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1970. Griechenland.TB2
@
Die Aufregung des ersten Fluges nach Brüssel
am 3. Oktober 1968, das internationale Symposion in Mondorf (mit Caraion und
Veronica Porumbacu), die Parisreise, die
Tage in Paris (Nina Cassioan, Celan u.a.). usw. - all diese ersten
Eindrücke sind als Aufzeichnung verloren, sie waren in einem Notizbuch
beschrieben, das ich in einer Telefonzelle in Paris/Orly in der Aufregung
lioegen ließ, weil die Franzosen mich nicht abfliegen lassen wollten. Ich weiß
nicht einmal mehr genau warum nicht.
Flüchtig notiert jetzt: Hotel, nr. Onze neben
der Botschaft. Salami und Rotwein. Pigalle. Die Hure Sonja. Nina Cassian. Celan in der Heilanstalt. Der französische
Germanist.
Einiges, vor allem Brüssel, Mondorf in VISA.
Die Tagebücher beginnen erst am 23. Oktober 68
mit dem Abflug aus Paris.
1.
Heft. 1968 ab 23. Oktober.
Abflug. 23. Oktober. (Eindrücke)+
Der erste Kontakt in Bonn mit Deutschland, das
Hotel Mozart,
24.Fragestunde im Bundestag
26. Oktober Köln-Stuttgart. Dann
Stuttgart-Aalen.(Samstag-Sonntag)
Notiert: "Unausstehlich! Bürgherlich
-kalt. Steif. Für uns der Tod.
Montag/Dienstag Stuttgart.
Ulmer Dom
Dann München.
Sonntag 3. November. Gespräch Volker
Montag 4. Hans Jürgen Schmidt bei Piper
kennengelernt.
Flug München-Köln.
Der Karneval bei Inter Nationes, die Begleiterin
die mir für einen Nachtfick zugedacht war, Monika? Die Reisen nach Berlin,
Hamburg, München, Frankfurt, die lebensentscheidende Begegnung mit Linde im S.
Fischer Verlag, das Hotel Kupferschmidt, die Parvisgeschichte (Lindes Maker,
der wegen Drogenhandel im Knast saß! Dann rauskam und uns überfiel, wir
vögelten gerade. Er die Tür eintrat.)
Flug Köln -Hamburg.
Hamburg-Frankfurt.
13. November. S. Fischer Verlag, Linde
kennengelernt. Abends Konzert.
Bohrer.
Schon nach 2 Tagen zu ihr gezogen.
Dann Berlin. Wolfgang Schivelbusch.
Wieder Frankfurt. Manthey kennengelernt. HR.
November 1968, die Einladung auf den
Sonnenberg, das Treffen mit der tschechischen Delegation.
Tagebücher ziemlich diffus notiert.
91 92 1.November 92MARIENBAD, EIN LETZTER TAG
Unsterblich
die Geliebte, sucht ich SIE,
da sie
mir fehlte, Immer, seit ich lebe,
nur
wußte ich noch nicht, daß ich ererbte,
in
diesem Alter, Welt, hier Niemand sei.
Nur zu
verschwinden wissen,
so
stärker sein; der Faden ist gerissen.
*
Mein Gott,
die großen Worte waren offen,
damals
mit dir, die Qual zu lösen
des
langen Hierseins: Wiedersehen hoffend,
der
Alte reiste fort, die Herrgottsfrühe
umgab
ihn böhmisch. Die Jahre, sie verwesen.
Erst
jetzt das Paradies verlassen müssen,
Der
Kuckuck holt uns, den die Engel küssen.
Da
kamst du noch zurück, ich dachte Später
war es
die Zeit Combray, und früher dies Geschenk
Marienbad,
die Alte dieser Väter, sie wurde über neunzig,
ich
aber fand nur einen Gasthof: eingedenk
"Zur
Traube", und suche weiter, was nicht lebbar ist,
einzig
das Luftbild und ins Herz zurück, wo du noch bist.
Da läßt
sich auch nach vielen vielen Jahren
dies
Leben weit hinaus erhalten, du mußt dich löschen
können:
mit ihr, so bist du gut gefahren, wo
du nur
bist, sei alles immer kindlich, so bist du
alles
wieder: unüberwindlich?
Dies
gelbe Blatt im Park ist zu idyllisch, der Abfall
leuchtet
gelb wie das Gesicht des Toten UND
es
flattert steht im Wind, kurz dieser Augenblick,
lautloser
Hall
der Abschied
ist längst da, von Tag zu Tag
schmeckt
bitter schon im Mund
der Tod
der die Sekunden fahl macht, kein Zurück,
es ist
der fade Schlag, der Nichts erlebt,
kein
Frauenblick auf dieser Promenade -
und
dieses Glas hebt, Sand und Glaubersalz
und in den
Knochen einen Greis, papierene Gnade
dieser
letzte Satz.
Die
Seele wird gekränkt von einer Sucht nach Stil,
die
dich nicht will, und kalt die Kunst,
wie man
sie westlich meint zu müssen.
Wir
können uns nur ohne uns noch wissen,
in
Gegenwart des allgeliebten fernen Wesens,
das
jetzt hier wortgleich niederkommt, wir
lesen`s,
gebrochen nur enträtselt sich
das
Ungenannte war, ließ mich sogleich
verschwinden.
Wer sagt mir noch: so Stund, um Stunde
wird
dir das Leben freundlich angeboten, so nimm es
hier,
was einmal war ließ nur geringe Spuren und was noch
kommen
wird, zu wissen ist verboten.
....
dann über Stuttgart, Singen, Zürich südwärts meine Italienreise: in
Richtung Lucca, nach Agliano, in jene Gegend, wo ich wohne, aber nicht zu Hause
bin, es sei denn als Fremder. Und keine Heimkehr mehr. Goethe in unendlicher
Ferne - schon lange tot. Und welch Datum erwartet uns mit ihm? 1999!
5.
November 92. Doch hier in Agliano gibt es ein anderes Zuhause. Einsamkeit
befördert das Ablegen der uns von uns selbst entfernenden Masken. Dieser
Ab-Grund, der Furcht und Zittern weckt, s
9*oll
verdeckt werden, er ist tabu. Und alle vergangenen großen Abschiede. Der
Abschied, der endgültige ist tabu. Obwohl unsere Zivilisation von einer großen
Aura von Toten, von Opfern umgeben ist! Nachts meine ich die Toten in meinen
Träumen zu sehen.
17. Mai
97. Draußen eine Prozession. Im Hintergrund das Radio. Ich höre Nachrichten.
Einiges ist leicht ablesbar, nicht nur hier auf dem weißen Blatt, sondern schon
an den gelben Blättern der toten Bäume. Ich sehe dabei über diese Zeile hinweg
in einen Olivenhain und die Reihen der Reben, die mir wie längst vergangen
erscheinen, und denke an Johannes 15. Benjamins Sammelband
"Illuminationen" liegt vor mir: Über die
"Wahlverwandtschaften", doch beim Blättern stoße ich auf den Satz:
"Die Abdichtung der Information gegen Erfahrung hängt weiter daran, daß
die erstere nicht in die `Tradition eingeht´." Und von Pisa rast eben ein
Militärjet über den Himmel und durchkreuzt meine Gedanken. Der Tod ist immer
vergessen und doch so präsent wie noch nie so greifbar und abstrakt zugleich.
Und da es nichts Rätselhafteres gibt, als dieses, was JETZT eben wirklich
geschieht (ein Wunder, daß ES überhaupt noch weitergeht, Sekunde für Sekunde,
von wem oder von was eigentlich veranstaltet?!) Wende ich mich ihr zu...
Vogelgezwitscher, das ich aber im Kopf, meinem Echolot wahrnehme; und im Auge
Grün, italienische Kastanien. Goethe hatte es selbst erlebt und konnte es noch
erleben. Und beschreiben. Wir sind wie blockiert. Ob wir anders, ohne tiefes
Vergessen, heute nicht leben könnten - ? In der Motivgeschichte wird das
brisante Thema dieses Grenzganges zum Tode meist als "Abstieg in die
Unterwelt" mythisch neutralisiert. Auch Goethes "Willkommen und
Abschied" wurde falsch oder ahnungslos gedeutet!
Mehrfachgleise
in meinem Hirn. Multimedia simultan, samt Weinstock und Olive? Ob die Liebe
fehlt? Die Fähigkeit zu ihr, die öffnet? Doch LESEN als letzter Ort möglicher
Sammlung, und die Hoffnung, wenigstens Literatur könnte Erfahrung intensivieren
und speichern - bleiben!? In Goethes "Dichtung und Wahrheit" steht
ganz klar, welches sein Urerlebnis zu "Willkommen und Abschied"
gewesen war, ausgelöst durch starke emotionale Erregung: Wie die Zeitgrenzen
aufgehoben werden, sich Vergangenheit und Zukunft vermischen, wenn schockartige
Erlebnisse das Zeitkorsett sprengen, und sich ein Spalt in andere Ebenen
öffnet. Goethe hat es beschrieben: in der Liebe zu Friederike (in Straßburg und
Sesenheim) machte ihn "die Abwesenheit... frei," und seine
"ganze Zuneigung blühte erstrecht auf durch die Unterhaltung in der
Ferne": "Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über
die Zukunft verblenden; zerstreut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit
und dringender Geschäfte. Ich hatte bisher möglich gemacht, das Mannigfaltigste
zu leisten, durch immer lebhafte Teilnahme am Gegenwärtigen und
Augenblicklichen; allein gegen das Ende drängte sich alles gar gewaltsam
übereinander..." Und dann die Beschreibung seines letzten Besuches in
Sesenheim, wo "Willkommen und Abschied" in eins fielen, und er einem
Gespenst, seinem Doppelgänger begegnete: "Als ich ihr die Hand noch vom
Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel
zumute. Nun ritt ich auf dem Fußpfad gen Drusenheim und da überfiel mich eine
der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich nicht mit den Augen des Leibes,
sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder
entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war
hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war
die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist e/s jedoch, daß ich nach acht Jahren in
dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus
Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friederiken noch einmal zu
besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das
wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens eine
Beruhigung."
19.Mai,
1997. Schreiben ist schon Todesgenuß, sage ich mir: die Täuschung Außenwelt
"in Klammer" setzen, nein, auszulöschen. Alltag ist deshalb dumm,
weil er an dieser Täuschung der Tatsachen, dem "Gewesenen" festhängt.
Ver-rückt ist dies Voranrücken der Augenblicke, das "Fortkommen"! Und
Schreiben bringt erst den Zusammenhang der Bilder, den uns das Auge (ohne
Engel) eingibt? Schuldgefühle, wenn sie nicht aufgelöst werden, das Werden, und
dann das Wirkende, wenn nicht die eigentlichen Wirkkräfte im Hintergrund
gesehen werden. Goethe kannte sie, fühlte sie, ging von ihnen aus! ( Wir aber
"glauben" nur noch an Wahrscheinlichkeiten! Eine Art Verlegenheit;
Kairos-Null und Schicksalsschwäche!)
Das Ave
Maria draußen. Als wäre tatsächlich nichts geschehen und noch nichts zu spät?
Zum Grüngezwitscher der Meisen - das Rauschen meines Computers, was hilft dies
Scheinmanöver der Zeile, aber ich schreibe, weil ich immer noch an mein
"Und" und an mein "Oder" glaube.
(unkorrigiert)
\
ZWEIMAL
DEUTSCHLAND
Zur Lage der neuen Deutschländer
am Detail beobachtet
In der Württembergischen
Landesbibliuothgek Stuttgart suchte ich die ndl, "Weltbühne",
"Wochenpost" oder "Freitag" vergeblich; durch zufällige
Kontakte und während einer Reise durch jenes Land, das es nicht mehr geben
soll, erfuhr ich von ihrer Existenz. Wenn es diese Publikationen irgendwo geben
sollte, dachte
ich, dann in der ehemaligen
"linken", der ehemaligen alternativen Buchhandlung von Wendelin
Niedlich; ich wurde enttäuscht. Niedlich kannte diese Zeitschriften aus einem
so fremdemn Land nicht. "Kein Bedarf", sagte er. Ich war auch der
erste, der nach den Büchern etwa von Hans Joachim Maaz fragte.
Hermann Kant, Mischa Wolf oder
freilich Honecker kannte jeder, sie waren ja auch im FERNSEHEN AUFGETRETEN UND
DIE Zeitungen schrieben andauernd über sie.
Während der P.E.N.-Tagung in
Hannover konnte ich an jedem Kiosk türkiche, jugoslawische oder russische
Zeitungen kaufen, vom "Neuen Deutschland", der "Berliner
Zeitung" oder gar der "Mitteldeutschen" hatte die Zeitungsfrau
noch nichts gehört. Doch es gab sie wenigstens in der Bahnhofsbuchhandlu
ng. In Stuttgart fand ich sie
daselbst bei der "intder Bahnhofsbuchhandlung. In in Stuttgart fand ich
sie daselbst bei der "internationalen Presse".
_
Ich bin freilich ein Deutscher der
dritten Art, habe mich auf einem italienischen Berg im Niemandsland, D.
NIemandsland alöso ein Pseudonym, im Zwischenraum also "aufgespart",
das heißt, auch jenen Teil in mir, der im Westen abgeschafft werden sollte
durch Anpassung, hab jenen behalten, den "Ossi" in mir, der in
traulicher Schizophrenie neben dem "Wessi" lebt, der aber ist durch
schmerhaften Umbau einer Spaltperson entstanden, denn bis hin zu den raschen
Reaktionen und pawlowschen Refelexen im Verkehr, bis zum Abgewöhnen von
Gefühlen und Wahrnehmungen oder sich für Menschen und Dinge zu sehr erwärmen,
gabs eine neue Sozialisatiuon bei lebendigem erwachsenem Leib, anfangs mit
Todesgefühlen; aber nach Jahren kaum noch im Streit, mangels Reibung und durch
langsames Abblassen und Vergessen der eignen Wurzeln, die abgeschnitten wurden,
und man ging zeitweilig mit zusammengebissenen Zähnen auf den Stümpfen.
Jetzt aber, seit November 89 kam
er heftig wieder, der Vergessene.
Lese bei Heiner Müller eine sehr
gute, weil wirklichkeitsentsprechende paradoxe Formulierung:
+
+
Ich suche bei Heine ein Zitat und
mehr davon: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich um den Schlaf
gebracht." Wieder? Bruder Heinrich? Meine Eltern waren gegen ihn, den
Juden, dessen Gefühle "nicht echt" gewesen seien. Nur Deutsche haben
echte Gefühle.Und sind nicht so kalt "intellektuell" und paradox.
Asphaltliteraten eben, kein Heimatgefühl im Leib. Und da fällt mir eine Zeile
von Marina Zwetajewa ein, von Celan zitiert: "Bce poety jidy" - alle
Dichter sind Juden.
Legitimiert wurde ich ja als
Deutscher der Dritten Art erst, als mich Arno Reinfrank, in MANNHEIM GEBOREN,
heute auswärts und Londoner wegen des Tausendjährigen Reiches, das erst jetzt
mit seinen Nachweirkungen hoffentlich langsam beginnt zu Ende zu gehen,
aufforderte Mitglied des P.E.N deutschsprachiger Autoren im Ausland zu werden;
schließlich wohne ich nahe den Bädern von Lucca, wo Heine versucht hatte seine
Krankheit zu kurieren, auch schreibend "Die Bäder von Lucca".
Was hätte er gemacht, wäre ihm
klar, eindeutig und handfest bewiesen worden, daß er total im Unrecht sei mit
seinen Attacken, seiner ganzen Art, daß das große Deutsche Reich wäre er
reumütig heimgekehrt an einen Fürstenhof? Alles ist eben so, wie es ist?! Und
hätte sich alles genau erklären lassen, auch sein Leben?
Es ist natürlich heutzutage nicht
so einfach, wie zu seiner Zeit, die Krankheit zu erkennen, obwohl sie
ansatzweise, freilich nicht so massenhaft und andauernd, daß man sie gar nicht
mehr spürt, schon seit langem gegeben hat.
Meine Frau, meine Andere Seite,
mein Geegnteil, daher natürlich auch eine typische deutsche Westlerin, hatte
schon gehofft, ich sei endlich "gesund" geworden, ich dachte es
wehmütig und abschiednehmend, abschiedsfähig, jedoch nicht ganz überzeugt vom
Wert meines Verschwindens, auch, ich sei ganz der Ihrige; und jetzt dies.
Anfangs wie aus dem Häuschen, hoffnungsfroh, aufblühend, dann seit Sommer 90,
wie so viele, verzweifelt und nieder geschlagen. Aus.
Anfangs dachte ich, aus auch mit
der U-Topie, die ich hier im Zwschenraum und als eine Art
"Zwischenschaftler" gesucht hatte. Nein, es stimmt nicht, nur der
falsche Lack ist ab.
Utopie: Gedanken s. 1329, WBühne
Ich erlebte eine merkwürdige
Denk-Übereinstimmung mit Ost- Kollegen bei einer P.E.N.-Tagung im Oktober 91 in
Hannover. Nicht aber mit jenen andern, den ehemaligen Dissidenten, zu denen
ich, freilich als Siebenbürger, auch einmal gehört hatte; bespitzelt und von
der Securitate verfolgt, außer Landes gegangen, verurteilt zu sieben Jahren
Haft durch ein Militärgericht.
Doch ich empfand keinen Haß gegen
das Land, keineRessentiments gegen Kollegen oder Verfolger. Eher Schuldgefühle,
nicht durchgehalten zu haben, geblieben zu sein. So lange die Diktatur dauerte,
fühlte ich mich verantwortlich, erst der Dezember 89 machte mich
"frei" entließ auch mich.
Ich war bestürzt über den Haß, die
Gleichgüligkeit, die verborgenen Ressentiments der Autoren, die im andern Tei
Deutschlands gezwungen, wie Kunze oder Biermann, mehr opderw eniger freiwillig
wie Hilbig, Jentzsch oder Schädlich lebten. Nein, sie waren keine Deutschen der
Dritten Art, oder sie verbargen dies geschickt.
Gespräche.
Ich hatte freilich einen Vorteil,
daß es "mein" Siebenbürgen, eine Art kleien DDR, aber ohne DM, durch
massenhafte Aussiedlung , also Selbst-Abschaffung meiner Herkunftsgruppe, nicht
mehr gab, daß es bodenlos ist, eine Art Phantasieland, wie etwa Ostpreußen für
Michel Tourniers "Erlkönig", anstatt leben, phantasieren und
schreiben, ist für mich so real wie der Tod also, das Nirgendwo als
tatsächliches Land und nicht nur im Lied.
Für die ehemaligen DDR-Dissdenten
im Westen, also bei den Siegern, gibt es merkwürdigerweise jenes Land
anscheinend noch, es gibt diesen Staat noch in ihrem Kopf, nein in ihren
Frustrationen und Haßgefühlen; einer sprach von Verachtung. Jetzt möchten sie
sich, wenn vielleicht auch nur in einer unbewußten Reaktion, rächen. Rache ist
süß, ja, wenn man Alexander Kluge Recht gibt, ist es sogar eine
"Arbeitsleistung".
Deutsche der Dritten Art, fast
schon Phantome im Dazwischen, hätten eigentlich die Aufgabe, so glaubte ich, zu
vermitteln, Brücken zu bauen, aus einem tieferen Wissen zwischen den Fronten.
Wir wissen, was die
"Besserwessi" im Osten des nun angeblich gemeinsamen Landes
anstellen. Michel Tournier, der sehr oft die DDR besucht und dort viele Freunde
hatte, berichtete in dieser Zeitschrift (Nr.10/91) entsetzt von einem
Bekannten, höreer Justizbeametr in Stuttgart, der nach der Pensionierung nach
Dresden abkommandiert wurde, um dort "nach dem Rechten zu sehen - so als
ob es sich um zu kolonisierende Bueger handele, denen man einen weißen
Verwalter schickt. Das ist wohl ziemlich stark... Ich muß sagen, da bin ich
doch... schockiert."
Es gibt sehr viele Beispiele
dafür. ir persnlich begegnete bei einer Lesung in Minden ein westdeutscher
Bauingineur, der jetzt "drüben" im Baugewerbe arbeitet, nun ehemalige
Führungskräfte, die "ganz unten von vorne anfangen müssen,"
"einweist". Sie seien "gut", aber auf "diese
Weise" völlig "verängstigt und desorientiert." Am schlimmsten
sei, daß man ihnen ihr "Leben gestohlen" habe. Soll alles umsonst
gewesen sein? Wir haben doch, genau wie ihr, 45 Jahre lang gerackert, sind wir
denn weniger Wert als ihr? Das kann doch nicht sein?
Da antworte er ihnen: Ja,
gerackert schon, aber für das falsche System.
Aha, also er hat das absolut
richtige, alle Richtigen. Das Große Los längst gezogen, jetzt ziehn auch sie es
und murren. Welch ein Undank. Aber man kann nicht Millionen verlorene Leben mit
Millarden DM "sanieren", schloß er dann doch. Und alle Anwsenden
stimmten zu.
Von Autoren, die dieses Land gut
kennen, selbst ein Teil von ihm waren, ich glaube: heimlich auch jetzt noch
sind, sonst würden sie sich anders verhalten: großzügig! sollte man eigentlich
mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen erwarten als Spezialisten für
Wahrnehmungsvorgänge, Gefühle, Lebensumstände und Lebenstragödien und
Bewußtsein, die selbst unter der Diktatur gelitten haben, den Mechanismus genau
kennen...
Skeptisches Zitat wider das
Heldentum: Zeitung TAGESSPIEGEL
Aber im Gegenteil, einige von
ihnen heizten eher die falsche Diskussion an, eine Einmischung, nun auch auf
diesem heiklen und für Autoren eigentlich tabuisierte Zone geistiger Intimität
von Schuld und Sühne an, angemaßte Eingriffe in die Gewissensangelegenheiten
ihrer Ost-Kollegen. Sie verlangten z.B. eine Säuberungsaktion, wie zu unseligen
Partei-Zeiten also, im Ost-P.E-N. an, als hätten sich nun die Vorzeichen
verkehrt... ausführen! (Auch Wallmann, als hätten alle ZK-Denken, Zensur, usw.
im Kopf.)
Mir kamen die Menschen im Westen
von Anfang zwar informiert, jedoch so ins Private enntlassen, schrecklich naiv
vor, ihre Interessen winzig und langweilig, sie redeten andauernd über Autos
und Preise, Hunde und Häuser, Urlaubsreisen, Preise und bestenfalls über
Beziehungskisten, eine Normalität des "alles ist so wie es ist", utopielos,
trostlos und geistlos; ich war gewohnt über gefährliche Dinge zu reden, von
einem andern Leben zu träumen, nächtelang zu diskutieren, uns die Köpfe heiß zu
reden in einer phantastischen innern Solidarität wider einen Staat, wider den
Druck der Geheimpoliue und der Zensur, wir hatten das Gefühl, zwar eingesperrt
zu sein, doch Geschichte zu erleben, im Zwiespalt zu sein, auch dem Land gegenüber,
so schien mir, einen unverantwortlichen Gebrauch , so schien es mir, machten
sie von ihrer "Freiheit", die, erst später merkte ich es, keine war.
Ich erinnere mich voller Scham, wie hier der Bruder eines Freundes, der aus
Argentinien kam, wo die Junta wütete, wo Leute nachts verschwanden, und der uns
entgeistert zuhörte, ich war ja nun schon zum "Westler" geworden, wie
wir über unsere "Probleme" sprachen, etwa von der dringend nötigen
Anschaffung einer Badeleiter für unser Boot.
Streitgespräche mit meiner eignen
Frau, die keinen Bruch in ihrem Leben erlebt hatte. Keinen "Umbau"
wie wir, zwei-dreimal, wie ich meinte die brutale Gewalt von Geschichte am
eignen Leib mitgemacht, aber auch Erfahrungen mit ihr hatten. Am schlimmsten
fand ich es in der Schweiz, die Westdeutschen hatten wenigstens den
Geschichtsbruch durch den Krieg erlebt. Jetzt lese ich davon, wie schön doch solch
totale Normalität, der "Frieden" in Wohlstand sei. Das Zwergen- und
Banken-Musterland Schweiz also das aller-nachahmenswerteste und schönste
Beispiel. So stehts da. Als ich hier ein altes kaputtes Haus kaufte, kurz nach
68 hatte ich das Gefühl eine unmoralische Tat zu begehen, es endgültig mit mir
aus sei: das wichtigste, was ich im Osten erlebt hatte, meinte ich, sei die
Austreibung des Bürgers und des Besitzinstinktes aus meinem Unbewußten, diese
Infektion, die die Welt ruiniere. Und heute? Heute wird dies nun als das einzig
Richtige bei allen, nicht nur bei einzelnen "Deserteuren"
restauriert.
Und mir scheint nun, daß jener
psychische Umbau, den früher nur einzelne, meist unter den größten
Schwierigkeiten und Leiden mitmachen mußten, um in diesem wilden Westen zu
überleben, nun unter dem gleichen Zwang von ganzen Völkern "zu Hause"
im eignen Land verlangt und erpresst werden soll, am intensivsten und
penetrantesten in der westdeutschen Kolonie Ostdeutschland, wo nicht nur,
einmalig in der Geschichte, nicht nur Staat und grenzgeschütztes Territorium,
Justiz, Armee, Polizei, Industrie, Schulwesen und die gesamte Kultur samt ihren
Institutionen abgeschafft ("abgewickelt") wurden und auch die letzten
Reste langsam werden sollen, die Bevölkerung also, im Gegensatz zu den andern
Ostländern völlig schutzlos und in einem staatlichen und moralischen und
sozialen Vakuum den friedlichen Invasoren ausgeliefert sind, sondern auch ihr
bisheriges Leben zur Disposition steht, sei es durch Vernichtung eines ganzen
Arbeitslebens, sei es durch Vernichtung ihrer bürgerlichen Rechte und ihrer
Ehre (wenn einer nicht spurt, gibt es als letztes Mittel Stasiverdacht,
Rufmord: Mitläufertum, Aufforderung zu Schuldbekenntnissen usw.), wie das ja
auch früher Eroberer taten, nur nicht so heuchlerisch, sondern ehrlich die
brutalen Dinge beim Namen nannten, so daß jeder wußte, woran er war.
Freilich der heutige Feind, unter
anderem auch jener der ganzen Menschheit, ist nicht wie bisher gewohnt,
sichtbar und personifizierbar, er steckt in logischen Abläufen, vor allem im
Geld, ist und hat "System", das sich in Sachlagen und alltäglichen
Notwendigkeiten verbirgt.
In mehreren hallensischen
Szenenlokalen, es gibt inzwischen sechs oder sieben, diskutierte ich mit jungen
Leuten bis vier Uhr früh. Alle fühlten sich unterdrückt und einem unsichtbaren
"Sieger" unterworfen, doch es sei völlig ausgeschlossen sich gegen
ihn zu wehren, anders als früher, der Alltag, das Geld, die Notwendigkeiten
sind stärker; wir wollen nicht, aber wir müssen., heißt es da. Und ein junger
Beamter des Arbeitsamtes nickte bei meiner Analyse, die ungefähr so ausfiel,
wie im vorherigen Absatz hier, und sagte, ist alles richtig, nur, in der
Wirklichkeit ist alles noch viel schlimmer!
Wie groß die Ohnmacht, die Lähmung
und die Wut ist, könnte ich bei dieser langen und deprimierenden Reise durch
das Land, im Gespräch mit vielen Leuten in Magdeburg, in Halle, in Jena,
Weimar, Erfurt und Eisenach, aber auch in vielen kleinen Orten und Dörfern
sehen. Die Stimmung, die Meinungen sind ziemlich einhellig, der Bruch zwischen
Ost und West ist sehr groß.
Gerade für Leute, die mit Sprache
umgehn, hellhörig sein müßten für falsche Töne und Worte, die zu falschem
Denken und zur Lüge führen. Auch sie sprachen von "Vereinigung", gar
von "Wiedervereinigung", anstatt das zu sagen, was ist: Anschluß,
Sieg über den bisherigen ideologischen Gegner, der nun in Bausch und Bogen zum
Verbrecher gemacht wird, wie das ja bei Siegern üblich ist. Dabei wird, wenn es
um die andere Seite ging, etwa um den Ost-PEN, von "Partnern", von
"Gespräch" und Gleichberechtigung" gesprochen.
Wer z.B. den im Oktober 91 mit
großer Mehrheit verabschiedeten Beschluß genau liest, wird schon im Ton merken,
wer hier das Sagen hat, wer am längeren Hebel sitzt, wer dem andern etwas
zudiktiert, sich anmaßt, drohend in die Angelegenheiten des andern sich
einzumischen: Wehe, du spurst nicht!
Aber nicht nur die Autoren sind
blind, all dieses scheinen die Menschen im Westen gar nicht zu sehen, zu
begreifen. Einhellig herrscht die Meinung: Die "drüben" haben es ja
selbst gewollt! Verachtung schwingt mit. Uns hat man ja nicht gefragt, ich wäre
dagegen gewesen, sagt eine Freundin. Die Ablehnung ist groß und das
Unverständnis.
Es wird nicht nur vergessen, daß
es jetzt wieder ein Deutschland gibt, ein Geschichtsprozess eingesetzt hat, der
eingefrorene Status zweier Restdeutschänder aufgehoben ist, daß man aus
gemeinsamer Ursache eine sehr verschiedene, aber zudiktierte Lebenssystem
übergestülpt bekommen hat, der Zufall der Geburt entschied, und daß dies nun
nicht mehr gilt, die gemeinsame Vergangenheit gilt wieder, und die
Westdeutschen wollen sich wieder aus der Geschichte stehlen, weil sie um ihren
Wohlstand, um ihren netten privaten ausgepolsterten Winkel fürchten, Obdachlose
habe ich allerdings nicht gefragt, sie haben nichts zu verlieren, es wird auch
vergessen, daß in der verachteten DDR, wo es angeblich nur "Prolis"
gibt, die "unsere" westdeutsche Zivilisation und Kultur zerstören
(welche? da muß ich lachen!) die erste siegreiche Revolution in Deutschland
1989 mit viel Zivilcourrage gelungen ist.
Und es wird weiter vergessen, daß
nicht die "Freizeitrevolutionäre", sondern jene hinter den Gardinen,
die nie auf die Straße demonstrierten, plötzlich, als es nicht mehr gefährlich
war, auch dort waren, aber die Coca-Cola-Revolution mit "wir sind ein
Volk" zelebrierten, und so dem Kanzler Kohl mit seiner CDU auf dem
absteigenden Ast wieder zum Überleben verhalfen. Nicht die Ostdeutschen, nein
die regierenden West- Politmanager hatten schleunigst und aus WAHLTAKTISCHEN Gründen
das eilige Vaterland sehr professionell und gekonnt installiert.
Und das Paradoxe, das überall
umgeht, gilt auch hier, und läßt alle Klagen angesichts der riesigen Gefahren
in der Welt, die auch in Deutschland hätten auf- und ausbrechen können, und
auch angesichts des viel größeren Geschichtsrahmens, verstummen: es war sogar
gut so, daß es schnell und reibungslos vor sich gegangen ist, daß die kohlschen
deus ex Maschinchen funktioniert haben, alles andere ist bereinigbar, braucht
wohl Jahrzehnte, und geht mitten durch die Lebenschicksale, durch zwei trotz
allem nach innen tiefer gespaltene Deutschländer als je vorher!
Doch die Gefahr eines Krieges oder
Bürgerkrieges war gebannt. Einen Moment mußte noch der Atem angehalten werden,
als in Moskau der Putsch stattfand, schließlich standen noch über
zweihunderttausend Rotarmisten auf deutschem Boden.
Aber die D-Mark hat alles
gerichtet und nivelliert. Besser Geld als Blut. Besser Wirtschaft als Krieg.
Besser Kolonialismus als Bürgerkrieg wie in Jugoslawien oder in der ehemaligen
Sowjetunion, ohne das Geld hätte die Erniedrigung von Millionen im Osten auch
in Deutschland möglicherweise zum Bürgerkrieg zu blutigen Zusammenstößen
geführt, man denke nur an die vielen Stasis,- Grenzpoilzei, - Partei- und
NVA-Arbeitslosen, es sind mehrere Hunderttausende, dazu kommen andere
Hunderttausende von Arbeitern. Die Revolten im Osten hatten alle drei Phasen: d/en
eigentlichen Aufstand, die Coca-Cola-Revolution und als drittes das Ausbrechen
von Gewalt und Haß, das zwar in Deutschland mit den braunen Rowdys und
Asylfeindlichkeit unter einer braunen Jauche, die hochkommt, schandbar ist,
aber gemessen an der Brisanz der deutschen Teilung noch relativ gering
erscheint.
Zeit-
und Denk Bilder
RÜCKBLENDE
IN DIE GEGENWART
Im
Pariser Lokal "La Coupole" sagte mir ein Mann, dem ich viel zu
verdanken habe, ich solle rücksichtslos die Wahrheit schreiben; dieses aber sei
nicht leicht. Denn die wichtigsten Lügen seien unbewußt. Man könne dazu einiges
bei den Kirchenvätern nachlesen, vor allem beim alle überragenden Tertullian.
Der hatte zu seiner Zeit z.B. noch mit großer Selbstverständlichkeit
ausgesprochen, was sich heute jeder hüten würde zu schreiben oder
auszusprechen: " Der Himmel steht für niemanden offen... erst nach dem
Verschwinden der Welt wird er sich öffnen." Es ist erstaunlich, wie zahm
wir geworden sind, sagte jener Mann, ein Siebenbürger wie ich, nun eine Art
Eremit in Paris. Es war E.M. Cioran, der " Die verfehlte Schöpfung"
geschrieben hat. Einer, der mit dem Gefühl eines wesentlichen Fehlschlages im
einzelnen Leben und in der ganzen Schöpfung die Lauheit und Leere der
körperlichen Existenz, in der ein schwacher Engel eingesperrt zu sein scheint,
schreibend zu ertragen versucht. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des
Gebetes, sagte er, durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins
Ungewisse.
Sie
stürzen und wir mit ihnen, Zeit der Hochdekadenz im total Beziehungslosen.
Diese Beziehungslosigkeit hinterläßt eine öde Empfindung, ja, ein Todesgefühl;
Menschen, die aus natürlichen Kulturen kommen, erleben es als Kulturchock.
Namen, Dinge, Zahlen fallen auseinander, das führt zum Auraverlust, naive
Wahrnehmung ist kaum noch möglich.
