahrhundert, der sich zwischen den Extremen einer bis hin zur Hybris gesteigerten Selbstbejahung und eines manchmal bis zur Verzweiflung verschärften Selbstzweifels hin- und hergerissen fühlt.
Der Roman bringt einen zeitgenössischen Ich-Erzähler mit der ganzen Welt von Wis-sensformen und Weltbildern, von theoretischen, literarischen und religiösen Vorstellun-gen der frühen Neuzeit in Berührung. Die schicksalhafte Begegnung zwischen dem ausgewanderten Siebenbürger Sachsen und dem italienischen Gelehrten des 16. Jahr-hunderts könnte man als Phänomen der „Synchronizität“ (Jung) auffassen, das bezeich-nenderweise in Form eines Déjà-vu-Ereignisses stattfindet.
Im Winter 1968, während seines ersten Aufenthaltes im Westen, unternimmt der Ich-Erzähler – ein rumäniendeutscher Schriftsteller und eindeutiges Alter Ego des Autors – einen Ausflug in die Toskana. In Lucca, vor einem alten Haus, erlebt er so etwas wie einen Wachtraum, der ihn von einer unheimlichen, unerklärlichen Lebensbindung zwi-schen sich selber und dem ehemaligen Bewohner des Hauses, dem Luccheser Arzt Ni-colao Granucci, überzeugt. Dieses Erlebnis erschüttert seinen schon schwankenden Glauben an die absolute Gültigkeit der Kausalgesetze und öffnet seinen Blick für sinn-volle Koinzidenzen und parapsychologische Erfahrungen, die das rationalistische Welt-bild als unvollständig entlarven.
Auf der ersten Heimreise vertieft sich der Ich-Erzähler in die Lektüre des Urbano, der Hauptschrift Nicolao Granuccis, eines „infamen Buches“ (S. 108), das zugleich ver-suchte Abwendung des Todes, „Buchstabenzauber“ (S. 149) und Rache für den ver-meintlichen Verrat der ehemaligen Geliebten zu sein scheint. Dieses schriftliche Doku-ment soll durch Verleumdung die Hinrichtung von Granuccis Geliebter Lucrezia Mal-piglio herbeigeführt haben. Unterwegs macht der Ich-Erzähler einen Abstecher in Prag, wo Nicolao Granucci selber auf seiner Flucht sich aufhielt und mit Kepler sowie mit bekannten Alchemisten und Kabbalisten in Kontakt trat. Die Lebensläufe der beiden Hauptgestalten stehen in einer symmetrischen Beziehung zueinander: der in Lucca ge-borene Nicolao Granucci flieht nach Siebenbürgen ins Exil und der in Siebenbürgen ge-borene Ich-Erzähler findet in Lucca eine zweite Heimat. Jenseits solcher äußerlichen Umstände gibt es genügend Ähnlichkeiten, die die Innenwelt der zwei zeitlich weit aus-einander liegenden Figuren betreffen und von einer, mit Jung zu sprechen, „Anzie-hungskraft des Bezüglichen“ zeugen.
Was als ein Fall von Reinkarnation anmutet, ist in erster Linie eine Begegnung mit dem eigenen Unbewussten und wird auch dementsprechend geschildert. Beim ersten Besuch in Lucca fürchtet der Ich-Erzähler „jene Übelkeit, jenen Schwindel, wenn Szenen, Bil-der, Gesichter aus dem Unbewussten wie aus vergessenen Albträumen hochstiegen“ (S. 8). Die innere Wirklichkeit erschließt sich ihm mit überwältigender Gewalt: „An den Schläfen ein Druck, gespannter Bogen der Stirn, als wäre das Bewusstsein zu angest-rengt, wie ein fernes helles Licht dieser Punkt im Hirn, der mir heimleuchtet“ (S. 9). Es gelingt dem zeitgenössischen Schriftsteller plötzlich in das Geheimnis seiner Persön-lichkeit einzudringen, indem er sich selber und seine innigsten Sehnsüchte im Anderen wie in einem Spiegel erkennt. Die wichtigsten und auffäligsten Ähnlichkeiten der zwei Gestalten sind einmal „die Sucht, anwesend sein zu wollen“ (S. 10), und zweitens ihre „Vorliebe für das Geheimnis des Todes“ (S. 11). Beide Eigenschaften sind mit Welt-flucht und Geistigkeit konnotiert und reichen in eine transzendente Sphäre hinüber. Die Sucht, anwesend zu sein, deutet auf ein tiefgründiges Unbehagen in der heutigen Ge-sellschaft hin, nämlich die Hast und die Unmöglichkeit, völlig in der Gegenwart zu le-ben, d. h. innezuhalten und den Augenblick meditativ aufzugreifen. Dieses Unbehagen, das der westliche erlebnishungrige Mensch zuweilen verspürt, macht ihn zugleich auf die eigene innere Zensur aufmerksam, die ihn im Materiellen gefangen hält. Hinzu kommt noch die Problematik der Schrift, die in ihrer Ambivalenz ausführlich diskutiert wird und einen zentralen Punkt im Leben beider Figuren darstellt.
Die Identifizierung des Ich-Erzählers mit der historischen Gestalt könnte sehr gut mi-thilfe von Jungs Archetypenlehre und seinem Begriff der Synchronizität gedeutet wer-den. Laut der Jung’schen Theorie ist das Unbewusste ein Bereich der Zeitlosigkeit, wo Vergangenheit und Zukunft ineinandergreifen. Phänomene wie Wahrsagen und Hellse-hen erklären sich dadurch, dass die Zukunft sich im Unbewussten vorbereitet und darum schon lange vorher erraten werden kann. Ähnlicherweise kann die Vergangenheit in Form von Spuk oder sonstigen mit der Ratio unerklärlichen Erscheinungen ins Bewusstsein eines Individuums einbrechen. Das ergebe sich daraus, dass sowohl der Körper als auch die Psyche einen historischen Charakter hätten, d. h. jedes Individuum an der Geschichte der Menschheit teilhat und daher seine Persönlichkeit nicht nur moderne, sondern auch anzestrale Züge aufweist. Es gibt folglich nicht nur biologische Verwandtschaft und Genealogie, sondern auch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Gesetze der Kausalität und der Chronologie völlig ignoriert und solchen schicksalhaften Begegnungen wie der vom Ich-Erzähler und Nicolao Granucci zugrunde liegt.
Im Spiegel, einer polyvalenten Metapher der Identitätsfindung, vollzieht sich der wich-tigste Schritt in der Beziehung der zwei Gestalten. Erst im Spiegelbild, bei einer Yoga-Übung, deren Ziel „das Unterbrechen der Zeit, hinter sie zu treten, zurückzukehren“ (S. 61) ist, erkennt der Ich-Erzähler Nicolao Granucci als seinen Doppelgänger:

Ich übte nun auch das, konzentrierte mich im Spiegel: Anschauen, sah mir selbst in die grünen Augen, fi-xierte meine Pupillen und es war mir, als steige von dort eine Form der Kraft strömend in mich ein, der eigene Blick traf mich scharf und das Bild erfüllte mich ganz, es veränderte sich, und plötzlich war es Ni-colao Romano Granucci, der im eigenen Blick in mich einstieg, und wir fixierten uns, so schien es, als ginge mein Bewusstsein zwischen ihm und mir, zwischen Spiegelbild und Blick hin und her, und dann sah ich auch die vielfarbige Aura des Gesichts, das von Flammen umgeben war. (Ebd.)

Die seltsame Zusammenkunft findet im Moment seiner inneren Entwicklung statt, als der Ich-Erzähler plötzlich einsieht, „dass alles Mühen des Menschen dem Dreschen lee-ren Strohes gleicht, wenn es nicht außerirdischen Zielen dient“. (Ebd.) Sie signalisiert also ein Zurückweichen vor dem Diesseits und leitet eine „Umkehr aller Vorstellungen“ ein.
Von seinem Verwandten im Geist aus dem 16. Jahrhundert lernt die zeitgenössische Hauptfigur des Romans vor allem die Amor fati (S. 13), eine Einstellung, die echte akausale Verknüpfungen von Ereignissen anerkennt, zu deren Erklärung der Raum- und Zeitfaktor außer Kraft gesetzt wird. In die Zeit der Begegnung mit seinem Alter Ego aus der Renaissance fällt auch der Anfang einer systematischen Tatsachensammlung (Koinzidenzen, Telepathie) und der intensiven Beschäftigung mit der Transkommunikation. Zugleich bemüht sich der eifrige Schriftsteller um Wissensbestände der Vergangenheit, die in den Zusammenhang seines Denkens und Lebens gehören. Sobald ihm die merkwürdige Schicksalsverbundenheit deutlich wird, die ihn mit dem Luccheser Gelehrten verknüpft, beginnt der Autor / Ich-Erzähler die Alchemie und andere damals einflussreiche hermetische Lehren mit großem Interesse zu studieren. Angesichts der Tatsache, dass eine Zentralfrage seiner Lebensarbeit die „kulturbedingte Blickbeschränkung“ , d. h. die Ausgrenzung des vernünftig Unerklärlichen aus dem Bereich des Wissens, betrifft, ist die Vermutung wohl gerechtfertigt, dass Schlesak ausgerechnet der Erforschung des 16. Jahrhunderts sich widmet, weil er in jener Zeit den Anfang der Unheilsgeschichte des Abendlandes zu identifizieren meint. (Vgl. S. 1.)
Was sich Dieter Schlesak als Poeta doctus vornimmt, ist die untergründigen Traditionen der Geistesgeschichte zu untersuchen und sie den vorherrschenden Diskursen entgegen-zustellen. Damit ist nicht nur eine Solidarität mit den Unterdrückten und Heimatlosen verbunden, sondern in erster Linie der Versuch herauszufinden, welcher Mechanismus den Ausschluss der Andersdenkenden und die Festigung des materialistischen Paradig-mas bewirkt. Die betroffenen „häretischen“ Traditionen sind vor allem: die alchemisti-sche Philosophie, die Gnosis und die Bewegung der Chiliasten. Sie weisen den Weg zu den Obsessionen des Autors: der Hinfälligkeit des Leibes, der mystischen und dämoni-schen Dimension der Sexualität, dem Knotenpunkt Tod-Schrift-Erotik, der Aufhebung der Grenze zwischen Geist und Materie, zwischen Lebenden und Toten und, schließlich, der unstillbaren Sehnsucht nach Vereinigung der Gegensätze.
Konkreter geht es um ein psychologisches Grundmuster, das schon immer da war, je-doch mit jedem neuen Werk deutlicher zutage tritt. Zum einen ist es die „alte Krank-heit“, die Unfähigkeit zu leben und zu lieben, die hier mit dem Schreiben eng verbunden ist und als „Schreibkrankheit“ (S. 126) bezeichnet wird. Zum anderen kommt die gnostische Weltfremdheit besonders stark zum Ausdruck, die Befürchtung, man wäre gefangen im „Körpergrab“ (S. 23), d. h. in seinen Geistesfähigkeiten durch die Bedin-gungen der Leiblichkeit eingeschränkt.
Bataille zufolge ist die Erotik der Inbegriff der Grenzüberschreitung. „Die ganze Tätig-keit in der Erotik hat zum Ziel, das Wesen im Allerinnersten zu treffen.“ Wenn man im Normalzustand eine Monade, ein „abgeschlossenes Wesen“ ist, stellt das erotische Lieben hingegen einen „Zustand der Kommunikation“ dar, ein Außersichsein, eine versuchte Auslöschung der individuellen Grenzen. Darüber hinaus betrifft dies das ural-te Thema der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie das ethische Problem, den Anderen in seinem Wesen nicht erfassen zu können, ohne ihm Gewalt anzutun. Die Me-lancholie im Leben beider Hauptgestalten wird folglich in einen Rahmen eingebettet, wo die Schrift als magisches Mittel gegen den Realitätsverlust und die Unvereinbarkeit zwischen Verinnerlichung bzw. intensiver geistiger Tätigkeit und erfüllter Erotik eine zentrale Rolle spielt.
Der „Verlust der Liebesfähigkeit“ ist, so Freud, ein Hauptsymptom der Melancholie. Bei Schlesak wird dieses Symptom ausführlich thematisiert. Die melancholische Stim-mung gleicht also einem Rückzug aus der Außenwelt und einer Vertiefung in sich selbst oder, wenn man sich hier psychoanalytischer Termini bedienen darf, einer Introversion der Libido. Wiederholt deuten die beiden Hauptgestalten darauf hin, dass sie mit den inneren Objekten eine viel bessere Beziehung als mit der sichtbaren Wirklichkeit haben. Der Ich-Erzähler liebt die erfundene Ornella, das „Fantsiegeschöpf“ aus seinem Buch viel mehr als die reale Frau. Das bringt ihm von seiner Geliebten den Vorwurf, er kom-me nicht wirklich zu ihr, sondern vielmehr in seine Fiktion (S. 121).
Beim Niederschreiben des Urbano nützt Granucci Lucida Lucrezia aus, indem er sie zu einem Text macht. Und nach dem Tod eines armen Mädchens, in das er sich verliebt hatte, nimmt der Gelehrte erneut Zuflucht zum Schreiben, das für ihn einziger Trost und Ersatz des Verlorenen ist.
Die übertriebene Liebe zu den Büchern sowie die Tendenz, die Erfahrung im Medium der Schrift auflösen zu lassen, werden von den Gestalten selbst als Pathologie charak-terisiert: „...es gehört zur fatalen Natur dieser Krankheit, dass wir ein Phantom anstelle der Wirklichkeit setzen.“(S. 111) In den konkreten Manifestationen dieser „Schreib-krankheit“ erkennt man weitere Symptome der Melancholie, die von Freud in seiner Abhandlung erwähnt werden: die „Störung des Selbstgefühls“, die nicht nur mit Selbst-vorwürfen und Selbstbeschimpfungen verknüpft ist, sondern vielmehr vom Bedürfnis ausgeht, eine labile Identität durch das Schreiben zu rekonstruieren. Damit hängen na-türlich die Angst vor dem Tod und die typisch melancholische Kontemplation der Ver-gänglichkeit zusammen. Das Buch geht nicht verloren, es ist „personlos“ und „über-dauert“ seinen empirischen Autor (S. 110).
Obwohl ein eindeutiger Hinweis darauf fehlt, könnte man wohl in diesem Kontext an das barocke Emblem der rettenden Schrift denken. Es ist, als würden Schlesak und sei-ne Alter Egos ihre Leidenschaft für das Schreiben auf die emblematische Inschrift Libri manent beziehen. Die allegorische Figur der Historia, die auf diesem Emblem zu sehen ist, stellt zugleich einen Bezug zur Thematik der Melancholie her. Sie blickt auf das Ruinenfeld der von Saturn vernichteten Realgeschichte hinab, während sie die dem Ver-fall überantwortete physische Welt in den immateriellen und daher unzerstörbaren Reich der Zeichen hinüberrettet.