Die
Literatur, auch die westdeutsche, ist davon mitgeprägt, es ist das wichtigste,
was sie zu sagen hat, vor allem in der Lyrik. Im "Spiegel" gab es vor
einigen Jahren einen sehr interessanten Artikel dazu. Günter Kunert hat über
diese "neuen Leiden", die "tatsächlich neu sind",
geschrieben: "Wir werden ständig ... auf eine Weise ums Leben gebracht,
welche eine Novität darstellt. Jeder wird zum Phantom seiner selbst... den
Verlust dieser unserer Ursprünglichkeit haben wir als `kleines
Sterben`empfunden, vergleichbar dem innern Absterben der Kindheit in uns, von
der bestenfalls Sehnsüchte oder Komplexe zurückbleiben." ("Jahrbuch
für Lyrik" Athenäum, 1981).
Name und
Zahl, Innen und Außen sind getrennt; ihre Verflechtung finden wir manchmal in
der modernen Kunst; sie ist auch Spiegel dessen, wie die Zahl über die Physik
ins Unsichtbare eingedrungen, das Sichtbare entlarvt, tiefere Gesetze gefunden
und uns in eine von ihr "erfundene" neue Welt gestellt hat, die uns
alle mit ihren elektronischen Haustieren, dem Auto, dem Atom bestimmt. Der
Preis ist Wahrnehmungs- und Auraverlust in dieser Spätzeit der Zivilisation,
das allgemeinste Zeichen aber: der "Tod Gottes" für uns, schon von
Nietzsche als Epochenzeichen erkannt. Aber sowohl in der Kunst als auch in der
Physik gab es, wenn wir dieses in die Tiefe der Zeit zurückverfolgen, noch in
der beginnenden Neuzeit im "Concetto divino", der irreglulären
Ontologie des Subjekts, der "Idea," oder in Newtons Glauben an einen
letzten göttlichen Urheber der Bewegung, die Vorstellbarkeit des Gebetes, ja,
es gab sie noch in der Moderne, etwa bei Kandinsky, bei Max Ernst, in Klees
rührenden Kinder- und Reinheitsfiguren, wie "kryptologische Gebete" -
Zeichen für das Überreale, die Vorstellbarkeit eines verborgenen Gottes; und
alles war nur Suche nach diesem. Noch die großen Physiker wie Heisenberg oder
Bohr, Einstein oder Max Planck zeigen, daß modernste Forschung Transzendenz
einbeziehen muß, um exakt zu sein. Hans-Peter Dürr hat dieses in einem
Sammelwerk "Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres
Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren" (1986) an
Primärtexten überzeugend nachgewiesen.
Doch
sowohl in der Kunst, als auch in der Physik hat Technokratie die Transzendenz
als entbehrlich, ja, lächerlich ausgeklammert; die frühere Erschütterung, auch
die der schmerzhaften Abwesenheit des Numinosen, gegen die der Manierismus und
dann die Moderne ihre Signaturen und Labyrinthe stellten, ist vergessen, die
Epigonen kennen nur noch die leere Methode, die abgründigen Formen nur noch als
Dekorationen für das snobistische Geschäft auf dem Kunstmarkt, ja, dieser hat
die Erschütterung ersetzt. Barock einer `neuen Ordnung`, wie schon im
siebzehnten Jahrhundert: das Grauen, heute die Apokalypse, werden zu
Kirchendekorationen für die Tempel des Kapitals, der Weltuntergang ein
postmodernes Kunstwerk.
Kürzlich
wurde die Decken-Restaurierung von Michelangelos Sixtina beendet, ihr schon
manieristisch changierender Farbkosmos, als Widerschein jenes Lichts des
undenkbaren "Einen", eines der gewaltigsten Kunst-Dokumente dieser
vormodernen Melancholia und Transzendenz-Suche im ersten Zusammenbruch einer
festgefügten Ordo-Welt aufgedeckt. Doch in den "wissenschaftlichen"
Kommentaren heute wird nur "Technik" untersucht; es fehlt jeder
Hinweis auf die eigentlichen Inhalte im Zwischen des Symbolgeflechts, das
Genesis und Kabbala, Antike und Mysterien zusammenführt, um auf dem Hintergrund
der florentinischen Idea- Lehre Ficinos und von Picos Pansophie den
zerbrochenen kosmischen Spiegel mit kompliziertesten Mitteln (auch der
Zahlenmagie der Kabbala) neu zusammenzusetzen. Noch wirkten fast zwingend die
Harmonievorstellungen der Renaissance, doch das Schwanken zwischen Glauben und
Unglauben, dem Selbstbewußtsein, das Absolute spiegeln zu können, und der
Verzweiflung und Schwermut ausgesetzt zu sein, der unsicheren Natur von Liebe
und Tod und dem brutalen Wahnsinn der Geschichte, zeigt den Übergang zu einem
neuen Zeitalter. Das war 1512. Anderthalb Jahrzehnte später, 1527, der
Schrecken des Sacco di Roma, plündernde, mordende Sodateska Karls V.
Leichenhaufen, Leichengeruch über Rom, dann die Pest, und schließlich die
Flammen der Scheiterhaufen, Gott als Tod, Alltag als gnadenloser Abgrund,
Gefahr und Schmerz, lösten wie in unserem Jahrhundert den Schönheitsbegriff und
jeden sichern Begriff auf. Zur Sixtina gehört die erst 1541 gemalte Altarwand
des grausigen "Jüngsten Gerichts," am unteren Rand Michelangelo als
Heiliger Bartholomäus mit abgezogener Haut.
Sein
Endzeitwissen und sein tragisches Lebensgefühl am Beginn der Neuzeit, seine
Ahnung der Katastrophen, seine künstlerische Prophetie, jene
"gottlose" Epoche der Abgründe zwischen Mittelalter und Neuzeit sind
heute hochaktuell.
Michelangelos
Sixtina ist eine paradoxe und komplizierte Sinn- und Gottsuche. Ich habe das
Glück gehabt, oben auf dem Gerüst, ganz nah den Gestalten in der Kapelle, etwas
davon zu spüren. Symbole als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transszendenz:
In Richtung Altar - Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als
Erlösung - Zeitenende und hinter dem "Grenzstein der Welt", dem
Altar, das Jüngste Gericht. Doch geht der Blick zugleich auch dem Urlicht, der
Erschaffung der Welt zu, merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn. Von da dem
Ausgang, der Außenwelt Roms zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und
Trunkenheit Noahs. 9 Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine
immer größere Entfernung vom Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen.
Logik und Wirklichkeit werden an der Decke auf den Kopf gestellt. Die Figuren
haben den Himmel als Abgrund über sich.
Es ist
auch unser, nun noch akuter gewordenes metahistorisches Bild der Geschichte,
das ganz nah herangerückt ist, aber andauernd verdrängt wird.
Seit 1989
geht eine neue Zeitstimmung um. Das Aus der Utopien. Der "Sieger" in
einem alten Kampf scheint festzustehen. Und auch die Kunst und Literatur
scheinen ab jetzt seine leichte Beute zu sein. Als sei aller Widerstand
gebrochen worden, und nichts als Vergessen gehe um.
Auch
Michelangelo war gezwungen, sich und seine Kunst den Mächtigen zu verkaufen, in
ihre Dienste zu stellen. Aber seine Traurigkeit, seine "terribiltà",
seine kompromisslose Wahrhaftigkeit, seine Ausfälle gegen den Papst Julius II,
seine verschlüsselten Symbole z.B. in der Medici-Kapelle von Florenz sind
Zeichen seines Widerstandes.
Er wurde
von einer Schwermut und Traurigkeit verfolgt, die wir Heutige seit einigen
Jahren auch stärker spüren als bisher. Walter Benjamin schrieb in seinem Essay
"Über Geschichte", daß der "Urgrund der Traurigkeit" mit
der Einfühlung in "den Sieger" zusammenhänge, mit der "Trägheit
des Herzens..., welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu
bemächtigen, das flüchtig aufblitzt." Und der "Engel der
Geschichte", den Benjamin in Klees "Angelus Novus" zu erkennen
meint, sieht dieses "Bild" nicht als Kette der Begebenheiten, sondern
als "eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken
und das Zerschlagene zusammenfügen", das aber sei unmöglich, denn
"ein Sturm weht vom Paradiese her", die Flügel lassen sich nicht mehr
schließen, so wird er in die Zukunft getrieben, ihr kehrt er aber den Rücken,
vor sich so den Trümmerhaufen des Vergehenden, der vor ihm wächst.
Wir
sitzen in diesem Trümmerhaufen, glauben aber nicht mehr an jenen
"Sturm", verzagt angesichts der Übermacht der "Sieger",
einer neuen innern Zensur ausgesetzt, und verdrängen jene "einzige Katastrophe",
die dieser Sieger betreibt.
"Kunst"
und Kunst der Technik gehen wie aseptisch, als müßten sie den Urheber schonen,
so, als wärs ein abgehobenes Kunstwerk, das uns nichts angeht, mit diesem Ende
um. Etwa die Zeitlupe des Films, der z.B. die auch im Fernsehen übertragene,
Explosion der Raumsonde "Challenger" wahrnimmt, das Verglühen der
Besatzung als Show, Zeit zwar entlarvt im Stillstand der Vernichtung, jedoch
ohne Bewußtsein und ohne Folgen. Geräte vollziehen heute diese "Mimikry an
die Ewigkeit" (Manfred Schneider). So dringen Film, Elektronenmikroskop,
Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein,
wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von
göttlich Abgründigem berührten; das metaphérein,, anderswohin Tragen, wie die
Griechen noch diese Operation nannten, ist in die fühllosen Apparate gekommen,
trocknet auch den Tod aus. Bei Ernst Robert Curtius oder Gustav René Hocke ist
das ganze manieristische Instrumentarium der heute tätigen, damals noch
geschriebenen Metapher nachzulesen; für diese neue Operation fehlt solch ein
Bewußtsein. Zeit- Lupentechnik als Idee gab es schon bei Leonardo da Vinci,
nämlich als ästhetisches Mittel der Deformation, um auch an den scheinbar
selbstverständlichen Dingen, etwa der Bewegung einer Hand, das Unvorstellbare,
nämlich unseren Blick darauf im rätselhaften Ablauf der Sekunden zu fassen;
unser Bewußtsein davon ist das eigentlich Rätselhafte. Die Hand, die sich im
Blick bewegt, "verändert ständig ihre Lage und ihr Aussehen,"
schreibt Leonardo im Faszikel III seines "Traktats von der Malerei":
"In ihren Bewegungen kann man ebensoviel Aspekte wie Teilbewegungen
unterscheiden. Also gibt es in dieser Hand unendliche Aspekte, die keine
Vorstellungskraft fassen kann." Bei Michelangelo aber geschieht dann die
Revolution der Malerei hin zum Manierismus, es wird konsequent der Blick-Punkt
nach innen verlegt, nur mit dem `inneren Auge` gesehn. Man malt mit dem Kopf,
nicht mit der Hand, sagt Michelangelo. Es ist die Idea-Lehre des
Neoplatonikers, der das von ihm in der Sixtina imaginierte Licht, das
unsichtbare Licht der "Eins" vom Altar her in Schatten und Farbe,
Faltenwurf, Körper der Figuren "wirklich" werden läßt durch seine
Phantasie, die daran "angeschlossen" ist. Die Manieristen nach
Pontormo ersetzen das wirklich Gesehene durch die Vision. Im Gerät aber hat die
Hand Übergewicht.
Dabei
ist die Parallele des "Idea"- Denkens, nicht nur zur Ästhetik der
Moderne, sondern auch zur Quantenphysik heute erstaunlich; so z.B. wird
"Objektivität" ja überhaupt erst möglich gemacht durch
"Messung", und die ist immer menschliches Wissen eines Subjekts,
Kenntnis von etwas im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die immer auf
einen Beobachter bezogen werden muß; Kenntnismessung im Vorhersagen eines
Ereignisses macht die Welt zur Projektion des Subjekts, zum platonischen
Schatten im ungedeuteten Hier und Jetzt.
Doch die
"Projektion" geht viel weiter: Was früher nur Literatur oder Theorie
war, ist jetzt wirklich geworden, der wirkliche Blitz als Resultat der
Geschichte des Denkens. Als hätte der Dornbusch unsere Sprache gelernt. Was
einst Wort Gottes war, wurde zum Gerät. Das "Ebenbild" Mensch, in der
Renaissance- Zeit stolz noch, aber abstrakt, "deus in terris",
"angeschlossen" an die "Idea", der Mensch also, der so in
einem Inspirationsblitz kosmische Urhieroglyphen erkennen konnte, hat dann
daraus ein System geschaffen, mit dem er Fragen an die Natur stellen konnte,
die sie beantwortete; so ist das Gerät entstanden, durchdringt als
Elektronenmikroskop das Tiefengebwebe der Natur, entfesselt Atome im Reaktor,
in der Waffe; der drohende Tod der Gattung, einmal Gottes Apokalypse, erscheint
wie selbstgemacht.
II
3
Historie als negative Theologie zum Ende hin wird heute zur umfassenden
"Bedingung der Möglichkeit" von Denken und Leben, macht einen
Schlußstrich unter alles, was bisher geschichtlich war, ist ein Einholen des
schon Posthumen und Verspäteten, verändert jedes Problem radikal, auch die
Frage nach Sozialutopie oder Naturrecht, wie sie noch Ernst Bloch in seinem
"Prinzip Hoffnung"(II,629ff) stellte. Schon er entschied zugunsten
des Naturrechts als Menschenrecht (und zwischen den Zeilen wider den
totalitären Staat, der Sozialutopie furchtbar usurpiert hatte). Heute ist
doppelt zu Gunsten des Naturrechts entschieden: es ist ein Zurückgehen auf
"die Würde" des Einzelnen, des Subjekts als Substanz, schließlich
auch im Bereich der Forschung einzige "nachweisbare" Realität, die
wider das Wahnsystem der Megamaschine zu stellen wäre.
Der
Aufstand vieler Millionen Einzelner im Osten wider die roten Erben der
Sozialutopie ist solch ein Aufstand der Substanz in der Person, die im freien
Naturrecht ausgedrückt wird, nicht etwa im "Rechtsstaat", jenem
andern Erben der hedonistischen Paradiesvorstellungen materialistischer
Sozialutopie. Die urkommunistischen Utopien der "Staatsromane" aus
Spätrenaissance und Barock oder die von Owen, Fourier, Saint Simon im 19.
Jahrhundert sind nicht nur durch die zum leeren Versprechen degenerierten
totalitären Staatsexperimente, die zum GULAG führten, erledigt worden, sondern
auch durch die furchtbare Erfüllung des "Wunschtraumes" im
technokratischen Konsumparadies.
Heute
sammelt sich merkwürdig konkret alles im Realen, was bisher nur
"Geist" oder "Phantasie" war. Etwa Bacons "Nova
Atlantis", ein Land jenseits der "Säulen des Herakles", jenseits
unserer Vorstellung, ein vom Menschen geschaffenes Paradies, wo das Leben
chemisch verlängert wurde, sogar der Vogeltraum erfüllt war, ist heute realisiert
und ins Gegenteil verkehrt.
"Im
Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der
Untergang zu finden bestimmt," heißt es in Benjamins
"Theologisch-politischem Fragment", denn "messianisch" sei
"die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis". Und es klingt
heute nach Stalin und Hitler, und nach Hiroshima fast zynisch, aber wahr, wenn
Benjamin Untergang als "Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus
zu heißen hat", definiert.
4 Wie
kann heute dies "Irreguläre", die wildgewordene Phantasie in der
Technik, die ja unsere Realität "utopisch" konstruiert, ins Humane
"reintegriert" werden? Das Irreguläre des Barock, so Gustav René
Hocke in seinem Manierismus-Buch (S.305), habe damals "unter strengstem
geistigen Vorzeichen" Blaise Pascal mit religiösem Impetus noch zu
integrieren vermocht. Und heute?
Jene
Traurigkeit, von der Benjamin sprach, ist fast schon ein Krankheitssymptom und
Alarmzeichen, kein Luxus verwöhnter Seelen. Die Atrophie, die im Einzelnen
spürbar wird, das, was mit ihm geschieht, ist das, was auch mit der Natur
geschieht. Psychiatrie und Ökologie gehören eng zusammen. Umfassend wehrt sich
die innere und äußere Natur gegen den Mißbrauch. Ein nicht verfügbarer Rest,
ein Reichtum, der nicht aufgeht, sich der Berechenbarkeit und Ausnützung
entzieht, beginnt sich zu zeigen, wenn auch im Negativbild zerstörerischer
Kräfte, die uns übersteigen; sie entlarven das bürgerliche Konstrukt von
Isolierung und Autonomie; am peinlichsten sichtbar im neuen Eisernen Vorhang,
mit dem die zweite und dritte Welt ausgesperrt werden soll. Als Einzelne aber
sind wir von der originären Fülle getrennt durch die Illusion restriktiver Zeit
und die Hektik des Lebensstils. Dabei wird der Widerspruch immer deutlicher.
Die geltende Logik im Alltag, in Wirtschaft und Gesellschaft, die für große
Körper gilt, aus Zeiten der Wägen und des Wanderns stammt, widerspricht unserem
Alltag mit Auto, Elektronik, Computer, Atom und Rakete, die unserer
"alten" Natur einen zuwiderlaufenden Rhythmus aufzwingen. Der
Widerspruch ist enorm. Das Unheil heute ist unvermeidbar, sagt Carl Friedrich
von Weizsäcker, ein Lebenssystem, "das die Wirklichkeit so mißversteht,
kann diese Wirklichkeit nur zerstören".
Eine
ganz andere Moral wäre nötig, als die der physischen "Effizienz", des
Äußeren, das bis zum Äußersten geht, der aufgeputzten und schön verpackten, in
Einzelheiten zerfallenden Welt der Banalität. Der Körperfetischismus feiert
seine Triumphe, dabei leben wir zunehmend in einer immaterialisierten Welt
unsichtbarer Kräfte. Sollte der Mensch kein Mittel finden, die das Grundmuster
der Erkenntnis, auf der ja auch sein Alltag beruht, in die alltägliche
Lebensform zu übertragen, Alltag mit jenem All-Tag zu verbinden, wird er mit
den aus dem Zusammenhang gerissenen Natur-Zitaten sich selbst und die Erde
ruinieren.
Auch
Kunst und Literatur hätten kaum die Aufgabe, als Ware zu funktionieren, sondern
eine Brücke zu jenem Grundmuster zu bauen, und die von der Religion geborgte
Substanz zurückzugeben. Die Wissenschaft, die unsere Welt erst möglich macht,
tut es längst. - Jene Gruppen von Atom-Ereignissen nämlich, die bodenlos sind
und die wir "Materie" nennen, und aus der diese Welt, in der wir
leben, "gemacht" ist, rühren in der Erkenntnis der neuen Physik an einen
höheren Bereich von Wahrheit; nüchterne Experimental-physiker sind gezwungen,
auf alte transzendentale Erkenntnisse und Begriffe zurückzugreifen, die sich in
unerwarteter Weise nun im Raum exakter Forschung bestätigen. So bestätigt sich
die vereinheitlichende Auffassung der "Weltseele" oder des
"Pneuma" durch die "Quantenfeldtheorie" und die neuere
S-Matrix- Theorie, die von einem einheitlichen Informations- Gewebe von
Energieströmen ausgehn. Dieses Gewebe durchdringt das ganze Weltall und ist
immer "da", und auch der dichteste Ort des Alls, der menschliche
Kopf, ist daran angeschlossen. Dieses Geschehen jenseits von Zeit und Raum, hat
seine geheimnisvollste Form in den sogenannten Gravitationswellen, die immer
und überall "da" sind.Dieses also ist das erwähnte universale
Zusammenhangssystem, das "Ganze", das als Intuition, aber auch als
Revolutionserlebnis und Zeitstillstand, blitzartig in uns durchbrechen kann.
Da
erscheinen, so der Direktor des europäischen Teilchenbeschleunigers CERN in
Genf, W. Thirring, die einzelnen Phänomene, Gegenstände, Menschen, Ideen,
Samen, aber auch Elektronen etc. als hierarchisch gestufte und komplex
zusammmengesetzte "lokale Erregungen", Wellenfronten, Wirbel eines
einheitlichen kosmischen Informations-Feldes, und kein Tod kann uns bequem
davon befreien, niemand und nichts kann aus der Welt fallen. Interessant ist
auch, daß solch ein "Wirbel" schon das Zukünftige enthält, die
Struktur dessen, was sein wird: Im DNS enthält ein einziges Molekül die
Informationen über das "Wesen" eines Menschen, Tieres oder einer
Pflanze.
Dieses
Feld, so Thirring, habe "seine Wurzeln in den Ideen alter Denker. Es
leitet sich vom Pneuma, der alles erfüllenden Weltseele ab. Diese ist als
Weltäther seit Newton in die Physik eingegangen, wobei man die spirituellen
Vorstellungen immer mehr entfernte und schließlich den Äther durch ein
mechanisches Modell
deuten
wollte. Dies ist fehlgeschlagen, doch stehen in dem heutigen Feldbegriff,durch
Relativitätstheorie und Quantentheorie von naiven mechanischen Bildern
gereinigt, die alten Visionen vom alles erfüllenden Urgrund des Seins in neuer
Form wieder vor uns". ("Südddeutsche Zeitung",9.10.69).
Wissenschaft
befindet sich heute im Raum der Kunst. Die Quanten-Logik etwa versucht, den
Grund menschlicher Erfahrung zu erkunden, und stößt in dieser Untersuchung, die
die Bodenlosigkeit des AtomGeschehens mit einbezieht, auf die Einheit der
Erfahrung, die durch die Zeit gegeben ist, und die nur verstanden werden kann,
wenn die schon immer intuitiv in Utopien bewußten Vorwegnahmen der Zukunft in
das Jetzt der Gegenwart eingebracht werden; Einheit ist Einheit der Zeit, die
nicht Ablauf ist, sondern Entwicklung, Teilhabe am größten Zusammenhang, an
jener Informationsstruktur des Universums, die in jedem und allem wirkt und an
dem, was ist, in der Menge des ihm zugeteilten Wissens, als Form Leben gibt;
ein Baumsamen weiß, wie der Baum zu sein hat, der in ihm schon vorgegeben ist!
Möglichkeit also als realste Kategorie dessen, was existiert.
UTOPIE
ist der Umgang mit dem MÖGLICHEN, dem Überraschenden,
das
alles Vorgewußte überschreitet. Es ist auch der Raum der Kunst.
DIE
REVOLUTION UND DIE KUNST DES MÖGLICHEN
In den
Revolten von 1989 haben Künstler eine große Rolle gespielt. Vaclav Havel in
Prag. Adam Michnik in Warschau. Mircea Dinescu in Bukarest. Aber auch 1789:
Voltaire, Rousseau, Beaumarchais. Die Enzyklopädisten.
Erwartung
wie in einer entstehenden Liebe: REVOLUTION. Wir wissen, die Physik sagt es
heute auch: Was da ist, ist schon vorbei, ist das Gewesene, es hat keine Chance
mehr. Auch Politik sollte "Kunst des Möglichen" sein. Politiker aber
sagen, lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Doch nicht mit
dem, was ist, mit Institutionen, Parteien, Recht usw., sondern mit dem, was an
Wirklichem erst im Keim da ist, geht das Mögliche um. Nicht mit der Aktualität,
dem Gewußten allein ist zu rechnen, sondern mit jenem viel stärkeren Möglichen
und Kommenden. Hitler hat 12 Jahre gedauert, Bismarcks Reich, 47 Jahre,
Napoleon knapp 15 Jahre, der Ostblock 45 Jahre.
Kunst
zehrt von der verdrängten Substanz der Religionen, re- ligio, Rückbindung an
das, was noch nie war, aber immer möglich ist. Da sind die, die mit dem
Zukunftsmaterial Geist bauen besser dran, als jene, die mit der Materie bauen,
und so mit ihrem Tod verschwinden,Manager, Diktatoren und Politiker.
Aristophanes wird immer noch aufgeführt, Platon ist so lebendig wie noch nie.
Goethe oder Hölderlin sterben nicht. Es sterben jene, die mit empirischem
Material des Vorhandenen arbeiten, mit Illusions- material.
"Einbrüche"
aus jener Zone stehen am Ursprung der Kultur. Einfälle, Inspirationen, Träume.
Aus ihnen entstand unsere "wirkliche" Menschenwelt, sie besteht aus
Geister-Apparaten, vom Computer bis zur Bombe; Einfälle, notiert in Formeln,
werden technisch umgesetzt: Geschichte ist Vor-Schein, Projektion des
geronnenen Geistes im Gerät.
Die
Macht des "Ganzen", des "Einen", des riesigen
"kosmischen Informationsnetzes", ohne dessen "Wissen" kein
Spatz vom Dach fällt, keine Hand bewegt, kein Gedanke gedacht werden kann,
existiert wirklich. Mit diesem "Ganzen" muß heute Wissenschaft auch
im strengen Bereich der Forschung rechnen. Klammerte man diese großen
Zusammenhänge aus, "könnte man die Quantentheorie nicht mehr verstehen,"
schreibt Werner Heisenberg. Gesetzeserkenntnis sei nur möglich, weil eine
Erkenntnis außerhalb sinnlicher Erfahrung möglich sei; und Entdeckungen und
Eingebungen haben unmittelbar Kontakt mit dem Subjekt der Natur. Es gibt
Beispiele dafür: Schon Heidegger bringt in seinem Kant- Buch "Die Frage
nach dem Ding," dieses Beispiel: Newton entdeckte das Gravitationsgesetz
gegen die zu seiner Zeit geltende Erfahrung, denn diese große Entdeckung war
gemessen an den damals bekannten astronomischen Daten falsch. Erst Jahre danach
stellte sich heraus, daß neuere Messungen der Mondentfernung, des Erdradius
seine geniale Intuition bis auf di e letzte Dezimalstelle bestätigten.
Die
Inspiration des Künstlers kommt aus dem gleichen Informationsnetz, hat aber
nicht die praktische Wirkung von Formeln, die, umgesetzt in die Technik,
Geschichte machen. Verheerend ist diese Trennung beider Kulturen, der Kultur
der Zahl und der des Namens; die eine ist ohnmächtig, die andere blind.
Die
Massen- und Ereignisgeschichte wird angetrieben vom Apriori der Erfindungen und
Entdeckungen, sie bestimmen den
Entwicklungsgrad
von Produktion, Industrie und Wirtschaft, heute mehr denn je bis hin zum
Verschwinden.. Dabei wird das Sichfestklammern am Sichtbaren immer absurder.
Der Blick aus dem Helikopter hinab auf die Ukraine z.B. auf den zerstörten
Reaktor von Tschernobyl zeigt "Welt" so : Häuser, Mauern zerfetzt,
hinweggefegt, Umgebung der Null, verstrahlt, was einmal ein Wald war, nun
rosagelborange, Schemen transparent um die ehemaligen Baumkronen. Ein
Röntgenbild, Negative der Erde.
OU TOPIA
Utopie
war bisher immer mit Glauben, Überzeugung, Hirngespinsten und Ideologie
vermischt; manchmal sogar bei Ernst Bloch. Dabei heißt ou topia (gr.) nichts
anderes als Nirgend- Ort. Nimmt man dies wörtlich, befänden wir uns in so einer
negativ besetzten Utopie; aber auch im alten Sinne wäre heute Utopie, als
Nirgendwo ein Ort des bösen Erwachens, nach dem Chock von 1989 gewachsen. Denn
"Utopie" wurde mit "Fortschritt" und "Menschheitstraum",
vor allem mit einer ideologisierten Sozial-Utopie verwechselt. Verzweiflung
bleibt übrig bei solch einem Fiasko des "Fortschritts" und seiner
offensichtlichen Allianz mit dem politischen und ökologischen Verbrechen in Ost
UND West heute. Das banal Vorfindliche rächt sich an den schönen Seelen des
Terrors, der KZs und des Raubbaus an der Natur. Gesiegt hat die
"Realität", doch welche Realität hat da gesiegt?
Der
Konservative Joachim Fest behauptet, es zu wissen. Hier eine Probe aus seinem
neuesten Buch ("Der zerstörte Traum", 1991): In der
"Öffentlichkeit" finde man sich jetzt endlich mit einer "Praxis
ab, die nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht, sondern vor allem Praxis
ist, mehr Handwerk und Ingenieurswesen als metapolitische Fürsorge. Es wäre das
Beste, was sich erwarten ließe." Die Tiefdruckbeilage der FAZ (2.Nov.91)
die Fest mit herausgibt, liest sich wie ein Kommentar dazu, Erstaunliches zum
neuen Zeitgeist. Hier einige Perlen: "Es gibt kein falsches Leben mehr,
das nicht ins `richtige` eingeholt würde. Nach dem Zusammenbruch des
Sozialismus..." Anstatt der Namen, nun die "Markennamen",
"die Welt ist nur noch durch Markennamen zu erkennen." "Banken
vertreiben Ethik-Founds genauso wie Kunst- Fonds..." Und das geht mit
einem unvorstellbaren Zynismus so weiter: die Wirtschaft integriere "immer
weitere Bereiche des öffentlichen Lebens," der "öffentliche Diskurs
aber (folge) immer mehr den Spielregeln der Markenkommunikation."
"Nur eine Kritik ist noch möglich: der Warentest." Es ist eben
alles-eins: Wirtschaft, "Umweltschutz, Literatur, Gastronomie,
Philosophie, Wissenschaft, Ethik, KRIEGSKUNST (kürzlich im Golf, D.S.) und
Stadtplanung die engste Kommunikationsgemeinschaft." Und das Fazit:
"Bei aller Vielfalt gibt es keine Zerrissenheit mehr. Wer da noch unzufrieden
ist, dem kann niemand helfen."
Was
unterscheidet uns noch von bisherigen Restaurations- zeiten, die immer eine Art
"Barock" hervorbrachten, wie Krisen- und Übergangszeiten den
Manierismus. Stileigentümlichkeiten des Manierismus, wie wir sie in der Sixtina
so eindrucksvoll erleben können, hielten später dann den gegenreformatorischen
Barock am Leben, der stand im Dienst von Kirche und Staat, wie die Moderne
(unser Manierismus) heute langsam immer mehr nicht Post-, sondern Prost-Moderne
nun im Dienst der Sponsoren, der Reklame und der "Markennamen" steht,
ja zum Markennamen in der Bestsellerei und auf dem Kunstmarkt wird.
"Barocco", "Baroque" war schon damals, etwa bei Montaigne,
dann bei Diderot ein abwertender Begriff. Ich meine, er ist es bis heute
geblieben, einer des Konformismus, der Hofkultur, der Starre, des status quo.
"Barocke Sprachkunst will nicht das Seltene, sondern das Universal-Gültige
neu auf- zwingen", so Gustav René Hocke in "Manierismus und
Literatur" (1978, S. 147), mit abstrusen Allegorien und Mitteln "des
Überwältigens, des kunstvoll Propagandistischen". Barock sei eine Art
degenerierter Manierismus. Auch damals verlogene oder abstrus überladene
Propaganda und Reklame. Heute im Dienst des Ewiggültigen (Geldes), kapitalistischer
Barock.
8 Günter
Kunert meint in seinem 1991 erschienen Buch "Die letzten Indianer
Europas", diese "letzten Indianer", die Künstler, könnten noch
zum Unbenennbaren, der "menschlichen Wahrheit" durchbrechen,
"eine Ahnung" auch "der direkten Zwiesprache mit etwas Numinosem
" haben.
Kunst
kann dem "System" nicht auf der gleichen Ebene der Vernichtung Paroli
bieten; ihre Stärke liegt auf der Ebene des nicht vernichtbaren
"Ganzen". Ich muß an den verstorbenen Danilo Kis denken, der versucht
hat, "geschichtliche Dokumente", die nicht nachvollziehbar sind,
durch Imagination authentisch und fühlbar zu machen, wie selbst erlebt. Da sein
Vater in Auschwitz umgekommen ist, kann man den Abgrund ahnen. Aber Atomphysik,
ihre "Denkmuster" und Auswirkungen erlebbar zu machen, davon hinge
wohl das Schicksal unserer Welt ab, ist fast unmöglich. Dabei ist die Aufgabe
alt, Eliot meint, schon die "Metphysical poets" des 17. Jahrhunderts
hätten wie die Modernen durch ihre Para- Rethorik und antilogischen Katachresen
"Ideen in Gefühle verwandelt und Beobachtung in Bewußtseinszustände."
ERFAHRBARE
KOPFGEBURTEN
Michelangelo
hat die Körper in der Kunst mit Hilfe des manieristischen neuen Farbchangeants,
einer Art malerischer Zwölftonmusik, aufgelöst, vor ihm Leonardo da Vinci die
Flächen. Jetzt geschieht diese Auflösung wirklich.
Die
Grenzen zwischen dem Gedachten, dem "Fiktiven" und dem
tatsächlich
Vorhandenen waren noch nie so fließend wie heute. Die Wirklichkeit wird eine
sich gewalttätig einlösende science fiction am Rande des Vergehens. Apokalypse,
also "Augenöffnung," wurde immer nur als "Literatur",
"Religion" und "Philosophie" in Bücher und ins
"Geistige" abgeschoben, sie ist heute längst aus dem Buch herausgetreten,
auch aus den alten Utopien. Wir befinden uns nicht im Zeitalter des
Utopieverlustes, sondern mitten in der unfassbarsten U-Topie, die heftig ins
Alltagsleben eindringt. Das Abstrakte, die Formel, die realisierte Zahl geht
um. Bisher im Kopf, jetzt aber im Wald, im Garten, in den Blumen, versteckt im Essen.
Die Kopfgeburten werden "erfahrbar", von allen . Die neue Epoche ist
angebrochen. Die Explosion des "realen" Manierismus in der Technik:
"Grenzwerte", "Nebenwirkungen" haben Stimmen, Augen,
Gesichter, Tränen. Das Sichtbare ist nicht nur in die Funktion
"gerutscht," wie Brecht noch meinte, das "Unsichtbare" ist
auch nicht mehr nur als Malerei, als Concetto, als Gedicht erfahrbar, sondern
wird wirklich, wenn sich etwa die Kühe eines Bauern neben einem Chemiewerk gelb
färben. "Die Welt des Sichtbaren muß auf eine gedachte und doch in ihr
versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt... werden... Wer die Dinge einfach
gebraucht, so nimmt, wie sie ihm erscheinen, nur atmet, ißt... ist nicht nur
naiv, er verkennt auch die ihn bedrohenden Gefährdungen." Damit aber
betritt "in allen Bereichen des Alltags ein theoretisch bestimmtes
Wirklichkeitsbewußtsein die Bühne der Weltgeschichte." (Ulrich Beck,
Risikogesellschaft", 1986).
Sprays,
Tinkturen, Medikamente, Düngemittel, auch unsere elektronischen Haustiere beruhen
auf Formeln. Mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz
Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische
Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden,
wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und Gesellschaft.
Diese
aber klammert all dies aus. Ihr Credo: reduktive Technokratie, ihre
Moral:Effizienz, ihre Religion: Materialismus.
UrGrund:
überholte Begriffs- und Empiriegläubigkeit, die sich im Zauberzirkel der
selbstgeschaffenen Halluzination bewegt. 1989 explodierte diese atomar
abgestützte ost-westliche Biedermeierwelt, die den Abgrund weglog. So wurde es
nicht fünf vor Zwölf, sondern dreivierteldrei (Wolfgang Hildesheimer).
10 Ich
lese bei Heiner Müller eine paradoxe Formulierung, sie ist auf seine
gegenwärtige Inszenierung dreier Texte gemünzt, Laclos "Quartett"
(1782), "Mauser" (1920), "Der Findling" (nach 1968):
"Die Inszenierung ist eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die
Gegenwart, denn die Vergangenheit liegt vor uns und die Zukunft, die in der
Gegenwart eingeschlosen war, hinter uns. Das ist vielleicht die Formulierung
einer kollektiven Erfahrung, die jetzt von der Bevölkerung der DDR gemacht
wird, auch wenn nur Intellektuelle sie reflektieren." (Sinn und Form,
Juli/ August 91). - Um das zu benennen, was ist, muß der Begriff sich
"manieristisch" überschlagen. Daß die naive Verwechslung der Welt mit
ihrer Benennung, so der englische Philosoph George Steiner in seinem Buch
"Von realer Gegenwart", aufgehört hat ihre Hypnose auszuüben, sei das
Zeichen der Zeit. Nicht mehr nur subjektiv, als Literatenerfahrung, wie bei
Hoffmannsthal 1902 im "Lord Chandos-Brief", sondern jetzt ist es die
kollektive Schreckenserfahrung eines Zeit-Bruches, überdimensional, risikoreich,
lebensgefährlich und doch auch voller Hoffnung; als hätte sich zuerst einmal
das verdrängte "Ganze", die vergessene, ja, verbotene Substanz im
Einzelnen gezeigt, nun als ein abgründiger Sprung: heraus aus dem Bisherigen,
ja heraus aus dem Denkbaren.
Es kam
immer undenkbarer und unwahrscheinlicher. Daß es z.B. die Sowjetunion nicht
mehr gibt oder Rußland in die NATO eintreten möchte, sind solche
"Hämmer" an der Oberfläche des "logisch" Zumutbaren im
bisher Gewußten.
Wir
leben seit einigen Jahren wie in einem abgründigen be- weglichen Traum. Und wie
steht es in diesem "Abgrund", in dem "die Wahrheit wohnt",
wie Niels Bohr einmal sagte, wie steht es in diesem Abgrund mit dem andern
liegengelassenen "Pensum", der andern subjektiven Gewißheit, jener
Grenze, die schmerzhaft ins Leben des Einzelnen eingreift: der Grenze Tod? Sie
stellt am radikalsten bisheriges Denken in Frage. Sie ist der unerträglichste
Druck, mit keinem andern vergleichbar.
Die
meisten wissen es nicht - aber auch der Tod wurde durch die veränderten
Erkenntnismöglichkeiten verändert, die Kopfgeburten, geronnenes Wissen im
Gerät, wurden nicht nur als Zerstörung (auch der materiellen und sichtbaren
Grenzen) und als Katastrophe erfahrbar, das Unsichtbare machte nicht nur
negativ mit durchschlagender Evidenz WeltGeschichte, sondern auch hoffnungsvoll
im Aufbrechen der geistigen Grenze. Themen, bisher von Literatur und Religion,
eingeschlossen in den Büchern, trat ins Reale hinaus, zum Beispiel wurde durch
die Möglichkeit, klinisch Tote mit moderner Apparatur ins Leben
"zurückzuholen", Sterben zu einer mit gleichlautenden Zeugenberichten
belegbaren Er-fahrungswirklichkeit. Das "geronnene Wissen,"
übersteigt nicht nur im historischen Grauen jede Vorstellung, etwa als Bombe
und Todesfabrik, sondern reicht als Erkenntnissprung an das alte Rätsel, holt
dieses ein. Im Unvorstellbaren operieren auch die sogenannten
"Tonbandstimmen" oder "Totenstimmen," Sprache im schnellen
Bereich der Lichtgeschwindigkeit wird durch unsere Elektronik
dimensionsüberschreitend, die nun ebenfalls bisher nur metaphorischen
"Totengespräche" der Literatur sind "erlebbar", auf Tonband
hörbar, "Geisterphänomene" an jener Grenze der Materialität, an der
sich unser wissenschaftliches Paradigma heute bewegt. - Doch solche Wunder mag unserer
alter Verstand nicht.
Wenn wir
dem anerkannten Theoretiker Thomas S. Kuhn folgen, ("Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen", 1967) gibt es eine Abfolge von
Erkenntnisnormen symbolischer Sinnwelten und "Paradigmen" in der
Geschichte, die uns bestimmen. Mindestens zwei vergangene Weltbilder wirken
heute hemmend, weil sie zu unserem überholten Gesellschaftssystem so gut
passen: das ptolemäische und newtonsche Weltbild, das nur für große und feste
Körper gilt. Die gegenwärtige MikroPhysik bestimmt unsere Wirklichkeit, die
moralischen Konsequenzen aber werden verdrängt. Das ist viel dramatischer, der
riesige Konflikt zugleich ungewußter als der Konflikt zur Zeit der Verurteilung
Brunos oder Galileis durch den Ptolemäer im Vatikan. Dabei zeigt sich, wie wir
sahen, schon die nacheinsteinsche Wirklichkeit; und die wäre, etwa nach Karl
Popper ("Logik der Forschung")eine Überschreitung der sogenannten
"Naturkonstanten", (wie bei jedem Paradigmawechsel); die wichtigste
"Naturkonstante" unseres Weltbildes aber ist die
Lichtgeschwindigkeit. Jenseits dieser 300.000 km pro Sekunde aber lösen sich
alle festen Körper in Licht auf; es gibt nur noch das Imaterielle, Geistige.
Heute
gibt es keine Scheiterhaufen, zumindest im Westen nicht, und trotzdem ist die
Zensur gewaltig, denn sie ist Selbstzwang, von äußeren Zwängen gesteuert, wie
dies schon Norbert Elias in seiner Geschichte der Zivilisation gezeigt hat.
Keine
andere Epoche hat, wie die unsere, das wichtigste Problem, das uns jetzt
einholt, so vergessen machen können, es gar als "Fortschritt"
ausgegeben. Mit der Aufklärung hatte alles begonnen, die das Paranormale nicht
nur verbot, wie die Hochreligionen, sondern es als "Hirngespinst"
einfach "abzuschaffen suchte. Noch Kant hatte es abgedrängt und zum "Ding
an sich" erklärt. So war z.B.seine Haltung in privaten Briefen zum
Hellseher Swedenborg zustimmend, vernichtend aber, unwahr also, seine
öffentliche Professorenhaltung dazu; eine Schizophrenie, die sich in seinem
Traktat "Träume eines Geistersehers" an merkwürdigen
grammatikalischen "Verschreib- fehlern" ablesen läßt. Das Verdrängen
des Übersinnlichen aus dem Bewußtsein, so schon Freud, bringe einen
"Urteilsstreit" mit sich, dem der Wissenschaftler durch einen
verstärkten Positivismus auszuweichen suche. Freud selbst hatte diesen Teil
seines Werkes aus Angst zur Veröffentlichung nicht freigegeben. Die- durch
Einbeziehen des Nichtwissens - in der Wissenschaft längst aufgearbeitete -
"Objektivitätskrise" feiert weiter Urständ in der Gesellschafts- und
Machtsphäre. Jüngstes Beispiel - die Weigerung der US-Regierung, von
Astronomen, Piloten, Astronauten, Wetterstationen gesammelte Ufo-Berichte der
Öffentichkeit zugänglich zu machen. Doch auch die Verschränkung ganzer
Industrie-Zweige, vor allem der Ärztelobby und der Pharmaindustrie mit der
Regierung und den Universitäten, das Interesse von Lehrstuhlinhabern ihre alten
Forschungsergebnisse nicht zum Müll deklarieren zu müssen, blockt alles ab,
diskriminiert jenes Denken, das die lukrative und bequeme Konsumgesellschaft
mit ihren "Grundlagen" explodieren lassen würde.
Es ist
ja auch klar warum: Wenn wir nämlich die ontologische, wie es 1989 mit der
politischen Zensur geschah, genau so plötzlich aufheben könnten, und den Kaiser
völlig nackt sehen würden, käme dieses einer globalen Revolution gleich. Die
Komplexe, die Denkbarrieren, die Ängste, ausgelacht, ja, psychiatrisiert zu
werden, verhindern sie, wenn wir imstande wären alles "Gewußte"
wenigstens für Stunden zu vergessen, die "reine Zeit" Prousts, das
"Nichts" Celans oder Scholems, die "Idea" Michelangelos
auch nur für gute Momente der Berührung zu einer Gewißheit, daß es den Tod
nicht gibt, werden zu lassen, sogar danach zu leben, könnte noch ins
"Kulturelle", das Reservoir der Alibis, abgeschoben werden. Doch wenn
diese Gewissheit die Massen ergriffe, rührte es an den Lebensnerv eines
materialistisch orientierten Zwangssystems, es würde stärker in seinen
Grundfesten erschüttert als durch jede soziale Revolution.
Denn was
die Welt ruiniert, sind nicht die technischen Mittel, sondern deren Einsatz aus
einem falschen Bewußtsein der Zeitknappheit, das der Todesgedanke eingibt. Das
Resultat: Hektik; Raffen, Besitzen, Genießen; denn es wird einmal aus und
vorbeisein, eine gnadenlosen Drohung dieses Weltbildes der Panik.
Vielleicht
am adäquatesten und ironischsten wird dieser
Bruch
vom Joyce unserer Generation, Thomas Pynchon, erfasst: (in seinem Roman
"Das Ende der Parabel", dt.1981). Der Text hat bei ihm die Aufgabe,
sich hinauszuwagen, ins Leben zu mischen, die Grenze zu sprengen, wo ein
Herausfallen aus Namen und Begriffen möglich ist. In den "Enden der
Parabel" kehrt der ineinsgleitende metonymische Schreibprozess die
Wirklichkeit und unser kausal funktionierendes Bewußtsein um wie einen Handschuh.
Diese Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks, da, wo Zeit, die noch nie
war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration
verdichtet, kooperiert mit dem Wissen der Quanten-Logik. Die Lust am Text aber
ist schon der Vorgeschmack der Ego-Auflösung, also auch der Erlösung von
einengender Zeit, Todesangst und Verzweiflung in einer Fülle, die uns diesseits
der Berechenbarkeit und Ausnützbarkeit dauernd umgibt. So ist die
"Gegenmacht" literarisch am Werk und berührt die einzelnen verlorenen
und verstreuten Seelen. Jener, dem mit dem Tode nicht mehr gedroht werden kann,
ist unüberwindlich.
(Aus: "UTOPIE DES AUGENBLICKS. Denkbilder und
Prosaessays")
RAUM DER
UNGESCHÜTZTEN SEKUNDEN
Es hat
sich gezeigt, daß das Überraschende, ja, Unwahr- scheinliche im Offnen des
Augenblickes, das plötzlich einfällt, in den letzten zwei Jahre überfallartig
Geschichte gemacht hat, unser Bewußtsein und "Wissen" kommt nicht
mit, Planung wird über den Haufen geworfen, altes Denken, alte Politik, Sicherheiten
sind gefallen, die Kategorie des Plötzlichen im Raum der ungeschützten Sekunde
ist die neue U-Topie des Offnen.
Und die
war ja immer schon da, sogar in der Eschatologie; in der Bergpredigt heißt es:
"Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist DA".
Bei Luther freilich steht: "Tuet Buße, denn das Himmelreich ist NAHE
herangekommen".
Wenn wir
annehmen, daß das östliche gescheiterte Experiment eher ein westlicher Bastard
(Marx), ein Versuch am falschen Ort ist, Resultat der Aufklärung: die
Geschichte zum Gott machen zu wollen wider die Natur und menschliche Natur,
totale Wissbarkeit und Veränderbarkeit zu proklamieren und mit Gewalt
durchzusetzen, ist im Osten vor allem der alte Westen gescheitert, die Neuzeit
an ihre Anfänge zurückgenommen und vor Gericht gestellt worden.
Nicht
die Intuition vom "Ganzen" war und ist falsch, im Gegenteil, diese
Intuition ist das Kostbarste, was es gibt, sondern die Überzeugung, daß dieses
Ganze sichtbar und irdisch werden könnte, fassbar und sogar realisierbar in
Dimensionen einer idealen Gesellschaft. Dies ist die Wiederholung des alten
Adam-Falls.
Es hängt
eng mit der Sukzessions-Zeit zusammen, der Uhr, dem Terminkalender, dem Plan,
der Bürokratie etc. die jene Offenheit, die U-Topie der Überraschungs-Zeit, in
der wir gegenwärtig leben, verstellen, verhindern. Ideologie als höchstes der
Schutz-Gefühle. Im Osten ist das alles vorerst weggefegt worden, im Westen
tickt diese Zeit weiter, und wird nun in den Osten neu importiert!
*
Der Aufbruch
im Osten ist kongruent mit jenem Aufbrechen dessen, was wir für Zeit halten -
und Wissenschaft ist an diesem Punkt angelangt -, es wird deutlich, daß
tatsächlich Herrschaft nicht zu brechen ist, bevor die zur Strecke gebrachte
Zeit nicht durchschaut, ja außer Kraft gesetzt wurde. In den östlichen
Revolten, die ihr System hinweggefegt hatten, war das für Augenblicke
kollektive Realität. Es wurde dabei von "Wahnsinn" gesprochen. Daß
Herrschaft eng mit jener "Zeit" zusammenhängt, kann man auch an den
Strafen ablesen, die jede Gesellschaft zu vergeben hat, es sind Zeit- und
Todesstrafen. (Auch Geldstrafen sind ja nichts anderes!) Ebenso die
Belohnungen, die bereitgehalten werden: vom Bankscheck bis zum Ferienparadies.
Doch Zeit ist nicht nur Geld, sondern in ihrer Selbstaufhebung vor allem
Freiheit. Als Zeit-Dehung und "reine" Zeit scheint sie tatsächlich
das Paradies zu sein, da wo es geronnene Zeit nicht mehr gibt, die ja
Un-Freiheit ist. U-Topie, das Paradiesische wurde immer schon als ein In-den-Tag-Hineinleben
vorgestellt, das die mütterlichen Kulturen, wie die der Naturvölker noch
kennen: Eine offne, organische Zeit, die noch mit wirklichen, nicht mit
simulierten Ereignissen verbunden ist.
Genau
diese Ereignis-Zeit wird von der modernen Quantenphysik und ihrer Logik im
historischen Erlebnisraum des Okzidents heute neu entdeckt.
Sie
besagt, daß wir, um überhaupt etwas begreifen zu können, die tiefere Struktur
dieses immer wieder auftauchenden "JETZT" erkennen müssen; ein
ungeheures, fast unlösbares Problem. Das aber, worin das bisherige Konzept von
Logik, sogenannter zweiwertiger Logik, mit dem nicht nur der Alltag, die
Politik, ja, die Universitäten umgehn, ist eine Logik "ewiger"
formaler Wahrheiten, die das Jetzt nur verstellen, da dessen Struktur damit
nicht fassbar ist; eine neue Logik der Zeit allein könnte ihm gerecht werden.
Die alte "besserwisserische" Logik des comon sense (siehe Hume und
Kant) ist die einer Idiotensicherheit, die das wirkliche Jetzt nie einbezieht,
nur die eigenen Phantome wie Scheuklappen und Haft-Schalen dauernd mit sich
herumschleppt, das wirkliche Jetzt aber ist da, wenn die Dinge aus dem Namen
fallen, dessen Struktur muß rätselhaft bleiben, um wahr zu sein; das heißt, der
Zugang zu ihr muß jenes Moment des Nicht-Wissens beinhalten, das offene Zeit
als ungedeutetes Jetzt voraussetzt - denn "ich kann kein Phänomen anders
als `jetzt'wirklich wahrnehmen, keine Äußerung anders als `jetzt`wirklich tun.
Ich wäre bereit, zuzugeben, daß wir hier dem tiefsten Rätsel der Zeit gegenüberstehen,
aber ich würde hinzufügen, daß wir uns diesem Rätsel stellen müssen, wenn wir
auch nur verstehen wollen, was Logik heißt, ganz zu schweigen von der
Physik," bekennt Carl Friedrich von Weizsäcker. ("Einheit der
Natur", München 1974).
An
diesem Punkt aber treffen sich Wissenschaft und Literatur, ja, an diesem Punkt
kann eigentlich nur die Kunst weiterhelfen. Besonders beeindruckend hat diese
Einsicht Günter Eich formuliert. Wahrscheinlich ist die offene Zeit nichts
anderes als die berühmte Differe11nz, das Geheimnis des Abwesenden, hier im
Augenblick und jetzt spürbar geworden, das Fehlende, das
sich
zeigt. Günther Eich, der das, was "nur" sichtbar ist, ohne die Zugabe
der Absenz, ebenfalls als Illusion ansah, hat es so beschrieben: "Wir
wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir
nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß auch das
Gehirn fragwürdig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der
Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dieses
sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht
fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit
hinzunehmen".
Daher
"übersetzte "er ein ganzes Leben lang "ohne den Urtext zu
haben". In einer gelungenen Zeile hört er den Stock des Blinden klopfen,
der anzeigt: Ich bin auf fe$stem Boden". (Do/ppelinterpretationen, 1969,
S. 47).
Daß wir
durch das Schon-Gewordene immer nur im Nachbild dabei sein sollen, ist
unerträglich, denn dieses macht ja schon von Anfang an jeden zum Greis, der der
Erinnerung nachhängt, falls die Wahrheit sein soll, was uns der Augenschein
bringt. Uns sind heute die alten Sinne besonders dafür geschärft,
zivilisationsspät, daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen; ich
sehe die Reben hier in meinem Garten, die schöne Landschaft, das Meer, und bin
erschrocken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist
"übriggeblieben".
RAUM UND
ZEIT im SCHNITT
Wir
müssen wieder lernen den RAUM gegen die ZEIT zu stellen, diese aufzuhalten, zu
stoppen, anzuhalten, also EPOCHÉ zu erproben, bis hin zum Chock des Ungewohnten
oder der Angst, Zeit "zu verlieren". Raum ist Anwesenheit, Zeit
Abwesenheit, ihr Schnittpunkt muß erkannt, die Bruchstelle herausgearbeitet
werden: Sprache ist ja innere Zeit, die das Bild bearbeitet, um es aus der
äußern Zeit, dem mechanischen Chaos und der Qual des Sinnlosen, der empirischen
und der Uhrzeit in eine Wirklichkeit zu bringen, die Lust, also auch Wahrheit möglich
macht. Denn Berührung der beiden Sphären gibt eine höhere Lust, die die
Sehnsucht befriedigt, ohne die wir austrocknen oder vor Selbstekel täglich mit
Selbstmordgedanken umgehn.
ZEIT UND
BILD. ÄSTHETIK DES SCHNITTES
Ereignisketten
muß mißtraut werden. Sequenzen, Zeitschnitte sind der verborgenen Wirklichkeit
viel näher, so vor allem wenn einzelne Ereignis-Szenen wie im Gedicht zu einem
Gespinst von Sinn-Bildern verbunden werden. Ich arbeite seit Jahren mit der
Methode des SCHNITTES, der erlebten Zeit in Tagebuchform,erlebtes Jetzt als
Querschnitt, erlebte, dann strukturierte Momente im Einfall, die dann im Buch
zusammengesetzt werden, ein unendliches Gedicht wäre eine Lösung. Momente in
Nahaufnahme, Zeit gezoomt bis in Feinstrukturen, tief gebohrt, bis die Muster
erscheinen oder der Grund. Also Ritardando, Langsamkeit oder der Sprach- und
Berührungsraum bis zum WORTHOF und den Rändern, um dem unscharfen Zeitfluß
Widerstand entgegenzusetzen wie ein Wehr, eine Insel, um das Strömen besser zu
studieren, anzuhalten im Schwimmen, sich der persönlichen Zeitstelle Heute
bewußt zu werden, wo unser Subjekt an das "Subjekt der Natur" an das
große Zusammenhangs- und Informationssystem angeschlossen ist.
Bilder
verhindern vorschnelle Schlüsse, lineare Sinn- und Symbolkonstrukte, zu
lineares Erzählen.
Aber
auch von jenen PAUSEN, dem Zwischenraum, jener "Zwischenschaft" muß
hier geredet werden, wie sie Benjamin liebte. Oder auch Hölderlin. Und Celan.
ZEITPARADOX
Der
Gedanke wird angehalten. Mißtrauen in die Verlaufformen der Zeit. Denn die
Tiefenbbohrung der Nahaufnahme setzt den aufgesetzten Symbolen einen Widerstand
entgegen. Suchbilder der eignen Voraussetzung.
Bilder,
die intensiver durch Sprache werden, Sekundenquerschnitte oder Tage werden nachvollzogen,
so bewußter gemacht, sie werden noch einmal in der Berührung, im Zusammensetzen
zum Buch, also wieder fiktiv, in einen Verlauf gebracht oder besser - in ein
Gespinst von Sinn. Aber den Zeitverlauf scheint es ja nun nicht mehr zu geben,
nur die Sequenz. Das Verwirrende, wenn sich Bild und Zeitverlauf berühren, habe
ich oft erlebt.
Ich
"stehe" in solchen Augenblicken an der Grenze, ich bin
stehengeblieben, irgendwo haperts mit der innern Zeit, man hat Schwierigkeiten,
den äußern Bildern nachzukommen. Ich wundere mich dann immer wieder, wenn sie
doch noch ankommen, wie in Intervallen, daß ich immer noch da bin, wo ich mich
gar nicht vermutet habe. Das Bild ist fixiert in seiner statischen Vorstellung,
doch die "Zeit", nein, der Außenfilm ist ein Stück weitergerückt. Man
blinzelt, strengt sich an nachzukommen, denkt an möglichen Irrsinn, falls das
Bewußtsein zu langsam sein sollte oder vielleicht ganz aussetzt...
Daß es
ein Zusammentreffen der Ergebnisse von Zeitanalysen in Physik, Philosophie und
Psycho-Analye gibt, die Nietzsches These von der "Wiederkehr des
Gleichen" bestätigt, vertieft, kann nur wenig beruhigen. Wir erleben diese
Entlarvung jeden Augenblick als kleinen Irrsinn im Voranrücken der Sekunden und
als Zurückbleiben der Gedanken.
Ich
"stehe" in solchen Augenblicken an der Grenze, ich habe
Schwierigkeiten, den äußern Bildern nachzukommen.
Das Ich
entzieht sich wie die Zeit, das Objekt bleibt. Das Ich ist, nach Heidegger, der
"Spielraum der vierfach-einigen Offenheit", ein "Zeitfenster",
das geöffnet und geschlosen wird im Augen-Blick. Derridas
"Difference", wo eben etwas war, und sofort ins Jetzt übergeht, davon
schon getrennt, unüberbrückbar und doch schon im Überspringen, also rätselhaft
ist: Vergehen, Bote des Todes, immer Heranrücken des Unbekannten, des
Zukünftigen. Da und zugleich Nicht-da. Das Bewußtsein dabei, so wurde es
genannt, scheint ein Gespenst, sitzt einem Vor-Schein auf, einer Täuschung.
Denn Gegenwart IST NIE. Heimat ein Niemals, wie der Zeitfluß Illusion.
Beim
Schreiben geschieht dann das Zusammensetzen der BILDER in einem umgekehrten
Prozess; nicht der Zeitverlauf, sondern die Sequenzen sind zuerst da. Und in
einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und
Sinnnähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis. Und schafft
einen andern Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende
Unvereinbarkeit. Er ist fiktiv, wie Einfälle und Intuitionen und kommt aus
einem Bereich, der Grenze unserer Vorstellung rührt.Es ist wie eine Übung, um
etwas zu erreichen, was es nicht gegeben hätte, wären wir nach an diesaer
Schnittstelle, etwas Nicht- vorhandenes also, das aber sein könnte, eine
Menschenmöglichkeit, die verloren gegangen wäre, hätte sich hier nicht Einfall
als Weg in unsere Verständniswelt gebahnt; es ist also wie eine Stimme aus
einer andern Welt, womöglich aus einer zukünftigen, wo es diese Trennungen
nicht mehr gibt.
*
CHOCKMOMENTE
ALS ÖFFNUNG
Alexander
Kluge und Peter Weiß gehen als Filmer mit Sequenzen um. Bieten Querschnitte,
keine erzählten Längsschnitte. Momente. Oft Schreckmomente, wie Weiß in seiner
"Ästhetik des Widerstandes" Géricaults "Fluß der Medusa".
Ein Hadesbild der Überlebenden, die wir ja sind, ein Hadesbild, das die
Todestiefe im Moment des Schreckens spiegelt, ein Schrei des Untergehenden wird
sichtbar, quer zum historischen Prozess. Es ist der unendliche, andauernde
Moment des Entsetzens, der alle diese Momente der bisherigen Geschichte
zusammenfasst. Zeit anhält, wie das Summen in einem Todesmoment.
Wie
entziehen wir uns dem offnen Geschichtsverlauf, also der Zukunft, und auch der
realen Zeit? Durch Geschichten (erzählen)? Doch so lange wir leben ist das
unmöglich, reale Zeit, unsere, vergeht trotzdem, auch wenn wir erzählen! Das
Dilemma kann nur als Dilemma gezeigt werden. Uwe Johnson löst das in seinem
ersten Roman "Ingrid Babendererde" so: Die Geschichte wird mit dem
Augenblick, also dem Wahrnehmungsmoment, der war, abgeschlossen, das Erzählte,
als Mauer vor der Zukunft, eine erstarrte Sequenz, eliminiert, Geschichte also
durch Geschichte aufgehoben. Sie tritt nur in die beruhigende Form der
Vergangenheit ein, nach dem Tode.
"In
mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehungen keine sichtbaren Lügen. Der
begrenzte Kreis ist rein." E.M Cioran möchte die Geburt rückgängig machen,
auslöschen. Schreiben ist tatsächlich eine Art Sterben, wenn es wahr ist, und
damit das Ich auslöscht. Die Sprache spricht in ungeheuren Dimensionen, der wir
nicht gewachsen sind, wenn das Numinose wirklich einbricht, dann lösen wir uns
vom Eitelkeitskarrussel, von Zeit- Vor- und Rücksicht.
Die
Indianer löschen nach der Therapie ihre wunderbaren Kunstwerke, die
Sandpaintings. Das hat nicht einmal Kafka geschafft, er wußte ja, daß Max Brod
seine Werke nicht vernichten würde, deshalb hat er ihn damit beauftragt.
(Aus der
Werkstatt: UTOPIE DES AUGENBLICKS, Essays).
(FÜR
"FLUGASCHE." Februar 92)
Denkbilder,
Fragmente, Tagebuch
Die Welt
gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um ein
praktischer Mensch zu sein, ist dieser Mangel...
Fernando
Pessoa, Das Buch der Unruhe.
I
Ich lese
in Ciorans "Vom Nachteil geboren zu werden": "Diese Sekunde hier
ist auf ewig verschwunden, sie hat sich in der Masse des Unwiderruflichen
verloren. Sie wird niemals wiederkehren. Darunter leide ich und leide ich
nicht. Alles ist einzigartig und bedeutungslos."
Was soll
ich ihm entgegenhalten, im Ohr klingt mir jenes "Nichts ist
verloren"!
Spricht
nicht dieser Augen-Blick dagegen, der sich schon verwirrt, ich habe mehrer
Bücher aufgeschlagen vor mir liegen, als könnten sie mich trösten, gar erlösen.
Und lese bei Günter Eich nach, der das, was "nur" sichtbar ist, ohne
die Zugabe der Absenz, ebenfalls als Illusion ansah; er hat es so beschrieben:
"Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt,
die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß
auch das Gehirn fragwürdig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an
der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dies
sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht
fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit
hinzunehmen".
Daher
"übersetzte" er auch ein ganzes Leben lang "ohne den Urtext zu
haben". In einer gelungenen Zeile hört er den Stock des Blinden klopfen,
der anzeigt: "Ich bin auf festem Boden".
*
Thyrrhenischer
Augenblick
Ein
Dreieck das Segel/leicht
angeschlagen
in Aphasie -
Nichts
als der Sand am Fuß.
Der
Augenblick Tor meiner Sinne
zieht
andere Saiten auf:
es
klingt das Wasser in der Sonne
jetzt
ohne Reue Die hohe Welle
rauscht im
Wort./ Alles
kehrt
sich um.
Ohne
mich fortzubewegen
vom
Schreibtisch/ verschwinde ich im Meer.
Jetzt
erst
wird mir
klar
daß
alles schon
vergangen
war
und wie
gestern
geschah.
Das
stand in meinem Tagebuch, jeder schrieb an jenem Tag den 13. Juli 1989. Und ich
dachte: Morgen 200 Jahre Bastille, ein Revolutionsjahr also. (Oh, Himmlisher
Platz, herausgeschnitten aus der Zeit, wie der Tod.) Wir lagen in einer Bucht
unter einem altelbanischen Leuchtturm. Porto Azzuro. Und ich dachte an Napoleons
Exil. Was in jenem Augenblick geschah, geschieht vielen: Ferien. Gegenüber ein
Schweizer Hotel, Sandstrand. Nachrichten. Täglich die Zeitung. Es war klar, wir
waren am Ende einer Zeit angekommen. Doch mußte ich an jenes
"Unwiderbringliche" denken, es gab mir keine Ruhe; hängt mit dem
Alter zusammen, als wären wir so die Erledigten.
Gegen
Cioran läßt sich ein anderes Zitat finden, so eines von Louis de Broglie, dem
Physiker: " In der Raum-Zeit ist alles, was für einen jeden von uns
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt, en bloc gegeben... Jeder
Beobachter entdeckt sozusagen beim Verstreichen seiner Zeit immer neue Schnitte
der Raum-Zeit, welche ihm als aufeinanderfolgende Aspekte der materiellen Welt
erscheinen, obwohl in Wirklichkeit die Gesamtheit der Ereignisse...existiert,
bevor er davon weiß."
Und dann
las ich diese Zeilen des Zen-Meisters Dogen: "Die meisten glauben, daß die
Zeit vergeht. In Wirklichkeit bleibt sie stehen, wo sie ist. Die Vorstellung
des Verstreichens kann man Zeit nennen, aber es ist eine falsche Vorstellung,
denn da man die Zeit nur im Verstreichen sieht, begreift man nicht, daß sie
stehenbleibt, wo sie ist."
Das
Alter der Zeit wenigstens hat seine Vorteile; und da sind wir
angekommen.Vorteile?
*
Was
wirklich wahr ist, gibts noch nicht.
Und
alles andere ist vergangen.
Die
schnelle Geschwindigkeit dieses Tages
setzt du
auch morgen nicht zusammen.
Am alten
Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf.
Unerlaubt
scheint das wirkliche Weinlaub.
Sprünge
und Risse im Blickfeld Und alles
eilt/ Du
hältst es notdürftig zusammen
treibst
wie eine Mauerblume
Synthese
zum Vor-
Schein.
Und wir
saßen an diesem Tag in winzigen plätschernden Wellen, es schien in ihrer
Sanftheit so, als wollten sie aufhören. Vor dem Sturm ist es meist ungeheuer
sanft das Wasser, kleine Seespinnen rennen dann über die glatte Fläche. Netz.
Denk du an ... Arachne vielleicht. Über uns ein altes Gefängnis. - Ich las in
einer gescheiten Untersuchung über den Tod, fand mich in der Beschreibung
dieses Kreisens an den Rändern des Bewußtseins, das bald explodieren muß,
wieder.
ALTERN
DER WELT. Spürbar am Tag? Auch dieses eine Umkehrung bisheriger Erfahrung: Der
Katzenjammer am Morgen; am Abend weniger, außer vor dem Fernsehen diese
sogenannten "Achtuhrschmerzen", die vergehn mit dem Wein.
Leopardi
hält den Abend für "traurig, entmutigt und der Hoffnungslosigkeit
zugeneigt." Und am Morgen soll man angeblich ein Stück der Jugend
zurückgewinnen. Aber das Altern nimmt enorm zu: So sei es auch mit dem
Universum, ja, mit den Generationen, die verjüngen sich immer weniger, sagt
Brancati, der alte Kollege aus Sizilien. Zwanzigjährige seien immer weniger
jung. Heute ist das extrem. Naiv sind wir, die Fünfzigährigen, noch naiver unsere
Eltern, aber uralt, wissend und clever die Zwanzigjährigen. Mein Gott, was wird
mit deren Urenkeln sein? Die leben dann wohl auf dem Mond.
ALTERN
DER WELT. Altern der Generationen. Das Altern des Universums geht durch die
Generationen hindurch, so, daß vieles daraus erklärbar wäre. Zum Beispiel auch
die Unfähigkeit zu erleben und zu erzählen. Ein Greis jeder, der seinen Tod
überlebt hat. Heute glaubt keiner mehr, wie mein Großvater, an ein Weltgesetz,
wo die Bösen ihrer Strafe zugeführt werden; wer sich dafür auch im Kleinen
einsetzen könnte. Die Begeisterung, die er, die mein Vater noch hatten, fehlt
völlig. Es wird alles hingenommen. Wie langweilig sind sie heute, die
Achtzehnjährigen. Ich war in Florenz auf einem Geburtstag, zu dem ein Freund, ein
Psychiater, zum Achtzehnten seiner Tochter eingeladen hatte. Wir Alten tanzten,
tranken, lachten, die Jungen sahen zu und verabschiedeten sich müde gegen
Zwölf. Wir Alten blieben bis gegen Morgen. Und sahen dann noch den
Sternenhimmel an. Einer sagte Gedichte auf, andere sangen.
Aber
besonders beeindruckt hat mich der Bericht eines Westberliner Freundes, der mir
erzählte, wie ein Mädchen, das sich in ihn verliebt hatte, mit dem er auch
schlief, oft dazu nicht fähig war, sondern wie ein Mondschein- und Nachtschattengewächs
nachts stundenlang auf dem Bettrand saß und schrieb, dann aber sich an ihn
drängte, als müssse ihr jemand Kraft geben, "Kitt", wie sie sagte, da
ihre "Atome nicht mehr zusammenhalten", und sie fürchte auseinanderzufallen
wie ein Haufen vertrockneter Lehm.