Wolfgang Schlott

Der Verweser

Der imaginäre Gang zu den Ahnen, in der Rolle von Geistersehern verwandte Seelen aufzusuchen oder von ihnen heimgesucht zu werden, gehört in der Regel zur diffusen Textgattung des Trivialen, die in der ebenso schwer zu definierenden Postmoderne An-leihen aus verschiedenen kanonisierten Subgattungen nimmt. Was den Roman von Die-ter Schlesak mit dem rätselhaften Titel ,Der Verweser’ betrifft, so empfiehlt es sich, die beiden einleitenden Zitate genau zu lesen: 1. Verweser geht auf firwesan (althoch-deutsch) jemandes Stelle vertreten zurück; 2. „Wir müssen den Kreis, zu dem wir be-stimmt sind, vollenden, und abwarten, wie es in Ansehung der künftigen Welt sein wird. Aber Gott und die andere Welt sind das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen. Und eben die Ungewissenheit macht es, dass ich mich nicht unterstehe, so gänzlich die Wahrheit so mancher Geistererzählung abzuleugnen.“ (Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers.)

Wer tritt hier an wessen Stelle? Mit welchen geistig verwandten Ahnen kommuniziert der Erzähler? Woher stammen die Quellen für die Behauptung des Erzählers, er habe mit Menschen aus dem 16. Jahrhundert in Italien Gespräche geführt, mehr noch, sei ih-nen „realiter“ begegnet? Solche, die Handlung antizipierenden Fragen drängen sich dem Leser bereits nach wenigen Seiten des in 10 Kapitel und 56 Erzählsequenzen aufgeteil-ten Romans auf. Doch zunächst der Reihe nach: ein Ich-Erzähler kommt 1968 zum ers-ten Mal nach Deutschland, von wo aus er mit Hannah, seiner Geliebten, einige südeuro-päische Länder besucht. Weihnachten 1968 besucht er das in der Toskana gelegene Städtchen Lucca, wo er voller Schrecken ein Haus wieder erkennt.
Er gesteht sich ein, dass es „zwischen mir und jenem Haus eine geheime Lebensverbin-dung gab; schriftlichen Dokumenten muss keiner trauen, Träume aber kann niemand fälschen.“ (S. 8) Er erfährt, dass in jenem Haus ein gewisser Nicolao Romano Granucci am 6. August 1544 geboren wurde und im Mai 1618, im Turm von Viareggio einge-mauert, starb. Bei seinen Recherchen in zahlreichen Archiven, darunter auch in Prager Bibliotheken, entdeckt er, dass Granucci bei seiner Flucht quer durch Europa auch zwei Jahre in Transsylvanien gelebt hat. Im Frühjahr 1969 kehrt er für ein halbes Jahr in sein Heimatland Rumänien zurück. Sechs Monate später gelingt ihm, eine Ausreisegeneh-migung in den Westen zu erhalten, wo „Signor Granucci ... ihn all die nervenaufreiben-den Westjahre nicht mehr (verließ)“ (S. 13). Er läßt sich gemeinsam mit Hannah und Granucci (!) in dem lucchesischen Dorf Agliano nieder, wo sein Heilungs-Prozess be-ginnt. Schwer gezeichnet von den Existenzängsten des Exils, wird er von seinem Freund Michum mit Psychopharmaka versorgt, von denen er sich erst lösen kann, als seine ständigen wirklichen Begegnungen mit Granucci beginnen. Wie ernst es dem Erzähler und dem Autor Schlesak mit der Behauptung ist, dies alles habe wirklich stattgefunden, wird durch die stets schräg gedruckten Lexeme wirklich, tatsächlich, Wahn, Wann etc. dokumentiert.
Im Folgenden wird der Leser in das 16. Jahrhundert geschickt, wo er mit der Lebensge-schichte von Granucci vertraut gemacht wird. Es ist eine sorgfältige Rekonstruktion spätmittelalterlicher Welt- und Wahnbilder, auf denen die Figuren genreartig über die Leinwand laufen, mit Geistern reden, Sexorgien gefeiert werden ... Und unter ihnen Granucci, in dessen Biografie der Erzähler gleichsam hineinschlüpft. Nicolao, aus ärm-lichen Verhältnissen stammend, gelingt es zu studieren. Er verliebt sich in Lucrezia, Tochter aus einem reichen Patrizierhaus, dessen Stammherr unbedingt die Heirat ver-hindern will. Ein gedungener Mörder soll Nicolao umlegen, doch der ist flinker mit sei-nem Degen. Granucci wird zu drei Jahren – angeschmiedet an die Ruderbank einer Ge-nuesischen Galeere – verurteilt. Er kehrt nach Viareggio zurück und darf nach mysti-schen Begebenheiten auch seine Lucrezia wieder in die Arme schließen. Das 3. Kapitel setzt wieder mit Visionen ein. In den Bädern zu Lucca tauchen sie auf, zunächst Herr Montaigne, dann Granucci. Die Begegnungen zwischen dem Erzähler und seinem Me-dium verdichten sich so, dass sie im Leseakt da und und dort miteinander verschmelzen, wenn es nicht Hannah gäbe, die ihn immer wieder in die Realität zurückholt. Und dann geschieht das Ungeheuerliche: Granucci hatte seine Lucrezia zur Hexe gemacht, obwohl sich der Erzähler nicht gewiss ist, ob sie tatsächlich auf dem Scheiterhaufen endete. Solche „Ungereimtheiten“ verstärken zweifellos den Eindruck, dass der Erzähler sich immer wieder um jenes Körnchen Wahrheit bemüht, was sich dennoch als Legende erweist. Deshalb signalisiert auch der Text immer wieder, dass die Visionen des Erzäh-lers schwankend sind, die Visionen ins Ungewisse verschwinden, die Zweifel sich ver-stärken, ob die „Wiedergeburt“ von Granucci im Erzähler möglich sei. Michum, der Psychotherapeut und Freund des Erzählers, hält dies ebenso für möglich wie Luca, das Vielfachgenie, Musiker, Maler und Physiker. Er liefert unter Verweis auf ein Buch von Douglas R. Hofstadter „Gödel, Escher und Bach“ den physikalischen Nachweis, dass die gestorbenen Wesen etwas sehen, was wir, die noch Lebenden, nicht sehen können (vgl. S. 83). Auch in den folgenden Erzählhandlungen passieren mysteriöse Dinge. Eine gewisse Maria Ornella Mansi taucht auf, veranstaltet rauschende Feste, an denen der Erzähler mit fiebrigen Sinnen teilnimmt. Er ist auch das Objekt der Malerin Ornella, die ihn nackt malt, mit den Händen so vermisst, dass er „in der Malerin aufgeht“. Die geis-terhafte Liaison setzt sich fort, so lange, bis der Erzähler sich dem Totengesicht Gra-nuccis so weit nähert, dass dieser ihn sogar berührt. Was in diesem letzten Kapitel ab-läuft, mutet wie eine unglaubwürdige Seance an, wenn es nicht immer wieder die kriti-sche Reflexion des Erzählers darüber gäbe, ob ihm jemand tatsächlich Glauben schenke, wenn ... Der letzte Ausflug in den Mansipalast in Lucca soll Auskunft geben. Der Cus-tode erzählt beim Rundgang durch das halb zerfallene Gebäude, dass hier Lucida viele ihrer Liebhaber umbringen ließ, weil diese durch eine Falltür in einen Keller stürzten, in dem aufgerichtete Messerschneiden den sofortigen Tod bewirkten. Nur Granucci sei am Leben geblieben. In der gleichen Nacht hatte der Erzähler einen Traum, in dem er von Geheimdienstleuten verhaftet worden war, die ihn in diese Villa gebracht hatten. Als die Falltür sich öffnete, war er mit einem entsetzten Schrei aufgewacht.

Was bleibt von der Geschichte eines Verwesers, in der zahlreiche Episoden aus dem Leben des Autors zu einer Geisterreise verwoben werden, in der sich diffuse Angstvi-sionen abzeichnen? Es sind die Erinnerungen an die Methoden des rumänischen Ge-heimdienstes Securitate, an den bestialischen Terror der deutschen Truppen während des 2. Weltkriegs (vgl. S. 131), an die sich verdichtenden virtuellen oder auch an die „realen“ Wahrnehmungen von mittelalterlichen Ritualen sowie an die Begegnungen mit einem gewissen Granucci. Erzählt wird dies alles in einer fantasiegeladenen Sprache, die sich verschiedener historisierender Redeweisen bedient, Poeme aus dem Latein und dem Italienischen zitiert und den Leseprozess mit einer spannenden Story vorantreibt, die nachdenklich stimmt (wer hat nicht schon mal Visionen an sich beobachtet?) und manchmal auch ziemlich amüsant ist.

Olivia Spiridon

Romans Netz. Ein Liebesroman

Grundlegende Themen behandelt auch dieses Buch Dieter Schlesaks: Eros und Thana-tos, Heimweh und Sehnsucht nach Geborgenheit, Ost-West-Kontraste. Im Gegensatz dazu figuriert die Enge des Handlungsortes, nämlich der Computer mit seinem „flim-mernden Fenster zur Welt“, der für ein neues Lebensgefühl in der vernetzten Gesell-schaft verantwortlich ist. An diesem Kreuzweg steht der erzählende Protagonist, ein al-ternder, in Italien lebender Schriftsteller, der über mehrere Liebesbeziehungen Buch führt. Er trifft nämlich in der Virtualität des Netzes mehrere „Wortgestalten“, die ihm über die immer längere Abwesenheit der Ehefrau und die sich breit machende Einsamkeit hinweghelfen.
Die grafische Kongruenz des Protagonisten Roman mit seinem schriftstellerischen Pro-dukt ist nicht zufällig, das Schreiben ist nämlich seine eigentliche existenzielle Wirk-lichkeit, das Leben vor dem Computer konkurriert mit der Realität, die eigentlich nur ein „schwacher Traum“ ist. So wie der Titel andeutet, schreibt Roman einen Roman und im Kommunikationsgewirr des Netzes gehen ihm die Frauen ins Netz.
Das autobiografische Element ist eine Konstante auch dieses Buches von Dieter Schle-sak, zumeist in Ich-Form informiert der innerfiktionale Erzähler den Leser über wichtige Stationen seines Lebens: Auswanderung aus Rumänien, Übersiedlung nach Italien, Partnerschaft. Die siebenbürgische Herkunft, auch wenn nicht vordergründig, ist ein konstitutives episches Element, im Text wird sogar auf die Internetseite des Autors verwiesen (www.geocities.de/transsylvania). Die Heimat existiert als ein weit entfernter, unerreichbarer Ort und als lebendige Erinnerung, sie bedeutet hier außerdem auch das Glück einer verwirklichten Liebesbeziehung und die Möglichkeit echter Kommunikation. Das allgegenwärtige Gefühl der Heimatlosigkeit scheint im Internet den Ort seiner ,Aufhebung’ gefunden zu haben, das Internet ist als moderner ,locus amoenus’ eine neue Heimat, ein Lebenselixier für den „alten Emigranten", der endlich kein Exilierter mehr, sondern „überall ein Inländer“ ist.
Das Unwohlsein in der Wirklichkeit verbindet den Schreibenden mit der Frau, die ihn wohl am meisten prägt, die „neue junge Schreibliebe“, die sich in ihrem ostdeutschen Provinznest und in dem neu fabrizierten Vaterland nicht wohl fühlt. Der „Osten“ spielt eine zwiespältige Rolle innerhalb der persönlichen Koordinaten des Erzählers: Einerseits bedeutet er Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit, andererseits ist er Ausdruck für kommunistische und postkommunistische menschliche und wirtschaftliche Misere. Gerade die Darstellung der Enttäuschung über ostdeutsche Entwicklungen stellt einen der wenigen, aber bildhaften Wirklichkeitsbezüge im Roman dar. Darüber hinaus ver-leiht die analogische Beziehung zu Goethes Weimar, zur gescheiterten Werther-Liebe und zur Tatsache, dass Goethe als leidenschaftlicher Briefschreiber den „intimen Brief-raum“ dem „störenden Zusammensein“ vorzog, dem Buch weitere semantische Valen-zen.
Der Topos Internetkommunikation – und damit in Verbindung die geschickte Ver-wendung des unverwechselbaren Chat-Jargons – veranlasst auch die Entstehung einer sozialen Studie auf der Suche nach den Ursachen, die die Singlegesellschaft mittels ihrer „elektronischen Haustiere“ in die Chaträume des neuen Mediums treibt. Der Chat als ein „elektronisches Geisterbordell“, in dem mit grenzenloser Ehrlichkeit ungezügelte ero-tische Fantasien sprachlich gewagt formuliert werden, stellt die „Chance“ für eine „postmoderne Ars erotica“ dar, ist aber gleichzeitig ein Jammertal angesichts der ge-spielten und kurzlebigen, letztendlich unglücklichen Liebesbeziehungen. Dadurch, so der Sprecher im Roman, ist die „Wegwerfliebe“ im Internet eine der Begleiterschei-nungen des schnelllebigen Zeitalters. Der Leser verfolgt schließlich das Hin und Her des Erzählers, der zwar seinem Optimismus bezüglich der technologiebasierten, unein-geschränkten Internetkommunikation oft genug Ausdruck verleiht, jedoch auch über-legt, ob das Internet echtes Leben doch nicht nur vortäuscht.
Stilistisch unterstützt wird der Eindruck der Austauschbarkeit und Beliebigkeit von Lie-besbeziehungen durch die bewusste Verwendung zahlreicher erotischer Klischees – fast alle Briefe sehen sich zum Verwechseln ähnlich – mittels derer auf die Standardisierung menschlicher Beziehungen, der emotionalen Bedürfnisse und erotischen Erwartungen in der vereinsamten westlichen Gesellschaft hingewiesen wird.
Das Online-Schreiben, der allgegenwärtige Chatraum, revolutioniert auch die Schreib-technik, der Roman schreibt sich nämlich zeitgleich mit Romans ,Aventiuren’ im Netz, er wächst mit jeder sentimental-erotischen Errungenschaft des Chatbesuchers und ent-steht durch ,copy and paste’. Der Text ist interaktiv, denn nicht nur der Autor, sondern auch die verschiedenen Frauen arbeiten daran, um den geschriebenen Text danach mehr oder weniger ironisch zu bewerten. Auf diese Weise verlieren die Grenzen Schreibender / Leser, Erdachtes / wirklich Erlebtes ihre Konturen.
Das Internet wird als ein Medium des Liebeshungers und Liebeskummers dargestellt, jener, die in der weltweiten Anonymität erneut Mut zu einem neuen Anfang fassen. In-wieweit der Erzähler aus seinem „Schreibgefängnis“ heraus wieder Sehnsucht nach der Außenwelt empfindet, ob er Gelegenheiten zu echter Kommunikation und Liebe findet oder eher verweigerte Kommunikation, klärt das dramatische Ende des Romans. Auch die Tatsache, dass das überstrapazierte Motiv der fehlenden Geborgenheit im Zeitalter der Computertechnik zwar angesprochen, jedoch weitestgehend elegant ausgeklammert wird, kommt dem Buch eindeutig zugute.

Edith Konradt

Eine Transsylvanische Reise
Auf den Spuren der Erinnerung bewegt sich Dieter Schlesak durch einst vertraute Landstriche, deren Beschaffenheit und Bewohner vom umfassenden „posthistorischen“ Verwestlichungsprozess der letzten fünfzehn Jahre teils bis zur Unkenntlichkeit verändert und damit fremd geworden sind. Dieses Buch beschränkt sich aber nicht darauf, „Horror und Absurdität des neuen Zustands“ zu beschreiben, es sucht vielmehr, gerade die dunklen Kapitel der Geschichte im Hinblick auf die Gegenwart und mögliche Zu-kunftsperspektiven zu hinterfragen: „Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens“.

„Zuhause“ – im Zentrum dieses Begriffs steht wohl nicht allein für Dieter Schlesak die Kindheitswelt. So ist es denn auch kein Zufall, wenn seine Reise- und Gedankenwege immer wieder dahin streben, um jenen materiellen wie spirituellen Ort stets aufs Neue zu erkunden: „Ich taste die bekannte Tapete ab, die Wände. Da, ein Stück blaue Wand, alte Ölfarbe oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, darin das Schild TRANSSILVANIA, es kommen noch viele Einzeldinge und Eindrücke auf mich zu, voller Zeit noch, bekannt also, doch sie binden sich nicht mehr, fallen aus der Gegenwart heraus, fallen aus diesem Alltagsgefühl: heute.“
Die Reiseerfahrungen, die Schlesak unterwegs von Bukarest über Hermannstadt nach Schäßburg gesammelt hat, sind mit einer Fülle von Detailinformationen ummantelt. Von statistischen Zahlen – etwa zu gegenwärtigen Bevölkerungsstrukturen oder Schwindel erregenden Preissteigerungen, gepfefferten Akkordnormen oder märchenhaften Schleuserprofiten – bis zu historischen Daten, die vorwiegend das 20. Jahrhundert betreffen, teils aber bis ins Mittelalter zurückführen, dokumentieren die vielfältigsten Fakten den radikalen Wandel aller Lebensbereiche im heutigen Rumänien. Denn dieser Wandel ist überall sichtbar, greifbar, nicht nur die Ortschaften, auch die Landschaften sind teils nicht wiederzuerkennen.
Hinzu kommen die seelischen und geistigen Verwirrungen und Verwerfungen eines solchen Transitprozesses, die Schlesak in ungezählten Gesprächen mit alten und neuen Bekannten zu verstehen sucht: Da ist zum Beispiel die sächsische Bäuerin aus Denndorf, die Für und Wider ihrer bevorstehenden Ausreise abwägt. Da ist der pensionierte deutsche Lehrer aus Schäßburg, der auf folgenschwere Mängel des heutigen Schulbe-triebs hinweist. Da ist die alte Zigeunerin aus Rothberg, die vom aussichtslosen Alltag ihrer Großfamilie berichtet. Da sind die rumänischen Mitarbeiter der Hermannstädter „Euphorion“-Redaktion, die über ihre Entfremdung und Entgeisterung nachdenken. Da ist ein junger ostdeutscher Kunsttischler, der die Trappolder Burg bewohnbar machen und den sanften Tourismus fördern will. Und da ist der Bischof der Evangelischen Lan-deskirche aus Hermannstadt, der die neuen Wirkungsbereiche der im Land verbliebenen Seelsorger würdigt. Schlesak lässt die unterschiedlichsten Menschen zu Wort kommen, deren Erlebnisse und Erfahrungen um eine vom schnöden Mammon besetzte und damit eines tieferen Sinns beraubte Daseinsmitte kreisen und einen Strudel erzeugen, dessen Sog auch den Leser erfasst und mitreißt.
Die „Transsylvanische Reise“ beschränkt sich aber keineswegs auf eine Beschreibung des Status quo. Schlesak befragt darüber hinaus die Geschichte dieses Landstrichs und seiner vielfältigen Völker und Kulturen nach möglichen Weichenstellungen für die heu-tige Situation. Und da zeigen die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ihre Nachwir-kungen: Faschismus und Kommunismus haben das individuelle wie das kollektive Be-wusstsein so sehr zu beschädigen und zu lähmen vermocht, dass Demokratie und Freiheit nach wie vor bloß als (Tot-)Schlagworte für eine künftige (Un-)Möglichkeit im Schwange sind. Auch ethische, philosophische und religiöse Wertvorstellungen wurden von den Schutthalden der Historie und Posthistorie verschüttet, wie bei rumänischen Denkern (z. B. Noica, Manea, Boia, Patapievici) nachzulesen, deren Erkenntnisse Schlesak immer wieder zitiert und diskutiert. Doch die Gegenwart lässt sich nicht an-verwandeln, sie widersetzt sich dem redlichen Bemühen des Autors, bleibt fern und un-zugänglich. Und die Erinnerungen, so nahe und vertraut, gehören anderen, vergangenen Zeiten an. Schlesak ist im ehemaligen Zuhause in der Fremde angekommen.
Übrig bleiben nur Fragen, etwa: Wie lassen sich Gedächtnismetaphysik und Posthistorie zusammenbringen? Und: Gehören dazu unbeschädigte Menschen, nicht wir? Schlesak maßt sich nicht an, die Antworten zu kennen, doch gibt er wachen, neugierigen Lesern einen „merkwürdigen Satz“ des Philosophen Liiceanu mit auf den Weg: „Jede unge-schehene Geschichte ist noch unglaubwürdig, doch sie wird nicht glaubwürdiger, wenn sie geschehen ist.“ Auch in diesem Sinne sind Schlesaks „Ost-West-Passagen am Bei-spiel Rumäniens“ ein Reisebuch „der anderen Art“: eine essayistisch umrissene zeitge-nössische Odyssee.

Wolfgang Schlott

Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumä-niens

Eine Reise nach Siebenbürgen, das ist unter der Anleitung von dem aus Schäßburg stammenden Dieter Schlesak eine ständige und widerständige Aufarbeitung einer mehr als sechzig Jahre währenden Kulturgeschichte, die unter den katastrophalen Einwirkun-gen von Nationalsozialismus und Kommunismus im Begriff ist, seine inneren und äuße-ren Konturen zu verlieren. Konturen? Das sind die psychomentalen Verwerfungslinien, die sprachlichen Reduktionen, die traumatischen Abschiede von tradierten Bräuchen, die Überfremdungsängste und Verluste, das sind aber auch die äußeren Wandlungen in den städtischen und ländlichen Räumen, die architektonischen Zerfallserscheinungen und die restaurativen Bemühungen in den Kernfeldern der berühmten siebenbürgischen Stadtarchitekturen. Durch diese biografisch verdichteten Erlebnisräume reist Schlesak seit seiner Emigration nach Deutschland bzw. Italien (vgl. „Visa. Ost-West-Lektionen“ bei S. Fischer Verlag 1970) bis 1989 , getrieben von der Angst, die heimatlichen Gefil-de nicht wiederzusehen, nach 1990 in dem Wunsch, das Ableben der deutsch-rumänischen Kulturlandschaft mit literarischen, biografischen und faktographischen Dokumenten zu begleiten. Ist es ein endgültiges Abschiednehmen, wie er es in einem Interview aus Anlass seines 60. Geburtstages im Jahre 1994 und im Rückblick auf seine „Siebenbürgischen Elegien“ aus den späten 80er Jahren zum Ausdruck brachte?: „’Sie-benbürgische Elegien’ sind noch die sanfteste Form dies auszudrücken, nämlich den schmerzlichen, den endgültigen Abschied von Siebenbürgen. Doch dazu kommt noch ein anderes wesentliches Moment – der Tod, hier der geschichtliche Tod der Siebenbür-ger Sachsen, der reinigt und adelt. ... Heute ist ihr Verschwinden als Volksstamm, dieser Abschied wie ein winziges Exempel für das Schicksal der Welt. Der Exodus, das Ver-schwinden ist tragisch. Es ist mir unmöglich darüber zu schreiben, ich gehöre ja selbst dazu.“ „Transsylvanische Reise“ – das signalisiert dem Leser zunächst ein Zielgebiet irgendwo in Rumänien, „hinter den Bergen“, „wo die Grenze zwischen Mitteleuropa und dem südöstlichen Übergang zum Balkan verläuft“ (S. 7), in einem Land, das „von einer Symbiose von Einflüssen und Kulturen geprägt (ist), die ihresgleichen sucht: ost-westlich, türkisch, byzantinisch, orthodox, römisch, dakisch.“ (S. 7) Bevor sich der Au-tor jedoch dorthin begibt, gibt er zunächst einen Situationsbericht über den wirtschaftli-chen und gesellschaftlichen Zustand Rumäniens, das sich nach 1990 im freien Fall in die Marktwirtschaft gestürzt hat und nach 13 Jahren einen paradoxen Anblick bietet: „Neben der Misere der Reichtum. Neben armseligen Katen der Bauboom. Das Land gleicht einer riesigen Baustelle.“ (S. 10) Und durch dieses Land, das nach der „Tele-Revolution“ mehr eine Million Menschen verloren hat, reist Schlesak. Bukarest gleicht in seiner Optik einem bizarr aufgebrochenen Moloch, in dem sich der Luxus der Neu-reichen ungeniert neben dem Elend der Massen ausbreitet, in dem die Modernität des marktwirtschaftlichen Aufbruchs nicht von einer „Kultur des Erfolges“ getragen werde. Wer aber sind die Träger der neuen rumänischen Gesellschaft? Auf der Suche nach den Orten seiner Kindheit und den Stätten der ersten beruflichen Erfahrungen unter dem Ceauşescu-Regime der 60er Jahre landet der Autor zunächst in Sibiu, dem siebenbur-gendeutschen Herrmannstadt, in einer Landschaft, wo alles „viel ordentlicher, bunter, sauberer“ ist im Gegensatz zur tristen Landschaft der Walachei.
Die Überschriften der meist kurzen Kapitel verweisen auf die Annäherung an eine so-ziale Realität und psychomentale Befindlichkeit, die von tiefen Rissen in den äußeren und inneren Strukturen von Siebenbürgen gezeichnet ist: Kunst der Rückkehr, Tiefpunkte der Moral, leere Dörfer, Punkt Null, eine Heimatstadt, so nah, so fern, ... die neue Stimmung im Osten. Sie kommt in einer Atmosphäre von Befremdlichkeit, Schockier-theit, Verwirrung und der Suche nach Distanz zum Ausdruck. Die Gespräche, die Schlesak mit Schriftstellerkollegen, Architekten, ehemaligen Mitbewohnern, Sozialar-beitern, dem evangelischen Bischof in Sibiu/Hermannstadt und in seiner Heimatstadt Schäßburg führt, vermitteln eine Innenansicht des Landes, wie sie nur selten in zeitge-nössischen Publikationen über Rumänien erreicht wird. Mit einer gewissen kondensie-renden Wirkung: Transsylvanien erweist sich unter dem kritischen Blick des Autors als ein sich verdichtender Diskurs über die mythenbesetzte Vergangenheit Rumäniens, die in der Gegenwart vergoldet werden soll. Ein besonders anschauliches Beispiel zeigt die Skandalgeschichte um das renovierte (angebliche) Geburtshaus von Vlad, der als Graf Dracula in die europäische Geschichte der Horrorfiguren eingegangen ist. Der Graf soll nach dem Willen der neuen Provinzpolitiker nunmehr als Konsum-Vampir für das fette Touristengeschäft in Schäßburg dienen. Dass in dieser Legende nicht viel an Wahrheit mitschwingt, zeigt der Autor unter Verweis auf die Annalen und die Stimmen von kom-petenten Fachleuten aus seinem Bekanntenkreis.
Doch damit nicht genug! Schlesak klärt über wesentliche Aspekte rumänischer Philoso-phie- und Kunstgeschichte auf, indem er die Werke von Manea, Cioran, Noica, Brîncuşi und Ionesco kommentiert, teilweise aufgrund von authentischen Gesprächen, die er mit den Genannten geführt hat; er gibt einen Überblick über die produktive literarische Sze-nerie in Siebenbürgen, deren Akteure meist in den 80er und frühen 90er Jahren emigriert sind (nur Wittstock und Schlattner sind aus der Reihe der bekannten Autoren ge-blieben), und er beschreibt an Einzelschicksalen, wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus Menschenleben vernichtete und die Überlebenden in tiefer psychischer Verstörtheit hinterließ. Insofern ist Schlesaks Reise auch ein Dokument einer interkultu-rellen Trauerarbeit, die der Text nicht nur in der Auseinandersetzung mit der rumäni-schen Lebenswelt, sondern auch in der Begegnung mit der Welt der Zigeuner anschau-lich zeigt. (Wie schade, dass auf den beigefügten wenigen Fotos nur der Zigeunerkönig Ion Ciobă und die Zigeunerprinzessin Luminiţa Ciobă vom Stamm der Kaldarasch zu sehen sind, nicht aber Szenenfotos, die die armselige Lebenswelt der Zigeuner beleuch-ten würden!).
Und die Rückkehr der ehemaligen Bewohner von Siebenbürgen? Davon ist natürlich nicht die Rede, vielmehr geht es um die Rückgabe von Häusern, die die rumänische Re-gierung in den späten 40er Jahren enteignen ließ und die nunmehr den rechtmäßigen Erben übereignet werden sollen. An diesen Vorgängen zeigt sich, wenn auch mit zeitli-cher Verzögerung, das Bemühen der rumänischen Behörden, nach rechtsstaatlichen Kri-terien die Eigentumsfragen zu klären. Und der Wunsch Rumäniens, bald in die EU auf-genommen zu werden? Schlesak zitiert Lucian Boia („Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Geschichte. Köln-Weimar-Wien 2003): „Rumänien braucht Europa, weil es nur in europäischem Rahmen Entwicklung und Stabilität finden kann. Doch auch Europa braucht Rumänien, denn ein Europa ohne Rumänien hätte ein gefährliches Vakuum an den Toren zum Orient zu verkraften. Rumänien ist der beste Beobachtungsposten, um den Balkan zu observieren und die letzte Bastion vor dem unendlichen offenen Raum, ... , der nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums die Sicherheit Europas bedroht.“
Was hier als Bedrohungsmetapher und als realpolitische Tendenz in einem „gemeinsa-men“ Europa aufscheint, veranlasst Schlesak zu einem Gedankenmodell. In ihm ist Rumänien ein Zwitterprodukt, in dem Geschichte und Transparenz, Europa und Byzanz weiterhin präsent sei. Ausgehend von den zwei Erkenntnismodellen, in denen die Welt interpretiert werden könne, nämlich entweder als Wissenschaft oder als Religion, plä-diert er für eine Verbindung von beiden Elementen. Diese zeichne sich nicht nur in neueren westlichen Erkenntnismodellen (Huntington, Heisenberg), sondern auch in den Gesellschaften Osteuropas und Asiens ab, in denen riesige geistige Leerräume nach dem Zerfall des Kommunismus (und ein neuer terroristischer Fundamentalismus, WS) entstanden seien. Sollte etwa Rumänien, in dem diese beiden Wirkkräfte im Keim noch virulent sind, sich als ein möglicher idealtypischer Prototyp für Europa erweisen, das sich in einer Sinnkrise befindet?
Die transsylvanische Reise lebt aber nicht nur von solchen spekulativen, auf philosophi-schen Grunderfahrungen beruhenden Erkenntnissen. Sie führt den Leser mitten in eine umgebrochen, einst so substanzielle Kulturlandschaft, in der die letzten Zeugen der deutschrumänischen Symbiose auf die Zugereisten und die aufmerksamen Beobachter aus dem Westen treffen. Ihre Prognosen über die Zukunft dieses Landstrichs sind voller Zweifel angesichts der realen wirtschaftlichen Entwicklung, obwohl nicht nur die deut-schen Mischkonzerne bereits kräftig investieren. Billige Arbeitskräfte, Steuererleichte-rungen, verbesserte Infrastrukturen – Faktoren also, die auf einen baldigen Aufschwung verweisen. Der Westen kehrt also in den Osten zurück! Mit dieser Quintessenz könnte das Ergebnis der Reise zurück in die Vergangenheit eine Erkenntnis sein, die für den Autor manche Überraschung bringt. Es ist ein durchgreifender wirtschaftlicher Struk-turwandel, der auch an den Randzonen des Balkans stattfinden wird, zum Nachteil des Landes, in welches die Siebenbürger unlängst zurück-emigriert sind.