Wie
sollen diese jungen Frauen Kinder großziehn, ihnen Kraft geben. Ich habe keine
starken Frauen mehr gesehen, so mein Freund: Frauen, wie meine Mutter, meine
Großmutter, die das Elend des Krieges und des Nachkrieges im Osten durchgehalten
und die Familie zusammengehalten haben.
DIE
DEUTLICHKEIT DES ZEITGEISTES IM POLIZEISTAAT. Wir sind alle Phantome geworden.
Zuhause im Osten da spürten wir das seltsamerweise gar nicht. Obwohl... Wir
hofften nämlich, es sei nur ein Ausnahmezustand. Anderswo ja, da gab es ein
Leben. "In dem andern Land," schrieb eine Kollegin," da hab ich
verstanden, was die Leute so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand."
Das tat weh, sie zu sehn. Aber weh tut es auch, zu wissen, daß es in unserem
Leben jetzt dafür Gründe gibt, und "es tut weh, die Gründe nicht zu
sehen". Man sah die Gründe in der Diktatur und doch lag ein Schleier, ein
Tabu darüber, auch Angst und Schuldgefühl, damit umzugehen. Es gab eine Art
moralisches Todesurteil für "Unzufriedene", keiner durfte unglücklich
sein. Von unglücklicher Liebe schreiben oder sprechen. So pervers war die
aufgezwungene Gegenwart, daß sie sich für eingelöste Zukunft halten mußte, die
angemaßte, mit Fahnen und Gewehren umstellte, nicht die wirkliche, denn die gab
es, und die war grausig trist. Alles sollte übersprungen werden wie in
jugendlichen Hirnen, die keine Erfahrung machen wollen, Überflieger, die
Widerstände weggeräumt oder weggeträumt, lebten wir schon im Paradies - und
litten an der Tristesse der Wirklichkeit, die es offiziell gar nicht gab. Ist
das nicht eingelöste Absurdität. Die Schriftsteller denken, Romane berichten.
Ja,ja, unsere Regiernden damals waren lauter gescheiterte Schriftsteller, die
ihr Volk wie Figuren hin und her schoben, und wehe diese Figuren muckten auf.
Alles
nimmt ab; ist dieser Wahrnehmunghsverlust, den ich schon am Anfang meiner
Westerfahrung mit Schrecken gemacht hatte, ich war erst vierunddreißig, die
Alterserscheinung, Zeichen auch dieses alten Okzidents: "alles ist so wie
es ist", utopielos, real, tatsächlich: wie eine "Wüste der
Vergangenheit",(Chateaubriand), damit aber wurde das Alter charakterisert.
Aragon schrieb in "Le Roman inachevé":"Ich fühle mich stets wie
ein fremder unter Fremden,/ Ich höre schlecht, so vieles kümmert mich nicht
mehr, Der Tag entbehrt der sanften schillernden Reflexe: Der Frühling, der
jetzt wiederkehrt, bringt keine Wandlung, Er trägt mir nicht den schweren Hauch
des Flieders zu."
Freilich
mit dem Unterschied, daß noch alles neu war wie ein fremder gläserner Planet.
Umso stärker kommt dann die Oberfläche zum Zuge, wie Schopenhauer über das
Altern schrieb: "Je älter man wird, mit desto weniger Bewußtsein lebt
man... Allmählich aber wird, durch die lange Gewohnheit derselben
Wahrnehmungen, der Intellekt so abgeschliffen, daß immer mehr alles wirkungslos
darüber hingleitet." Aragon spricht mit Sehnsucht von der
"vergangenen Frische der Welt".
_
Die
Ungeduld nimmt zu, da die Liebe abnehmen muß, das Hängen an Menschen, Dingen,
LANDSCHAFTEN; denn das Bewußtsein so viel vergessen zu haben, erlebt und
vergangen, entwertet jeden Augenblick, als wiederhole er sich andauern, und so
nimmt das Vergeblichkeitsgefühl, damit das Ermatten zu. Auch beim Schreiben ist
es so, ich wage kaum noch etwas aufzuschreiben, weil ich soviel schon
aufgeschrieben, notiert habe, es unverarbeitet wie das Leben herumliegt. So
schleift sich alles ab, verschleißt sich wie der Körper, wird dünner; als fehle
der Nachhall, das Echo in der Sache selbst, als wäre nun alles die eigene Kopie,
wie eine Konserve; so nähert sich jedes individuelle Leben dem Leben im alten
Okzident ganz allgemein, als wäre die Aura, die Schattenregion verschwunden,
Wüste eben, alles, so wie es ist. Schon Rousseau schreibt in seinen
"Spaziergängen": "Ich war, wo ich war, ich ging, wo ich ging,
nie weiter entfernt." Das Wegziel, Madame Warren, die er nicht mehr
liebte, bekannt, kein Zauber also. Und Freud schrieb an Lou
Andreas-Salomé:"Die Änderung dabei ist vielleicht nicht sehr auffällig,
alles ist interessevoll geblieben, was früher so war, auch die Qualitäten sind
nicht viel anderes, aber es fehlt irgend ein Nachhall, ich... stelle mir so den
Unterschied vor, ob man das Pedal tritt oder nicht."
_
*
_
SEEKARTEN,
früher
Anstatt
des verschütteten Turms dort
auf dem
Berg/ gesehn nachträglich
heute am
20. Juli 89, auf dem Berg
der
Blick zur Zeit der Römer.
_
Wie weit
reicht das Zeitlange Verwesen
in mir,
was ich an Alter habe
Koordinaten
von andern erfunden,
die mich
führen, das von früher Gedachte,
längst
tot die Erfinder.
_
Damals
war die Welt noch
junge
Erfindung wie hier auf dem Blatt:
ein
Loch, wo ein Mann aufersteht,
herausschaut:
und das war ich,
schon
jetzt vergangen und
einmal
gewesen.
_
Aber
offen die Welt früher
für uns,
jeder Kurs
stand
uns frei.
_
(Giannutri,
20.7.89/2.8.91)
II
Unordentliche
Gedanken. Wider die männliche Begriffsgeschichte und das eingebildete Altern .
AUSSCHWEIFENDE
EINSEITIGKEIT. Ich lese. Ich sammele. Diese LESE. Lesen kann Glück sein, fast
wie schreiben. Merkur, 5,91. Brigitte Kronauer. Wie man aus der scharfen
Beobachtung jedwelchen Dinges fast eine Dingexstase machen kann, "Lektüre
des Realen", Versuch ohne Vorbehalt zu sehen, den Wahrnehmungsprozess als
gelernten zu entlarven. Nicht präformierte Wirklichkeitspartikel, so daß das
Wunder, der Eingang zum Augenblick, noch unscharf, als ein aus dem Namen Fallen
erkannt wird, jedoch genau so die vorbedachte Hülse abgestreift und das, was
geschieht, hüllernlos erlebt wird.
Dieses
gleichzeitig Schreiben, während es geschieht, diese
Unmöglichkeit,
wie sie auch Uwe Johnson versucht hat zum Salz und Geheimnis der Momente zu
machen, wider das Altern also. So jene Beobachtung der Füße im Wasser, die
plötzlich gebrochen und verschoben sind, alles an der falschen Stelle. So sah
es schon ein Physiker früher, der gebrochene Stab in der Waschschüssel. Ich
spürte auch meine Füsse nicht da, wo ich sie sah; genau dies muß erprobt
werden. Die Raster ganz eng, aber erfahren, die Maschen.
_
Solche
Irrenskizzen oder AUGENBLICKE. Diese Heftigkeit, weil die vorgefasste Denkweise
mich nicht ruhen läßt, das Leben raubt. Kein Interpretationsgehäuse ums Ich
bilden. Die Wahrheit dann in dem, was hier gebaut wird, steckt im
Zusamengetragenen, nie in der Ausage oder Erkenntnis, sondern in der
Komposition.
Bleibt
da nur die Lektüre im Vorhandenen, das nie
aufgehört
hat zu existieren, obwohl es genau genommen immer schon vorbei ist. Und so
wählte ich heute morgen lieber das Beständigste, die entsprechenden Töne des Jeremias:
Vom Klagelied auf Pergament breiten sich Schwingungen aus. Auf den Wellen
Klingen. Es gibt starkes und schwaches Papier, nur Geduld ihm, die wichtigste
Nachricht ist ungeschrieben, und jedes Zeichen, das doch auftaucht, trägt zum
Wahn bei. Starkes Papier, schwache Zeichen. Todesurteile in Havanna, in Peking,
in Bukarest. Oh, süße Heimat des Verlustes, des Lebens, der Freiheit, aber
dienlich der Sicherheit.
Und da
kam ja schon die Nacht über das Gefängnis hinweg, Rotschichten am Himmel, Farbe
nahm ab. Wir blieben zum Essen auf dem Boot, zum Schlaf. Der Sturm blieb aus.
Ich sagte zu Jann, wir müssen vielleicht doch raus hier, an Land gehn, zu
Menschen, vielleicht gibts auch Nachrichten im Fernsehen, ja, das Schweizer
Hotel hat eins, wir sahen die Mattscheibe in der Empfangshalle, Deutsche
glotzten nackt aus dem Badeanzug, gebräunt und gefettet. Jann aber wollte die
lösenden Farbschichten vom Himmel eindringen lassen, wohin Jann? Meine
Illusion: als wäre Leben: Leben. Lebt es nicht aus dem Selbstbewußtsein einer
unmöglichen, unrealen Wahrheit in dir, die aber ist: Lektüre. Also ein Buch.
Und dann
die nackte Utopie im Cockpit, die nach ihr roch, sie war. Sie?
Brandenburger
Tor einmal anders. Die Geschichte hat eine Errektion.
TRAUM VON
ZWEI FRAUEN, DIE MIR DAS OFFNE ZEIGEN. An einem dunkeln Tor die eine, als wärs
ein verkleinertes Brandenburger Tor. Die andere im Flugzeug. Eine enorme Süße,
und die Hautberührung so sanft wie Samt, nein, eine Gedankenseidenberührung,
Berührung der Gedanken, alles nur ein Gespräch und gemeinsames Gehn,
Annäherung, ich setzte mich im Flugzeug zur zweiten. Immer mit diesem
Schuldgefühl, das ich jemandem Unrecht tue. Dem Alten. Meiner Frau Jann? Und
wie ein Beispiel, diese Gewalt, das "Übergehen" von dem, was da war:
auch die gemeinamen Erinnerungen: die sechste Phase der Kabbala. Da wär dies
wunderbare Neue (Ufer aufbrechen) und der Schmerz, Abschied zu nehmen. Aber
auch Johanna fragte mich gestern: so etwas wie Prickeln, das möchte ich wieder
erleben. Prickelt es bei dir, wenn du mich anfasst? Es ist ja nur Vertrautsein
und Zärtlichkeit. Der Chock, das Unerwartete fehlt nach vielen Jahren. Mit den
beiden Frauen, im Flug, am Tor also versteckte ich mich im Grunde vor ihr, wie
sie sich gerne mit jenem andern, dem Maler, zu dem sie eine unglückliche
Liebeskrankheit entwickelt hat. Er ist das Fernweh. Die noch unausgeschöpfte
Sinnlichkeit, also der Augenblick, der neue, frische? Und freilich das Chaos in
ihr. Und jene Frauen in mir. Jungsein heißt also: nach Nietzsche, noch Chaos in
sich haben. Unordnung und frühes Leid, heißt eine Mann-Geschichte.
Frühjahrsgefühle, eine Wunde. Ostern, wehe Gefühle. Märzblut, krudes Knospen.
Blasse Frühlingsmädchen aus dem Internat. März im noch winterkalten Wald von
Baneasa, Auferstehungsgefühle im rauchigen Snagovkloster.
Und
schrieb ins Tagebuch am 20. Juli 89: Das war Literatur gewesen. Heute erwarten
wir jede Sekunde den Einbruch, daß etwas Unvorstellbares geschieht.
Wir sind
getrennt von der großen Erwartung, die real schon ihre Vorzeichen auch an die
Hirn Wand wirft. Große Schatten zwischen den Träumen. Wetterleuchten hieß das
früher.
In
Ungarn waren für die Flüchtlinge aus dem andern Deutschland die Grenzen
geöfffnet worden. Eine Stunde Null, wie ein riesiger Kopf ist zu erwarten, zum
Glück oder zum Wahnsinn. Die Historie hatte eine Errektion.
Ich aber
saß einfach da, am Wasser. Und sagte mir: nur was da ist, bewegt die
Gewissheit, die vor lauter Stille weiß, wie dieses weiche Wasser heute Abend,
tauch ein: es ist ein wenig Gott, der innen wartet, ein Flüchtling darfst du
sein, wozu noch so im Vor-Schein kämpfen wollen. Hau ab. Das Bild. So steigt
jetzt aus jener Hand: ein wenig mehr als Blau, von dir berührt, die Kühle bei
Verdursten, denk ich, alles andere war die Wüste, der Verstand. Nur was sich
öffnet, feucht wie dieser Grund, erinnert wie ein Blitz: Du darfs den Namen
deiner Heimat jetzt ihm nennen, drei Berge beinahe Bun wie ferne Särge, die
doch stimmen. Du wirst nie dort in jenem Blick, in jenem Gras begraben sein...
Und wache auf. Jann sagt, du träumst ja mit offnen Augen.
VOM
GROSSEN PLAN UND DER NATUR DES NICHTS. Mein Vater sagte mir, du kannst
unmöglich alles voraussehen und planen. Es wird einmal eine schwere Stunde
kommen, sie kommt für jeden, da fallen Strahlen aus einer andern Welt in diese.
Ich habs im Krieg erlebt. Ich lachte nur. Ich sprach vom Plan. Ja, sagte er, in
jedem Leben gibt es einen, keiner kennt ihn. Ich lachte, hielt einen langen
Vortrag über das lichthafte Futur, das wir eben gerade vorbereiten. Fühlte mich
ihm überlegen.
Nicht
nur jene Pläne, diese Lächerlichkeiten sind gescheitert. Nein, überall schlägt
die Natur zu, nichts ist planbar,außer der Unplanbarkeit.
GEGENDEN
DES ZUFALLS? Literatur und Kunst, vor allem die weibliche, werden zum
vorgreifenden Erfahrungsfeld und Brückenbauer jenes Neuen im "Tun, was
geschieht". Schon André Breton hatte vor Jahrzehnten erkannt: "In
allem gilt es, den unbedingten Vorrang dessen zu befestigen, was dem weiblichen
System der Welt im Gegensatz zu dem männlichen angehört; es gilt den weiblichen
Kräften zu vertrauen und keinen andern."
Freilich,
den weiblichen Kräften auch im Mann. Also im sorgfältigen Aufzeichnen jener
Gegend des "Zufalls", des Alltags, dem, was geschieht: die eine
Gegend ist, wo beide Erlebnisfelder (bewußt-unbewußt, Traum und Tag,
Begriff-Metapher, Diesseits und Jenseits) nicht mehr getrennt sind. das
Männliche ist durch Jahrtausende autoritärer Geschichte krank geworden. Christa
Wolf spricht von den qualvollen Versuchen der Männer zur Selbstheilung:
"ihr verzerrtes Verhältnis zu sich selbst, ihren Mangel an Empfindung,
ihren Verlust von Unmittelbarkeit und ihr Erkalten zu beheben."
Die
verheerende männliche Begriffsgeschichte beherrscht alles, auch die Sprache,
die Sonde bis ins Unbewußte.
Liebe
und Tod und die Revolte durchbrechen ein aufgezwungenes künstliches Ich, machen
sprachlos. Widerstand gegen die Vatersprache, die abendländische. Und die
Muttersprache der Gefühle, des Alltags? Und ihr mit offnen Sinnen wahrnehmbares
Geheimnis? Dafür sind nicht einmal unsere Sprache, unsere Sinnkonstruktionen
geeignet.
Die
Lösung ist eine Subversion. Eine Wahrnehmungs-Revolution: Man unterläuft das
Abstrakte, das Nur-Gedachte, den "Sinn", den falschen Kitt. Es gilt,
die Gegenwart wiederzugewinnen.
"Die
Bond Street faszinierte sie immer; die Bond Street an einem frühen Vormittag in
der Season; die wehenden Flaggen; die Schaufenster: nichts Grelles; nichts
Glitzerndes; ein einziger Tweedballen in dem Laden, wo ihr Vater sich fünfzig
Jahre lang seine Anzüge hatte machen lassen; ein paar Perlen; ein Stück Lachs
auf einem Eisblock. "Das ist alles", sagte sie mit einem Blick in die
Fischandlung. "Das ist alles". Ein von einer Frau geschriebener Text,
aus Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway". Nichts Dramatisches, und
doch ein Aufblitzen des wirklichen Augenblicks.
Ja, die
Substanzen. Und wenn die geschmeckten Bilder sich zusammentun, dichtes Netz von
Gerüchen, sind wir im Paradies, jaja, in der Kind Zeit, aus der Badewanne
steigt Dampf hoch, wie der Anfang, Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der
glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und
Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen in
Scheiben die Lampe von der Gasse, hilft meiner Phantasie nach, alle Kinder
fühlen ähnlich. Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als
"Pelzkugel auf der Zunge", aber der Kopf dick/ wächst wie eine
Wasserkugel, die ich im Hohlraum am Gaumen und an der Zunge schmecke, der Kopf
ist auf der Zunge riesengroß, summt, er, auswärts gewachsen, ein Ozean, der
Wassergeschmack. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten
Lichtkegel, den hat die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen, der
Mann kommt langsam herein, die Tür knarrt, er will mich erwürgen, es ist ein
Gespenst mit knotigen Fingern.
Blaue
Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Eine Tante im Baumgarten,
hießes im verlorenen Transsylvanien. Fetter Lehm, wer nahm uns daraus. Denk nicht
zu weit, das rote Haus, nicht weit dann die Tornaz. Rauchig alles, die Armut
ungewaschen, Geza hütet die Kinder, zehn in der Bretterbude, Rauch quillt aus
dem improvisierten Kamin, Schnee knirscht unter den Schuhen, zehn Kinder in
meinen Fußspuren, auch der Krähen, der Hasen, der Naturkundelehrer Höhr sagte
als Jäger kennst du die Spur: hier ein Wolf, der Hund heult, Nacht am Mond,
kalt, in den Spuren, Kinderfüße, barfuß im Schnee. In den Nacken aber rieseln
von der Tanne eisig tausendfach Sterne, die Flocke.
Bei
Substanzen darf keine Zeit übersprungen werden, langsam, Schritt für Schritt
ziehen die Sinne ihre Zeitbahn, sonst Leere. Im Kopf falsche Gedanken Gänge.
Solch
ein Wahrnehmen ist immer das Neue, der Anfang. Ganz neu und voraussetzungslos
beginnen zu dürfen, Entkommen - im Augenblick der wahren Empfindung. Das Offne.
Gisela von Wysocki formuliert: "Die Frau ist ... unabgeschlossene,
unvollständige Form, angesichts der Monumente, Denkmäler, Grabmäler, die die
Kultur des Mannes, Phallus-Kultur, sich geschaffen hat."
Nur
"unordentliche" Gedanken entsprechen dem enormen Schwanken des Ich,
der Stimmung, der Zeit. Sie selbst könnte, genau wie ich, nur vom Ende her, vom
Tod her also "Wissen" , was geschieht. Da wir Posthume sind, kommen
wir dem näher.
So wie
sich Montaigne gegen das Mittelalter und das Dogma sträubte, sein Tun, was
geschieht kultivierte, so ist es für mich das Parolenerlebnis. Frei sich dem
Augenblick hingeben können.
"Ganz
ohne Ziel leben! Ich habe diesen Zustand aufblinken gesehen und ihn oft
erreicht, ohne fähig zu sein, darin zu verweilen: ich bin zu schwach für ein
derartiges Glück." (E.M. Cioran.)
VOM
ALLESWISSEN. Üb/erall diese Schichten der Erinnerung, nun entstehen ganz neue,
überlagern die alten. Ich muß nichts erfinden, die Realität, die ich erlebe,
und dann - mein Satz tut es jetzt, wie er zusammenführt. Reicht es, ihm zu
folgen? Oder ist das Areal zu klein, unterbelichtet, wie es bei uns hieß? Beim
polnischen Kollegen Zagajewski finde ich diesen Satz: "Selbstverständlich
begeisterten mich die Ideen. Nur in der Jugend nimmt man die Philosophie sehr
ernst, nur dann sucht man die definitive Lösung, die klare Antwort. Deshalb war
ihre Philosophie wie für junge Leute geschaffen. Die Menschheit lebt im allgemeinen
ohne Programm, und jetzt gefällt mir das, aber damals empörte und verletzte es
mich." (Akzente 1/90).
III
Die
falsche AUTONOMIE und das MAUERN ist wider die Natur,die TOTALITÄRE SEELE ist
abendländischer Provenienz. Ihr Extrem ist im Osten gefallen, damit das
ideologische Zeitalter, das Abblocken des geschichtlichen Prozesses, des offnen
Augenblickes. Diese Krankheit ist durchaus auch im persönlichen Leben
verheerend spürbar, dieses restriktive Ego, diese Vergiftung durch Nützlichkeitsdenken,
durch PLAN, sich nicht öffnen können aus mangelndem Vertrauen in die Kräfte,
die uns tragen, Kräfte, die größer sind als wir. C.F. von Weizsäcker schrieb,
Heidegger habe daran gelitten, daß das Denken im "Ge-Stell"
angekommen sei, die Welt nur noch als Sytemteile existiere: "Diese
Wahrheit ist zugleich Unwahrheit, denn die als selbstständig vorgestellten
Teile... sind selbst Produkte des Begriffs... Das Zutrauen in die Sicherheit
durch Planung... ist ein Mittel der rettenden Wahrheit den Zutritt zu verwehren."
Die
Nichtplanbarkeit hat sich im totalen Desaster dieser Weltschau und Politik
gezeigt. Aber in diesem Raubbau ist der Osten nur ein extremer Ableger der
westlichen Ideologie von der Beherrschbarkeit der Natur und des Menschen, der
Geschichte und der Gesellschaft, des Nützlichkeitsdenkens, das diese Welt
runiert hat, der sogenannte "Fortschritt" als Ideologie eines
unendlichen materiellen Wachtums auf Kosten der Natur und der menschlichen
Natur.
ÖDIPUS
UND DIE MARX-UND ENGELSZUNGEN.Ich erinnere mich an meine Marx- und
Engelszungen, die ich wie ein persönliches Pfingsten gegen meinen Vater
einsetzte: ich wußte alles. Das war ein phantastischer Schutz. Vor Leid,
Krankheit, Schicksal, Tod. Vor dem Morgen, jener Sorge, die an uns jede Nacht nagt.
Nur nachts schrie ich manchmal wie ein Tier, verspürte Grauen. Aber wenn Denken
einsetze, war Ich wie in einem festen unzerstörbaren Haus geborgen. Und wußte
nicht, daß ich der Gegenwart so keineswegs entkommen war. Der Katzenjammer kam
später, als der Bart ab war. Das war eine gestohlene Religion nach dem Aus
jeder Religion in Europa, die nicht weit reichte, eine Überwelt, die nur im
Hirn saß, sonst nirgends. Und in der Lüge des Staates, der uns damit fing und
die wie eine Kirchenglocke, wie plausible Predigten und Lehren klang. Eine
Ordnung, die alles umfasste, das ganze Leben, den Kosmos, Meere, Himmel,
Sterne, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, den Tod, die Liebe, die Freundschaft
und die Revolution.
DIE
ÜBERSPRUNGENE ZEIT UND DIE VERSÄUMNISSE. Daß ich nicht zu leben meine, Zeit
immer schon vergangen ist, als hätte ich sie übersprungen, da ich keine
"Umwege" machen möchte, den kürzesten Weg, ja, den Kurzschluß wähle,
wie mit einem Helikopter über die Landschaft fliege, wie über mein Leben, kulminiert
im Schreiben. Das erwies sich als Irrweg, weil Erfahrung so nur mittelbar zu
machen ist, wie ein Beobachter und Zuschauer des abgezogenen Lebens. So
entsteht das Gefühl immer zu spät zu kommen, etwas versäumt zu haben.
Lebenszeit vergeht andauernd, doch sie häuft sich, ihre Sekunden undurchlebt
und undurchwachsen von mir, so daß daraus keine Kontinuität und kein geordnetes
Erinnerungsbild im Zusammenhang entsteht, also auch kein Lebenslauf, nur
Eindrücke, kleine Szenen. Liegt nicht auch darin die Unfähigkeit zu erzählen,
Unlust daran? Und weil das zusammenhängend Erlebte nicht im Ausdruck geübt
wurde, so also der Kitt zur Gedächtnisbildung vertan war, so nur Unreife,nur
Persönlichkeitsfragmente, die in mir herumlagen. Mangelnde Ausstrahlung könnte
daher kommen, von der auch L. manchmal redet: Du bist so blaß. Man spürt dich
nicht. Durch Kopfgewächse wird das Fehlende ersetzt, Theorien anstatt
lebenskonkrete Intelligenz und Legenden anstatt Lebensberichte oder
LebensBeichte. Daher auch die Unaufmerksamkeit andern gegenüber (L: Du siehst
mich ja nicht!)
Die
Ursache dafür könnte außer in einer Charakterschwäche wohl - auch in dem
zerbrochenen Lebenslauf selbst liegen, in den Brüchen, im Übergang vom
bürgerlichen zum roten Leben, wo Weltläufigkeit nicht möglich war,
antiwilhelmeisterlich die Waisenkinder des Klassdenkampfes nicht wachsen
konnten. Und dann der Bruch durch das Exil.
Und so
geht es jetzt immer weiter mit dieser Leere, die nachklingt. Dem großen Berg
roher Sekunden Lebenszeit ausgesetzt, kein Wachstum. Dazu müßte ein zu großer
Haufen an Lebenszeit abgetragen, verarbeitet werden. Die Rahmen sind da, die
Rahmen im Rahmen im Rahmen, doch der gelebte Inhalt fehlt. Und nun auch die
möglichen Reibungsflächen hier.
WER IST
GOTT? WO IST ER NOCH ZU FINDEN? Ihr Gott, aber auch der Gott der Kirchen hat
ausgespielt, damit aber der billige Laden, bei dem sich jeder selbst bedienen
konnte. Heute ist es anstrengend einen Sinnzusammenhang zu finden.
"Er"
ist der größte Zusammenhang, ein Aufblitzen, das ist das Glück, auch heute noch
möglich; hast du nicht die Sprache, sagte T. Du kannst nie verlassen sein.
Nein, nie verlassen, sagte ich, falls ich allein bin, nur dann. Du hast Recht,
sagte er, es gibt eine gute und eine sehr, sehr böse Einsamkeit, in den
Städten, unter Menschen, mit den leblosen Dingen, wie sie, sie ich, wie du.
Alle Formen der Grammatik wiedersprechen dir, solange wir sie nicht heimführen
in jene Gegend.
Pieve
28. September. Irrenzeichnungen kamen mir heute morgen in die Hände, aus der
Waldau, aus Klosterneuburg bei Wien, wo ich mit meinen schreibenden und
malenden "Kollegen" Kontakt aufgenommen hatte. Dabei finde ich auch
Mandala-Malerein vom Schizophrenen Wölfli und eine Notiz: In der Waldau bei
Bern lebte einmal ein wahnsinniger Maler. Er gehört zur Generation meiner
Großeltern, war also gefühlvoll und naiv. Aber auch größenwahnsinnig. Sein
wichtigstes Requisit - ein Vogel. Er malte. Was er hörte, in sich war außen
Leere. Sein Vogel: Nah, gleitend, herrlich, fühlsam wie ein Mädchen, ein Ton,
der auch durch die Blume kam, stimmte, floß ein Vögeln durch alles hindurch.
Daß wir
in der Wirklichkeit mit verrücktesten Dingen, auch den unwahrscheinlichsten
rechnen müssen, kommt dem Bedürfnis nach Hoffnung sehr entgegen. Eine dieser
Verrücktheiten ist zum Beispiel die Grenze. Nein, nicht jene zwischen Leben und
Tod nur, sondern die alltägliche Grenze: Die Grenze Spaniens zu Portugal mißt
987 km, doch Portugals Grenze zu Spanien mißt 1214 km. Ähnlich ist es bei
Belgien und den Niederlande. Wie ist das möglich? Je feiner der Maßstab, umso
länger die Grenze. Endliche Grenzen können unendlich lang sein. Auch in der
Zeit. Das wissen Leute, die im Osten gelebt haben. Kurven gebrochener
Dimensionen nennt der Chaostheoretiker Mandelbrot "Fraktale".
Wenn ich
die Zeitung las, meinte ich wirklich zu träumen, und ganz gesund, erschrocken
und erfreut, daß in der Welt nun etwas geschieht, was ich selbst jahrzehntelang
erhofft hatte, eine Stunde der Wahrheit; offen, brutal, ungerecht und voller
Überraschungen.
Gisela
zeigte einen Brief von einer entfernten Verwanden aus Erfurt, diese brave
Schülerinnenschrift, die ging auf dem Blatt schwerfälllig voran in den kleinen
Garten, Gemüse, Obst, das vor Augen, das Häuschen, und dazu stand da, daß sie
jene Leute nicht verstehen könne, die so unbedacht und für immer ihr Haus,
ihren Garten vor allem verlassen. Wer erntet die Früchte, Äpfel, bitte, schön.
Hinaus ins Ungewisse.
Gisela
murrte und murmelte: diese blöde Kuh, soll sie doch in ihrem Stall bleiben.
Gisela hat eine Wut auf die Brüder und Schwestern.
ICH HABE
MICH SELBST ÜBERHOLT. Zu L. sagte ich, ich habe mich selbst überholt. Wieso,
fragt sie. Ja, jener, der sich zurückgezogen hat, der im Inkognito lebte, wird
von meinem neuen Bewußtsein, das langsam aber sicher gewachsen ist seit 89,
ausgeschaltet. Nun kommt von außen der Zeitwirbel, dem steht mein Bewußtsein
entgegen, seine Grenzen werden aber aufgelöst, und es kommt schutzlos in den
Sog, vermischt sich damit, kommt da neu und völlig verändert, gewaschen, wenn
du willst, wieder zum Vorschein. So tut es mir auch leid, nicht gleich nach
Berlin und dann nach Bukarest gefahren zu sein. Das läßt sich nicht wieder
gutmachen.
Der
Versuch, Rhythmus beim Schreiben einzusetzen, wie früher, hält nicht, was es
verspricht; jetzt, durch die Öffnung, sind wir auch näher am Boden, den wir
bisher vermissten, dieser "Wagen des Rhythmus" war nötig, weil ich
über alles hinwegflog, und wohl auch, wie Nietzsche sagte, die Gedanken, die im
Gedicht so festlich daherkommen, zu schwach sind, um zu Fuß zu gehen.
IN DER
ERINNERUNG IST DAS UNMÖGLICHE DA, VERGANGEN. Schichten: Wahre Augenblicke, wie
ein Traum , fast vergessen ein Gebäude vor mir, das "Dampfbad", davor
hohe Bäume, Bänke vom Regen ausgewaschen, die Rillen wie winzige grauschwarze
Straßen im Holz, und eine Straße mit Schanzgraben vor meinen Augen, nah, wie
ein Geruch nach nassem Holz, es hat aufgehört zu regnen, Nebelschwaden ziehn
ins Tal IM TRAUM GLAUBT JEDER, ALLES SEI WIRKLICH. Er aber sagte, es sei genau
so schwierig und sogar schmerzhaft von Köln nach Berlin zu ziehen, als von
Kronstadt nach Lüneburg, und sprach die ganze Nacht, anstatt zu träumen, vom
Exil. Als es aufgeschrieben war, schämte er sich sehr, es zum Besten zu geben die
Bilder überlagern sich wie Wolken, kennen keinen festen Ort WENN ICH: WIR SAGE,
meine ich die Sprache, die sich fortbewegt ALLES EIN MÄRCHEN, wir sind lange
versteckte Kinder, keiner gibt es zu, hart ein Mann, der alles vergessen will
FOLIO, RÜCKSEITE. Nachdem alle Schrecken vergangen waren, begannen wir nicht zu
leben. Zu langsam, wie sich herausstellte. Nicht einmal die kürzesten
Ereignisse konnten in all ihren Zusammenhängen und nur unter Strafe fest
gehalten werden; es fiel aber niemandem ein. Niemandem Die Träume scheuchen
nachts wieder auf. Und ich hör sie fast höhnisch lachen jetzt, spät und
nachher; damals, als der Schrecken nicht vergehen wollte, fühlte ich mich als
ein verdämmerndes Geräusch irgendwo im Kopf, der nie kühl war die Männer im
weißen körpernahen heißen Nebel glänzende schweißnasse Haut, kein Wort, nur
"türkisches Bad" fällt ein, denn als die Bilder in unseren Köpfen
waren, hatten wir die Worte verloren Immer wieder kehren sie an jene Orte
zurück, wo wir noch am Fluß oder an den alten Brücken wartend liegen, bis der
Tod die Träume endlich vertreibt, die Orte sind ja längst tot, und warten nicht
mehr. Bei meinem Begräbnis war ich nicht dabei, ich durfte die Grenze nicht
überschreiten. Er, in fremder Erde, ausgewandert, also in Deutschland, unter
einem Holzmal, aber siebenbürgische Eiche, ohne Kreuz, eine Art Menihr. Die
Farben der Freunde waren zu grau. Musik, selbst aus fernen Ländern, gab es
nicht. Diese Welt zu ändern, gaben wir darum nicht auf, es blieb uns nichts
anders übrig, denn sie, nicht wahr, verändert uns nur, wenn der Druck fehlt,
und wir es tun, ohne es zu wissen; wie ihr. Aus den Zellen blickten wir zu
keinem Horizont. In den Ebenen längst herabgebrannte Feuerstellen, die
Schlachten erinnert. Ach! ein Teil von ihr sind wir dennoch geblieben. Wir
verabschieden uns, Erde. Ich sehe die andern Steine nahe am Bad, jenseits des
Parks, an der Bahnhofsstraße, die Körper unter der Erde, ohne Kreuz, Steine
gefallener Rotarmisten, ihre Sterne, die längst untergegangen sind auf den geraden
Reihen des Grabmals in fremder Erde. Die im Gefühl so unterschiedlichen Toten
über den Wolken unterhalten sich noch heute über den Unsinn und die Entfernung
vom Heimweh in uns Aber, aber, was wartet denn da, was so versäumt wurde?