Renate Färber-Häuser
Capesius, der Auschwitzapotheker
Dieses intensive Buch ist schwer zu ertragen. Doch wer sich darauf einlässt, wird es vor der letzten Seite kaum aus der Hand legen. Dieter Schlesak treibt den Leser durch alle Schrecken des Vernichtungs-lagers. Trost gibt es keinen, auch am Ende werden nicht die Guten belohnt und die Bösen bestraft, denn das Buch handelt von Auschwitz. Noch lange nach Ende der Lektüre glaubt man, die nicht mehr menschlichen Schreie der Opfer in den Gaskammern zu hören. Im Mittelpunkt steht Viktor Capesius – ein Name wie aus einem Arztroman der fünfziger Jahre. Doch der Mann hat wirklich gelebt, leitete als SS-Offizier die Apotheke, wurde im Frankfurter Auschwitz-Prozeß zu neun Jahren Haft verurteilt und verbrachte anschließend ein Alter im Wohlstand.
Und das ist die Geschichte, die klingt, als habe jemand mit einer bizarren Fantasie sie ausgedacht und die doch passiert ist: An der Rampe in Birkenau standen sich eines Tages die früheren Kunden, Nachbarn, Bekannten aus Schäßburg in Siebenbürgen und ihr einstiger Apotheker gegenüber. Die nicht Arbeitsfähigen schickte er kaltblütig ins Gas. Aus dem rumänischen Städtchen stammt auch der vielfach ausgezeichnete Romancier, Lyriker und Essayist Dieter Schlesak, Jahrgang 1934. 30 Jahre seines Lebens hat er mit dem gutbürgerlichen Massenmörder verbracht. Er hat mit überlebenden Juden aus Schäßburg gesprochen, hat Dokumente, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen gesammelt, sich in die Akten des Auschwitzprozesses vertieft, bevor er dieses Buch schrieb.
Auch Capesius wurde von Schlesak mehrmals befragt. Der Schriftsteller traf einen Mann, der sich keiner Schuld bewusst war. Er hatte Alte, Kranke, Mütter und ihre Kinder mit einem jovialen Lächeln im Gesicht in den grauenhaften Tod durch Cyklon B geschickt und wurde im Prozess mit den herzzerreißenden Zeugenaussagen der wenigen Überlebenden aus seiner Heimatstadt konfrontiert. Sein ungerührter Kommentar später war: “Eine kommunistische Verschwörung gegen mich. Ihnen war ich ausgeliefert. Sie machten mich fertig.”
Viele der Täter von damals – diese Geschichte ist tausendfach erzählt worden – sind nach dem Ende der Nazizeit unauffällig in bürgerliche Existenzen zurückgeschlüpft. Capesius hatte bald wieder eine Apotheke in Göppingen, dazu einen Kosmetikladen in Reutlingen und lebte – so Schlesak – in geradezu protziger Umgebung. Woher kam das Geld? Überlebende Häftlinge berichteten im Prozess von seinen Beutezügen: Er durchsuchte die Koffer der Ermordeten, fand versteckte Juwelen in Salbendöschen und Zahnpastatuben. Er hortete Goldzähne, die den Toten aus dem Munde gerissen worden waren – und setzte sich aus Auschwitz vor der Befreiung durch die Rote Armee vermutlich mit diesem zusammengestohlenen Vermögen ab. So profitierte also auch die Wirtschaftswunderzeit von Auschwitz
Während die Täter mit ihrem notorisch guten Gewissen wieder in die Rolle der Biedermänner schlüpften, haben die Opfer Auschwitz nie verlassen.“ Der Entkommene entkommt nicht. Auch das Opfer wird nicht verschont”, schreibt Schlesak und schildert seine Begegnung mit Baila, einer Überlebenden, die nicht weiss, warum sie überlebt hat, denn ihre beiden Kinder wurden von der Rampe direkt ins Gas geschickt. Und sie lebt mit einem Schmerz, der nicht heilen kann, nämlich mit dem Wissen, dass ihre Kinder vor dem Tod nach der Mama geschrien haben und die Mama nicht da war.
Warum geht gerade dieses Buch so nahe? Das liegt auch an der besonderen Begabung Dieter Schlesaks, in dieser hopchkomplizierten Collage nie den roten Faden zu verlieren. Er hat eben nicht nur die Geschichte der Schäßburger Juden und ihres Mörders geschrieben, sondern, wenn diese Wortwahl erlaubt ist, den grauenhaften Alltag von Auschwitz geschildert und die absolute Gefühlskälte der Täter.
Alles, was Schlesak erzählt, beruht auf historischen Quellen und auf Interviews. Entstanden ist dabei etwas ganz Eigenes: Kein Roman, kein Sachbuch, keine Dokumentation, stattdessen vielleicht eine Essenz von Auschwitz mit dem Fazit: Es gibt keine Gerechtigkeit. Die Täter schliefen gut, die Opfer aber haben auch nach ihrer Befreiung Auschwitz nicht verlassen.

Wolfgang Schlott

Ein Dokumentarroman über die Todesmaschinerie der deut-schen Nationalsozialisten

“… denn Gott ist ja seit Auschwitz ausgezogen aus dem Bereich menschlicher Erfahrung. Und eine Wie-derkehr müsste aus dem Todesidiom selbst kommen … Doch angesichts der Gaskammer gilt kein Glau-bens- und Trostspruch mehr, geschweige denn Literatur.“ (S. 208)

Einen Dokumentarroman über die Todesmaschinerie der deutschen Nationalsozialisten mit einer fiktionalen Person als Erzähler auszustatten, erweist sich als ein gewagtes poe-tologisches Verfahren, das der Autor gleich zu Beginn der Erzählhandlung mit einem hohen Aufwand an Glaubwürdigkeit seinem Leser gegenüber vertritt. Adam, der letzte Jude von Schäßburg, habe alles gesehen, er wisse etwas, was wir nicht wüssten, und nie wissen werden. Doch er habe überlebt, also wisse er auch nicht, was die Toten wissen. Und als Überlebender habe er Schuldgefühle, doch Schreiben habe ihm überleben ge-holfen, er habe „dort“ geschrieben, deutsch habe er geschrieben. Um Adam gehe es, der „DORT gewesen war, zum ‚Sonderkommando’ der Krematorien gehört hatte, es geht um einen Menschen, der das, was wir nicht begreifen können, in sich trägt“. (S. 7) Die-ses ungeheuerliche, mit dem Todesidiom versehene empirische Potenzial will der Autor für seine Leser auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen „erfahrbar“ machen. Adam gäbe es WIRKLICH: „Ich konnte ihm in die Augen sehen, ihn anfassen, mit ihm essen, spazieren gehen, reden, sein Schweigen, sein Versinken, sein immer wieder Abwesen-sein in der gleichen Lebenssekunde erleben …“ (S. 7) In diese Projektionsfigur versetzt sich der Autor, stattet sie mit seinem umfassenden dokumentarischen Wissen über die Vernichtungsfabrik aus, verleiht ihr sogar die Fähigkeit, in einem Ansatz von perspekti-vischer Verfremdung in die Psyche von SS-Männern zu schauen, die die „schwere Mordarbeit“ in der „kaum erträglichen Hitze“ leisteten. Eine weitere Verdichtung der Dokumentationscollage erreicht Dieter Schlesak durch die Einbeziehung von Aussagen der wichtigsten Zeuginnen und Zeugen der Anklage im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964/65, die sich vor allem über die Tätigkeit des Auschwitzapothekers Victor Capesius in den Jahren 1943 bis 1945 äußerten. Es sind Augen-Zeuginnen wie die aus Schäßburg stammende Kinderärztin Gisela Böhm, die in der Häftlingsapotheke in Auschwitz tätige Ella Salomon, der in der SS-Apotheke des Lagers beschäftigte Drogist Jan Sikorski und zahlreiche andere ehemalige Häftlinge, deren Aussagen den Überlieferungsgehalt und Wahrheitsanspruch des fiktiven Erzählers Adam im Laufe der dokumentarischen Hand-lung verstärken.
Doch die langjährige und langwierige Trauerarbeit des Autors bei der Rekonstruktion der Person des Todesgehilfen Capesius erfasst weitere Untersuchungsbereiche. Sie be-ziehen sich auf die Tätigkeit der Vollstrecker und Helfershelfer im Umkreis von Men-gele, Capesius, Klein, Moll, Nyiszli, Grabner, Boger, Kaduk, Jurasek, Roland und ande-ren, unter ihnen eine große Anzahl von aus Siebenbürgen stammenden Schergen. Auch die wissenschaftlichen „Nutznießer“ der wahnwitzigen medizinischen Versuche geraten in das Visier der dokumentarischen Untersuchungen. Ihre mörderischen Taten und ihre mit „wissenschaftlichem“ Erkenntniswahn vorangetriebenen Experimente werden auf der Grundlage der Zeugenaussagen bestätigt und aus der Sicht des Erzählers erweitert und vertieft. Doch damit nicht genug: Die unerbittliche Suche des Autors nach den Mo-tivlagen und Antriebselementen der Mörder gehört zu den besonders hervorzuhebenden Merkmalen der Dokumentation. Sie gipfelt in Tonbandprotokollen, die er 1978 mit Ca-pesius in Göppingen führte, wo der Auschwitzapotheker nach dem Krieg wieder eine Apotheke führen durfte, obwohl er im Prozess von 1964 zu neun Jahren Gefängnis ver-urteilt worden war, ohne berufliche Folgen aus seiner mordbeladenen Vergangenheit! Ausschnitte aus diesen Gesprächen montiert Schlesak in die Aussagen von Entlastungs-zeugen und die Fragen der Richter und Verteidiger. Darüber hinaus zitiert er aus Brie-fen, die Capesius aus dem Gefängnis an seine Frau und seinen Schwager schickte, um seine „Schuldunfähigkeit“, zu der sich wie fast alle anderen Angeklagten mit Vehemenz bekannten, noch einmal „nachzuweisen“. In diesen schriftlichen Dokumenten verdichtet sich auch der Eindruck von einem Todesbürokraten (vgl. dazu auch die Auflistung der Züge und Opferzahlen, S. 149), der „unter der Belastung seines Amtes leiden musste“ und gleichzeitig kaltblütig die Zykon-B-Blechschachteln austeilte, dann und wann auf der Rampe stand, um lächelnd – auch auf Ungarisch – Mütter mit ihren Kindern in die Gaskammern schickte. Nachgewiesen durch Zeugenaussagen wurde auch sein Verhal-ten, als jüdische Deportierte aus seiner Heimat ihn erkannten, ihn begrüßen wollten, er sie jedoch kalt abservierte.
Und im April 1945, als sich Capesius mit dem Rest der Nazischergen aus Auschwitz abgesetzt hatte? Der auktoriale Kommentar hält fest: „Zweimal war Capesius interniert, 1945/46 als Kriegsgefangener bei den Briten im KZ Neuengamme, und, angezeigt von einem ehemaligen Häftling, im ehemaligen KZ Dachau. Seit 1950 ist er auch der Zent-ralstelle in Ludwigsburg bekannt, er wird mehrmals wegen Auschwitz zu Verhören ge-holt und von der Polizei befragt. Nein, versteckt hat er sich nicht, der Dr. Capesius.“ (S. 169) Eine Spruchkammer habe ihn in Stuttgart 1947 für unschuldig und nicht belastet hingestellt, sagte er dem Autor 1978, er sei nicht aktiv in der SS gewesen, er habe immer für das Gesundheitswesen im Deutschen Reich gearbeitet. Und sein schneller wirt-schaftlicher Aufstieg nach 1950? Im Auschwitzprozess wurde ihm vorgehalten, er habe mehrere Immobilien erworben, darunter die Marktapotheke in Göppingen, einen Kos-metik-Salon in Reutlingen, eine Eigentumswohnung und eine in der Steiermark gepach-tete Jagd. Aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen konnte ihm nachgewiesen werden, dass sich der „unschuldige“ Apotheker in unsagbar dreister Weise an den ermordeten Häftlingen in Auschwitz bereicherte, indem er vor allem das Zahngold, das Häftlings-ärzte den vergasten Menschen aus den Kiefern herausreißen mussten, regelmäßig „in das Reich“ transportieren ließ. Mit dem Erlös aus dem Zahngold und anderen Wertsachen baute er sich seine Nachkriegs-Existenz auf.
Schlesaks Dokumentation setzt sich auch mit anderen Details der rassenwahnsinnigen Politik der Nazischergen auseinander. Im Kapitel III zeichnet er unter dem Titel ‚Der deutsche Volkskörper-Wahn und die deutsche Sprache als Heilmittel’ am Beispiel des Hermannstädter Psychiaters Dr. Jekelius, der Direktor einer Tötungsklinik im Spiegel-grund war und dort kranke Kinder ermorden ließ, einige Hintergründe für die Realisie-rung des Euthanasie-Programms der Nazis nach. Jekelius war der Ehemann von Hitlers Schwester Paula. In Jekelius nachgelassenen Papieren gab es eine Notiz, in der nach dem Willen des übermächtigen Bruders sie ebenso wie die gesamte Familie Hitler unbekannt bleiben sollte. Hitler habe sich seiner Verwandtschaft, in der der Anteil geistig gestörter Menschen besonders hoch war, geschämt. Im Kapitel IV geht Schlesak dem Komplex ‚Ordnungsliebe und Pflichtbewusstsein’ nach, von dem die Nazimörder – als Teil der Verinnerlichung der nationalsozialistischen Wahn-Ideologie – geprägt waren. Indem sie sich auf ihr „Pflichtbewusstsein“ beriefen, hätten sie – mit Ausnahme von Dr. Lucas – auch keine Schuld eingestanden. Ein weiterer Aspekt des rassenhygienischen Wahns wird im Kapitel V (Liebe im Todeslager) abgehandelt, die Rolle des nationalsozialisti-schen Wissenschaftsapparats bei der Vernichtung „unwerten“ Lebens unter dem Stichwort ‚Mein Gott, Wissenschaft’ im Kapitel VI thematisiert. In diesem Kapitel greift Schlesak nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Mengele und Capesius auf, er setzt sich auch mit der Mitschuld einiger jüdischer Ärzte auseinander, die im Dienste des medizinischen Massenmörders Mengele die Experimente mit Zwillingen und Lili-putanern durchführen mussten. Auch die Nachkriegskarrieren einiger SS-Ärzte mit Lehrstühlen an westdeutschen Universitäten werden erwähnt. Zu den abschließenden erschütternden Dokumenten gehören der Bericht über den Aufstand der Sonderkom-mandos, die Testamente des Sonderkommandos, das seit Ende 1944 die Krematorien abbauen und vernichten musste, die Bekenntnisse des SS-Manns Roland über die Schaf-fung einer neuen Religion, die Details über die täglichen Hinrichtungen in Auschwitz an der Jahreswende 1944/45, die Dokumente über die antisemitische Einstellung von hohen Amtsträgern der Evangelischen Landeskirche in Siebenbürgen, Berichte über die Bombardierung von Auschwitz durch alliierte Geschwader im Januar 1945 und das grausame Schicksal der Häftlinge, die vor der Besetzung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 unter der Bewachung von SS-Kommandos die Todesmär-sche durch Oberschlesien antreten mussten. Und der Chef der kriminellen Auschwitz-Ärzte, ein gewisser Dr. Wirths? Er besaß wenigstens die Courage, sich nach seiner Flucht in den Norden Deutschlands zu erhängen, während ein großer Teil der geflüchte-ten Auschwitz-Mörder untertauchte.
Schlesaks großes dokumentarisches Werk über den Todesbürokraten Capesius leistet eine Aufklärungsarbeit besonderer Art: sie verwandelt die Fiktion von der Hölle der Massenvernichtung in eine unerbittliche Realität, in der die mündlichen und schriftli-chen Beweise der unsagbaren Verbrechen sich zu einer kompakten Aussage über die Shoa verdichten, in der die Befehlsvollstrecker noch einmal vor das Gericht der Opfer gestellt werden, in deren Namen der aus dem siebenbürgischen Schäßburg stammende Autor, Jg. 1934, mit seinen nazihörigen Landsleuten unerbittlich abrechnet. Ein mutiges Buch, das in den Kanon der Auschwitz-Literatur aufgenommen werden sollte, gerade, weil eine solche Form von Dokumentationsroman für nachfolgende Generationen eine lebendige Erinnerungskultur schafft.