Manchmal einsilbig Dialekt und der Kopf meines Großvaters mit großer Glatze,
ein redender Mund, darüber die grauen Augen, die mich beim Schweigen dann
forschend ansehn und erwartungsvoll, fast neugierig, obwohl sie lange tot sind,
sagen sie. Wir saßen gefangen in der Nähe, in den Häusern, die noch fest
schienen und schützten, so glaubten wir es ihnen, bis die Sprache durch die
Mauern drang, und sie langsam entfernte, als wären sie nie gewesen Wir können
dich noch nicht beschreiben, Zerstörung. Unsere Köpfe waren einmal voller Unruhe,
jetzt hat sie die Uhr, ihr Räderwerk. Zeit, einen, diesen Augenblick lang,
steh, um zu lachen über die Winzigkeit eurer Erlebnisse.
Zu einem
Standardwerk über die Deportation der Siebenbürger Sachsen 1945
Auch
meine Erinnerungszeit reicht in jene Ereignisse vom Januar 1945 hinein, viele
der Rumäniendeutschen, die heute die Sechzig überschritten haben, sind davon
geprägt. Doch reichen persönliche Erinnerungen aus, sich ein Bild jener Zeit zu
machen? Jeder weiß, das sie nicht ausreichen, und doch fällen die meisten ihre
Urteile aufgrund ihrer persönlichen Erinnerungen! Sie sind freilich für jeden
lebensprägend. Ich gehe auf dieses Dilemma ein, weil es auch das Dilemma des
dreibändigen Werkes über die Deportation ist, das Oral History anwendet.
Auch ich
erinnere noch genau jenen "Schwarzen Sonntag", den 13. Januar 45 in
meiner Vaterstadt Schäßburg, die Tage davor und die Tage danach, den Mundfunk,
die Anekdoten, sogar Witze, die Tragödien und die Angst jener Wochen, die
abenteuerlichen Verstecke, etwa ein Fuchsbau, in dem sich ausgerechnet mein
Naturkundelehrer versteckte, an zwei Verwandte, ein Ehepaar, das sich einmauern
ließ, und denen täglich das Essen durch ein winziges Loch in ihr Verlies
hineingeschoben wurde, wie bei tibetanischen Mönchen; an einen Freund meiner
Eltern, der Leonhardt hieß, sich als Leon Hardt bei der Polizei meldete, wurde
prompt freigelassen, ein anderer, der - schon einwaggoniert - als
"unabkömmlich" freikam, aber den Rucksack vergessen hatte, nochmals
zurücklief, vom russischen Bewacher zurückgehalten wurde, mitfahren mußte, und
im Donetzbecken den Tod fand. An einen Onkel von mir, der säumig beim
Rucksackpacken war, und von seiner Frau angetrieben wurde, "mach schnell,
sonst kist tea noch ze spet" (sonst kommst du noch zu spät!)
An
solchen Details und Ereignissen, so unbedeutend sie zu sein scheinen, kann viel
abgelesen werden. Etwa die Obrigkeitshörigkeit und der blinde Gehorsam bei
vielen Rumäniendeutschen, die auch in solchen Momenten funktionierten, wie sie
im Krieg und im KZ bei Wachmannschaften funktioniert hatten, und die vielen
"Freiwilligen" (ca. 65 000) taten genau zu jener Zeit (Januar 45) in
den Lagern - auch in Auschwitz - "Dienst" , als in Rumänien die
"Aushebungen" in vollem Gange waren! Und ganz andere Deportationen
gab es noch vor wenigen Monaten, Transporte aus Siebenbürgen nach Auschwitz,
zusammen mit Ungarn etwa 400000 Menschen, von denen viele vergast wurden.
Wenige hatten sich vor der Freiwilligkeit "gedrückt", und einige, wie
Dr. Capesius und Drk Klein aus Kronstadt begegneten ihren Bekannten bei der
Selektion auf der Rampe. Und wenige drückten sich nun auch vor der eigenen
Deportation, um diesen furchtbaren Geschichtsmühlen und Todesmaschinen zu
entgehen, wurden aber in beiden Fällen von der Mehrheit als
"Drückeberger" eingestuft, und waren fast schon
"Volksverräter", wenn sie es taten! Mein Vater gehörte Gottseidank zu
diesen Ausnahmen, nahm die Hilfsbereitschaft eines befreundeten rumänischen
Arztes in Anspruch! Und diese Hilfsbereitschaft war generell; da gingen z.B.
rumänische Offiziere Scheinehen mit Sächsinnen ein, rumänische Ärzte wiesen
Gesunde in Krankenhäuser ein, Polizisten halfen bei Verstecken usw. Umso
undankbarer ist die Legende, die sich hartnäckig bei den Sachsen hält: die
"Walachen sind an allem schuld." Und genau diese, wie viele andere
Legenden werden von diesem dreibändigen Werk über die Deportation mit genauen
dokumentarischen Daten und Nachweisen zerstört.
Jeder
könnte aus seinem eigenen Erleben etwas zum Stimmungsbild jener Tage beitragen;
Spuren jenes Schockerlebnisses sind auch ins Werk von rumäniendeutschen Autoren
eingegangen, in der biographischen Schilderung von Oskar Pastor fehlt sie
ebensowenig wie bei älteren Autoren. (Pastior kommt in einem narrativen
Interview sogar als "ganz reizender Junge" vor, er war damals 17, der
eine Bekannte erfreute, ihr ein Tannenzweiglein schenkte.)Jene Tage haben dazu
beigetragen, daß die moderne rumäniendeutsche Literatur ihr Niemandsland schon
zu Hause fand, ihre Bodenlosigkeit entdeckte, ihren Schutz ausschließlich in
der Sprache fand. In meinem Roman "Vaterlandstage und die Kunst des
Verschwindens" kommt die Deportation ebenso in Streiflichtern vor, dann in
meinen Gedichten und Tagebüchern. Und bei einem Besuch im ehemaligen Lager
Buchenwald erinnerte ich mich an zwei Tote, einen SS-Onkel., der dort im April
45 beim Häftlingsaufstand erschlagen wurde, und dann an jenen Unpünklichen,
Deportierten, der von seiner Frau angetrieben wurde, - ein Opfer, der in
Frankfurt an der Oder liegt, verstorben an Entkräftung auf der Heimfahrt.
In der
Schäßburger Klosterkirche jedoch werden sie beide, der SS-Mann und der
Deportierte, ohne Unterschied auf einer Gedenktafel, die vor kurzem enthüllt
wurde, als Opfer geführt.
Das
vorliegende Werk, eine großartige Fundgrube auch für Autoren, zeigt ein
erschreckendes Museum des Bewußtsein meiner siebenbürgisch-sächsischen
Landsleute; und vielleicht ist dieses, neben der historischen Aufklärungs- und
Quellenarbeit, der eigentliche Wert dieses Gemeinschaftswerkes: die Vertiefung
dieses Aspektes einer Kollektivmeinung, der Legendenbildung, die
heraugearbeitet wird durch Befragung und Augenzeugenbericht, eingegrenzt auf
eine bestimmte Menschengruppe. Im Vorwort von Weber wird als Motivation zu
diesem Projekt auch genau von diesem Museum der Vorurteile bei den Betroffenen
gesprochen, dieses sich ins Leid und die posttraumatischen Syndrome mischt, und
jene noch verstärkt; nicht zu Unrecht wird dies Konglomerat: "subjektive
Ehrlichkeit, Unkenntnis historisch-politischer Zusammenhänge, verfestigten
Vorurteilen, existentieller Betroffenheit und Leiderfahrung ... sowohl im
Einzelfall als auch im Blick auf das Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen
als ethnische Gruppe" als Folge der Isolation in der Diktatur
zurückgeführt, wo es keine Öffentlichkeit gab, und "wo es das Thema
Deportation ... in die Sowjetunion nicht geben durfte". Ähnliches läßt
sich auch in Punkto demokratisches Bewußtsein von Menschen, die unter jenen
Bedingungen leben mußten, sagen, bei den Ostdeutschen genauso wie bei den
Tschechen, Polen oder Rumänen.
Mit
recht führt die Einleitung, die Tatsache, daß erst nach 50 Jahren dieser Schock
aufgearbeitet wird, auf die außerordentliche Sensibilität des Themas zurück, wo
Legenden Geschichte machen, jene Legende von der Verantwortlichkeit "der
Rumänen", ihres Staates für die Deportation und damit nach vielen
Jahrhunderten der Siedlung auf diesem Boden als Heimat die totale
Infragestellung der ethnischen Existenz im eigenen zu Hause unter der Ägide
dieses Staates. Eine Infragestellung, die somit auf einer Fiktion beruhte.
Weiter muß das Schweigegebot über die Tatsache der Deportation in der Diktatur
angeführt werden, die das Trauma noch verschärfte. Und drittens die sensibelste
und am stärksten verdrängte Tatsache: daß nämlich die Deportationen
"keineswegs isolierte Aktionen historischer Willkür waren. Die Deportation
Rumäniendeutscher in die Sowjetunion ist historisch im Kontext des
Angriffskrieges des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion sowie im
Zusammenhang mit der z.T. nicht unerheblichen Faschisierung der deutschen
Minderheiten in Ost- und Südosteuropa zu betrachten." Und mit der
Tatsache, daß die wehrpflichtigen Männer zur Zeit der Deportation in der SS und
der Wehrmacht gegen "die Russen" kämpften oder als Wachmannschaften
in den KZ eingesetzt wurden (allein in Auschwitz 300! Und der
Auschwitzapotheker war ein Siebenbürger Sachse!) - im Gegensatz zu den Rumänen,
die ja nach dem Frontwechsel nun Alliierte der Sowjets waren, mußten die
Rumäniendeutschen zu den Feinden der Sowetjs gezählt werden! Daß der rumänische
Staat also auch die im Lande lebenden Rumäniendeutschen durch seinen
Frontwechsel schützte, keine Erschießungen, Plünderungen, Vergewaltigungen etc.
stattfinden durften, es sogar Exekutionen gegen jene Soldaten gab, die bei
Übergriffen ertappt wurden, wird von dieser kollektiven Meinung verschwiegen,
die gar nicht daran denkt, solche Erwägungen zuzulassen! Daß also objektiv
genau das Gegenteil von dem wahr ist, was viele Rumäniendeutsche glaubten und
glauben. Das vorliegende Werk wurde aus diesem Grunde, und weil so viele lieben
Legenden auf dem Spiel standen, von der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen
abgelehnt, und auch bei Versammlungen boykottiert.
Es wurde
in keiner Weise entsprechend gewürdigt und aufgenommen, wie es dies verdient
hätte. Noch in einem kürzlich erschienen Aufsatz über die Deportation wird
dieses Standardwerk nur am Rande erwähnt, gar behauptet, es verwende keine
sowjetischen Quellen zur Deportationsgeschichte, was unwahr ist, und habe
deshalb "keine Klärung" darüber erbringen können, wer eigentlich für
die Deportation - nicht nur aus Rumänien , sondern aus ganz Südosteuropa -
verantwortlich ist. Der Autor Günter Klein weist darauf hin, daß einige wieder
Zweifel streuen möchten, weil die Dokumente des rumänischen Ministerrats
zurückgehalten werden. Ob da dann nicht doch die Deutschen, anstatt der
Rumänen, als "Sündenböcke" deportiert worden waren, bleibe für viele,
die gerne an die rumänische Schuld glauben wollen, offen?! Der Aufsatz weist
aber dann klipp und klar, ebenfalls anhand der Dokumente nach, daß "die
Deportation von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa ... ein vom NKVD minutiös
geplantes Unternehmen" war! Und daß auch in Rumänien, die Sowjets
"von Anfang an auf ... Personen deutscher Nationalität" bestanden. Es
ging um die Aufbauarbeit der von Deutschen in Rußland und in der Ukraine,
angerichteten Schäden, Deutsche hatten dort furchtbar gehaust , gewütet,
gemordet, es ging um die zerstörten Städte und Dörfer, die sie hinterließen und
die verbrannte Erde. Doch - wie ich einmal von Alfred Margul Sperber hörte, der
in engem Kontakt mit der russischen Stadtkommandantur in Bukarest stand - ging
es auch um die Sorge der Sowjets, daß die Armee möglicherweise deutsche
Partisanen zu befürchten hätte. Die Sorge war unbegründet, deutsche Partisanen
hat es nie gegeben.
Leider
hat auch die deutsche Presse dieses Opus kaum gewürdigt; und die FAZ hat sogar
ein negatives Bild gezeichnet, ausgehend von der Behauptung, das Buch gehe
ausschließlich auf die Deportation der Siebenbürger Sachsen ein, was nicht
stimmt; das Buch stellt dieses Geschehen in einen breiten Rahmen, denn
"die Deportation von Rumäniendeutschen bildet nur einen kleinen Ausschnitt
gewaltiger Deportationsströme." Und das II. Kapitel des ersten Bandes
behandelt auf über 40 Seiten "Andere Deportationen in westlicher und
östlicher Richtung".
Die
Konzentration dann auf ein überschaubares Feld, eine Ethnie, die Siebenbürger
Sachsen, hat seine großen Vorteile, die sich auch bei der Anwendung der
wissenschaftlichen Methodologie auf das sehr umfangreiche Material offenbart.
Ein Werk, das vom Erlebnishintergrund und dem konkreten Erleben von betroffenen
Personen aus allen Ethnien der Deportierten in Ost- und Südosteuropa
ausgegangen wäre, hätte den Stoff weder zusammentragen, noch bewältigen können,
es hätte alle arbeitsmäßigen und finanziellen Grenzen und jede
Forschungskapazität gesprengt.
Der
erste Band, der das historische Geschehen behandelt, die historisch-politische
und administrative Genese, diese anhand von Quellenstudium analysiert,
widerlegt so allerlei Märchen auf dieser seriösen Grundlage, etwa die falschen
Darstellungen des Publizisten Hans Hartl. Hartl ist der wichtigste Exponent
eines weitverbreiteten rechtsextremen Denkens bei den Sachsen. Wobei wieder
eine Analyse der ethnischen Gruppe und ihrer Faschisierung in den 40 Jahren zur
Beschreibung gehört, die mit Ursache für den Deportationsbefehl der Sowjets im
Namen der alliiertem Kontrollkommission war. Wobei wichtig ist, daß die
Proteste der Alliierten und der rumänischen Regierung und die gesamte
Entwicklung im Lande im ersten Band ausführlich besprochen und dokumentiert
werden; die Proteste der rumänischen Regierung auf den Deportationsbefehl wurde
freilich von den Rumäniendeutschen nie zur Kenntnis genommen. Und Weber et.al.
zitieren haßerfüllte Invektiven verschiedener Bücher und Monographien, etwa
diese: "In Abwesenheit des größten Teils wehrfähiger Männer wurde die Lösung
des deutschen Minderheitenproblems vorbereitet und dabei nach typisch
rumänischer Wesensart verfahren.
Die
Besprechung des statistischen und demographischen Materials im ersten Band ist
genau und detailliert. Ebenso detailliert ist die Beschreibung und
Rekonstruktion des Deportationsgeschehens und der Rückkehr, sowie die
Rückführungsbemühungen der Kirche. Für das Deportationsgeschehen und das
Lagerleben dienen Oral History- Quellen, viele Tagebücher, Briefe, Berichte,
narrative Interviews, Gedichte und Bilder, die minutiös ausgewertet werden. Man
erhält dabei den Eindruck, daß es im Vergleich zur Hölle der deutschen KZs hier
relativ zivil und human zugegangen sein muß.
Es zeigt
sich, daß Oral History-Quellen der eigentliche Schwerpunkt dieses Werkes sind;
durch Authentizität und ein radikales Entgegenstellen des wirklich Erlebten
gegen einen "hochselektiven Zugriff" auf die Vergangenheit entsteht
ein ganz konkreter Stil, der in der Lage ist, die Ereignisse zu erfassen und
auch zu verallgemeinern; und man wird an Walter Benjamins Forderung erinnert,
daß Geschichte nicht aus der Sicht der Mächtigen , sondern der Besiegten
gesehen werden muß; so werden offiziöse historische Darstellungen entlarvt oder
zumindest die offiziellen Quellen mit Dingen ergänzt, die diese nie gewußt
haben; dieses Verfahren macht den eigentlichen Wert des vorliegenden Werkes
aus.
Freilich
liegt in diesen "kommunikativen Erlebnisschilderungen" vom heutigem
Gesichtspunkt aus, - die Befragten wurden in den neunziger Jahren interviewt -
auch die Schwierigkeit, eine Differenz zwischen damals Erlebtem und heute
Erinnertem genau zu erfassen; es entsteht eine Art Brille, ein Filter, die eher
ein Bewußtsein ( von heute) spiegeln, als die damalige Wirklichkeit. Trotzdem, die
Fakten sind ja interkommunikativ und intersubjektiv verifizierbar und als
soziales Ereignis herauslesbar. "Zwischen Erleben, Text und
wissenschaftlichem Verstehen" muß, das wissen auch die Autoren,
"sorgfältig unterschieden werden". Aus diesem Nachteil aber erwächst
hier auch ein Vorteil: nicht nur die Fakten, das Erlebnis damals können
erkannt, sondern auch jenes bis heute erhaltene Bewußtseinsmuseum muß
hinzugerechnet werden, das dann ein kollektives Bild der Gruppe ergibt!
Ausgehen die Autoren vom "Text", auch in dem interessantesten, dem
zweiten Teil des ersten Bandes: "Texte als soziale Gebilde", vor
allem beim Interview. Und diese exempla können durchaus als eine
Untersuchung gewertet werden, die weit über das unmittelbare Thema ins
Beispielhafte reicht. Das alptraumhafte Geschehen wird nun genau und
detailliert mit sehr vielen Zeugen-Zitaten rekonstruiert: Zwangsrekrutierung,
Reise ins Nirgendwo, Lageralltag, Arbeit und Freizeit, Ernährung und Hunger,
Entlassung.
Im 2.
Band wird die Oral History als soziologische Analyse wiederaufgenommen:
"Deportation als biographisches Ereignis, eine biographieanalytische
Untersuchung." Vor allem anhand des narrativ-biographischen Interviews.
Was mich
am meisten anregte, ist die Analyse der Literatur, die dieses Ereignis zum
Thema hat. Die Analyse ist bedenkenswert und fulminant, doch die analysierten
Texte stehen weit unter dem Niveau dieser Analyse, können eigentlich kaum zur
Literatur gezählt werden! In Texten, die man zur rumäniendeutschen Literatur rechnen
kann, wird das Thema meist nur gestreift, so bei drei verstorbenen Autoren,
Franz Storch, Ludwig Schwarz, und Arnold Hauser, dann bei Heinrich Lauer und
Franz Heinz. Sie werden in diesem Opus aber nicht erwähnt. Und auch das Kapitel
"Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema",
ist bei der Suche nach guter Literatur auch nicht fündig geworden. Neben den
wichtigen Dokumenten und soziologisch-historischen Analysen in Band I "Die
Deportation als historisches Geschehen" und den "Quellen und
Bildern" in Band III ist sicher der zweite Band das originelle Kernstück
dieser Gemeinschaftsarbeit, die übrigens in allen drei Bänden auf
Zeugenberichte der "Erlebnisgeneration" zurückgreift.
Eine
"radikale Differenz von Text und Leben, von erzähltem Leben und gelebtem
Leben" wird betont. Der Text selbst läßt "Schlüsse auf Beschreibungen
des gelebten Lebens, nicht aber auf das gelebte Leben selbst" zu.
Eigentlich ist das für solch eine Recherche ein Widerspruch, soll nun die
Deportation selbst oder Texte und Perspektiven, Meinungen etc. über sie
analysiert werden? Können wir nie wissen, was wirklich geschehen ist? Das geht
in die Tiefe und bleibt nicht beim Problem des Augenzeugen und seiner
Glaubwürdigkeit stehen! Gleichzeitig wird auf die Oral-History-Bewegung, auf
den Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung verwiesen. Es wäre eine
extrem pessimistische Perspektive, und ließe den Schluß zu: daß Geschichte eine
schmerzliche, ja, vernichtende kollektive Halluzination ist!
In den
Interviews erscheinen zu erinnerten "Realitäten", das Filter der
Vorurteile: "daß eben die die rumänische damalige Regierung sich
entschlossen hat, also die Deutschen hinzuschicken...", heißt ist ziemlich
unisono! Oder daß die Russen Untermenschen seien, z.B. Viren eingeschleppt
haben sollen, womöglich wie die Juden selbst Viren seien. Oder fragwürdige
"Ideale", doch in dieser bedrohten Lebenswelt, wo eine Umwertung
aller Werte ins Brutale stattfindet, erscheinen nun sogar diese
"Ideale" ein Halt zu geben, Werte: wo Ehrlichkeit, Anständigkeit,
Sauberkeit, Pflichtbewußtsein, Sexmoral eng an den Nationalsozialismus gebunden
werden. Die Interviewte, die das erklärt, war "Jungmädelführerin" und
mußte "ein Beispiel" geben. Diese Perspektive, nicht die von damals,
sondern die von heute, als hätte keine Veränderung des Bewußtsein
stattgefunden, auch nach 50 Jahren nicht ! ist erschreckend! Dazu kommt noch
ein unerträglicher Standesdünkel, der noch noch älter ist.
Entlarvend
sind die Aussagen in den "literarischen" Werken, die man freilich als
solche gar nicht ernst nehmen kann. Doch bei aller Rechthaberei und
Verbohrtheit in alten, zum Teil noch Nazi-Auffassungen, bleiben Trauma und
Leid; und Sill hat recht, darauf hinzuweisen, daß diese
"weltgeschichtliche Randnotiz", die "statistische
Unerheblichkeit" angesichts dieses Mörderjahrhunderts und der Millionen
Opfer, "in schärfstem Kontrast zu jenem Leid" steht, das den
Betroffenen widerfuhr". Und man muß die Klagen gelten lassen, daß dieses
Leid deshalb nicht akzeptiert wird, weil der Einzelne mit der falschen Seite,
nämlich der Naziseite identifiziert wird! Und weil die Leidenden zum Umkreis
der Täter gehörten!
Doch wo
es um Fälschungen geht, wo heute der Dünkel und das Bewußtseinsmuseum, ohne
jedes Zulernen offenbar werden, da kennt Sill keinen Pardon und entlarvt
schonungslos dieses Museum. So den Band "Verschleppt in die Sowjetunion,
Aufzeichnungen von Hans Zikeli, Ursula Kaiser-Hochfeldt, Hans und Frieda
Juchum", 1991 im Verlag Südostdeutsches Kulturwerk erschienen. Daß der
Verlag sich eine "gezielte Irreführung des Lesers" leistet, diese
Manipulation beruht ebenfalls auf einem Versuch, unbedingt recht behalten zu
wollen. Sill entdeckt, daß es sich ( bei Zikeli etwa) gar nicht, wie angegeben,
um Tagebücher und Texte aus jener Zeit (1945-50) handelt, sondern um heutige
Rekonstruktionen. Auch B. Ohsams "Roman" "Eine Hand voll
Mahorka", der bei den Sachsen einen großen Erfolg hatte, wird zu recht
verrissen, wobei es bei Ohsam schon die Sprache an den Tag bringt, er von den
Sprachklischees verraten wird, sich zeigt, welch Geistes Kind der Autor dieses
Buches ist: "Flintenweib", "innere Sauberkeit", Pflicht
etc. bei den Sachsen, diese Floskeln kommen immer wieder vor. Schlimm ist, so
Sill, die versteckte "Haltung" bei den Figuren: wer Menschen an die
Gestapo verrät, bleibt gut, Verrat an die Kommunisten aber ist das Böseste des
Bösen! Die gutgemeinte Botschaft, daß eine unschuldige(!?) Generation zwischen
die Mühlsteine zweier Diktaturen gerät, wird konterkariert durch die Figurenkonstruktion,
die Perspektive und die "völkisch" duchtränkte Sprache, so das Fazit
Sills.
Als ein
besonderes Machwerk erweist sich "Die Mordhill"(1988!!) von Andreas
Türk, der "bloß zeigen" möchte "so war es, und so sind
wir..." Einige Zitate, etwa über den 23. August 44: "Damals wurden
wir - verkauft! Von unserem Vaterland..." Und dazu die andauernde
Wiederkehr der Floskel von der "rumänischer Skrupellosigkeit", zeigen
auch bei Türk, welch Geistes Kind er ist! Grundton: - "Wir Sachsen sind
keine Kriegsverbrecher" - Sill: "Beschämenderweise wissen wir heute
einige Namen zu nennen!"
Doch
dieses wird von Türk nicht zur Kenntnis genommen: "Ahnungslosigkeit und
"verweigerte Stellungnahme", daß die Untaten der Deutschen in der
Sowjetunion "uns kalt ließen", und: "ich spreche von den bösen
Folgen des Krieges und davon, daß es nach so einer Katastrophe wenig Sinn habe,
die Frage nach der Schuld zu verewigen - wo doch alle schuldig wurden..."
All dieses charakterisiert eine bestimmte Haltung. Sill ist entsetzt, daß sich
"in einem 1988 veröffentlichten Buch", "eine weitere Aussage von
ungeheurem Zynismus" vorfindet: "Ich erkenne nur eines ganz deutlich,
daß weder die Rumänen, noch die Juden, sondern wir Sachsen den Krieg verloren,
ehe er zu Ende ist."
Wenigstens
ein literarisches Werk von Niveau gibt es zum Thema: Rainer Biemels bei
Erscheinen weltbekanntes Buch "Mein Freund Wassja". Und zwar gelingt
dieses Buch, weil in seinem Erzählraum sowohl die Figuren, als auch der Autor
angesichts des Mordgeschehens ratlos sind, und es auch sein müssen, so bleibt
alles offen. Das hat einen reifen Stil zur Folge, und einen Roman, in dem es
dann auch so zugehen kann, wie in der Wirklichkeit, das Unvorhergesehene seine
Chance erhält, keine Ideologie, kein Vorurteil alles zudeckt! Sill: daß sich
eben "Ratlosigkeit ins Produktive wenden läßt". Während alle übrigen
Bücher nur übertünchte festgefahrene Ideologie enthalten, fast wie verdeckte
Propagandaschriften pro domo und für eine einzige Wahrheit stehen wollen:
"seht wie gut wir, wie schlecht die anderen sind!" Wir sind die
eigentlichen Opfer!
Alles in
allem sind diese drei Bände zum Thema Deportation ein wichtiges Buch, das mit
wissenschaftlichen Methoden dieses heikle Thema in den Griff bekommt, es ins
Allgemeine heben kann, ein Beitrag nicht nur für die Geschichte der
Rumäniendeutschen , sondern ein mit außerordentlich viel Material fundierter
Beitrag zur Deportaions- und Migrations-, ja, auch zur Mentalitätsgeschichte in
unserem Jahrhundert; ein Standardwerk, dem viele Leser zu wünschen ist!
Georg
Weber, Renate Weber-Schlenther, Arnim Nassehi, Oliver Sill, Georg Kneer: Die
Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. 3 Bände.
Insgesamt etwa 2184 Seiten. 170 Abbildungen. DM 198.- Böhlau Verlag Köln Weimar
Wien, 1995
DER BAUM WÜRDE SICH WUNDERN,
WÜSSTE ER, DASS WIR IHN "BAUM" NENNEN
Über Sprachskepsis, Bildverbot und
den Begriff Zeit
1 Möglicherweise griff die
Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in
seiner Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale
Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Waler Benjamin war es die schon früh
vorgenommene Dekonstruktion der "Fortschritts"-Teleologie im starren
Blick seines "Engels"; in Louis Althussers "Selbstkritik"
war es, ähnlich wie bei Walter Benjamin, der Gedanke: wie läßt sich
Selbstbewußtsein erhalten, wie die Kette der Geschichtsereignisse und des
status quo, in denen Bewußtsein gefangen ist, wie den
"Verblendungszusammenhang" zerreißen. Beim unglücklichen Philosophen
Althusser hatte die Entdeckung, daß jede Verbindung zum "Realen"
"Imagination" und vereinzelt sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr
geben kann, möglicherweise zum Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom
radikalen "Bildverbot", ja, "Illusionsverbot" aus; er
endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène in der Heilanstalt.
Die totale Entlarvung des
"Realen" ist kaum zu ertragen, muß in der Selbstzerstörung oder im
Zynismus enden. Heute ist die Lage noch extremer. Wer das Bild,- Sprach- und
Illusionsverbot radikal anwendet, verfällt, falls er nicht zu dessen
transzendenten Ursprüngen zurückfinden kann, im besten Fall der Anmaßung einer
reduktiven Logik, die den großen und undenkbaren Zusammenhang, der jeder
menschlichen Sprache unzugänglich bleiben muß, ausklammert. Oder er verfällt
jenen populären Vorurteilen, die "Realität", die alles, was so ist,
wie es ist, unbesehen akzeptieren, jenem also, was von Platon bis Kant und dem
Denken bis heute als Illusion und Irrtum galt: Dem Unmittelbaren, der
"Evidenz" der manuipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter
Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion.
Der Schein trügt, sagt schon das
Sprichwort. Dabei ist der Wider-Schein aus dem, was wir nicht denken können,
täglich im Licht, sogar im elektronischen, greifbar da: "Noch auf ihren
höchsten Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches,
empfängt sie vom Scheinlosen... Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in
dem nicht Transzendenz widerschiene." Das Zentrum des Denkens ist heute
Deutung der Poesie, ist Denken im Umkreis der Ästhetik. Der Schein trügt: Nicht
die Oberflächen kollektiver, sozialer Massenexistenz, sondern der Einzelne, das
Subjekt mit seiner Anschlußfähigkeit an jenes "Scheinlose" ist das
Zentrum der Ästhetik und der Kunst, und in vielen grundlegenden Untersuchungen
auch der Naturwissenschaft, denn auch diese muß heute erkennen, daß sie ihren
eigenen Grund nicht denken kann. Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des
Subjekts, Bilder und Begriffe verdekken ihn. Und unsere Bild-Inflation heute
ist ein neuer Sündenfall.
Schon Kafka wußte, in einer
Umkehrung des schlechten Künstlergewissens, daß sich die Realität vor der Kunst
und dem Geist zu rechtfertigen habe, und nicht diese vor ihren Oberflächen, daß
der Einzelne eine "ungeheure Welt im Kopfe " habe, daß das
"Nichts" der Literatur, ihr unmögliches Unternehmen, ein
"Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" sei.Literatur, Kunst und
Meditation stehn im Zentrum des menschlichen Abgrundes - und nicht das äußere
Bild eines "Wirklichen", gar dessen anämische Abstraktion. Erich
Rothackers "Metaphorologie", die Hans Blumenberg übernahm, und die
besagt, daß Denken ohne (inneres) Bild unmöglich sei, ist nur ein weiterer Beleg
wider die weltlose Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen Logik,
aber auch der äußeren Bildinflation. Das Umkreisen des Erlebnis- und
Erfahrungskerns der Existenz mit Metaphern, Erzählungen, innern Bildern
und Traumbildern paßt sich gerade der Sprachskepsis und dem Bildverbot an; auch
die "dritte Phase" des "professionellen Vernunftgewerbes",
nach der "naiven" und der "ratlosen" Phase - die Phase der
Pluralität und Offenheit heute, versucht so dem entlarvten ideologieverdächtigen
"Absoluten" zu entkommen, das jedoch nicht mit dem "Einen",
der "Alles" ist, und begrifflich nicht faßbar sein kann, verwechselt
werden darf, wie es etwa Eckard Nordhofen tut. (Die Aufhebung des Bildverbots,
in: "Literaturmagazin" 25, S. 61ff) In der Archetypenlehre der
Tiefenpsychologie sind die Traumbilder, Phantasiebilder, die in der Erinnerung
unmittelbaren psychischen Realitäten, Zeichen des begrifflich Unsagbaren;
ähnliches gilt für Bilder und Metaphern der Poesie. Das Gegenteil des
Abstrakten. Besonders deutlich in der Conversio und dem An-Wesen bei der
Begegnung mit großen Weisheitslehrern, die keine Schriften hinterlassen haben
wie Sokrates oder Christus. Das Angleichen an den Meister und den "innern
Meister" (omoisis to theo bei Platon), dieser Prozeß der
Individuation ist das, was MIMESIS ursprünglich bedeutet hat, Angleichung des
Ich, die Eben-Bild-Suche in einer initiatischen und schmerzhaften Metamorphose,
und nicht "Mimesis", wie sie später in einer primitiven
"Widerspiegelungstheorie" der nochmals verbildlichten
"Realität" auf den Hund kam. Am schlimmsten im Diamat und seinem
"sozialistischen Realismus", wo das Kunstwerk nicht Angleichung an
"Gott" (omoisis to theo), sondern sklavisch eine
"Spiegelung" der "objektiven Realität" sein mußte, und
schließlich die Partei bestimmte, was objektive Realität zu sein hatte! Wir
sehen also, daß nach dem Scheitern dieser Abbild- und Abgott-Ästhetik, die nur
ein Bastard des auch im Okzident vorherrschenden Realitätsglaubens und vulgären
Materialismus (hier des Geld-Scheins) ist, das alte "Bildverbot" der
Bibel gegenüber dem Realitätsgötzen wieder zeit-gemäß wird. Und was dahinter
liegt, taucht heute wie eine Wiederkehr des Verdrängten in der neueren Deutung
der Kategorie des Erhabenen als paradoxe Struktur eines
Nicht-Darstellbaren auf. War diese früher Ästhetik des Prunks von Herrschaft,
wird heute mehr der Aspekt von Schrecken, Schauer, Grausen betont, das
Unheimliche, wenn das Gewohnte, wenn Verstand und Logik nicht mehr greifen,
erschüttert werden. Dabei geht es um einen Augenblick des Schreckens, ein
"Now", wie Lyotard es auf Zeitbegriffe des chokartig und ekstatisch
auftauchenden "Nichts" der hebräischen Kabbala zurückgreifend,
genannt hat. Herrschende Raum-Zeit aber ist Projektion einer Angst, Angst vor
dem Unbekannten. Nach Freud eine Verschiebung des Unheimlichen und Namenlosen
zwischen den Sekunden: der Anwesenheit und Abwesenheit der Augenblicke ins
Bild. Dazwischen aber der Chock des Nichts. In der nächsten Sekunde ist nämlich
noch niemand gewesen, und es könnte jeden Augenblick etwas Überraschendes und
Furchtbares geschehen: "... Now... eher das, was das Bewußtsein außer
Fassung bringt ... was ihm nicht zu denken gelingt, und was es vergißt, um sich
selbst zu konstituieren." "Ästhetik des Schreckens" und der Öffnung.
Peter Weiss freilich oder auch Thomas Pynchon liegen mir bei diesem Grenzgang
näher.