Georg Aescht

Von der Familiarität des Bösen

Der Dichter Dieter Schlesak geht den siebenbürgischen Weiterungen von Auschwitz nach und verzichtet auf das Dichten. Dafür lässt er die Menschen reden und mehr sagen, als sie selbst von sich wissen: Capesius, der Auschwitzapotheker. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2006, 352 S., 29,90 Euro
Jeder, der seinen Beruf ernst nimmt, hat es schwer, auch ein Dichter. Nur hat dieser ne-ben der Herstellung und dem Verkauf seiner Produkte noch manche zusätzliche Schwie-rigkeit. Er hat nämlich ein ganz und gar eigenes Material, mit dem er arbeitet, die Spra-che, und die ist immer auch die Sprache der anderen. Überdies hat er nicht nur seinen eigenen Kopf und seine eigenen Gedanken bei der Arbeit einzusetzen, sondern auch die Köpfe und Gedanken anderer, die er kennt, von denen er gehört oder gelesen hat. Hier ist ein Buch, bei dem man gut daran tut, sich all diese vermeintlichen Selbstverständ-lichkeiten vor Augen zu halten.
Denn der Dichter Dieter Schlesak ist mit dieser Arbeit, ohne sich zu schonen, an die Grenzen gegangen, an seine Grenzen als Dichter, als deutscher Dichter aus Siebenbür-gen. Er hat jahrzehntealtes Wissen mit jahrzehntelangen dokumentarischen Recherchen unterfüttert, hat einen Berg von Material zu einem Buch zusammengetragen – und hat sich schließlich selbst aus dem Buch zurückgezogen, hat darauf verzichtet, die Samm-lung ausdrücklich als die seine vorzustellen und zu kommentieren. Er hat sie einfach in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit mithilfe des Bonner Verlags J. H. W. Dietz Nachf. vor den Leser hingestellt. Das ist, wie die Dinge nun stehn, keine Nachlässigkeit und kein Versäumnis, es ist vielmehr ein Wagnis.
Der Schäßburger Dieter Schlesak ist der auch in siebenbürgischen Kreisen bekannten, wenngleich nicht oft und nicht gern erörterten Fama des Schäßburger Apothekers Victor Capesius nachgegangen, er hat dessen Tätigkeit im Konzentrationslager Auschwitz zu ergründen versucht und ist dabei auf siebenbürgische Weiterungen, auf ein Geflecht von Zusammenhängen bis in den engsten Bekanntenkreis gestoßen, das seinen literarischen Gestaltungswillen herausfordern musste. Wodurch sähe sich ein Schriftsteller des aus-gehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auch mehr gefordert als durch diese ungeheure, ungeheuerliche Episode der Menschheitsgeschichte. Dass aber die Ungeheuerlichkeit nicht nur mit seiner deutsch geprägten Identität und den damit ver-bundenen Fragen allgemein im Zusammenhang steht, dass er sich nicht nur als deutscher Schriftsteller damit auseinandersetzen muss, sondern bei dieser Auseinandersetzung auf Landsleute, ja Bekannte trifft, dass sein Leben mit dem Leben seiner „Personen“ in unmittelbarer Verbindung steht, das ist ihm und dem Leser, zumal dem siebenbürgi-schen, ein intimer Schrecken. Auch dieses „Heimat“ genannte Fleckchen Erde, auch die Menschen, die man seinerzeit „Onkel“ oder „unsere Sachsen“ zu nennen pflegte, auch diese entlegenen Winkel „jenseits der Wälder“ haben also schon vor der Russlanddepor-tation mitten in der fürchterlichen Zeitgeschichte gestanden? Allerdings.
Wie erzählt man von, wie erinnert man an Menschen, mit denen einen mehr verbindet als der Wille zum Erzählen? Diese Frage haben alle zu beantworten, die eine Lebens-erinnerung schreiben. Sie bemühen sich bei der Darstellung ihrer Nächsten um Sach-lichkeit, sie trachten umsichtig nach Objektivität und dem möglichen Maß an Gerech-tigkeit, sie versuchen, alle Fragen erst einmal sich selbst zu stellen, um Selbstgerechtig-keit zu vermeiden. Nun schreibt ja aber Schlesak keine Lebenserinnerung, keine Selbst-biografie. Oder doch?
Schwerer noch, er arbeitet an, er arbeitet sich ab an der Selbstbiografie der Siebenbürger Sachsen. Darum auch hat er jahrzehntelang gesucht und versucht, darum stellt er alle Fragen erst einmal sich selbst, geht von sich aus und schont dabei sein Umfeld nicht. Das kann, das will er auch nicht, denn seine Mutter kennt „den Vik“, wie ihn jeder Schäßburger ihrer Generation gekannt hat und Schlesak ihn „kennenlernt“: „Ich war bei Capesius zu Hause gewesen, beim ‚Vik’, wie meine Mutter ihn nannte, in Göppingen war ich zu Besuch gewesen. Und er war froh, einen Landsmann getroffen zu haben.“ Und schon sind wir mitten in der siebenbürgische Fatalität.
Was Hannah Arendt als „Banalität des Bösen“ bezeichnet hat, hier wird’s zur transsil-vanischen „Familiarität“ des Bösen. Dieser Doktor Capesius war eben „der Vik“, ein Schäßburger wie du und ich. Da gibt es auch noch den Zeidner Arzt Fritz Klein, sogar einen „Rolandonkel“ aus der eigenen Kindheit entdeckt Schlesak unter dem Auschwit-zer Personal, besucht ihn in Innsbruck und dokumentiert seine grausame Selbstgefällig-keit. Überdies sind die Wachsoldaten der Waffen-SS zum Teil Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben gewesen. „Landsleute“ … Eines aber kommt hinzu: Viele Opfer sind es ebenfalls: „Landsleute“. Mit den massiven „Ungarntransporten“ treffen aus Nordsiebenbürgen, aus den Gegenden um Klausenburg, Großwardein, Bistritz und Neumarkt, Menschen im Lager ein, denen Capesius seinerzeit als Vertreter deutscher Pharma-Produkte (IG Farben) begegnet ist, die er besucht hat, denen der Ruch auch sei-ner Heimat anhaftet – und die an der „Rampe“ „selektiert“ und in den Tod geschickt werden, unter Umständen von Capesius oder Klein selbst.
Siebenbürgen ist nicht die begütigend hinterwäldlerische Provinz, taugt nicht mehr als Quell nostalgischer Empfindungen oder versonnener Überlegungen, durch Auschwitz wird es in den bösartigen, unmenschlichen Mittelpunkt des Weltgeschehens gerissen. Hier, wo der Abgrund sich auftut, erscheint der Begriff Heimat aufs grausamste perver-tiert. Im Angesicht dieser Perversion zieht sich der Dichter Dieter Schlesak zurück, ver-zichtet weitgehend auf seine literarisch-sprachliche Kreativität, versagt sich die poeti-sche Selbstaussage und genügt nur noch der selbstauferlegten Chronistenpflicht. Das Entsetzen ist nicht darstellbar, ist schriftstellerisch nicht fassbar, die literarische Sprache versagt. Die Beteiligten selbst müssen reden, und der Schriftsteller muss sich mit dem Verdienst begnügen, dass er sie zum Reden gebracht hat und so zitiert, dass ihre Spra-che, ihre Art zu sprechen mehr über sie aussagt, als sie selbst von sich wissen.
Schlesak lässt sie reden, über andere, über sich. Man lese und fröstele. Etwa Capesius über seinen Chef Mengele: „Mengele war 174 cm groß, hatte eine kurze gerade Nase, Sommersprossen und einen stechenden Blick. Die Augen dunkelbraun, der Haarscheitel links. Mengele hatte eine mittlere Statur, drahtig, sportlich, und erinnerte wohl an seine Zigeunervorfahren aus der Zeit wahrscheinlich, als die Mengelewerke noch eine Schmiede waren. Mengele war ein Gerechtigkeitsfanatiker und sehr impulsiv.“ Oder „Rolandonkel“ über sich: „Einerseits bin ich sensibel, andererseits habe ich gerade dort festgestellt, dass ich robuster bin als die so genannten Robusten.“ Und über Fritz Klein: „Wenn du den Klein gekannt hättest, natürlich auch Siebenbürger. Bei dem war Mensch Mensch. Er hat sich hingesetzt mit den jüdischen Häftlingen und hat mit ihnen Kaffee getrunken. Arrest hat er dafür bekommen. Nicht wahr. Er war ein Mensch. Er war die Güte selber. Er hat nur helfen wollen.“ Diesen Klein wiederum zitiert Capesius mit des-sen Interpretation des hippokratischen Eides: „Aus Achtung vor dem menschlichen Le-ben schneide ich einen vereiterten Blinddarm heraus, die Juden sind der vereiterte Blinddarm Europas.“ Hier ist sie, die „Banalität“, die trügerisch glatte Oberfläche be-denkenloser Unmenschlichkeit.
Selbst die schwächste Spur von moralischer Einsicht wird ordinär schnippisch verdrängt, wenn Capesius während seines Prozesses seinen Schwager, der ihn in einem Brief als vor den Menschen schuldig, aber vor Gott unschuldig bezeichnet hat, ermahnt, nichts dergleichen mehr zu schreiben, weil die „Censores“ „daraus entnehmen könnten, dass die nächsten Verwandten an meiner Unschuld vor den Menschen zweifeln, die Un-schuld aber vor Gott ist bei den Gerichten höchst unwichtig. Ich bitte also … um nüch-terne oder schwärmerische Briefe, die sich weder mit mir noch mit meiner Familie be-schäftigen“. Oder wenn Roland Menschlichkeit beschwört, die in Auschwitz auch statt-gefunden habe, ja sogar erwägt, etwas darüber zu schreiben. Schließlich schreibt Dr. Wirths, zwar kein Sachse, aber ein Hauptakteur medizinisch kaschierter Verbrechen in Auschwitz, aus der Gefangenschaft vor seinem Gespräch mit englischen Behörden an seine Frau über seine Befürchtungen, ob denn jene seiner eigenen moralischen Größe gewachsen seien: „Trotz des besten Gewissens ist es halt doch ein schwerer Schritt, da sich kaum absehen lässt, wie weit die andere Seite Verständnis für die Schwere meiner Aufgabe aufbringen wird. Ob sie verstehen kann, wie schwer dieser harte Zwang dabei auf mir lastete.“
Es musste ein Dichter sein, der diese indirekten Offenbarungseide, diese selbstvernich-tenden Aussagen dokumentiert. Ein Dichter nur vermag in einem Buch den Raum zu schaffen, in dem diese Aussagen so hallen, dass man auch ihren Widerhall vernimmt: Alles, was diese Menschen sagen, kann, muss gegen sie verwendet werden. Das ist al-lerdings nur die eine, gewissermaßen anekdotische, siebenbürgische Dimension des Bu-ches. Dieter Schlesak hat seine Aufgabe viel weiter gefasst, er hat aus der umfangrei-chen Materialsammlung ein Bild zusammengestellt, das den Abgrund Auschwitz zwar nicht erfasst, aber den mörderischen Wahn, der dort Wirklichkeit wurde, spüren lässt. Wieder ist es die Sprache, die Aus-Sage der Zeitzeugen, über die er zu vermitteln ver-steht, dass nicht zu sagen ist, was dort geschah. Man kann allerdings bei aller sprachli-chen Ohnmacht eine Ahnung davon bekommen, wenn man den Sätzen nachhorcht, wenn man versucht zu ermessen, wieviel Ungesagtes darin mitklingt.
Schlesaks Kronzeuge Adam beispielsweise berichtet darüber, wie er und ein Leidensge-nosse, die tagsüber Stubendienst hatten, abends die grausamen, doch mit befremdlicher Sachlichkeit referierten Geschehnisse des Tages von ihren Mithäftlingen erfuhren: „Shlomo und ich saßen meist zusammen, und wir redeten noch nachher darüber, konn-ten uns nicht beruhigen, denn es war erstaunlich, wie unsere Leidensgenossen das be-richteten, sie wirkten müde und abgestumpft, ihre Stimme klang wie die von Automa-ten, wenn sie über Schreie, über Szenen, die niemand glauben konnte, der nicht dort gewesen war, berichteten …“ Die Häftlingsärztin Dr. Böhm formuliert das Unsagbare so: „Und das Leben ging weiter, immer weiter. Auch in Auschwitz. Und das war eben so, dass durch nichts auch nur im geringsten der Alltag gestört, gar eine Augenöffnung oder eine seelische Veränderung eintrat, obwohl die Geschehnisse so furchtbar waren, dass sie nicht zur normalen Wahrnehmung passen konnten.“
Die Zitate mögen täuschen. Das Buch besteht nicht aus nachgetragenen Nachdenklich-keiten, nicht aus Reflexion der Reflexion, sondern es ist gefüllt mit furchtbarer histori-scher Wirklichkeit, mit Berichten und Geschichten vom Leben zum Tode. Etwa über die Unterschiede zwischen dem schwarzen Rauch, der bei der Verbrennung der „Untoten“, der abgezehrten „Muselmänner“, aufstieg, und den „hellauf“ lodernden Flammen, in denen die „frischen ‚cugangi’ (Zugänge) mit ihrem frischen Fett“ aufgingen. Oder über die Kinder im Zigeunerlager, die jene Selektion nachspielten, die sie an der Rampe erlebt und einstweilen überlebt hatten. Oder über den abgründigen Zynismus, mit dem den mehr oder minder ahnungslosen Verdammten auf dem Weg in die Gaskammer ein-geschärft wurde, sich die Nummern zu merken, unter der sie ihre Kleider abgegeben hatten, für nachher.
Sich selbst nimmt Schlesak nicht aus von der hochnotpeinlichen Befragung: „‚Gnade der späten Geburt’ und so nicht schuldig geworden, nur deshalb nicht schuldig gewor-den, weil ich acht Jahre jünger war als der jüngste Eingezogene??“ Damit bezieht er auch jeden Leser ein, der sich, ob siebenbürgisch oder nicht, zugehörig fühlt. Auch wer sich so nicht fühlt, wird nach der Lektüre dieses Buches etwas von der Zwangszugehö-rigkeit begreifen, die allen Über- und Nachlebenden auferlegt ist und die nicht aufgear-beitet, nicht bewältigt, nur gelebt werden kann.

Zoltán Tibori Szabó

Mit Dieter Schlesak auf den Spuren menschlicher
Würde
Dieses Buch, das der verehrte Leser in Händen hält, ist herzzerreißend und atemberau-bend. Es verursacht Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Übelkeit. Und denen, die sich tiefer greifende Gedanken über das Berichtete machen oder sich gar in die Ge-schichten, von denen sie lesen, hineinversetzen, bereitet es schlaflose Nächte. Daher stehen bereits von Beginn die Fragen im Raum: Kann man, ja darf man eine Lektüre solcher Natur überhaupt weiterempfehlen? Hat es einen Nutzen, dieses Buch zu lesen? Weiß man mit solch grausamen Eindrücken umzugehen? Meine Antwort auf diese Fra-gen ist eindeutig: Man muss. Die aufeinander folgenden Generationen stellen sich selbst eine riesige Falle, wenn sie sich nicht mit dem Geschehenen konfrontieren und somit gleichzeitig eine Tatsache aus dem Auge verlieren: Die Menschheit ist bedauerlicher-weise dazu veranlagt, ihre Gräueltaten zu wiederholen.
Gewiss stellte sich der siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller Dieter Schlesak eben diese Fragen, als er seinen Dokumentarroman verfasste. Ich halte das Werk für einen Dokumentarroman, da dieser Band nahezu ausschließlich aus Dokumenten und Zeu-genaussagen besteht, ja eine Art Collage aus diesen bildet und somit auf die Fiktion als ein grundlegendes Mittel des Romans verzichtet. Dies ist auch nicht nötig, denn jene Wahrheit, die im Roman dargestellt wird, ist hundertmal, tausendmal, ja, millionenmal erschütternder als alles andere, was sich ein Mensch vorstellen kann.
Die Geschichte handelt von Victor Capesius, einem Schäßburger Apotheker, der 1907 im siebenbürgischen Reußmarkt geboren und 1985 im westdeutschen Göppingen ge-storben ist. Die Mittelschule besuchte er in Hermannstadt und Schäßburg, wo er 1925 sein Abitur machte, um schließlich in Klausenburg Pharmakologie zu studieren. Nach dem Abschluss seiner Studien 1931 leistete er ein Jahr lang Wehrdienst bei der rumäni-schen Armee (mit dem Dienstgrad eines Leutnants, der denjenigen zugesprochen wurde, die ihre Studienjahre bereits absolviert hatten), doch nach einigen Wochen wurde er beurlaubt, um seine Studien zwischen 1931 und 1933 an der Universität in Wien fortzu-setzen. Er erlangte 1933 seinen Doktortitel und war bis 1943 Vertreter der deutschen Pharmakonzerne Bayer Werke Leverkusen und IG Farben in den Apotheken Sieben-bürgens und der Walachei (vornehmlich in Bukarest). Er heiratete seine aus Wien stammende ehemalige Kollegin. Seine Frau, Dr. Friderike Capesius, die halb jüdischer Abstammung war, zog nach Schäßburg, wo sie auch nach 1945 blieb, bis sie aus Grün-den der Familienzusammenführung nach Westdeutschland zog.
1941 wurde Capesius von der rumänischen Armee mobilisiert. Man schickte ihn nach Cernavodă, wo er ein halbes Jahr lang die Apotheke des Soldaten-Krankenhauses leite-te. Im Januar 1942 wurde er zum Hauptmann befördert und vom Wehrdienst freiges-tellt, doch anderthalb Jahre später, im August 1943, wurde er erneut einberufen. Im Sin-ne des deutsch-rumänischen Abkommens musste er dieses Mal als siebenbürger Sachse zur Waffen-SS. Er wurde nach einer kurzen Ausbildung in den Rang des Hauptsturm-führers erhoben und in die Warschauer Außenstelle des Zentralsanitätslagers des Dritten Reiches eingeteilt. Von hier kam er nach Auschwitz, wo er (ab November 1944 als Sturmbannführer) bis zur Räumung des Konzentrationslagers im Januar 1945 Leiter der SS-Apotheke und Mitglied der SS-Sondereinheit war.
In Auschwitz erwies er sich als einer der raffiniertesten Mörder, der die Juden und die-jenigen, die für Juden gehalten wurden, und unter denen sich zahlreiche seiner ehemali-gen Kunden und deren Familien befanden, aus den anrollenden Zügen über die berüch-tigte Birkenauer Rampe lächelnd in ihren grausamen Tod in der Gaskammer schickte. „In einer Stunde seht ihr euch wieder“, beteuerte er den zu Tode verängstigten Depor-tierten, wie später mehrere Überlebende einstimmig berichteten. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass Bereicherung seine Motivation ausmachte, da die Goldzähne, Kronen und Prothesen, die von einer Sondereinheit für schmutzige Arbeit in den Gaskammern und Krematorien teilweise noch mit Fetzen des Zahnfleisches aus den Mündern der Opfer ausgerissen wurden, allesamt bei ihm landeten.
Capesius nahm damals als Herrscher über Leben und Tod an den Selektionen auf der Rampe teil, und es kam nicht selten vor, dass er selbst die Zyklon B genannte tödliche Chemikalie, die unter seiner strengen Aufsicht lag, in die eigens für diesen Zweck er-richteten Öffnungen der Gaskammern schüttete.
Unser Apotheker schaffte es, im Januar 1945 nach Berlin zu gelangen, von wo er in Ge-sellschaft anderer Nazi-Führer nach Schleswig-Holstein flüchtete. Dort wurde er von den Engländern gefangen genommen, doch bereits im Mai 1946 kam er frei und ließ sich in Stuttgart nieder. Noch im Sommer desselben Jahres erkannte ihn in München ein ehemaliger Gefangener aus Auschwitz. Diesmal wurde er von der amerikanischen Mili-tärpolizei verhaftet, doch da die Untersuchungen gegen ihn keine Ergebnisse brachten, wurde er am 2. August 1947 von einem Gericht, das die Fälle der Internierten bearbeite-te, freigesprochen und kam erneut auf freien Fuß.
In den folgenden Jahren lebte und arbeitete er unter seinem eigenen Namen in einem Stuttgarter Pharmakonzern, und im Jahr 1950 eröffnete er in Göppingen seine eigene Apotheke, wenig später seinen Kosmetiksalon in Reutlingen. 1958 hatte er bereits einen Umsatz von 400.000 Mark, der selbst inmitten des damaligen Wirtschaftswunders als außerordentlich galt. Er konnte nie über seine plötzliche Bereicherung Rechenschaft ab-legen. Die Überlebenden erklärten sich dies mit der Tatsache, dass er es war, der die Koffer aus Auschwitz, gefüllt mit vergoldeten Gebissen und stinkend von den fau-lenden Zahnfleischfetzen, an sich genommen hatte.
Capesius wurde 1959 nach einer erneuten Anzeige auf Befehl zweier junger Richter – Fritz Vogel und Joachim Kügler – verhaftet. Ihm wurde die Mittäterschaft im gemein-schaftlichen Mord vorgeworfen, woraufhin er untersucht und vor Gericht gestellt wurde und 1965 in Frankfurt am Main im so genannten Auschwitz-Prozess zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. Mit seinen zwei Verteidigern – Hans Laternser und Fritz Steina-cker – stand er selbst im Gefängnis in ständiger Korrespondenz, um Zeugen zu suchen, die seiner Freilassung dienen könnten.
Die ungarischen Leser Siebenbürgens konnten bereits dem Buch Dániel Löwys über die Tragödie der Klausenburger Juden entnehmen, dass Capesius alle Anschuldigungen im Fall gegen ihn abstritt. Er behauptete, dass seine Aufgabe lediglich darin bestanden hätte, die Arzneimittel aus den Gepäckstücken der Deportierten zu nehmen. Nur aus diesem Grund habe er sich auf der Rampe aufgehalten, doch an den Selektionen habe er nicht teilgenommen. Heute ist bereits bekannt, dass alle Deportierten ihr Gepäck in den Zügen zurücklassen mussten, dessen Durchsuchung das so genannte Kanada-Kommando durchführte, doch nicht auf der Rampe, sondern in den eigens für diesen Zweck eingerichteten Lagerhallen. Am 112. Tag der Frankfurter Verhandlung war Pál Pajor, ein Apotheker aus Großwardein, der ebenfalls von Victor Capesius auf der Rampe selektiert worden war, als Kronzeuge geladen. Er schickte Pajor nach rechts, seine Frau und sein dreizehnjähriges Mädchen nach links – in den Tod . Die Zeugen-aussage Pál Pajors wurde am 17. November 1965 in voller Länge von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt:
[FAZ Zitat vom 17. November 1965 vielleicht hat es Herr schlesak???...]
Nach seiner Verurteilung kam Capesius jedoch auf freien Fuß, da ihm – obgleich der Bundesgerichtshof die Verurteilung erster Instanz stattgab – die Jahre der vorangehen-den Internierungen und der Untersuchungshaft abgezogen wurden. Die siebenbürgische Justiz kam dem Apotheker aus Auschwitz jedoch nie auf die Spur. Nach dem Krieg sah sich das Klausenburger Volksgericht gezwungen, ihn trotz seiner Abwesenheit – in ab-sentia („in contumaciam“ – so das Gericht) zur Todesstrafe zu verurteilen. Selbstver-ständlich bot sich nie eine Gelegenheit zur Vollstreckung der Strafe. Diese Tatsache hatten die Nazis aus Siebenbürgen und Ungarn in hohem Maße dem baldigen Einbruch des Kalten Krieges zu verdanken.
Capesius starb am 20. März 1985 als freier und wohlhabender Mann in Göppingen.
Es bleibt Dieter Schlesaks ewiges Verdienst, dass er Jahrzehnte intensiver Arbeit damit verbrachte, Zeitzeugen zu suchen, für die Dr. Josef Mengele und Dr. Victor Capesius nicht bloß zwei Namen unter vielen bedeuteten, sondern die Nacht für Nacht die Haupt-rolle ihrer Albträume gespielt hatten. Schlesak ließ sie zu Wort kommen, um ihre Erin-nerungen schließlich mit den zahlreichen Dokumenten aus privaten und öffentlichen Archiven zu vergleichen.
Was die Aufdeckung der Fakten betrifft, so hat der Verfasser hervorragende Arbeit ge-leistet. Er gab den Ergebnissen seiner Recherchen eine Form, die den Leser geradezu zwingt, sich seine Meinung lediglich aus den zu Papier gebrachten Zeugenaussagen und den erschlossenen Dokumenten zu bilden. Die Gleichmütigkeit, mit der Schlesak eine eigene Wertung der Dinge umgeht, mag erbarmungslos erscheinen, wobei es eben diese Methode ist, mit deren Hilfe er seinen Leser zu einer vollkommenen und allgemeingül-tigen Selbstreflexion führen möchte. Er bringt ihn dazu, das Geschehene zu durchden-ken, sich den Tatsachen zu stellen, um aus diesen jene wichtigen Schlüsse zu ziehen, die auf der Hand liegen.
In diesem Band reihen sich erschütternde Szenen und Geschichten aneinander, die ei-nem die Rede verschlagen. Durch die Lektüre begreift der Leser, welch gewaltige Ge-fahr mit dem Verschwinden der Überlebenden und Zeitzeugen auf uns alle lauert, denn ohne ihre Zeugenaussagen bleiben Auschwitz, Birkenau, Monowitz, Dachau, Bergen-Belsen, Sobibor, Theresienstadt, Buchenwald und die anderen Todeslager und die vom Tod oftmals heimgesuchten Arbeitslager lediglich Ortsnamen, in denen womöglich – so wird die heutige und nächste Generation noch im glücklichen Fall darüber denken – einst grausame Taten vollzogen wurden. Aber auch die nicht viel aussagenden Zahlen – bedenke man, dass die Grausamkeiten des Holocaust durch den Mangel an persönlichen Zeugenaussagen zu trockenen Statistiken schrumpfen können – bergen die Gefahr, zur gleichgültigen Waage solch abstrakter und ferner Geschichten zu werden, deren Hinter-fragung oder Widerlegung keine größeren Schwierigkeiten mehr bereiten wird (6.000.000 ermordete Juden, 600.000 ungarische Juden, darunter 130.000 siebenbürgi-sche Opfer).
Die Tatsache, dass die Generationen des 21. Jahrhunderts, die vor unseren Augen auf-gewachsen sind, den Holocaust hinterfragen und sich freiwillig neonazistischen Organi-sationen anschließen, unterstreicht die Aktualität dieses Werkes.