Die hebräische Bibel verlangt, den
Schrecken der in diesen Zwischenräumen auftauchenden numinosen Epiphanien
auszuhalten, dies hieß, dem Bildverbot zu gehorchen, der Entlastung durchs Goldene
Kalb nicht zu folgen, jede Zeit- und Bild-Konstruktion zugunsten des
Un-Heimlichen, nach Freud des ursprünglich Heimischen, des zeit- und todlosen
Paradieses aufzugeben.
2 Das alte Bildverbot hing ja mit
dem Essen vom Baum der Erkenntnis, dem Exodus, der Strafe des Todes und der
Zeitangst zusammen; Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch
Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit
"nützen möchte" und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die
Betroffenen krank macht. Als könnte nun mit dieser neueren Selbstanalyse, die
eng auch mit den durch Foto und Film und elektronische Haustiere neugewonnenen
Seh-Erkenntnissen zusammenhängt, "der Tod, der Sünde Sold", die alte
Erbsünde als Illusion entlarvt werden. Denn es ist eine Illusion, die eng mit
dem Körper-, Bilder- und Sprach-Glauben, also der Halluzination "sichtbare
Wirklichkeit" zusammenhängt, zusammenhängt vor allem mit unserem
überholten Konzept "linearer Zeit", das sich in der neueren Physik
als Fiktion erweist. Dieses neue Erlebnis trat vor allem in der
sichselbstaufhebenden SCHRIFT und dem Verschwinden von Raum und Zeit im BILD
seit dem Impressionismus zutage.
Es war wieder ein langer Umweg
dahin nötig: Die alte "Gesinnungsästhetik", gar Kunst als
oberflächlicher sozialer Widerstand und als Weltveränderungskonzept (einer
Illusions-Realität) sind ad absurdum geführt worden; Kunst steht in dieser
Späte und nach einem Ende heute allmählich (viel zu langsam reift dieses
Bewußtsein!) wieder mitten in jenem Gang zum Grund. Die alte Theodizeefrage,
wie in einer Welt voller Übel Kunst (wie früher Gott) noch zu rechtfertigen
sei, ließe sich nun so beantworten: daß sie gerade durch die historischen Übel
und Verbrechen dieses Jahrhunderts wieder und radikal an diese Grenze geführt
worden ist, doch sie, die Vermittlerin zu einer grenzüberschreitenden U-Topie,
muß sich selbst überschreiten, um weiterbestehen zu können! Brechts Gespräch
über Bäume wurde schon durch Celans Parodie widerlegt, dieses neue Bewußtsein
(das eigentlich mit der Moderne begann) verschärft ausgesprochen: "Was
sind das für Zeiten,/wo ein Gespräch/ beinahe ein Verbrechen ist,/ weil es
soviel Gesagtes/ mit einschließt." (Ein Blatt, baumlos, für Bertolt
Brecht.)
3 Wenn wir an die Ursprünge des
alten Bildverbotes zurückgehen, stellt sich freilich die Frage nach jenem
unbekannten und unbeschreiblichen Wesen jenseits der Sprache, das unheimlich
ist, im Schrecken erscheint, uns sprachlos macht. Ist das Tabu des Bildverbotes
"Gott", das hier Fehlende? Ist "Gott" der Tod? Abwesenheit
der sinnlichen Welt als Anwesenheit ihrer Tiefenstruktur, Anwesenheit unseres
"Angeschlossenseins" an den undenkbaren größten Zusammenhang, Er
dafür eine Chiffre? Hier stoßen wir auf den schwierigen Un-Begriff des Nichts.
Das Nichts ist im Hebräischen identisch mit Gott. Ayin heißt Nichts. Es
ist zugleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von (inneres) Auge.
Jenes "Gott" genannte Eine, das immer und zugleich nie da ist, da es
"Alles" ist - wirkt als treibende Absenz in allem, was existiert.
Dieses "Nichts" ist als Entwicklungsspender in allem enthalten, im
Menschen unbewußt als grenzüberschreitende Erwartung, Hohlform unverzichtbarer
Hoffnung. Nach George Steiner bekommen wir jetzt die Rechnung dafür
präsentiert, daß unsere Zivilisation, "darstellerisch orientiert",
sich nur durch die Verletzung des Bildverbots entwickeln konnte, also durch den
"Tod Gottes", daß sie dafür "Gott und die Welt im Wort
`nachgebildet` hat," was letztlich eine Art Welt gewordene Illusion war.
Diese Rückkehr zur Einsicht in die "metamorphische Bedeutung, die
Willkürlichkeit von Bedeutung" und dann: "die fossilgewordene
Autorität des logos", ist ein tödliches Vergessen, von dem
auch die Autoren geschlagen sind: "Zeichen transportieren keine
Gegenwärtigkeit", sie sind Illusion und Todesaufschub, Mallarmés
Absence (das Wort "Rose" als Absenz der wirklichen Rose), die
Schreibenden zum Schicksal wird. Dabei sei es nur eine traurige Imitation des
andern großen Nichts ( das Wort "Gott" als seine Abwesenheit), auch
die Zitate von Zwischenräumen, Rissen, Zeitspalten usw. sind Spiele mit dieser
Absence; bei Mallarmé "les blancs" als Abgründe im Typoskript
zwischen den Sätzen und Wörtern...
Das absolut Bildlose, Innere , die
reine Absenz aber ist etwas existentiell sehr Ernstes und Lebenswichtiges, das
nicht nur die Kunst angeht, es ist "der Abgrund, der in den Lücken des
Seienden" sichtbar wird..."Kein Ding und Wesen kann sich verwandeln,
das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker
eben Nichts nennt, berührt hat", heißt es bei Gershom Scholem . Das alte
Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unvorstellbaren, Unfaßbaren,
das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen
können, durchbricht, verbietet, ließe sich heute so ausdrücken: Worte und
Bilder dienen zur Beruhigung, zur Illusionsherstellung , ohne die wir so nicht
leben könnten, wie wir leben; und das, was wir mit Worten und Bildern
verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des
Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese die Erde
vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dieses Unheimliche ist im
Christentum das totaliter aliter, das Ganz Andere genannt worden.
Wobei weiter zu bedenken ist, daß die vorstellbare Grenze, die uns davon
trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres
gegenwärtigen (uns schützenden) BILDES von ihr, das - weiter in diesem
Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie uns
schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne, - ja
eine An-Maßung ist.
Interessant auch der Zusammenhang
dieses "Ganz Andern" mit der "Alterität" der Negativen
Theologie. Adorno, nun mit seiner "negativen Dialektik", eine Art
Übervater der Postmoderne, verweist auf die in der Negation wieder erreichten
theologischen Wurzeln. Kierkegaards Angriff auf das Ästhetische und Ethische,
die ohne das Heilige als Sündenfall des Begriffs, der Emotion, der Tat
und der Ideologien erscheinen, ist nicht weit davon entfernt. Adorno geht von
ihm aus. Und Robert Notziks Deutung des Holocausts als antimessianischen
Zeitbruch und Einzigartigkeit der abendländischen Unheilsgeschichte ist
ebenfalls damit verbunden.
Grund dieser Unheilsgeschichte ist
die Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren, die Abtrennung vom
Unsagbaren; so erscheint etwa das banausenhafte Kunstverständnis des Kitschs
und "Volksgeschmacks" der Diktaturen rot und braun, in der "Expressonismusdebatte"
oder in dem Konzept "dekadente" und "entartete Kunst" als
Symptom des Realitätswahns; die Patentlösung war auch in diesem Bereich
Vernichtung des Abweichenden, "Fremden" der für Diktaturen
gefährlichen "Alterität" in der Kunst, im Geist.
In der Frühphase der roten
Revolution dagegen blühte gerade die Avantgarde, die Darstellung des
"Neuen", die Zerstörung der bisherigen falschen Realität und ihrer
Unterdrückungsmechanismen. Ähnlich der Versuch im frühen Christentum, das totaliter
aliter Gottes in der Ikonenkunst darzustellen, wo die normalen Licht- und
Perspektiveverhältnisse, das gewohnte Seherlebnis aufgehoben wurden. Als die
Fetische und Götzen dann katholisch wucherten, gab es in Florenz Savonarola und
im Norden den protestantischen Bildersturm.
Das alte Hebräische, die
Schöpfungssprache der Bibel, umging die direkte Benennung oder Darstellung des totaliter
aliter, des Heiligen (qadosch), auf geniale Weise: geschrieben werden darf
nur der Körper, das natürliche Gesetz: die Konsonanten; ihre unendliche
Verbindungsmöglichkeit dagegen, in uns anwesend als "Blitz" der
Assoziation, der erst den Sinn des Wortes herstellen kann: sind die nicht zu
schreibenden, nur hinzuzudenkenden Vokale, dazu-"gedacht" sind sie
die "Gnade Gottes", dessen NAMEN überhaupt nicht ausgesprochen und
gedacht oder vorgestellt werden durfte, sondern unbekannt bleiben mußte! ER
wurde daher in der jüdischen Mystik auch das Nichts genannt, weil jene
"ganz andere" Dimension nur sein kann, wenn der Mensch in seinem
Bilderwahn absent ist. Der Sinn aber jeder Versenkung ist diese Abwesenheit,
herstellbar durch ein "Abschnüren der Sinne", Los-Lassen,
Leer-Werden.
Es gibt freilich auch
Bild-Meditationen, die der Absenz-Erzeugung in der Kunst ähneln, sie sind dem
echten Gebet nach-gebildet , denn die Vorstellung, die im Satz erzeugt
wird, ähnelt jener, und jeder kann darin eingehn und verschwinden...
Botho Strauß behauptet, es ereigne
"sich ein überzeugender Gedanke überhaupt nur" im Heraufrufen
"seiner Bestreitbarkeit", wenn er die "Nähe eines anderen
Erkenntnismodus, in dem sich dergleichen so nicht sagen ließe",
"berührt", und er bringt dazu ein sehr einleuchtendes Gedicht von
Giorgio Caproni als Beispiel: "Rückkehr. Ich bin wieder da, /wo ich niemals
war./ Nichts ist anders als es nicht war./ Auf dem halbierten Tisch, dem
karierten/ Wachstuch das Glas,/ darin nie etwas war./ Alles ist geblieben, wie/
ich es niemals verließ." Paul Virilio schlägt vor, wir sollten uns daran
gewöhnen, auch die Negativ-Kontur, das Ausgesparte zu sehen, nicht nur den
Berg, sondern das Tal, am Rand eines Glases die Leere, bei einem Speichenrad
die leeren Zwischenräume.
Moderne Literatur ist undenkbar
ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der
Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch
glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas
WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir
"Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt
als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare
"Aura" und den "Chock", Joyce die "Epiphania";
und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold
Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des
Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das
Fehlende also erst sage aus, was ist.
Ausgerechnet der Stotterer (
der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen
Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie
ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche
Thora - oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist
unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede
andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative
Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also
Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges,
das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik
ist.
Das Bildverbot, ja, Aussageverbot
geht auf die Einsicht zurück, daß wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar
ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und
aussagen können. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus
dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir
verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen
Mutationen des kosmischen Zusammenhangs, mit dem wir und alles, was wir wissen,
denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich
benennt, teilt, verläßt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich
der Zwei über.
So beginnt auch die Bibel mit der
Zwei: Bereschith bara, Im Anfang schuf: B ist die Zwei. Doch so gesehen,
läßt sich Annäherung ans Eine, den "Sinn", und sei es in einem
einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über
unsere Intuition "angeschlossen" sind. Aber diese "Gnade
Gottes" scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form
als SINN gespeichert zu sein. Mit dem flash des immer besseren Verstehens der
Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens sind Glücksgefühle verbunden, die sich
mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose,
bruchstückhaft zusammenhanglose "Unten" aber schmerzt.
4 Neben der Kausalität existiert
also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und
Sinn, auch Synchronizität und "sinnvoller Zufall" genannt. Die alten
Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte
Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und
je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird
das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch)
unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te King nennt TAO
auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit
ausdrückt: "Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:/ Auf dem Nichts daran
beruht des Wagens Wirkung./ Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem
Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung. /Man höhlt Türen und Fenster aus an
Zimmern,/ Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung./ Darum: das Etwas
schafft Wirklichkeit,/ Das Nichts schafft Wirkung."
Der Sinn aber wird durch die Sinne
verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres,
nur das "Etwas", nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können,
die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven
Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, daß er
sich mit seinem Ich beim kreativen Prozeß nicht einmischen darf, sonst blockt
er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Ästhetik korrespondiert
damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung
der äußern Sinne, um mit dem innern Auge zu sehen, dem innern Ohr zu hören. In
dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und
damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden. Kunstgenuß oder Lyriklesen ist
nichts anderes: Alles löst sich, z.B. in Kleists Prosa und seinen Dramen, in
einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Das Bild, die Außenwelt verschwinden
bei diesem PROZESS, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen.
Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns voreilig ein BILD machen oder
ein Gleichnis und einen "kleinen", nur alltäglichen Sinn suchen. Denn
an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf
etwas anderes, noch Unbekanntes bezogen; jede Handlung hat in sich schon das
Zukünftige (oder gleichzeitig das Ganze), ließe sich nur von da aus begreifen.
Dieses aber ist fast immer die Katastrophe, ein Untergang, das Zeichen dafür
steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft ein, wiederholt das,
was tödlich in ihm steckt.
5 Das Hebräische wird von den
Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt, so wird auch
das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher "poietisch"
(alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre
Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in
jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr
aussagt, als die Erzählung, etwa die naiven Geschichten von Adam und Eva, oder
von Noah und der Sintflut oder von Kain und Abel aussagen können. Oder die so
wichtige Geschichte von Moses auf dem Sinai und dem Bildverbot. Wir tun es
lesend und wir gehn mit dieser Bibel um seit Kindertagen und wissen es nicht.
Die Katastrophe der heutigen Welt hat damit zu tun. Aber auch damit, daß Zahl
und Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise voneinander
getrennt sind. Es paßt zu den Absurditäten des Okzidents, daß er mit einem
ungeheuer wichtigen Teil seiner Kultur so umgeht, wie er mit allem, was nicht
in sein rationalistisches Konzept paßt, umgeht: verdrängend, ausklammernd,
hassend. Das Hebräische, das Jüdische und dessen gesamter Kosmos nahmen und
nehmen in diesem Haß eine Sonderstellung ein.
Die SCHRIFT, auch die heilige,
beginnt, wie wir schon sahen, mit dem Geteilten, der Zwei, mit B, dem Beth (was
auch Haus heißt): "Bereschith bara" ("Im Anfang schuf",
aber eigentlich im Kopf schuf) denn nach dem B steht "resch", resch
heißt KOPF ( die Summe seiner Buchstabenwerte ist 200: die hundertfache 2=
200); reschith aber heißt Haupt-Sache. Die 20: Kaf (zehnfache zwei) ist
die schaffende Hand. "Der Schöpfer" hat die Welt aus der schwingenden
Information der "Sprache", aus den 22 Buchstaben und Zahlen (
Sephira= Zahl, Kräfte, Sphären) mit Kopf und Hand erschaffen; Kabbala heißt
"Macht der 22" (Kaf=20, Beth= 2, La ist das Wort für Macht.) Lauter
Zweier-Folgen aus der Eins.
Die sieben Schöpfungstage hängen
ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen.
1-3 sind der sogenannte Urraum (Zimzum), der "achte Tag", jenseits
von Zeit und Geschichte, doch zugleich in ihnen verwoben: 1: Null, 2:
Lichtpunkt, 3: Grenze oder das Hinabgehen in Klang , Farbe und Form. Dieses
Hinabgehen ins Materielle steht den Modellen der heutigen Informationstheorie
sehr nah: Erst die Erscheinungsform im Kopf als Wissen des
"Lichtpunktes" der Nulldimensionalität des Reschith (allerdings immer
noch als berührbare Unendlichkeit) ermöglicht es dem Urlicht der Eins (En-Sof
im Hebräischen), hier in der menschlichen Welt überhaupt zu erscheinen. Dieser
Punkt aber braucht Laut und Klang, die Begrenzung, Umhüllung des Unmeßbaren,
Verstofflichung des Gedächtnisses, das nicht von dieser Welt ist (Wissen im
Samen, in den Genen, Chromosomen, dem Atom), mater materia; esist ja
Geist, der nicht als Geist erscheint, aber er braucht die Form, die Grenze, um
sich verkörpern zu können. BINA, die 3. Sphäre - Grenze: Hinabgehen in Klang,
Farbe, Form, die Ur- Mutter ermöglicht es.
Adam, der Mensch, hat dieses
Strömen der Ur-Information im Sündenfall unterbrochen, das Außen, den
Augenschein, die Frucht vom Ur-Baum getrennt, das Wesen von der Erscheinung,
und so kam der Tod auf die Welt, denn der abgerissene Körper stirbt ja
"tatsächlich"; Formen sterben, die Information des Samens, der sie
weiß, aber bleibt im Immateriellen erhalten! Essen vom Baun der Erkenntnis ist
Trennung der Frucht vom Baum. Essen vom Baum des Lebens ist Osmose; "Essen"
der Sinne, Aneignung der Welt heißt im Hebräischen "achol"; es
verbindet A (Aleph), die Eins, mit chol, dem Vielen, dem spezifischen
Schwingungsklang, der in jedem Ding als Eigenart vibriert. Liebe ist die
Verbindung der fünf Sinne auf höherer Ebne der Berührung. a-chol. Das
Zerreißen, Abreißen, die Spaltung aber ist die Hölle. Das Sichtbare, so vom
Einen getrennt (A von chol), ist seither einem furchtbaren Ungenügen, ist den
zerstörerischen Gewalten, die Macht über den Körper haben, wehrlos
ausgeliefert. Heute ist dies als Riß in uns und in der Welt und als Schmerz in
der sinnlosen Kontingenz zu spüren , die ja selbst nur ein Nichtwissen der
Zusammenhänge, eines Zufalls etwa, ist, dessen nihilistische Verabsolutierung
eine Täuschung und Selbsttäuschung im Spiegel des Empirischen, des
Ausgeschlossenseins von den höheren Sphären bedeutet. Im Schmerz aber zugleich
auch die Not-Wende: Denn noch nie war diese größte humane Aufgabe, den
Zusammenhang des Ganzen zum Sinn wieder herzustellen, die abgerissene
Verbindung wieder aufzunehmen, so lebensnotwendig und dringlich, und dies nicht
nur für die menschliche Welt. Jenes Falsche der Trennung, jener Makel ist nicht
nur in einem, für viele unerklärlichen Leidensdruck spürbar, sondern auch in
der Falschheit des klassischen Erkenntnisansatzes, der Trennung von
"Innen" und "Außen", die in sich selbst zusammengehören und
untrennbar in der Ebene eines höheren Komplexitätsgrades wirken, der sich in
uns als Intuition spiegelt und im Erkenntnisblitz Eins sind: letztlich hält uns
die Natur den Spiegel unserer eignen Mittel und Instrumente vor, so z.B,
formuliert in Heisenbergs "Unschärferelationen", die die Berechnung
einer zeitbedingten kognitiven Unfähigkeit sind. Erstaunlich ist, daß sich in
der Quantentheorie unser Fehlverhalten sogar durch die auf den Beobachter
bezogene Wahrscheinlichkeit und die damit verbundene "unvollständige
Kenntnis eines Systems" berechnen läßt..Daß nämlich die Unwägbarkeiten des
Subjekts sowie die Unkenntnis vom ganzen Kosmos mit in die Imponderabilien
eines Experiments als Unbekannte, um das Experiment "genau"
ausdrücken und berechnen zu können, einbezogen werden müssen . Aber diese
Falschheit und Störung des Ganzen durch unkontrollierbare Eingriffe ist für die
gesamte Natur und für die menschliche Gattung insgesamt gefährlich geworden,
sie äußert sich ökologisch, atomar und in zunehmendem Maße auch im biologischen
Informationssystem als Krebs, als Aids und als Neurose und Geisteskrankheit.
Und ist letztendlich in diesem festgefahrenen Glauben an "Objekte",
also an den SCHEIN eines Augenbildes gebunden, also im tieferen Sinn durchaus
auch an eine drastische Übertretung des BILDVERBOTES.
So wird im Hebräischen die Zahl
Sechzig ( Sechs= waw, das Und, Folge, Zeichen des Menschen, in der Zehnerreihe,
der Ebene des Handelns) wie ein Kreis geschrieben, das Zeichen Samech, heißt
Wasserschlange; es ist das teuflisch Schlüssige, die Evidenz des Kausalen und
Rationalen, seine Verführung. Der Sinai: wo der Mensch Moses die Tafeln mit den
"zehn Worten" empfing, ist Verführung und Wunder zugleich:
Wiederholung der Paradiesmetaphern. Zum Blitz auf dem Berg nämlich kommt das
höllische Tal unten: das Goldene Kalb, hebr. egel. Und egel heißt
das Runde, der geschlossene Kreis. Der Fetisch Ratio also, abgezirkeltes
Oberflächen-Bewußtsein, im Osten vormals zur Ideologie geronnen, zur
konsequenten Idiotie der Abbild-Theorie in der Ästhetik!
Die Warnung vom Sinai: "Du
sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen, gilt
auch für die menschliche Wirklichkeit. Und nun sogar total, wir leben heute in
dieser alles erfassenden Herstellung von Welt in der künstlichen Bilderwut, da
das Medium, das die Botschaft ist, diese Wirklichkeit nun nicht im
Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt,
die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle ist, sie überschwemmt die
selbstgeschaffene "Wirklichkeit" mit Bildern. Alle sind bald in der
gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und
ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden darin. Aber
- verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in
der eigenen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität?
Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu
entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Wälder,
Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! Diese aber ist
keineswegs die "ganze Welt", und wer sie allein spiegelt und von ihr
ausgeht, bleibt in ihren Irrtümern gefangen, auch wenn er behauptet, sie und
ihre Resultate zu "kritisieren". "Du sollst dir kein Bildnis
machen!" Wie wahr so spät. Dabei ist es doch auch hier nur kreative oder
eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte schon
früh den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen.
6 Das Bildverbot am Sinai ist das
"zweite Ur-Wort" , - nicht Gebot (im Hebräischen ist nur von
"zehn Worten" die Rede,) es wird in der Pfingstbegegnung mit Jahweh,
ohne Vokale geschrieben JHWH (Lichtblitz, Strahl, Lichtmetaphysik) auf dem
Sinai Moses "gegeben": "Mathan Thora" Geben, Schenken der
Thora, eine Art Strukturbild der Welt, nein, eigentlich der verborgene NAME
Gottes ist in diesem Buchstaben-Geflecht enthalten. Und dieses Geflecht ist
tatsächlich ein Wunder. Er ist die unaussprechliche Eins, der erste Buchstabe
Aleph. Aleph besteht aus zwei Jod (Zahlenwert 10) und einem Waw (Zahenwert 6),
ergibt 26. 26 aber ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH (Jod: 10; He: 5;
Waw: 6; He: 5). Die erste Hälfte (10, Potenz von 1) steht der zweiten gegenüber
(5 UND 5, denn Waw, der Haken, heißt auch UND und ist das Zeichen des
Menschen); der Mensch hat also durch seinen Fall, geteilt in Männlich und
Weiblich, Gott verstümmelt und halbiert. Frei von den zur Bildprojektion
gewordenen Entwicklungskräften der "Realität" war auf dem Sinai
wieder Erlösung möglich: Kontakt zur "Eins". Das
"Bildverbot" geht ja nicht um äußere Bildnisse nur, sondern um die
Abtrennung des Sichtbaren vom Wesen, um die inneren Formkräfte, die verstellt
werden. Die Urschrift, Information und "Ur-Wissen", Form als Kenntnis
(eines Subjekts) vom Verhalten in jedem Ding, jedem Tier oder Stern, Form, die
die Welt baut, war der Bibel nach ursprünglich mit schwarzen Feuerbuchstaben
auf weißes Feuer geschrieben ( Atomfeuer, Kern und Schalen?), innerste Formung,
die wirklich werden sollte. Zwei Eingrabungen: Herzschrift und Mündlichkeit,
sie waren aber noch nicht sinnlich wahrnehmbar, nur als Gedankenanreger da. Das
weiße Licht war der Baum des Lebens; das davon Abgespaltene, Gedeutete und
menschlich Geschriebene hieß Baum der Erkenntnis, die schwarze Schrift; Moses
gelang es in einer ersten, der wichtigeren Begegnung auf dem Sinai zum weißen
Licht, zu der verborgenen EINEN Tafel der ZEHN Ur-Worte vorzudringen. Alles,
was aufgeschrieben werden kann, auf Steintafeln, Schiefertafeln, mit Tinte auf
Papier, auch in der Genesis oder der hebräischen Thora, ist nichts als Deutung,
ja, nur halbwegs Wahrheit, gar Fälschung, im besten Fall Metapher und
Gleichnis; der Rest aber ist Schweigen. Im kleinen Blitz der Intuition und
Ekstase nichts als ein Schimmer. Aber auch dieses ist höchst aktuell. Nicht
einmal die so einfachen mikrophysikalischen Vorgänge, die in unserem
Bildverständnis mal als "Teilchen" , mal als "Welle" etwa
"eingedeutscht" "zur Sprache kommen", lassen sich
einfangen, sie sind wie Träume, die am Morgen aus dem Wachzustand verschwinden;
als wären sie noch unberührt von der Erbsünde des vom Einen abgetrennten
Augenscheins (ein vor Gott sich Verstecken! "Adam, wo bist du?"), dem
sogar die Buchstaben der Genesis ausgesetzt waren, wie die Kabbala meint. Ihr
grobmaterieller Charakter sei eine Folge des Sündenfalls. Ebenso wie Adams
Lichtgestalt eine materielle Haut bekam und die Erde nicht mehr durchsichtig
war wie vor dem Fall. Der Himmel war dichtgemacht, das heißt abgetrennt von der
Erde. So wie das Chaos der Augenblicke Jetzt sei auch die Buchstabenkombination
der niedergeschriebenen Genesis noch verkehrt, erst beim Ende der Welt werde
sie lesbar sein. Ein Spiegel von Adams Fall in die dichtgemachte Götzen-
"Wirklichkeit", so erscheint zwangsläufig alles gespalten und
vermischt in Lüge, Wahrheit, Gut, Böse, also paradox und absurd, Sprachprozeß
dessen, der ist und schon nicht mehr ist: der Mensch, der seither immer schon
Abwesende. Aber auch ein paradoxes Problemhandeln im Möglichen leuchtet auf.
Moses brachte nach der ersten
Begegnung die mündliche, nicht geschriebene, er brachte die noch immaterielle
Thora vom Sinai. Doch als er sah, was da unten das Volk tat, um das Goldene
Kalb, "egel", das Abgeschlossene, das Evidente tanzte, gab er dieses
weiße Licht der ersten Thora nicht preis. Das Eine war gegenübergestellt dem
Vielen, dem Volk, aber auch der Mannigfaltigkeit. 40 Tage war Moses in der
Wüste gewesen, das Volk wartete, er kam nicht. Aaron, von dem das Volk endlich
"ein Bild" verlangte, sichtbare Götter, nicht unsichtbare, etwas
Greifbares, um aus dem Exil und der Wüste endlich ins Gelobte Land zu kommen,
vertröstete, verzögerte "bis morgen"; doch als Moses nicht kam, da
entstand das Goldene Kalb aus Ungeduld und Unglauben; Aaron warf zwar alles
gespendete Gold (das, was den Leib der Frauen am schönsten macht, Glanz des
Außen als Opfer) ins Feuer, um zu verhindern, daß daraus ein Götze entstehe,
doch er war ohnmächtig, denn das Gold schmolz und die Form des Kalbes
("egel", das Runde) entstand ganz spontan, dieser fast
"selbstgemachte Götze" der EVIDENZ. Eine Endzeit, wo sich Entwicklung
enorm beschleunigt, war schon damals: dichtgemacht durch die Zeit, und der
Ursprung verhüllt. Ein Aggregatzustand zugleich, Limit, Grenze. Der Tanz ums
" Goldene Kalb" ist nicht etwa nur der Tanz um den
"Mammon", erst die Tiefen- und Zahlengrammatik enthüllt, was das nur
sichtbare "Kalb" wirklich IST: Festlegung nämlich im ausweglos
Geschlossenen, "Runden"; Kalb "egel" (70-3-30 hat den
gleichen Zahlenwert wie "agol", rund, 70-3-30. Eigentlich ein Akt der
Verzweiflung). Dieses BILD als Simulation, dieser nur sichtbare und fix
glänzende Ersatzgott des Eingeschlossenen, in täuschender Evidenz des
"Glanzes"; bedeutet die Gefangenschaft im ausweglos Materiellen,
Essen, Trinken, Schlafen, Beischlafen, "sich erfreuen" am Leben.
"Erfreuen"; in diesem Kontext erscheint das sonst ungebräuchliche
Wort "tsachek", 90-8-100, es bedeutet spöttisches, zynischen Lachen.
An das, was geschieht, wird gar nicht mehr geglaubt, Leben wird nur ungläubig,
zynisch angenommen, Freude, die keine Freude macht, Liebe, die keine Liebe sein
kann, weil man an sie gar nicht glaubt, an gar nichts glaubt, in nichts
Vertrauen hat, außer in die greifbare "Freiheit" und die Macht, das -
"glänzende Gold". In allem, was man tut, fehlt die Tiefe, die eigene
Begründung, der Grund, alles ist nur noch Schein, ohne dessen Wurzel, ohne den,
der "fehlt".
Im Augenblick des tiefsten Falls
kommt dann Moses mit der immateriellen Tafel, ist erschrocken, wie wenig sie
hierher in dieses Umfeld des tanzenden Volkes gehört; aus Zorn zerbricht er
sie, und aus der gesammelten EINS in der Zehn, wird wieder Materie, quälende
Un-Zahl; und es heißt, die Buchstaben seien wie himmlische Vögel in dem
Augenblick des Zerbrechens der Tafel wieder davongeflogen.
Beim zweiten Gang zum Sinai, um
auf dem "tsur" (7-6-200) dem Felsen, ebenfalls FORM, die "neuen
Tafeln" durch die STIMME zu erhalten, bestanden die Tafeln diesmal aus der
Materie von "unten", auf sie gravierte Moses die zehn neuen Ur-Worte
ein, menschengerechter, während die ersten Tafeln das Schöpfungsinstrument
waren, ein zu gefährliches Geschenk.- Diesmal erhielt Moses nicht direkt die
erste Zehn, sondern die Spaltung, wie in JHWH, in zwei Tafeln : (HWH)
5-6 (und)-5. Das, was wir lesen können, ist nicht etwa das
Zahlen-Buchstaben-Geflecht des Gottes-Namens, sondern schon ein gespaltener
Name, eine Deutung dieses Namens: JHWH (10-5-6-5), so wie zum ZWEITEN MAL die
"Zehn Worte" in 2x5 - also auf zwei Tafeln erschienen. <"Alle
Deutungen sind Fehldeutungen" (George Steiner). Und das
Indeterminationsprinzip stimmt auch da: Beobachtung ist unendlicher SPIEGEL in
einer Metamorphose der Ereignisse, sie transformiert, ja, erschafft das
Beobachtete nach der eigenen Gedankenform. Die Geburt des Schöpfers, des Autors
dieser Welt wäre so erst mit dem Tod des Lesers gleichzusetzen, Hegels
"Gott ist der Tod". So hieße auch innerhalb des Bildverbots, nach
Roland Barthes, gut schreiben erst: "das Ausdrückbare unausgedrückt zu
machen."
Moses also zerbrach die erste
Tafel, so daß die Ur-Worte nicht in der "richtigen Folge gegeben
worden" waren, denn wären sie in der richtigen, göttlichen Reihenfolge
gegeben worden, "könnte jeder, der sie liest, die Toten wiederbeleben und
Wunder verrichten". Ursprünglich waren sie aus schwarzem Feuer auf weißem
Feuer, als Urlicht "gegeben", wir aber lesen sie nun nach unserem Verstande
als äußere Bilder und Geschichten und gar Gebote, Handlungen und Anekdoten,
dabei geht es um den Bauplan, die Struktur der Welt, und um Kommentare zur
Weltformel. Wobei es auch hier, ähnlich wie bei christlicher Hermeneutik, am
bekanntesten bei Dante, um einen vierfachen Deutungs-Sinn geht: 1.Um den
buchstäblichen Sinn, 2.Den allegorischen Sinn, 3. Den tropologischen, und 4. Um
den anagogischen Sinn (sensus mysticus); wobei letzterer den Zugang als
intuitive Summe ermöglicht
Eigentlich also fällt auch der
Thora-Leser, ja, die schriftliche Thora selbst unter das zweite Gebot des
Bilder- und Sprachverbots.
7 Neben der mathematischen Formel
und der Musik ist das Gedicht eine Möglichkeit, dem Wirklichkeitswahn und
seinen Täuschungsmanövern zu entgehen. Jeder Poet ist durch seinen Einfall an
das Noch-Nicht-Gewußte, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine)
gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nähern, das wir schon hier
empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im
Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des
Zählbaren mit der Eins und dem Einen, nicht mehr getrennt und gespalten,
sondern "heimgekehrt" zum Grund der eigenen Sagbarkeit. - Wäre eine
Herausführung und Engführung durch WORTHÖFE und Sprach- BERÜHRUNG in
"Zustandsräumen" möglich? Aber Berührung wird ja erst möglich in
Zuständen zwischen Leben und Tod, in Sphären von denen wir durch den Körper
getrennt sind. Manchmal ist es ein Gespräch mit den Toten, die auf einer Ebne
mit mehr Bezügen erreicht werden können; das "Totengespräch", wie es
Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes
literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre. Es ist eine Wiederkehr
des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem
"exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz
anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das
frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte (
Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst
schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich mit
den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende
Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten
bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, daß wir uns
kein Bild von jener fremden Sphäre machen dürfen und es auch nicht können. Das
Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch
ihre sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff
dieser Zivilisation. Der skeptische Physiker Ernst Senkowski meint, daß es bei
diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden,
welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte
Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu
Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, daß es um höchst unheimlich
"realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht:
"Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als daß wir
unsere Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und
Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen
geschlagen. Muß der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN
geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei
Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen
zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am
Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum
Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher
ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin
zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen
Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.
Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische
wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das
"Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch
noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur
verstanden werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt
werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen
erkannt werden kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, daß heute einiges
bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction,
Vorweggenommene aufs Unheimliche und Paradoxeste real zu werden scheint; daß
auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei
dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse
aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich
"das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung"
(Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen
ist, Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das
Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten ,
"abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas;
erstaunlich ist auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und
sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt
wieder; oft eine Wiederkehr, die Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts
scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife
und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in
primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den
"Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.
8 Leere Ort der
"Absence", ein Vakuum kann auch so "gefüllt" werden. Das
Entscheidende aber ist, daß sich nun im Posthumen der Geschichte und der
Ideologien Neues enthüllt, überraschend hinter dem zerbrechenden falschen Bild
mehr und mehr "in der Gefahr" das einsam "Rettende" wachsen
könnte: das Negativ zur Wirklichkeit durchaus im aufbauenden, nicht nur im
zerstörerischen Sinn wie bisher in der ideologisierten Revolte. Für Thomas
Pynchon, den Joyce meiner Generation, ist es eine "höhere Sinn-Zone"
(in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981) und sie ist nur
erreichbar, wenn wir die okzidentale Ego- und Todes-Zone zum eigenen
Sprungbrett machen und so nun "hinüber" kommen, die eingebildete
Todeszone, die Krankheit dieses Ego, überwinden.
Reinald Goetz spricht in seinem
neuen dokumentarischen Monster- Roman von der "Authentizitätsfalle",
es ist die aufgebrochene Grenze zwischen Leben und Schreiben, wo die Wortwände
sowohl zum Traum als auch zur Tatsachenwelt sehr dünn werden und zu psychischen
Schäden führen können; die Gefahren einer Wiederkehr des Verdrängten sind durchaus
nicht nur sozialer, politischer und militärischer Art, sie erfassen die
Ästhetik und Kunst genauso wie die ungewohnten Grenzgänge, okkulte Hysterie,
mediumistische und andere Psychosen. Dabei scheint es so, als gäbe es diese
Gefahren gar nicht. Sie ist kaum erkennbar "im Herzen der
Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren, wo jetzt die Kluft
zwischen jener geschilderten "Ausnahme" des Todes und dem
"Leben" so groß geworden ist, die zugleich aber durch die Immaterialisierung
der Welt, das tiefe Eindringen der Geräte ins Gewebe des Kosmos auch in den
Tiefen des Unbewußten zueinander streben, wie bisher noch nie; man könnte von
einem Thanatovirus sprechen oder auch vom kollektiven Todestrieb. Doch das
Thema ist brutaler, die Veränderung des Todes ist längst geschehen; und es
gehört zu jenem Verdrängten, daß das Grauen der Geschichte, Hiroshima, der
Gulag der Holocaust etwas aufgebrochen hatten, das die bisherige Geschichte und
Gewohnheit transzendierte und andauernd transzendiert. Und nicht, daß der Fall
des ideologischen oder auch philosophischen Absoluten nun das Zufällige,
Triviale, "Einzelne, Beschränkte, Irdische" und Kleine, wie es in
einem MERKUR-Aufsatz (Anathema. Der Holocaust und das Bildverbot) kürzlich
hieß, wie es auch so bekannte Theoretiker wie Rorty oder Marquardt verkünden,
wieder Trumpf sein soll - und alles einfach so ist, wie es ist! Es geht im
Merkur-Aufsatz um Spielbergs "Schindlers Liste" und um den
gefährlichen Versuch, dem Holocaust das Unfaßbare zu nehmen, ihn zu "vermenschlichen",
ihn vergleichbar und einordenbar zu machen. Nolte läßt grüßen. Dabei geht es um
die radikalsten historischen Ereignisse, die nochmals jene auch in der
Geschichte der Wissenschaft (und Geschichte der Literatur und des Denkens seit
Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal) bekannte bildliche
und sprachliche Unfähigkeit, das was ist, darzustellen, kurz gesagt: die Sprachlosigkeit
und Unfaßbarkeit auch im historischen Raum und brutal wie bisher noch nie
in die Welt gestellt haben. "Bildverbot" ist dafür nur eine
historische Metapher, auch hier in diesem Essay. Anathema ist dabei
nicht nur das Verbot, das unfaßbare Eine, das ja in "Alles"
hineinwirkt und kein Gesicht haben kann, "Gott" in
sinnlich-stofflicher Gestalt darzustellen, wie es die byzantinische
ikonoklastische Synode vor 1200 Jahren verordnet hatte, wie es (völlig zu
Recht) der Islam und früher die Hebräer verlangt hatten, oder gar
"andere" sinnliche, also falsche Bildgötzen und Fetische einzuführen,
nein, nicht nur "Gott" oder der Holocaust als unfaßbares Ereignis,
sondern alles Existierende ohne Unterschied ist mit bisherigen Mitteln nicht
darstellbar, bis hin zum letzten Grashalm ist es nicht darstellbar, weil das
sprachgeprägte Bild und seine Logik eine Art Fiktion, Schein, Trug sind,
Begriffe möglicherweise einer bestimmten Herrschaftsform (des Äquivalentes Ware
und Geld) auf der Erde entsprechen, wie schon Adorno vermutet hat. (Absurd ist,
daß jetzt diese Lebensform als einziger Retter in der Not im
Tabula-rasa-Zustand nach 89 angesehen wird!) Dabei sind jene drei vorhin
erwähnten negativen historischen Ereignisse, für die nur noch negative
Theologie oder auch negative Poetik (wie bei Paul Celan) und das Schweigen an
der Grenze unserer Vorstellung angemessen wären, möglicherweise eine drastische
Rücknahme: Folge der mörderischen Zivilisationsmaschine, Folge einer dem Wesen
der Natur und des Menschen diametral entgegengesetzten, machtbedingten Bild-
und Sprachlogik. Sie hat sich selbst ad absurdum geführt. Ad absurdum geführt wird
freilich auf theoretischer Ebene die bildliche Anschauung und die Sprache auch
in der neuen Physik, gewohnte Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im
subatomaren Bereich auszudrücken. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer
Selbstverwandlung ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den
Abgrund fähig. Die Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben
etwa, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem
Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der
Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die, wie auch eine neue
Kunst, erst im Entstehen ist.
KANN MAN HISTORISCHE EREIGNISSE REKONSTRUIEREN?
Zu einem
Standardwerk über die Deportation der Siebenbürger Sachsen 1945
Auch
meine Erinnerungszeit reicht in jene Ereignisse vom Januar 1945 hinein, viele
der Rumäniendeutschen, die heute die Sechzig überschritten haben, sind davon
geprägt. Doch reichen persönliche Erinnerungen aus, sich ein Bild jener Zeit zu
machen? Jeder weiß, das sie nicht ausreichen, und doch fällen die meisten ihre
Urteile aufgrund ihrer persönlichen Erinnerungen! Sie sind freilich für jeden
lebensprägend. Ich gehe auf dieses Dilemma ein, weil es auch das Dilemma des dreibändigen
Werkes über die Deportation ist, das Oral History anwendet.
Auch ich
erinnere noch genau jenen "Schwarzen Sonntag", den 13. Januar 45 in
meiner Vaterstadt Schäßburg, die Tage davor und die Tage danach, den Mundfunk,
die Anekdoten, sogar Witze, die Tragödien und die Angst jener Wochen, die
abenteuerlichen Verstecke, etwa ein Fuchsbau, in dem sich ausgerechnet mein
Naturkundelehrer versteckte, an zwei Verwandte, ein Ehepaar, das sich einmauern
ließ, und denen täglich das Essen durch ein winziges Loch in ihr Verlies
hineingeschoben wurde, wie bei tibetanischen Mönchen; an einen Freund meiner
Eltern, der Leonhardt hieß, sich als Leon Hardt bei der Polizei meldete, wurde
prompt freigelassen, ein anderer, der - schon einwaggoniert - als "unabkömmlich"
freikam, aber den Rucksack vergessen hatte, nochmals zurücklief, vom russischen
Bewacher zurückgehalten wurde, mitfahren mußte, und im Donetzbecken den Tod
fand. An einen Onkel von mir, der säumig beim Rucksackpacken war, und von
seiner Frau angetrieben wurde, "mach schnell, sonst kist tea noch ze
spet" (sonst kommst du noch zu spät!)
An
solchen Details und Ereignissen, so unbedeutend sie zu sein scheinen, kann viel
abgelesen werden. Etwa die Obrigkeitshörigkeit und der blinde Gehorsam bei
vielen Rumäniendeutschen, die auch in solchen Momenten funktionierten, wie sie
im Krieg und im KZ bei Wachmannschaften funktioniert hatten, und die vielen
"Freiwilligen" (ca. 65 000) taten genau zu jener Zeit (Januar 45) in
den Lagern - auch in Auschwitz - "Dienst" , als in Rumänien die
"Aushebungen" in vollem Gange waren! Und ganz andere Deportationen
gab es noch vor wenigen Monaten, Transporte aus Siebenbürgen nach Auschwitz,
zusammen mit Ungarn etwa 400000 Menschen, von denen viele vergast wurden.
Wenige hatten sich vor der Freiwilligkeit "gedrückt", und einige, wie
Dr. Capesius und Drk Klein aus Kronstadt begegneten ihren Bekannten bei der
Selektion auf der Rampe. Und wenige drückten sich nun auch vor der eigenen
Deportation, um diesen furchtbaren Geschichtsmühlen und Todesmaschinen zu
entgehen, wurden aber in beiden Fällen von der Mehrheit als
"Drückeberger" eingestuft, und waren fast schon
"Volksverräter", wenn sie es taten! Mein Vater gehörte Gottseidank zu
diesen Ausnahmen, nahm die Hilfsbereitschaft eines befreundeten rumänischen
Arztes in Anspruch! Und diese Hilfsbereitschaft war generell; da gingen z.B.
rumänische Offiziere Scheinehen mit Sächsinnen ein, rumänische Ärzte wiesen
Gesunde in Krankenhäuser ein, Polizisten halfen bei Verstecken usw. Umso
undankbarer ist die Legende, die sich hartnäckig bei den Sachsen hält: die
"Walachen sind an allem schuld." Und genau diese, wie viele andere
Legenden werden von diesem dreibändigen Werk über die Deportation mit genauen
dokumentarischen Daten und Nachweisen zerstört.
Jeder
könnte aus seinem eigenen Erleben etwas zum Stimmungsbild jener Tage beitragen;
Spuren jenes Schockerlebnisses sind auch ins Werk von rumäniendeutschen Autoren
eingegangen, in der biographischen Schilderung von Oskar Pastor fehlt sie
ebensowenig wie bei älteren Autoren. (Pastior kommt in einem narrativen
Interview sogar als "ganz reizender Junge" vor, er war damals 17, der
eine Bekannte erfreute, ihr ein Tannenzweiglein schenkte.)Jene Tage haben dazu
beigetragen, daß die moderne rumäniendeutsche Literatur ihr Niemandsland schon
zu Hause fand, ihre Bodenlosigkeit entdeckte, ihren Schutz ausschließlich in
der Sprache fand. In meinem Roman "Vaterlandstage und die Kunst des
Verschwindens" kommt die Deportation ebenso in Streiflichtern vor, dann in
meinen Gedichten und Tagebüchern. Und bei einem Besuch im ehemaligen Lager
Buchenwald erinnerte ich mich an zwei Tote, einen SS-Onkel., der dort im April
45 beim Häftlingsaufstand erschlagen wurde, und dann an jenen Unpünklichen,
Deportierten, der von seiner Frau angetrieben wurde, - ein Opfer, der in
Frankfurt an der Oder liegt, verstorben an Entkräftung auf der Heimfahrt.
In der
Schäßburger Klosterkirche jedoch werden sie beide, der SS-Mann und der
Deportierte, ohne Unterschied auf einer Gedenktafel, die vor kurzem enthüllt
wurde, als Opfer geführt.
Das
vorliegende Werk, eine großartige Fundgrube auch für Autoren, zeigt ein
erschreckendes Museum des Bewußtsein meiner siebenbürgisch-sächsischen
Landsleute; und vielleicht ist dieses, neben der historischen Aufklärungs- und
Quellenarbeit, der eigentliche Wert dieses Gemeinschaftswerkes: die Vertiefung
dieses Aspektes einer Kollektivmeinung, der Legendenbildung, die
heraugearbeitet wird durch Befragung und Augenzeugenbericht, eingegrenzt auf
eine bestimmte Menschengruppe. Im Vorwort von Weber wird als Motivation zu
diesem Projekt auch genau von diesem Museum der Vorurteile bei den Betroffenen
gesprochen, dieses sich ins Leid und die posttraumatischen Syndrome mischt, und
jene noch verstärkt; nicht zu Unrecht wird dies Konglomerat: "subjektive
Ehrlichkeit, Unkenntnis historisch-politischer Zusammenhänge, verfestigten
Vorurteilen, existentieller Betroffenheit und Leiderfahrung ... sowohl im
Einzelfall als auch im Blick auf das Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen
als ethnische Gruppe" als Folge der Isolation in der Diktatur
zurückgeführt, wo es keine Öffentlichkeit gab, und "wo es das Thema
Deportation ... in die Sowjetunion nicht geben durfte". Ähnliches läßt
sich auch in Punkto demokratisches Bewußtsein von Menschen, die unter jenen
Bedingungen leben mußten, sagen, bei den Ostdeutschen genauso wie bei den
Tschechen, Polen oder Rumänen.
Mit
recht führt die Einleitung, die Tatsache, daß erst nach 50 Jahren dieser Schock
aufgearbeitet wird, auf die außerordentliche Sensibilität des Themas zurück, wo
Legenden Geschichte machen, jene Legende von der Verantwortlichkeit "der
Rumänen", ihres Staates für die Deportation und damit nach vielen
Jahrhunderten der Siedlung auf diesem Boden als Heimat die totale Infragestellung
der ethnischen Existenz im eigenen zu Hause unter der Ägide dieses Staates.
Eine Infragestellung, die somit auf einer Fiktion beruhte. Weiter muß das
Schweigegebot über die Tatsache der Deportation in der Diktatur angeführt
werden, die das Trauma noch verschärfte. Und drittens die sensibelste und am
stärksten verdrängte Tatsache: daß nämlich die Deportationen "keineswegs
isolierte Aktionen historischer Willkür waren. Die Deportation
Rumäniendeutscher in die Sowjetunion ist historisch im Kontext des Angriffskrieges
des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion sowie im Zusammenhang mit der z.T.
nicht unerheblichen Faschisierung der deutschen Minderheiten in Ost- und
Südosteuropa zu betrachten." Und mit der Tatsache, daß die wehrpflichtigen
Männer zur Zeit der Deportation in der SS und der Wehrmacht gegen "die
Russen" kämpften oder als Wachmannschaften in den KZ eingesetzt wurden
(allein in Auschwitz 300! Und der Auschwitzapotheker war ein Siebenbürger
Sachse!) - im Gegensatz zu den Rumänen, die ja nach dem Frontwechsel nun
Alliierte der Sowjets waren, mußten die Rumäniendeutschen zu den Feinden der
Sowetjs gezählt werden! Daß der rumänische Staat also auch die im Lande
lebenden Rumäniendeutschen durch seinen Frontwechsel schützte, keine
Erschießungen, Plünderungen, Vergewaltigungen etc. stattfinden durften, es
sogar Exekutionen gegen jene Soldaten gab, die bei Übergriffen ertappt wurden,
wird von dieser kollektiven Meinung verschwiegen, die gar nicht daran denkt,
solche Erwägungen zuzulassen! Daß also objektiv genau das Gegenteil von dem
wahr ist, was viele Rumäniendeutsche glaubten und glauben. Das vorliegende Werk
wurde aus diesem Grunde, und weil so viele lieben Legenden auf dem Spiel
standen, von der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen abgelehnt, und auch bei Versammlungen
boykottiert.
Es wurde
in keiner Weise entsprechend gewürdigt und aufgenommen, wie es dies verdient
hätte. Noch in einem kürzlich erschienen Aufsatz über die Deportation wird
dieses Standardwerk nur am Rande erwähnt, gar behauptet, es verwende keine
sowjetischen Quellen zur Deportationsgeschichte, was unwahr ist, und habe
deshalb "keine Klärung" darüber erbringen können, wer eigentlich für
die Deportation - nicht nur aus Rumänien , sondern aus ganz Südosteuropa -
verantwortlich ist. Der Autor Günter Klein weist darauf hin, daß einige wieder
Zweifel streuen möchten, weil die Dokumente des rumänischen Ministerrats
zurückgehalten werden. Ob da dann nicht doch die Deutschen, anstatt der
Rumänen, als "Sündenböcke" deportiert worden waren, bleibe für viele,
die gerne an die rumänische Schuld glauben wollen, offen?! Der Aufsatz weist
aber dann klipp und klar, ebenfalls anhand der Dokumente nach, daß "die
Deportation von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa ... ein vom NKVD minutiös
geplantes Unternehmen" war! Und daß auch in Rumänien, die Sowjets
"von Anfang an auf ... Personen deutscher Nationalität" bestanden. Es
ging um die Aufbauarbeit der von Deutschen in Rußland und in der Ukraine,
angerichteten Schäden, Deutsche hatten dort furchtbar gehaust , gewütet, gemordet,
es ging um die zerstörten Städte und Dörfer, die sie hinterließen und die
verbrannte Erde. Doch - wie ich einmal von Alfred Margul Sperber hörte, der in
engem Kontakt mit der russischen Stadtkommandantur in Bukarest stand - ging es
auch um die Sorge der Sowjets, daß die Armee möglicherweise deutsche Partisanen
zu befürchten hätte. Die Sorge war unbegründet, deutsche Partisanen hat es nie
gegeben.
Leider
hat auch die deutsche Presse dieses Opus kaum gewürdigt; und die FAZ hat sogar
ein negatives Bild gezeichnet, ausgehend von der Behauptung, das Buch gehe
ausschließlich auf die Deportation der Siebenbürger Sachsen ein, was nicht
stimmt; das Buch stellt dieses Geschehen in einen breiten Rahmen, denn
"die Deportation von Rumäniendeutschen bildet nur einen kleinen Ausschnitt
gewaltiger Deportationsströme." Und das II. Kapitel des ersten Bandes
behandelt auf über 40 Seiten "Andere Deportationen in westlicher und
östlicher Richtung".
Die
Konzentration dann auf ein überschaubares Feld, eine Ethnie, die Siebenbürger
Sachsen, hat seine großen Vorteile, die sich auch bei der Anwendung der
wissenschaftlichen Methodologie auf das sehr umfangreiche Material offenbart.
Ein Werk, das vom Erlebnishintergrund und dem konkreten Erleben von betroffenen
Personen aus allen Ethnien der Deportierten in Ost- und Südosteuropa
ausgegangen wäre, hätte den Stoff weder zusammentragen, noch bewältigen können,
es hätte alle arbeitsmäßigen und finanziellen Grenzen und jede
Forschungskapazität gesprengt.
Der
erste Band, der das historische Geschehen behandelt, die historisch-politische
und administrative Genese, diese anhand von Quellenstudium analysiert,
widerlegt so allerlei Märchen auf dieser seriösen Grundlage, etwa die falschen
Darstellungen des Publizisten Hans Hartl. Hartl ist der wichtigste Exponent
eines weitverbreiteten rechtsextremen Denkens bei den Sachsen. Wobei wieder
eine Analyse der ethnischen Gruppe und ihrer Faschisierung in den 40 Jahren zur
Beschreibung gehört, die mit Ursache für den Deportationsbefehl der Sowjets im
Namen der alliiertem Kontrollkommission war. Wobei wichtig ist, daß die
Proteste der Alliierten und der rumänischen Regierung und die gesamte
Entwicklung im Lande im ersten Band ausführlich besprochen und dokumentiert
werden; die Proteste der rumänischen Regierung auf den Deportationsbefehl wurde
freilich von den Rumäniendeutschen nie zur Kenntnis genommen. Und Weber et.al.
zitieren haßerfüllte Invektiven verschiedener Bücher und Monographien, etwa
diese: "In Abwesenheit des größten Teils wehrfähiger Männer wurde die Lösung
des deutschen Minderheitenproblems vorbereitet und dabei nach typisch
rumänischer Wesensart verfahren.
Die
Besprechung des statistischen und demographischen Materials im ersten Band ist
genau und detailliert. Ebenso detailliert ist die Beschreibung und
Rekonstruktion des Deportationsgeschehens und der Rückkehr, sowie die
Rückführungsbemühungen der Kirche. Für das Deportationsgeschehen und das
Lagerleben dienen Oral History- Quellen, viele Tagebücher, Briefe, Berichte, narrative
Interviews, Gedichte und Bilder, die minutiös ausgewertet werden. Man erhält
dabei den Eindruck, daß es im Vergleich zur Hölle der deutschen KZs hier
relativ zivil und human zugegangen sein muß.
Es zeigt
sich, daß Oral History-Quellen der eigentliche Schwerpunkt dieses Werkes sind;
durch Authentizität und ein radikales Entgegenstellen des wirklich Erlebten
gegen einen "hochselektiven Zugriff" auf die Vergangenheit entsteht
ein ganz konkreter Stil, der in der Lage ist, die Ereignisse zu erfassen und
auch zu verallgemeinern; und man wird an Walter Benjamins Forderung erinnert,
daß Geschichte nicht aus der Sicht der Mächtigen , sondern der Besiegten
gesehen werden muß; so werden offiziöse historische Darstellungen entlarvt oder
zumindest die offiziellen Quellen mit Dingen ergänzt, die diese nie gewußt
haben; dieses Verfahren macht den eigentlichen Wert des vorliegenden Werkes
aus.
Freilich
liegt in diesen "kommunikativen Erlebnisschilderungen" vom heutigem
Gesichtspunkt aus, - die Befragten wurden in den neunziger Jahren interviewt -
auch die Schwierigkeit, eine Differenz zwischen damals Erlebtem und heute
Erinnertem genau zu erfassen; es entsteht eine Art Brille, ein Filter, die eher
ein Bewußtsein ( von heute) spiegeln, als die damalige Wirklichkeit. Trotzdem,
die Fakten sind ja interkommunikativ und intersubjektiv verifizierbar und als
soziales Ereignis herauslesbar. "Zwischen Erleben, Text und
wissenschaftlichem Verstehen" muß, das wissen auch die Autoren,
"sorgfältig unterschieden werden". Aus diesem Nachteil aber erwächst
hier auch ein Vorteil: nicht nur die Fakten, das Erlebnis damals können
erkannt, sondern auch jenes bis heute erhaltene Bewußtseinsmuseum muß
hinzugerechnet werden, das dann ein kollektives Bild der Gruppe ergibt!
Ausgehen die Autoren vom "Text", auch in dem interessantesten, dem
zweiten Teil des ersten Bandes: "Texte als soziale Gebilde", vor
allem beim Interview. Und diese exempla können durchaus als eine
Untersuchung gewertet werden, die weit über das unmittelbare Thema ins Beispielhafte
reicht. Das alptraumhafte Geschehen wird nun genau und detailliert mit sehr
vielen Zeugen-Zitaten rekonstruiert: Zwangsrekrutierung, Reise ins Nirgendwo,
Lageralltag, Arbeit und Freizeit, Ernährung und Hunger, Entlassung.
Im 2.
Band wird die Oral History als soziologische Analyse wiederaufgenommen:
"Deportation als biographisches Ereignis, eine biographieanalytische
Untersuchung." Vor allem anhand des narrativ-biographischen Interviews.
Was mich
am meisten anregte, ist die Analyse der Literatur, die dieses Ereignis zum
Thema hat. Die Analyse ist bedenkenswert und fulminant, doch die analysierten
Texte stehen weit unter dem Niveau dieser Analyse, können eigentlich kaum zur
Literatur gezählt werden! In Texten, die man zur rumäniendeutschen Literatur
rechnen kann, wird das Thema meist nur gestreift, so bei drei verstorbenen
Autoren, Franz Storch, Ludwig Schwarz, und Arnold Hauser, dann bei Heinrich
Lauer und Franz Heinz. Sie werden in diesem Opus aber nicht erwähnt. Und auch
das Kapitel "Deportation als biographisches Ereignis und literarisches
Thema", ist bei der Suche nach guter Literatur auch nicht fündig geworden.
Neben den wichtigen Dokumenten und soziologisch-historischen Analysen in Band I
"Die Deportation als historisches Geschehen" und den "Quellen
und Bildern" in Band III ist sicher der zweite Band das originelle
Kernstück dieser Gemeinschaftsarbeit, die übrigens in allen drei Bänden auf
Zeugenberichte der "Erlebnisgeneration" zurückgreift.
Eine
"radikale Differenz von Text und Leben, von erzähltem Leben und gelebtem
Leben" wird betont. Der Text selbst läßt "Schlüsse auf Beschreibungen
des gelebten Lebens, nicht aber auf das gelebte Leben selbst" zu.
Eigentlich ist das für solch eine Recherche ein Widerspruch, soll nun die
Deportation selbst oder Texte und Perspektiven, Meinungen etc. über sie
analysiert werden? Können wir nie wissen, was wirklich geschehen ist? Das geht
in die Tiefe und bleibt nicht beim Problem des Augenzeugen und seiner
Glaubwürdigkeit stehen! Gleichzeitig wird auf die Oral-History-Bewegung, auf
den Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung verwiesen. Es wäre eine
extrem pessimistische Perspektive, und ließe den Schluß zu: daß Geschichte eine
schmerzliche, ja, vernichtende kollektive Halluzination ist!
In den
Interviews erscheinen zu erinnerten "Realitäten", das Filter der
Vorurteile: "daß eben die die rumänische damalige Regierung sich
entschlossen hat, also die Deutschen hinzuschicken...", heißt ist ziemlich
unisono! Oder daß die Russen Untermenschen seien, z.B. Viren eingeschleppt
haben sollen, womöglich wie die Juden selbst Viren seien. Oder fragwürdige
"Ideale", doch in dieser bedrohten Lebenswelt, wo eine Umwertung
aller Werte ins Brutale stattfindet, erscheinen nun sogar diese "Ideale"
ein Halt zu geben, Werte: wo Ehrlichkeit, Anständigkeit, Sauberkeit,
Pflichtbewußtsein, Sexmoral eng an den Nationalsozialismus gebunden werden. Die
Interviewte, die das erklärt, war "Jungmädelführerin" und mußte
"ein Beispiel" geben. Diese Perspektive, nicht die von damals,
sondern die von heute, als hätte keine Veränderung des Bewußtsein
stattgefunden, auch nach 50 Jahren nicht ! ist erschreckend! Dazu kommt noch
ein unerträglicher Standesdünkel, der noch noch älter ist.
Entlarvend
sind die Aussagen in den "literarischen" Werken, die man freilich als
solche gar nicht ernst nehmen kann. Doch bei aller Rechthaberei und
Verbohrtheit in alten, zum Teil noch Nazi-Auffassungen, bleiben Trauma und
Leid; und Sill hat recht, darauf hinzuweisen, daß diese
"weltgeschichtliche Randnotiz", die "statistische
Unerheblichkeit" angesichts dieses Mörderjahrhunderts und der Millionen
Opfer, "in schärfstem Kontrast zu jenem Leid" steht, das den
Betroffenen widerfuhr". Und man muß die Klagen gelten lassen, daß dieses
Leid deshalb nicht akzeptiert wird, weil der Einzelne mit der falschen Seite,
nämlich der Naziseite identifiziert wird! Und weil die Leidenden zum Umkreis
der Täter gehörten!
Doch wo
es um Fälschungen geht, wo heute der Dünkel und das Bewußtseinsmuseum, ohne
jedes Zulernen offenbar werden, da kennt Sill keinen Pardon und entlarvt
schonungslos dieses Museum. So den Band "Verschleppt in die Sowjetunion,
Aufzeichnungen von Hans Zikeli, Ursula Kaiser-Hochfeldt, Hans und Frieda
Juchum", 1991 im Verlag Südostdeutsches Kulturwerk erschienen. Daß der
Verlag sich eine "gezielte Irreführung des Lesers" leistet, diese
Manipulation beruht ebenfalls auf einem Versuch, unbedingt recht behalten zu
wollen. Sill entdeckt, daß es sich ( bei Zikeli etwa) gar nicht, wie angegeben,
um Tagebücher und Texte aus jener Zeit (1945-50) handelt, sondern um heutige
Rekonstruktionen. Auch B. Ohsams "Roman" "Eine Hand voll
Mahorka", der bei den Sachsen einen großen Erfolg hatte, wird zu recht
verrissen, wobei es bei Ohsam schon die Sprache an den Tag bringt, er von den
Sprachklischees verraten wird, sich zeigt, welch Geistes Kind der Autor dieses
Buches ist: "Flintenweib", "innere Sauberkeit", Pflicht
etc. bei den Sachsen, diese Floskeln kommen immer wieder vor. Schlimm ist, so
Sill, die versteckte "Haltung" bei den Figuren: wer Menschen an die
Gestapo verrät, bleibt gut, Verrat an die Kommunisten aber ist das Böseste des
Bösen! Die gutgemeinte Botschaft, daß eine unschuldige(!?) Generation zwischen
die Mühlsteine zweier Diktaturen gerät, wird konterkariert durch die
Figurenkonstruktion, die Perspektive und die "völkisch" duchtränkte
Sprache, so das Fazit Sills.
Als ein
besonderes Machwerk erweist sich "Die Mordhill"(1988!!) von Andreas
Türk, der "bloß zeigen" möchte "so war es, und so sind
wir..." Einige Zitate, etwa über den 23. August 44: "Damals wurden
wir - verkauft! Von unserem Vaterland..." Und dazu die andauernde
Wiederkehr der Floskel von der "rumänischer Skrupellosigkeit", zeigen
auch bei Türk, welch Geistes Kind er ist! Grundton: - "Wir Sachsen sind
keine Kriegsverbrecher" - Sill: "Beschämenderweise wissen wir heute
einige Namen zu nennen!"
Doch
dieses wird von Türk nicht zur Kenntnis genommen: "Ahnungslosigkeit und
"verweigerte Stellungnahme", daß die Untaten der Deutschen in der
Sowjetunion "uns kalt ließen", und: "ich spreche von den bösen
Folgen des Krieges und davon, daß es nach so einer Katastrophe wenig Sinn habe,
die Frage nach der Schuld zu verewigen - wo doch alle schuldig wurden..."
All dieses charakterisiert eine bestimmte Haltung. Sill ist entsetzt, daß sich
"in einem 1988 veröffentlichten Buch", "eine weitere Aussage von
ungeheurem Zynismus" vorfindet: "Ich erkenne nur eines ganz deutlich,
daß weder die Rumänen, noch die Juden, sondern wir Sachsen den Krieg verloren,
ehe er zu Ende ist."
Wenigstens
ein literarisches Werk von Niveau gibt es zum Thema: Rainer Biemels bei
Erscheinen weltbekanntes Buch "Mein Freund Wassja". Und zwar gelingt
dieses Buch, weil in seinem Erzählraum sowohl die Figuren, als auch der Autor
angesichts des Mordgeschehens ratlos sind, und es auch sein müssen, so bleibt
alles offen. Das hat einen reifen Stil zur Folge, und einen Roman, in dem es
dann auch so zugehen kann, wie in der Wirklichkeit, das Unvorhergesehene seine
Chance erhält, keine Ideologie, kein Vorurteil alles zudeckt! Sill: daß sich
eben "Ratlosigkeit ins Produktive wenden läßt". Während alle übrigen
Bücher nur übertünchte festgefahrene Ideologie enthalten, fast wie verdeckte
Propagandaschriften pro domo und für eine einzige Wahrheit stehen wollen: "seht
wie gut wir, wie schlecht die anderen sind!" Wir sind die eigentlichen
Opfer!
Alles in
allem sind diese drei Bände zum Thema Deportation ein wichtiges /Buch, das mit
wissenschaftlichen Methoden dieses heikle Thema in den Griff bekommt, es ins
Allgemeine heben kann, ein Beitrag nicht nur für die Geschichte der
Rumäniendeutschen , sondern ein mit außerordentlich viel Material fundierter
Beitrag zur Deportaions- und Migrations-, ja, auch zur Mentalitätsgeschichte in
unserem Jahrhundert; ein Standardwerk, dem viele Leser zu wünschen ist!
Georg
Weber, Renate Weber-Schlenther, Arnim Nassehi, Oliver Sill, Georg Kneer: Die
Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. 3 Bände.
Insgesamt etwa 2184 Seiten. 170 Abbildungen. DM 198.- Böhlau Verlag Köln Weimar
Wien, 1995
DER BAUM WÜRDE SICH WUNDERN,
WÜSSTE ER, DASS WIR IHN "BAUM" NENNEN
1 Möglicherweise griff die
Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in
seine.r Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale
Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Walter Benjamin war es die schon früh
vorgenommene Dekonstruktion. der "Fortschritts"-Teleologie im starren
Blick seines "Engels"; in Louis Althussers "Selbstkritik"
war es, ähnlich wie bei Walter Benjamin, der Gedanke: wie läßt sich
Selbstbewußtsein erhalten, wie die Kette der Geschichtsereignisse und des
status quo, in denen Bewußtsein gefangen ist, wie den "Verblendungszusammenhang"
zerreißen. Beim unglücklichen Philosophen Althusser hatte die Entdeckung, daß
jede Verbindung zum "Realen" "Imagination" und vereinzelt
sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr geben kann, möglicherweise zum
Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom radikalen "Bildverbot", ja,
"Illusionsverbot" aus; er endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène
in der Heilanstalt.
Die totale Entlarvung des
"Realen" ist kaum zu ertragen, muß in der Selbstzerstörung oder im
Zynismus enden. Heute ist die Lage noch extremer. Wer das Bild,- Sprach- und
Illusionsverbot radikal anwendet, verfällt, falls er nicht zu dessen
transzendenten Ursprüngen zurückfinden kann, im besten Fall der Anmaßung einer
reduktiven Logik, die den großen und undenkbaren Zusammenhang, der jeder
menschlichen Sprache unzugänglich bleiben muß, ausklammert. Oder er verfällt
jenen populären Vorurteilen, die "Realität", die alles, was so ist,
wie es ist, unbesehen akzeptieren, jenem also, was von Platon bis Kant und dem
Denken bis heute als Illusion und Irrtum galt: Dem Unmittelbaren, der
"Evidenz" der manuipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter
Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion.
Der Schein trügt, sagt schon das
Sprichwort. Dabei ist der Wider-Schein aus dem, was wir nicht denken können, täglich
im Licht, sogar im elektronischen, greifbar da: "Noch auf ihren höchsten
Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches, empfängt
sie vom Scheinlosen... Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht
Transzendenz widerschiene." Das Zentrum des Denkens ist heute Deutung der
Poesie, ist Denken im Umkreis der Ästhetik. Der Schein trügt: Nicht die
Oberflächen kollektiver, sozialer Massenexistenz, sondern der Einzelne, das
Subjekt mit seiner Anschlußfähigkeit an jenes "Scheinlose" ist das
Zentrum der Ästhetik und der Kunst, und in vielen grundlegenden Untersuchungen
auch der Naturwissenschaft, denn auch diese muß heute erkennen, daß sie ihren
eigenen Grund nicht denken kann. Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des
Subjekts, Bilder und Begriffe verdekken ihn. Und unsere Bild-Inflation heute
ist ein neuer Sündenfall.