Und so empfehle ich Dieter Schlesaks Buch in erster Linie jungen Lesern, in deren Rei-hen ich sowohl als Journalist als auch als Pädagoge oftmals eine besorgniserregende Unwissenheit feststelle. Der Grund dafür liegt größtenteils im hiesigen unsensiblen Schulwesen dem Thema gegenüber. Doch auch der Verantwortung der Eltern und Großeltern ist dies zu verdanken, deren Standpunkt generell wie folgt lautet: Worüber wir nicht sprechen, das ist auch nicht passiert. Es ist wesentlich leichter, das Geschehene unter den Teppich zu kehren, als offen über die Schattenseiten und Verbrechen der Vergangenheit zu sprechen. In Bezug auf den Holocaust ist diese Haltung im Laufe der letzten Jahrzehnte – aus vielerlei Gründen – in ein „großes Schweigen“ ausgeartet, das die heutigen Juden und Christen in fast gleichem Maße betrifft. Dieter Schlesak schlägt mit seinem Buch gegen eben diese Mauern des „großen Schweigens“, und das auf die effizienteste Art und Weise: mit den teils in Einklang ertönenden, teils widersprüchli-chen, in jedem Fall aber das Schweigen brechenden Aussagen der Henker und ihrer Op-fer – mit der Dokumentation des Geschehenen.
Dieter Schlesak lehrt uns die Art, mit der wir der Vergangenheit ins Gesicht schauen sollten. Gewiss hat es der Verfasser etwas leichter als wir, da der Prozess des mündli-chen Aufarbeitens in Deutschland bereits vor Jahrzehnten begonnen und sich als viel ef-fizienter und ergebnisreicher erwiesen hat als der rumänische oder ungarische. Und doch ist es die Katharsis, die dieses mutige Buch so wirkungsvoll machte, als es vor zwei Jahren unter den deutschen Lesern bekannt wurde, einerseits, weil es das Gedächtnis der noch lebenden Zeitzeugen erschütterte, andererseits, weil es durch die Vermittlung der nackten Tatsachen bereits unter mehreren Generationen zur Reflexion, zum Aufarbeiten der Traumata und folglich auch zur aufrichtigen Reue und seelischen Hy-giene beitrug.
Wir können die unmenschlichen Regime des letzten Jahrhunderts nicht verstehen oder uns vorbehaltlos dem Gedankenkreis von Schuld und Sühne widmen, ohne ebendiesen Fakten in die Augen zu schauen. Was meine ich damit? Es ist eine Tatsache, dass die Generation unserer Großeltern (im Falle der jüngeren Leser sind es bereits die Genera-tionen der Ur- und Ururgroßväter) ihren Teil zur Ausrottung der Juden in den 1940ern beigetragen hat – angefangen vom geglückten Versuch, das Judentum des Szeklerlan-des bereits vom Herbst 1940 an über die Grenzen abzuschieben, bis einschließlich der allgemeinen Deportationen, die im Frühling 1944 durchgeführt wurden. Tatsache ist auch, dass ihre Generation keinen Protest gegen die reihenweise erlassenen Judengesetze erhob, durch die der Jude schließlich zum Staatsbürger zweiten Ranges erklärt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Unsere Großväter glaubten – weil sie ihm glauben wollten – dem Horthy-Regime, dass ihr Leben sich bessern würde, wenn sie zwischen 1941 und 1942 die Juden mit „ungeregelter Staatsbürgerschaft“ aus Ungarn und dem gesamten Gebiet Siebenbürgens versammelten und sie über die Grenze, in die heutige Ukraine warfen (wo die Deutschen und ihre ukrainischen Gehilfen etwa 16.000 Deportierte in Massengräber schossen). Unsere Großväter waren anwesend auf den Kriegsfeldern der Ukraine, auf denen die ungarische Armee die Juden aus den Ar-beitslagern als lebendiges Minenfleisch benutzte, auf denen sie statt Tieren Juden vor die Wägen spannte, die mit militärisch-technischer Ware beladen waren (denn Juden galten nicht als Menschen), und auf denen unter den Gejagten ebenfalls Tausende star-ben. Und es war auch die Generation unserer Großeltern, die 1944 nach Áron Mártons beispielloser Rede in Klausenburg stumm blieb, dagegen aber in der Meuterei der sie-benbürgischen Juden teilnahm und Beihilfe leistete, als sie zusammengetrieben und ins Ghetto gesperrt wurden.
Wir wissen natürlich, dass es auch Menschen gab, die den ungarischen Juden zu helfen versuchten, als sie aus dem Körper der Nation getrieben wurden, doch ihre Zahl hat sich als schmerzhaft gering erwiesen. Wir wissen auch, dass nach dem Krieg Tausende un-garischer Soldaten und Zivilisten in den Lagern der Sowjetunion die Hölle durchmach-ten. Doch wir können uns nicht hinter den Tatsachen verstecken und in keiner Sekunde vergessen, dass die meisten, die an diesem Völkermord teilnahmen, ungestraft oder mit einer zu vernachlässigenden Strafe davonkamen und sorgenlos unter uns weiterlebten und fleißig daran waren, ihre grausamen Sünden für immer im Dunkeln zu behalten – wie uns das Beispiel von Victor Capesius zeigt.
Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht um Kollektivverbrechen, das haben auch die Juden, die am Leben geblieben sind, noch vor Beginn der Prozesse nach dem Krieg betont. Es kann jedoch von einer Art Kollektivverantwortung gesprochen werden, die durch die Geschehnisse auf uns allen lastet. Aufgrund dessen muss man eindeutig klarstellen, dass: 1. die Mörder und die Opfer keinesfalls verwechselt werden können, ja dürfen; 2. diejenigen, die dies tun, zu Komplizen werden; 3. das Ziel eines Komplizen es ist, das Walten der Justiz zu verhindern, die Wahrheit zu vertuschen und sie zu leugnen oder ihre Leugnung zu propagieren; 4. wir den für uns allzu schmerzlichen und unangenehmen Tatsachen der Vergangenheit ins Auge schauen müs-sen, um zu vermeiden, dass sich die Geschichte wiederholt; 5. es unsere Pflicht ist, im Namen unserer Vorfahren die Opfer um Verzeihung zu bitten und sie für jegliche Ver-luste zu entschädigen.
Unter denen, die an den Gräueltaten des Dritten Reiches mitwirkten, hat Dieter Schle-sak zudem eine Gruppe identifiziert, deren Rolle – auf den ersten Blick – noch schwerer zu interpretieren ist als die der Henker und deren todgeweihten Opfer. Es sind die de-portierten Juden, von denen die SS in den Gaskammern und Krematorien von Aus-chwitz unbegreifliche Arbeiten verrichten ließ. Als Mitglieder eines siebenhundert- bis tausendköpfigen Sonderkommandos wurden sie von ihren Mördern nach drei, vier Wo-chen ebenfalls in den Tod geschickt (nach Zeugenaussagen wurden insgesamt zwölf solcher Sonderkommandos im Schatten der Gaskammern ausgewechselt), um so die Zahl der Zeugen möglichst auf Null zu reduzieren. Doch einige überlebten die schreck-lichen Taten, unter ihnen auch solche, die im Warten auf den Tod Tagebücher führten, diese im Boden des Lagers von Auschwitz vergruben und nach dem Krieg vor verschie-denen Gerichten Zeugenaussagen über ihr furchtbares Schicksal und die Grausamkeiten machten, die sie durchlebt hatten. Die Aufgabe des Sonderkommandos war es, den zu einem Berg erstarrten Massen von Toten die Haare zu rasieren, ihnen die Goldzähne auszureißen, sie ins Krematorium oder auf den Scheiterhaufen zu schleppen, sie zu ver-brennen und die Asche verschwinden zu lassen. Eine andere Truppe, das Kanada-Kommando, durchsuchte währenddessen die Kleider und Gepäckstücke der Vernichte-ten. In erster Linie wurde nach Gold, Edelsteinen, Geld, Wertpapieren und anderen Wertgegenständen gesucht, doch sortiert wurden auch die anderen besitzerlos gebliebe-nen Sachen: Kleider, Erinnerungsstücke, Dokumente, Fotos, Brillen usw. – alles für die weitere Verwertung.
Es sind nicht wenige, die behaupten, dass diese zwei Gruppen die Befehle der SS aus-führten und größtenteils aus Juden bestanden, die letztendlich selbst dazu beitrugen, ihre Glaubensgefährten auszurauben, zu ermorden, sie zu verbrennen und ihre Asche verschwinden zu lassen. Man darf diese Menschen jedoch nie mit den SS-Mördern vergleichen, denn was sie taten, taten sie nicht aus freier Entscheidung, sondern als Menschen, die seelisch und körperlich gebrochen und völlig unfähig geworden waren, sich den Befehlen zu widersetzen. Im übrigen zählten zum Sonderkommando außer den Juden noch deutsche, polnische und russische Mitglieder. Die Tatsache, dass die Juden dennoch in der Überzahl waren, ist in erster Linie damit zu erklären, dass die Gefangenschaft des Todeslagers nach 1943 zu 90-95 % aus Juden bestand und dass die Deutschen um jeden Preis beweisen wollten, dass das Judentum eine vollkommen verdorbene, niedere Rasse sei, die man selbst zur Vernichtung ihrer Selbst anstiften könne. Die Untersuchung dieses teuflischen Werks führte der italienische Jude Primo Levi ein Jahr vor seinem Selbstmord in seinem erschienenen Buch meisterhaft durch. Seine Feststellungen haben noch heute ihre Gültigkeit.
Das Beispiel des auch von Schlesak zitierten Kanada-Kommando-Mitglieds Tadeusz Borowski ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Nachdem er nach Kriegs-ende seine schrecklichen Erlebnisse zu Papier gebracht hatte, setzte er seinem Leben, das er für nicht mehr lebenswert gehalten hatte, im Alter von kaum 29 Jahren eigenhän-dig ein Ende, in erster Linie aus dem Grund, da die im Todeslager Auschwitz verlorene Würde unwiderruflich verschwunden zu sein schien. Mit dieser Erkenntnis sahen sich nicht nur die Mitglieder der Sonderkommandos konfrontiert: all die Gefangenen, die sich nach allem Durchlebten nicht in Schweigen hüllten, sondern sich einer tiefgreifen-den Selbstanalyse unterzogen. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Jean Améry, Bruno Bettelheim, Paul Celan, Jerzy Kosinski, Primo Levi und andere, die das Grauen der To-deslager ebenfalls überlebt und sich ihre höllischen Erinnerungen von der Seele ge-schrieben hatten, auch Selbstmord begangen haben, da sie den gewählten Tod als einzi-ge Medizin auf ihre unheilbaren Wunden und als einzigen Ausweg aus der Falle ihrer Qualen sahen.
Es ist zudem kein Wunder, dass die Identität einiger Überlebenden in weit größerem Maße von den erlebten Traumata und von den sich hieraus ergebenden Schicksalsge-meinschaften geprägt wurde als von ihrer jüdischen Herkunft. Im Falle Amérys ist dies zweifellos der Fall, da ihn – war er doch ein vollkommen assimilierter, deutschsprachiger österreichischer Jude – nicht besonders viel an das Judentum band. (Eine ähnliche Identität besaß im Übrigen auch ein wesentlicher Teil des ungarischen und nordsieben-bürgischen Judentums, dessen Muttersprache und muttersprachlicher Kulturkreis es eng mit dem Ungarntum verband.) Eben dadurch wurde Auschwitz für ihn zum Origo: Dort hatte alles seinen Ursprung und dorthin konnte alles zurückgeführt werden – einschließ-lich des Judentums. Dieser Gedankengang führte ihn zur letzten niederschmetternden Erkenntnis: „Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznum-mer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“
Das jüdische Lebensgefühl nach dem Holocaust war also in hohem Maße von Erfah-rungen geprägt, die im Zeitalter der Nürnberger Gesetze als „Entwürdigung“ bezeichnet wurden. Die Nazis raubten den Juden auch den letzten Rest ihrer menschlichen Würde, und dies taten sie geplant und mit allen Methoden psychischen und physischen Terrors. Das Hauptziel war es, die Juden vollkommen zunichte zu machen und ihnen zu verste-hen zu geben: Sie seien weder der Liebe noch des Lebens würdig, und ihr einziges Recht und auch ihre Pflicht sei es, aus der Welt zu verschwinden. Nach dem Krieg zeig-te sich, dass das Wiedererlangen der verlorenen Würde bei weitem nicht einfach, in vie-len Fällen gar unmöglich ist – eben dies wird auch am Beispiel der genannten Denker deutlich.
Auch in dieser Hinsicht ist Dieter Schlesaks Werk von außerordentlicher Wichtigkeit, da diese Zeugenaussagen und Dokumente im Zusammenhang mit dem Kampf um das Wiedererlangen der Würde eine feine Parallele zu den todgeweihten Opfern und ihren Henkern zieht. Seine Arbeit veranschaulicht ausgezeichnet das erbärmliche Streben, mit dem Victor Capesius sein Zeugnis rechtfertigt und somit letztendlich nur versucht, die letzten Scherben seiner eigenen Würde zu retten. Diese Parallele erweist sich als äußerst beeindruckendes Mittel des Autors, mit dessen Hilfe der Leser sofort einsieht, wer Op-fer und wer Täter ist und somit diese zwei Rollen hoffentlich nie wieder durcheinan-derbringt.




QUELLENNACHWEISE

I
Joachim Wittstock, Im Oberland von Camaiore. Nachdruck der stellenweise leicht gekürzten Texte mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Joachim Wittstock, Keulemann und schlafende Muse. Erfahrungsschritte. Hermannstadt/Sibiu, hora Verlag 2005, S. 133-172
Reiner Wochele, Literarischer Mönch, in: Stuttgarter Zeitung, 20.09.2005
Lerke von Saalfeld, Poeta doctus. Preisrede 2007, unveröffentlicht.
Werner Söllner, Dieter Schlesak in: Kritisches Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, 32. Nlg., 1989. .
Edith Konradt, Dieter Schlesaks Grenzgänge, Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Neu herausgegeben von Thomas Kraft. München: Nymphenburger, 2003. S. 1110–1112
Maria Irod, Dieter Schlesaks „Zwischenschaft“, unveröffentlicht

II
Oliver Sill, Reisen Wegwohin, Richard Wagner, Herta Müller, Dieter Schlesak, in: Studien zu Ost-West-Wanderungen im 20. Jahr-hundert. Hrsg. Georg Weber, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, S. 863-892
Edith Konradt, Die sprachgewordene Vernichtung. Zu Dieter Schlesaks Roman, Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens, in: "... auch vor dem, was war, fürchte man sich": Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in drei ausgewählten Romanen von Dieter Schlesak, Hans Bergel und Eginald Schlattner. Deutsche Literatur in Rumänien und das „Dritte Reich“. Vereinnahmung – Verstrickung – Ausgrenzung. Hrsg. von Michael Markel und Peter Motzan. München: IKGS Verlag, 2003. S. 269–297

III
George Guţu Laudatio Domini Dieter Schlesak, Auf der Suche nach der Heimkehr, Preisrede am 11.11. 2005 bei der Verleihng des Dr.h.c. der Universität Bukarest.
Alina Oancea, Heimkehr, in: Rumäniendeutsche Gegenwartsliteratur am Beispiel von Dieter Schlesaks Prosawerk (Dissertation, Udine, 2004), Heimkehr, S. 53-60
Lothar Baier, Die gebrochene Übereinkunft; Süddeutsche Zeitung Nr. 296, 24. – 26. Dez. 1991
Alina Oancea: Das weiße Blatt, a.a.O. S. 82-99; Das Exil, S. 16-42

IV
Marian Victor Buciu, Die Welt als Text in Zeiten von Diktatur und Exil. Übersetzt aus dem Rumänischen, gekürzt und überarbeitet von Dieter Schlesak. Originalfassung: Marian Victor Buciu: Dieter Schlesak, un maestru german al evaziunii, eseu critic, Editura Universitaria, Craiova 2003, 2., durchgesehene Auflage: Ideia Europeana, Bukarest 2007

V
Christina Weiss, Am Wortstamm die Schlange, Süddeutsche Zeitung 21./22.Juli 1990
Michael Braun: Die Wiederkehr des absoluten Gedichts, in: Frankfurter Rundschau 1990
** * Physik und Gott, hk: Dieter Schlesak: Tunneleffekt. Gedichte, in: Die sieben Göttinger Literaturtipps der Text+Kritik-Redaktion, Juni 2001
Hans-Jürgen Schmitt, Mails und Küsse, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.01.2001
Jürgen Egyptien, Transsylvanien und Transzendenz. Zu Dieter Schlesaks neuen Reisegedichten, literaturkritik.de. Nr.4, April 2003, Online-Zeitschrift ohne Seitenangaben.
Wolfgang Schlott, Poetik der Absenz, in: Wolfgang Schlott: Neue Lyrik und Prosa von Dieter Schlesak, in: Die Horen, H 10331, 47. Jahrgang, 4. Quarttal 2002, S. 239-
Wolfgang Schlott: Dieter Schlesak, Vom Reisen der Zeithäftlinge, Los, Reisegedichte, in: Die Horen, Nr. 208, Dezember 2002
Zur Neubegründung der Lyriksprache nach Auschwitz? Vortrag des em. Lehrstuhlinhabers der Pisaner Germanstik Luciano Zagari bei der Vorstellung des Gedichtbandes „Settanta volte sete“. GRENZEN LOS (Universitätsverlag Edizioni ETS, Pisa) am 9. Juni 2006
Walter Hinck: Elegie des Abschieds. Zu: Dieter Schlesak: „Herbst Zeit Lose“. Liebesgedichte. Buch & Media GmbH / Lyrikedition 2000, München 2006. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2006. Frankfurter Anthologie, Nr. 31. 2008, S. 189-192
Maria Irod: Lippe Lust. Poesia Erotica zwischen Erotik und Mystik. Mitteilung (unveröffentlicht)

VI
Jürgen Egyptien, Totenschrift und posthume Ästhetik Zum ,Verweser’-Projekt. In: Im Schatten des Verwesers. Werkstatt-Fragmente aus einem Geisterroman. Einleitung von Jürgen Egyptien: Totenschrift und posthume Ästhetik, in Juni, Magazin für Literatur und Politik, Nr. 22/1995. S. 97-101 Und: Zu Dieter Schlesaks Verweser-Projekt und seiner posthumen Ästhetik, in: Passauer Pegasus, Heft 31/32/1998, S. 46-50
Maria Irod, Schrift und Melancholie. Der Verweser und Vlad, die Dracula-Korrektur (unveröffentlicht)
Wolfgang Schlott, Der Verweser, in: Die Horen, Nr. 208, Dezember 2002
Olivia Spiridon, Romans Netz. Ein Liebesroman. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Nr.3/2005, S. 332- 334
Edith Konradt, Dieter Schlesak: Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens, in: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde, 28. (99.) Jahrgang (2005), Heft 1, S.121-122
Wolfgang Schlott, Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens in: Halbjahresschrift für Südosteuropä-ische Geschichte, Literatur und Politik, Mai 2004, 16. Jhg. Heft Nr. 1, S. 120-122
Renate Färber-Häuser, Capesius, der Auschwitzapotheker. SWR 2 Buchkritik. Manuskriptdienst Dieter Schlesak: „Capesius, der Auschwitzapotheker“, Dietz Verlag. Redaktion: Uwe Kossack. Sendung: Dienstag, 30. Januar 2007, 10.55 Uhr, SWR 2
Wolfgang Schlott, Ein Dokumentarroman über die Todesmaschinerie der deutschen Nationalsozialisten. In: Matrix, Heft 8, 2007, S. 114-118
Georg Aescht, Von der Familiarität des Bösen, in: Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 20. Dezember 2006, S. 11, und in der Onlineausgabe am 30.November 2006
Zoltán Tibori Szabó, Mit Dieter Schlesak auf der Suche nach menschlicher Würde, (Vorwort) zur ungarischen Ausgabe von: Capesius, der Auschwitzapotheker: Capesius az auschwitzi patikus, Bookart, Csikszereda, 2008, S.5 – 16

Zu den Autorinnen und Autoren

Georg Aescht, Literaturwissenschaftler und Publizist, Bonn, Deutschland
Dr. Michael Braun, Literaturwissenschaftler und Publizist, Heidelberg, Deutschland
Prof. Dr. Marian Victor Buciu, Literaturwissnschaftler und Publizist, Facultatea de Litere, Universitatea Craiova, Rumänien
Lothar Baier, Literatrwissenschaftler und Publizist, Frankfurt a. M. (+ 2004), Deutschland
Prof. Dr. Jürgen Egyptien, Autor und Literaturwisenschaftler, Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Universität Aachen, Deutschland
Renate Färber-Husemann, Literaturwissenschaftlerin und Publizistin, Frankfurt, a. M., Deutschland
Prof. Dr. George Guţu, Literaturwissenschaftler, Germanistiklehrstuhl, Universität Bukarest, Rumänien
Dr. Maria Irod, Literaturwissenschaftlerin, Germanistiklehrstuhl, Universität Bukarest, Rumänien
Dr. Edith Konradt, Literaturwissenschaftlerin und Publizistin, Geretsried / München, Deutschland
Prof. Dr. Walter Hinck, Literaturwissenschaftler und Publizist, Professor em. für Neuere Deutsche Literatur, Universität Köln, Deutschland
Dott. Alina Oancea, Literaturwissenschaftlerin, Udine, Triest, Italien und Sibiu, Rumänien
Dr. Lerke von Saalfeld, Literaturwissenschaftlerin und Publizistin, Stuttgart, Deutschland
Prof. Dr. Oliver Sill, Literaturwissenschaftler, Universität Münster, Deutschland
Dr. Christina Weiss, Kulturstaatsministerin a.D. Literatur- und Kunstwissenschaftlerin, Berlin, Deutschland
Prof. Dr. Wolfgang Schlott, Literaturwissenschaftler und Publizist, Universität Bremen, Deutschland
Dr. Hans-Jürgen Schmitt, Literaturwissenschaftler, Publizist, Berlin, Deutschland
Dr. Olivia Spiridon, Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg, z. Z. Tübingen, Deutschland
Werner Söllner, Autor, Literaturwissenschaftler, Gastprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt und am Oberlin College, USA, Frankfurt a. M., Deutschlandland
Dr. h.c. Joachim Wittstock, Autor, Publizist und Literaturwissenschaftler, Rumänische Akademie, Sibiu-Hermannstadt, Rumänien
Reiner Wochele, Autor, Literaturkritiker und Publizist, Stuttgart, Deutschland

Dieter Schlesak, Pieve/Agliano 327, I-55041 Camaiore, Italia . (schlesak@tiscali.it) * in Transsylvanien, Rumänien. Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer. Lebt seit 1973 in der Toskana und in Stuttgart. Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums und des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (London).
Preise/Stipendien. Zuletzt: Für das Gesamtwerk die Ehrengabe der Schillerstiftung/Weimar 2001. 2005: Dr. h.c. der Universität Bukarest; 2006: Premio Umberto Saba, “Trieste Scritture di Frontiera Poesie”; 2007: Maria-Ensle-Preis der Baden-württembergischen Kunststiftung.
Werke (Auswahl): Lyrik: „Weiße Gegend“, Rowohlt, Reinbek l981; „Aufbäumen. Gedichte und ein Essay“, Rowohlt, Reinbek 1990; „Landsehn“, Druckhaus Galrev. Berlin 1997; „Tunneleffekt.“ Mit einem Nachwort „Fragmente zu einer posthumen Poetik“, ebenfalls Druckhaus Galrev, Berlin 2000; „Lippe Lust. Poesia erotica“; „Weiße Gegend“, Gedichte, Lyrik-Edition 2000, Hrsg. Heinz Ludwig Arnold, München 2000; „LOS. Reisegedichte“, München 2002; „Herbst Zeit Lose“, Liebesgedichte, München 2006; alle vier Bände bei: Buch&medi@ GmbH, München; „Sette volte sete. Grenzen Los. Oltre limite“. Hrsg. Stefano Busellato. Lyrik-Werkauswahl italienisch-deutsch, Edizioni ETS, Pisa, 2006; „Namen Los“, Gedichte, Ludwigsburg 2007; „Ich liebe, also bin ich“, Hamburg, Klingenberg 2009; als e-books: Tunnelleffekt, fixpoetry, Hamburg 2008, Settanta volte sete, fixpoetry. Hamburg 2008; Heimleuchten, Shaker media, Aachen 2008; Lippe Lust, fixpoetry, Hamburg 2009. Essays und Prosa: „Visa Ost- West-Lektionen“, S. Fischer, Frankfurt l970; „Geschäfte mit Odysseus“, Hallwag, Bern l972; Bildmeditationen in: „Das Neue Licht Michelangelos”, Kunstdruckdokumentation der renovierten Sixtinischen Kapelle, 3 Bde. 1989-1991; „Există o viaţă după moarte“, Bucureşti 2001. Romane: 1986: „Vaterlandstage” (1995 rumänisch: „Zile acasã”); „Der Verweser“. Roman, Allitera Verlag, München 2002; „Eine Transsylvanische Reise“, EDITION KÖLN, Köln 2004; „Romans Netz“, Roman, EDITION KÖLN, Köln 2004; „Capesius, der Auschwitzapotheker“, Dietz Verlag, Bonn 2006 (Übersetzungen ins Rumänische, Ungarische, Polnische, Italienische; „Vlad. Die Dracula-Korrektur, Ludwigsburg 2007, 2008; Der Tod und der Teufel. Materialien zu Vlad. Die Dracula-Korrektur, Ludwigsburg 2008.
Als e-books: Romans Geister. Roman, shaker media, Aachen 2008; Vlad. Die Draculakorrektur, Roman, shaker media, Aachen 2008; Der Tod und der Teufel, Materialien zu Vlad, shaker media, Aachen 2008; Romans Netz, ein Liebesroman, beams e-book, 2008; Zwischen Himmel und Erde. Gibt es ein Leben nach dem Tod, ciando, München 2009; Transsylwahnien, Roman, ciando, 2009.
Essays über Literatur, Grenzphänomene und Religion. Hörspiele und andere Arbeiten für das Radio (vor allem über psy-chiatrische Kliniken, Patientenkunst, über Meditation.) Historisch schließt an Vaterlandstage der Essayband Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991) an, der die „enteignete“ Revolution von 1989 untersucht (rumänisch: Revolta morţilor, Bukarest 1998, italienisch: Bandiere bucate, Bergamo, 1997) gefolgt von dem synoptischen Journal Stehendes Ich in laufender Zeit (1994), das den europäischen Nach-Wende-Geist bis 1993 kritisch ausleuchtet; Zeuge an der Grenze unserer Vorstellung, Porträts, Studien und Essays, München 2005; Übersetzer- und Herausgebertätigkeit. Essays über rumänische Literatur und Philosophie; mehrere Herausgaben seit 1969: Nichita Stănescu: „11 elegii/11 elegien”, Bukarest und Norii, New York, 2002. Elf Elegien, Übersetzung und Nachwort: Metapoesie der roten Zeit, Ludwigsburg 2005, Gefährliche Serpentinen, Rumänische Lyrik der Gegenwart, 1998. Fortsetzung: Addenda corrige, in: orte, Schweiz, Sonderheft Rumänien, Dezember 2005.
Sekundärliteratur in Büchern und Lexika: Oliver Sill: Der Ausgewanderte: Dieter Schlesak, in: Reisen wegwohin, Richard Wagner, Herta Müller, Dieter Schlesak, in: Georg Weber et. alt.: Emigration der Siebenbürger Sachsen. Studien zu Ost-West-Wanderungen im 20. Jahrhundert, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003; Marian Victor Buciu: Dieter Schlesak, un maestru german al evaziunii (rumänisch), eseu critic, Editura Universitaria, Craiova 2003 (zahlreiche Vorabdrucke in rumänischen Literaturzeitschriften). Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung; Kürschners Deutscher Literaturkalender 1981ff; Jürgen Serke: Blick vom toskanischen Berg, in: Die verbannten Dichter, A. Knaus Verlag, Hamburg 1982, S .324; Taschenbuchausgabe: S. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1985; Werner Söllner in KGL 32. Nlg., 1989; Bruno Jahn in: Literaturlexikon, Autoren u. Werke deutscher Sprache (Hg. Walter Killy), Band 10, 1991; Autoren in Baden-Württemberg. Ein aktuelles Nachschlagewerk, 1991; Stefan Sienerth in: Lexikon der Siebenbürger Sachsen (Hg. Prof. Dr. Walter Myss) 1993: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, 20. Jahrhundert (Hg. Kurt Böttcher), 1993; Alexander von Bormann in: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (Hg. W. Barner), München 1994; PEN Bundesrepublik Deutschland: Autorenlexikon, 1982, 1988, 1993, 1996/97, 2000/2001; Das deutsche Who ist who, 1996 ff.; Edith Konradt über die Romane und die Gedichte in: Kindlers Literaturlexikon, Herbst 1999. Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, 2002/03; PEN-Autorenlexikon 2000/2001; 2003/2004; 2006/207; MV Buciu, Dieter Schlesak, Craiova, Bukarest 2003, 2007. Sprachheimat, das Werk von Dieter Schlesak, Ludwigsburg, Bukarest 2009.

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