Schon Kafka wußte, in einer
Umkehrung des schlechten Künstlergewissens, daß sich die Realität vor der Kunst
und dem Geist zu rechtfertigen habe, und nicht diese vor ihren Oberflächen, daß
der Einzelne eine "ungeheure Welt im Kopfe " habe, daß das
"Nichts" der Literatur, ihr unmögliches Unternehmen, ein
"Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" sei.Literatur, Kunst und
Meditation stehn im Zentrum des menschlichen Abgrundes - und nicht das äußere
Bild eines "Wirklichen", gar dessen anämische Abstraktion. Erich
Rothackers "Metaphorologie", die Hans Blumenberg übernahm, und die
besagt, daß Denken ohne (inneres) Bild unmöglich sei, ist nur ein weiterer
Beleg wider die weltlose Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen
Logik, aber auch der äußeren Bildinflation. Das Umkreisen des Erlebnis- und
Erfahrungskerns der Existenz mit Metaphern, Erzählungen, innern Bildern
und Traumbildern paßt sich gerade der Sprachskepsis und dem Bildverbot an; auch
die "dritte Phase" des "professionellen Vernunftgewerbes",
nach der "naiven" und der "ratlosen" Phase - die Phase der
Pluralität und Offenheit heute, versucht so dem entlarvten ideologieverdächtigen
"Absoluten" zu entkommen, das jedoch nicht mit dem "Einen",
der "Alles" ist, und begrifflich nicht faßbar sein kann, verwechselt
werden darf, wie es etwa Eckard Nordhofen tut. (Die Aufhebung des Bildverbots,
in: "Literaturmagazin" 25, S. 61ff) In der Archetypenlehre der
Tiefenpsychologie sind die Traumbilder, Phantasiebilder, die in der Erinnerung
unmittelbaren psychischen Realitäten, Zeichen des begrifflich Unsagbaren;
ähnliches gilt für Bilder und Metaphern der Poesie. Das Gegenteil des
Abstrakten. Besonders deutlich in der Conversio und dem An-Wesen bei der
Begegnung mit großen Weisheitslehrern, die keine Schriften hinterlassen haben
wie Sokrates oder Christus. Das Angleichen an den Meister und den "innern
Meister" (omoisis to theo bei Platon), dieser Prozeß der
Individuation ist das, was MIMESIS ursprünglich bedeutet hat, Angleichung des
Ich, die Eben-Bild-Suche in einer initiatischen und schmerzhaften Metamorphose,
und nicht "Mimesis", wie sie später in einer primitiven
"Widerspiegelungstheorie" der nochmals verbildlichten "Realität"
auf den Hund kam. Am schlimmsten im Diamat und seinem "sozialistischen
Realismus", wo das Kunstwerk nicht Angleichung an "Gott" (omoisis
to theo), sondern sklavisch eine "Spiegelung" der
"objektiven Realität" sein mußte, und schließlich die Partei
bestimmte, was objektive Realität zu sein hatte! Wir sehen also, daß nach dem
Scheitern dieser Abbild- und Abgott-Ästhetik, die nur ein Bastard des auch im
Okzident vorherrschenden Realitätsglaubens und vulgären Materialismus (hier des
Geld-Scheins) ist, das alte "Bildverbot" der Bibel gegenüber dem
Realitätsgötzen wieder zeit-gemäß wird. Und was dahinter liegt, taucht heute
wie eine Wiederkehr des Verdrängten in der neueren Deutung der Kategorie des Erhabenen
als paradoxe Struktur eines Nicht-Darstellbaren auf. War diese früher
Ästhetik des Prunks von Herrschaft, wird heute mehr der Aspekt von Schrecken,
Schauer, Grausen betont, das Unheimliche, wenn das Gewohnte, wenn Verstand und
Logik nicht mehr greifen, erschüttert werden. Dabei geht es um einen Augenblick
des Schreckens, ein "Now", wie Lyotard es auf Zeitbegriffe des
chokartig und ekstatisch auftauchenden "Nichts" der hebräischen
Kabbala zurückgreifend, genannt hat. Herrschende Raum-Zeit aber ist Projektion
einer Angst, Angst vor dem Unbekannten. Nach Freud eine Verschiebung des
Unheimlichen und Namenlosen zwischen den Sekunden: der Anwesenheit und
Abwesenheit der Augenblicke ins Bild. Dazwischen aber der Chock des Nichts. In
der nächsten Sekunde ist nämlich noch niemand gewesen, und es könnte jeden Augenblick
etwas Überraschendes und Furchtbares geschehen: "... Now... eher das, was
das Bewußtsein außer Fassung bringt ... was ihm nicht zu denken gelingt, und
was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren." "Ästhetik des
Schreckens" und der Öffnung. Peter Weiss freilich oder auch Thomas Pynchon
liegen mir bei diesem Grenzgang näher.
Die hebräische Bibel verlangt, den
Schrecken der in diesen Zwischenräumen auftauchenden numinosen Epiphanien
auszuhalten, dies hieß, dem Bildverbot zu gehorchen, der Entlastung durchs
Goldene Kalb nicht zu folgen, jede Zeit- und Bild-Konstruktion zugunsten des
Un-Heimlichen, nach Freud des ursprünglich Heimischen, des zeit- und todlosen
Paradieses aufzugeben.
2 Das alte Bildverbot hing ja mit
dem Essen vom Baum der Erkenntnis, dem Exodus, der Strafe des Todes und der
Zeitangst zusammen; Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch
Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit
"nützen möchte" und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die
Betroffenen krank macht. Als könnte nun mit dieser neueren Selbstanalyse, die
eng auch mit den durch Foto und Film und elektronische Haustiere neugewonnenen
Seh-Erkenntnissen zusammenhängt, "der Tod, der Sünde Sold", die alte
Erbsünde als Illusion entlarvt werden. Denn es ist eine Illusion, die eng mit
dem Körper-, Bilder- und Sprach-Glauben, also der Halluzination "sichtbare
Wirklichkeit" zusammenhängt, zusammenhängt vor allem mit unserem
überholten Konzept "linearer Zeit", das sich in der neueren Physik
als Fiktion erweist. Dieses neue Erlebnis trat vor allem in der
sichselbstaufhebenden SCHRIFT und dem Verschwinden von Raum und Zeit im BILD
seit dem Impressionismus zutage.
Es war wieder ein langer Umweg
dahin nötig: Die alte "Gesinnungsästhetik", gar Kunst als
oberflächlicher sozialer Widerstand und als Weltveränderungskonzept (einer
Illusions-Realität) sind ad absurdum geführt worden; Kunst steht in dieser
Späte und nach einem Ende heute allmählich (viel zu langsam reift dieses Bewußtsein!)
wieder mitten in jenem Gang zum Grund. Die alte Theodizeefrage, wie in einer
Welt voller Übel Kunst (wie früher Gott) noch zu rechtfertigen sei, ließe sich
nun so beantworten: daß sie gerade durch die historischen Übel und Verbrechen
dieses Jahrhunderts wieder und radikal an diese Grenze geführt worden ist, doch
sie, die Vermittlerin zu einer grenzüberschreitenden U-Topie, muß sich selbst
überschreiten, um weiterbestehen zu können! Brechts Gespräch über Bäume wurde
schon durch Celans Parodie widerlegt, dieses neue Bewußtsein (das eigentlich
mit der Moderne begann) verschärft ausgesprochen: "Was sind das für
Zeiten,/wo ein Gespräch/ beinahe ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/
mit einschließt." (Ein Blatt, baumlos, für Bertolt Brecht.)
3 Wenn wir an die Ursprünge des
alten Bildverbotes zurückgehen, stellt sich freilich die Frage nach jenem
unbekannten und unbeschreiblichen Wesen jenseits der Sprache, das unheimlich
ist, im Schrecken erscheint, uns sprachlos macht. Ist das Tabu des Bildverbotes
"Gott", das hier Fehlende? Ist "Gott" der Tod? Abwesenheit
der sinnlichen Welt als Anwesenheit ihrer Tiefenstruktur, Anwesenheit unseres
"Angeschlossenseins" an den undenkbaren größten Zusammenhang, Er
dafür eine Chiffre? Hier stoßen wir auf den schwierigen Un-Begriff des Nichts.
Das Nichts ist im Hebräischen identisch mit Gott. Ayin heißt Nichts. Es
ist zugleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von (inneres) Auge.
Jenes "Gott" genannte Eine, das immer und zugleich nie da ist, da es
"Alles" ist - wirkt als treibende Absenz in allem, was existiert.
Dieses "Nichts" ist als Entwicklungsspender in allem enthalten, im
Menschen unbewußt als grenzüberschreitende Erwartung, Hohlform unverzichtbarer
Hoffnung. Nach George Steiner bekommen wir jetzt die Rechnung dafür
präsentiert, daß unsere Zivilisation, "darstellerisch orientiert",
sich nur durch die Verletzung des Bildverbots entwickeln konnte, also durch den
"Tod Gottes", daß sie dafür "Gott und die Welt im Wort `nachgebildet`
hat," was letztlich eine Art Welt gewordene Illusion war. Diese Rückkehr
zur Einsicht in die "metamorphische Bedeutung, die Willkürlichkeit von
Bedeutung" und dann: "die fossilgewordene Autorität des logos",
ist ein tödliches Vergessen, von dem auch die Autoren geschlagen
sind: "Zeichen transportieren keine Gegenwärtigkeit", sie sind
Illusion und Todesaufschub, Mallarmés Absence (das Wort "Rose"
als Absenz der wirklichen Rose), die Schreibenden zum Schicksal wird. Dabei sei
es nur eine traurige Imitation des andern großen Nichts ( das Wort
"Gott" als seine Abwesenheit), auch die Zitate von Zwischenräumen,
Rissen, Zeitspalten usw. sind Spiele mit dieser Absence; bei Mallarmé "les
blancs" als Abgründe im Typoskript zwischen den Sätzen und Wörtern...
Das absolut Bildlose, Innere , die
reine Absenz aber ist etwas existentiell sehr Ernstes und Lebenswichtiges, das
nicht nur die Kunst angeht, es ist "der Abgrund, der in den Lücken des
Seienden" sichtbar wird..."Kein Ding und Wesen kann sich verwandeln,
das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker
eben Nichts nennt, berührt hat", heißt es bei Gershom Scholem . Das alte
Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unvorstellbaren, Unfaßbaren,
das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen
können, durchbricht, verbietet, ließe sich heute so ausdrücken: Worte und
Bilder dienen zur Beruhigung, zur Illusionsherstellung , ohne die wir so nicht
leben könnten, wie wir leben; und das, was wir mit Worten und Bildern
verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des
Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese die Erde
vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dieses Unheimliche ist im
Christentum das totaliter aliter, das Ganz Andere genannt worden.
Wobei weiter zu bedenken ist, daß die vorstellbare Grenze, die uns davon
trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres
gegenwärtigen (uns schützenden) BILDES von ihr, das - weiter in diesem
Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie uns
schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne, - ja
eine An-Maßung ist.
Interessant auch der Zusammenhang
dieses "Ganz Andern" mit der "Alterität" der Negativen
Theologie. Adorno, nun mit seiner "negativen Dialektik", eine Art
Übervater der Postmoderne, verweist auf die in der Negation wieder erreichten
theologischen Wurzeln. Kierkegaards Angriff auf das Ästhetische und Ethische,
die ohne das Heilige als Sündenfall des Begriffs, der Emotion, der Tat
und der Ideologien erscheinen, ist nicht weit davon entfernt. Adorno geht von
ihm aus. Und Robert Notziks Deutung des Holocausts als antimessianischen
Zeitbruch und Einzigartigkeit der abendländischen Unheilsgeschichte ist ebenfalls
damit verbunden.
Grund dieser Unheilsgeschichte ist
die Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren, die Abtrennung vom
Unsagbaren; so erscheint etwa das banausenhafte Kunstverständnis des Kitschs
und "Volksgeschmacks" der Diktaturen rot und braun, in der
"Expressonismusdebatte" oder in dem Konzept "dekadente" und
"entartete Kunst" als Symptom des Realitätswahns; die Patentlösung
war auch in diesem Bereich Vernichtung des Abweichenden, "Fremden"
der für Diktaturen gefährlichen "Alterität" in der Kunst, im Geist.
In der Frühphase der roten
Revolution dagegen blühte gerade die Avantgarde, die Darstellung des
"Neuen", die Zerstörung der bisherigen falschen Realität und ihrer
Unterdrückungsmechanismen. Ähnlich der Versuch im frühen Christentum, das totaliter
aliter Gottes in der Ikonenkunst darzustellen, wo die normalen Licht- und
Perspektiveverhältnisse, das gewohnte Seherlebnis aufgehoben wurden. Als die
Fetische und Götzen dann katholisch wucherten, gab es in Florenz Savonarola und
im Norden den protestantischen Bildersturm.
Das alte Hebräische, die
Schöpfungssprache der Bibel, umging die direkte Benennung oder Darstellung des totaliter
aliter, des Heiligen (qadosch), auf geniale Weise: geschrieben werden darf
nur der Körper, das natürliche Gesetz: die Konsonanten; ihre unendliche
Verbindungsmöglichkeit dagegen, in uns anwesend als "Blitz" der
Assoziation, der erst den Sinn des Wortes herstellen kann: sind die nicht zu
schreibenden, nur hinzuzudenkenden Vokale, dazu-"gedacht" sind sie
die "Gnade Gottes", dessen NAMEN überhaupt nicht ausgesprochen und
gedacht oder vorgestellt werden durfte, sondern unbekannt bleiben mußte! ER
wurde daher in der jüdischen Mystik auch das Nichts genannt, weil jene
"ganz andere" Dimension nur sein kann, wenn der Mensch in seinem
Bilderwahn absent ist. Der Sinn aber jeder Versenkung ist diese Abwesenheit,
herstellbar durch ein "Abschnüren der Sinne", Los-Lassen,
Leer-Werden.
Es gibt freilich auch
Bild-Meditationen, die der Absenz-Erzeugung in der Kunst ähneln, sie sind dem
echten Gebet nach-gebildet , denn die Vorstellung, die im Satz erzeugt
wird, ähnelt jener, und jeder kann darin eingehn und verschwinden...
Botho Strauß behauptet, es ereigne
"sich ein überzeugender Gedanke überhaupt nur" im Heraufrufen
"seiner Bestreitbarkeit", wenn er die "Nähe eines anderen
Erkenntnismodus, in dem sich dergleichen so nicht sagen ließe",
"berührt", und er bringt dazu ein sehr einleuchtendes Gedicht von
Giorgio Caproni als Beispiel: "Rückkehr. Ich bin wieder da, /wo ich
niemals war./ Nichts ist anders als es nicht war./ Auf dem halbierten Tisch,
dem karierten/ Wachstuch das Glas,/ darin nie etwas war./ Alles ist geblieben,
wie/ ich es niemals verließ." Paul Virilio schlägt vor, wir sollten uns
daran gewöhnen, auch die Negativ-Kontur, das Ausgesparte zu sehen, nicht nur
den Berg, sondern das Tal, am Rand eines Glases die Leere, bei einem
Speichenrad die leeren Zwischenräume.
Moderne Literatur ist undenkbar
ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der
Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch
glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas
WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir
"Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt
als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare
"Aura" und den "Chock", Joyce die "Epiphania";
und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold
Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des
Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das
Fehlende also erst sage aus, was ist.
Ausgerechnet der Stotterer (
der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen
Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie
ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche
Thora - oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist
unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede
andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative
Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also
Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges,
das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte
Wort-Semantik ist.
Das Bildverbot, ja, Aussageverbot
geht auf die Einsicht zurück, daß wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar
ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und
aussagen können. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus
dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir
verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen
Mutationen des kosmischen Zusammenhangs, mit dem wir und alles, was wir wissen,
denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich
benennt, teilt, verläßt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich
der Zwei über.
So beginnt auch die Bibel mit der
Zwei: Bereschith bara, Im Anfang schuf: B ist die Zwei. Doch so gesehen,
läßt sich Annäherung ans Eine, den "Sinn", und sei es in einem
einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über
unsere Intuition "angeschlossen" sind. Aber diese "Gnade
Gottes" scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form
als SINN gespeichert zu sein. Mit dem flash des immer besseren Verstehens der
Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens sind Glücksgefühle verbunden, die sich
mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose,
bruchstückhaft zusammenhanglose "Unten" aber schmerzt.
4 Neben der Kausalität existiert
also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und
Sinn, auch Synchronizität und "sinnvoller Zufall" genannt. Die alten
Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte
Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und
je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird
das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch)
unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te King nennt TAO
auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit
ausdrückt: "Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:/ Auf dem Nichts daran beruht
des Wagens Wirkung./ Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem Nichts
darin beruht des Gefäßes Wirkung. /Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern,/
Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung./ Darum: das Etwas schafft
Wirklichkeit,/ Das Nichts schafft Wirkung."
Der Sinn aber wird durch die Sinne
verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres,
nur das "Etwas", nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können,
die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven
Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, daß er
sich mit seinem Ich beim kreativen Prozeß nicht einmischen darf, sonst blockt
er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Ästhetik korrespondiert
damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung
der äußern Sinne, um mit dem innern Auge zu sehen, dem innern Ohr zu hören. In
dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und
damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden. Kunstgenuß oder Lyriklesen ist
nichts anderes: Alles löst sich, z.B. in Kleists Prosa und seinen Dramen, in
einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Das Bild, die Außenwelt verschwinden
bei diesem PROZESS, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen.
Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns voreilig ein BILD machen oder
ein Gleichnis und einen "kleinen", nur alltäglichen Sinn suchen. Denn
an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf
etwas anderes, noch Unbekanntes bezogen; jede Handlung hat in sich schon das
Zukünftige (oder gleichzeitig das Ganze), ließe sich nur von da aus begreifen.
Dieses aber ist fast immer die Katastrophe, ein Untergang, das Zeichen dafür
steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft ein, wiederholt das,
was tödlich in ihm steckt.
5 Das Hebräische wird von den
Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt, so wird auch
das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher "poietisch"
(alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre
Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in
jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr aussagt,
als die Erzählung, etwa die naiven Geschichten von Adam und Eva, oder von Noah
und der Sintflut oder von Kain und Abel aussagen können. Oder die so wichtige
Geschichte von Moses auf dem Sinai und dem Bildverbot. Wir tun es lesend und
wir gehn mit dieser Bibel um seit Kindertagen und wissen es nicht. Die
Katastrophe der heutigen Welt hat damit zu tun. Aber auch damit, daß Zahl und
Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise voneinander getrennt
sind. Es paßt zu den Absurditäten des Okzidents, daß er mit einem ungeheuer
wichtigen Teil seiner Kultur so umgeht, wie er mit allem, was nicht in sein
rationalistisches Konzept paßt, umgeht: verdrängend, ausklammernd, hassend. Das
Hebräische, das Jüdische und dessen gesamter Kosmos nahmen und nehmen in diesem
Haß eine Sonderstellung ein.
Die SCHRIFT, auch die heilige,
beginnt, wie wir schon sahen, mit dem Geteilten, der Zwei, mit B, dem Beth (was
auch Haus heißt): "Bereschith bara" ("Im Anfang schuf",
aber eigentlich im Kopf schuf) denn nach dem B steht "resch", resch
heißt KOPF ( die Summe seiner Buchstabenwerte ist 200: die hundertfache 2=
200); reschith aber heißt Haupt-Sache. Die 20: Kaf (zehnfache zwei) ist
die schaffende Hand. "Der Schöpfer" hat die Welt aus der schwingenden
Information der "Sprache", aus den 22 Buchstaben und Zahlen (
Sephira= Zahl, Kräfte, Sphären) mit Kopf und Hand erschaffen; Kabbala heißt
"Macht der 22" (Kaf=20, Beth= 2, La ist das Wort für Macht.) Lauter
Zweier-Folgen aus der Eins.
Die sieben Schöpfungstage hängen
ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen.
1-3 sind der sogenannte Urraum (Zimzum), der "achte Tag", jenseits
von Zeit und Geschichte, doch zugleich in ihnen verwoben: 1: Null, 2:
Lichtpunkt, 3: Grenze oder das Hinabgehen in Klang , Farbe und Form. Dieses
Hinabgehen ins Materielle steht den Modellen der heutigen Informationstheorie
sehr nah: Erst die Erscheinungsform im Kopf als Wissen des
"Lichtpunktes" der Nulldimensionalität des Reschith (allerdings immer
noch als berührbare Unendlichkeit) ermöglicht es dem Urlicht der Eins (En-Sof
im Hebräischen), hier in der menschlichen Welt überhaupt zu erscheinen. Dieser
Punkt aber braucht Laut und Klang, die Begrenzung, Umhüllung des Unmeßbaren,
Verstofflichung des Gedächtnisses, das nicht von dieser Welt ist (Wissen im
Samen, in den Genen, Chromosomen, dem Atom), mater materia; esist ja
Geist, der nicht als Geist erscheint, aber er braucht die Form, die Grenze, um
sich verkörpern zu können. BINA, die 3. Sphäre - Grenze: Hinabgehen in Klang, Farbe,
Form, die Ur- Mutter ermöglicht es.
Adam, der Mensch, hat dieses
Strömen der Ur-Information im Sündenfall unterbrochen, das Außen, den
Augenschein, die Frucht vom Ur-Baum getrennt, das Wesen von der Erscheinung,
und so kam der Tod auf die Welt, denn der abgerissene Körper stirbt ja
"tatsächlich"; Formen sterben, die Information des Samens, der sie
weiß, aber bleibt im Immateriellen erhalten! Essen vom Baun der Erkenntnis ist
Trennung der Frucht vom Baum. Essen vom Baum des Lebens ist Osmose;
"Essen" der Sinne, Aneignung der Welt heißt im Hebräischen
"achol"; es verbindet A (Aleph), die Eins, mit chol, dem
Vielen, dem spezifischen Schwingungsklang, der in jedem Ding als Eigenart
vibriert. Liebe ist die Verbind.ung der fünf Sinne auf höherer Ebne der Berührung.
a-chol. Das Zerreißen, Abreißen, die Spaltung aber ist die Hölle. Das
Sichtbare, so vom Einen getrennt (A von chol), ist seither einem furchtbaren
Ungenügen, ist den zerstörerischen Gewalten, die Macht über den Körper haben,
wehrlos ausgeliefert. Heute ist dies als Riß in uns und in der Welt und als
Schmerz in der sinnlosen Kontingenz zu spüren , die ja selbst nur ein
Nichtwissen der Zusammenhänge, eines Zufalls etwa, ist, dessen nihilistische
Verabsolutierung eine Täuschung und Selbsttäuschung im Spiegel des Empirischen,
des Ausgeschlossenseins von den höheren Sphären bedeutet. Im Schmerz aber
zugleich auch die Not-Wende: Denn noch nie war diese größte humane Aufgabe, den
Zusammenhang des Ganzen zum Sinn wieder herzustellen, die abgerissene Verbindung
wieder aufzunehmen, so lebensnotwendig und dringlich, und dies nicht nur für
die menschliche Welt. Jenes Falsche der Trennung, jener Makel ist nicht nur in
einem, für viele unerklärlichen Leidensdruck spürbar, sondern auch in der
Falschheit des klassischen Erkenntnisansatzes, der Trennung von
"Innen" und "Außen", die in sich selbst zusammengehören und
untrennbar in der Ebene eines höheren Komplexitätsgrades wirken, der sich in
uns als Intuition spiegelt und im Erkenntnisblitz Eins sind: letztlich hält uns
die Natur den Spiegel unserer eignen Mittel und Instrumente vor, so z.B,
formuliert in Heisenbergs "Unschärferelationen", die die Berechnung
einer zeitbedingten kognitiven Unfähigkeit sind. Erstaunlich ist, daß sich in
der Quantentheorie unser Fehlverhalten sogar durch die auf den Beobachter
bezogene Wahrscheinlichkeit und die damit verbundene "unvollständige
Kenntnis eines Systems" berechnen läßt..Daß nämlich die Unwägbarkeiten des
Subjekts sowie die Unkenntnis vom ganzen Kosmos mit in die Imponderabilien
eines Experiments als Unbekannte, um das Experiment "genau"
ausdrücken und berechnen zu können, einbezogen werden müssen . Aber diese
Falschheit und Störung des Ganzen durch unkontrollierbare Eingriffe ist für die
gesamte Natur und für die menschliche Gattung insgesamt gefährlich geworden,
sie äußert sich ökologisch, atomar und in zunehmendem Maße auch im biologischen
Informationssystem als Krebs, als Aids und als Neurose und Geisteskrankheit.
Und ist letztendlich in diesem festgefahrenen Glauben an "Objekte",
also an den SCHEIN eines Augenbildes gebunden, also im tieferen Sinn durchaus
auch an eine drastische Übertretung des BILDVERBOTES.
So wird im Hebräischen die Zahl
Sechzig ( Sechs= waw, das Und, Folge, Zeichen des Menschen, in der Zehnerreihe,
der Ebene des Handelns) wie ein Kreis geschrieben, das Zeichen Samech, heißt
Wasserschlange; es ist das teuflisch Schlüssige, die Evidenz des Kausalen und
Rationalen, seine Verführung. Der Sinai: wo der Mensch Moses die Tafeln mit den
"zehn Worten" empfing, ist Verführung und Wunder zugleich:
Wiederholung der Paradiesmetaphern. Zum Blitz auf dem Berg nämlich kommt das
höllische Tal unten: das Goldene Kalb, hebr. egel. Und egel heißt
das Runde, der geschlossene Kreis. Der Fetisch Ratio also, abgezirkeltes
Oberflächen-Bewußtsein, im Osten vormals zur Ideologie geronnen, zur
konsequenten Idiotie der Abbild-Theorie in der Ästhetik!
Die Warnung vom Sinai: "Du
sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen, gilt
auch für die menschliche Wirklichkeit. Und nun sogar total, wir leben heute in
dieser alles erfassenden Herstellung von Welt in der künstlichen Bilderwut, da
das Medium, das die Botschaft ist, diese Wirklichkeit nun nicht im
Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt,
die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle ist, sie überschwemmt die
selbstgeschaffene "Wirklichkeit" mit Bildern. Alle sind bald in der
gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und
ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden darin. Aber
- verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in
der eigenen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität?
Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu
entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Wälder,
Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! Diese aber ist
keineswegs die "ganze Welt", und wer sie allein spiegelt und von ihr
ausgeht, bleibt in ihren Irrtümern gefangen, auch wenn er behauptet, sie und
ihre Resultate zu "kritisieren". "Du sollst dir kein Bildnis
machen!" Wie wahr so spät. Dabei ist es doch auch hier nur kreative oder
eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte schon
früh den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen.
6 Das Bildverbot am Sinai ist das
"zweite Ur-Wort" , - nicht Gebot (im Hebräischen ist nur von
"zehn Worten" die Rede,) es wird in der Pfingstbegegnung mit Jahweh,
ohne Vokale geschrieben JHWH (Lichtblitz, Strahl, Lichtmetaphysik) auf dem
Sinai Moses "gegeben": "Mathan Thora" Geben, Schenken der
Thora, eine Art Strukturbild der Welt, nein, eigentlich der verborgene NAME
Gottes ist in diesem Buchstaben-Geflecht enthalten. Und dieses Geflecht ist
tatsächlich ein Wunder. Er ist die unaussprechliche Eins, der erste Buchstabe
Aleph. Aleph besteht aus zwei Jod (Zahlenwert 10) und einem Waw (Zahenwert 6),
ergibt 26. 26 aber ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH (Jod: 10; He: 5;
Waw: 6; He: 5). Die erste Hälfte (10, Potenz von 1) steht der zweiten gegenüber
(5 UND 5, denn Waw, der Haken, heißt auch UND und ist das Zeichen des
Menschen); der Mensch hat also durch seinen Fall, geteilt in Männlich und
Weiblich, Gott verstümmelt und halbiert. Frei von den zur Bildprojektion
gewordenen Entwicklungskräften der "Realität" war auf dem Sinai
wieder Erlösung möglich: Kontakt zur "Eins". Das
"Bildverbot" geht ja nicht um äußere Bildnisse nur, sondern um die
Abtrennung des Sichtbaren vom Wesen, um die inneren Formkräfte, die verstellt
werden. Die Urschrift, Information und "Ur-Wissen", Form als Kenntnis
(eines Subjekts) vom Verhalten in jedem Ding, jedem Tier oder Stern, Form, die
die Welt baut, war der Bibel nach ursprünglich mit schwarzen Feuerbuchstaben
auf weißes Feuer geschrieben ( Atomfeuer, Kern und Schalen?), innerste Formung,
die wirklich werden sollte. Zwei Eingrabungen: Herzschrift und Mündlichkeit,
sie waren aber noch nicht sinnlich wahrnehmbar, nur als Gedankenanreger da. Das
weiße Licht war der Baum des Lebens; das davon Abgespaltene, Gedeutete und
menschlich Geschriebene hieß Baum der Erkenntnis, die schwarze Schrift; Moses
gelang es in einer ersten, der wichtigeren Begegnung auf dem Sinai zum weißen
Licht, zu der verborgenen EINEN Tafel der ZEHN Ur-Worte vorzudringen. Alles,
was aufgeschrieben werden kann, auf Steintafeln, Schiefertafeln, mit Tinte auf
Papier, auch in der Genesis oder der hebräischen Thora, ist nichts als Deutung,
ja, nur halbwegs Wahrheit, gar Fälschung, im besten Fall Metapher und
Gleichnis; der Rest aber ist Schweigen. Im kleinen Blitz der Intuition und
Ekstase nichts als ein Schimmer. Aber auch dieses ist höchst aktuell. Nicht
einmal die so einfachen mikrophysikalischen Vorgänge, die in unserem Bildverständnis
mal als "Teilchen" , mal als "Welle" etwa
"eingedeutscht" "zur Sprache kommen", lassen sich
einfangen, sie sind wie Träume, die am Morgen aus dem Wachzustand verschwinden;
als wären sie noch unberührt von der Erbsünde des vom Einen abgetrennten
Augenscheins (ein vor Gott sich Verstecken! "Adam, wo bist du?"), dem
sogar die Buchstaben der Genesis ausgesetzt waren, wie die Kabbala meint. Ihr
grobmaterieller Charakter sei eine Folge des Sündenfalls. Ebenso wie Adams
Lichtgestalt eine materielle Haut bekam und die Erde nicht mehr durchsichtig
war wie vor dem Fall. Der Himmel war dichtgemacht, das heißt abgetrennt von der
Erde. So wie das Chaos der Augenblicke Jetzt sei auch die Buchstabenkombination
der niedergeschriebenen Genesis noch verkehrt, erst beim Ende der Welt werde
sie lesbar sein. Ein Spiegel von Adams Fall in die dichtgemachte Götzen-
"Wirklichkeit", so erscheint zwangsläufig alles gespalten und
vermischt in Lüge, Wahrheit, Gut, Böse, also paradox und absurd, Sprachprozeß
dessen, der ist und schon nicht mehr ist: der Mensch, der seither immer schon
Abwesende. Aber auch ein paradoxes Problemhandeln im Möglichen leuchtet auf.
Moses brachte nach der ersten
Begegnung die mündliche, nicht geschriebene, er brachte die noch immaterielle
Thora vom Sinai. Doch als er sah, was da unten das Volk tat, um das Goldene
Kalb, "egel", das Abgeschlossene, das Evidente tanzte, gab er dieses
weiße Licht der ersten Thora nicht preis. Das Eine war gegenübergestellt dem
Vielen, dem Volk, aber auch der Mannigfaltigkeit. 40 Tage war Moses in der
Wüste gewesen, das Volk wartete, er kam nicht. Aaron, von dem das Volk endlich
"ein Bild" verlangte, sichtbare Götter, nicht unsichtbare, etwas
Greifbares, um aus dem Exil und der Wüste endlich ins Gelobte Land zu kommen,
vertröstete, verzögerte "bis morgen"; doch als Moses nicht kam, da
entstand das Goldene Kalb aus Ungeduld und Unglauben; Aaron warf zwar alles
gespendete Gold (das, was den Leib der Frauen am schönsten macht, Glanz des
Außen als Opfer) ins Feuer, um zu verhindern, daß daraus ein Götze entstehe,
doch er war ohnmächtig, denn das Gold schmolz und die Form des Kalbes
("egel", das Runde) entstand ganz spontan, dieser fast
"selbstgemachte Götze" der EVIDENZ. Eine Endzeit, wo sich Entwicklung
enorm beschleunigt, war schon damals: dichtgemacht durch die Zeit, und der
Ursprung verhüllt. Ein Aggregatzustand zugleich, Limit, Grenze. Der Tanz ums
" Goldene Kalb" ist nicht etwa nur der Tanz um den
"Mammon", erst die Tiefen- und Zahlengrammatik enthüllt, was das nur
sichtbare "Kalb" wirklich IST: Festlegung nämlich im ausweglos
Geschlossenen, "Runden"; Kalb "egel" (70-3-30 hat den
gleichen Zahlenwert wie "agol", rund, 70-3-30. Eigentlich ein Akt der
Verzweiflung). Dieses BILD als Simulation, dieser nur sichtbare und fix
glänzende Ersatzgott des Eingeschlossenen, in täuschender Evidenz des
"Glanzes"; bedeutet die Gefangenschaft im ausweglos Materiellen,
Essen, Trinken, Schlafen, Beischlafen, "sich erfreuen" am Leben.
"Erfreuen"; in diesem Kontext erscheint das sonst ungebräuchliche Wort
"tsachek", 90-8-100, es bedeutet spöttisches, zynischen Lachen. An
das, was geschieht, wird gar nicht mehr geglaubt, Leben wird nur ungläubig,
zynisch angenommen, Freude, die keine Freude macht, Liebe, die keine Liebe sein
kann, weil man an sie gar nicht glaubt, an gar nichts glaubt, in nichts
Vertrauen hat, außer in die greifbare "Freiheit" und die Macht, das -
"glänzende Gold". In allem, was man tut, fehlt die Tiefe, die eigene
Begründung, der Grund, alles ist nur noch Schein, ohne dessen Wurzel, ohne den,
der "fehlt".
Im Augenblick des tiefsten Falls
kommt dann Moses mit der immateriellen Tafel, ist erschrocken, wie wenig sie
hierher in dieses Umfeld des tanzenden Volkes gehört; aus Zorn zerbricht er
sie, und aus der gesammelten EINS in der Zehn, wird wieder Materie, quälende
Un-Zahl; und es heißt, die Buchstaben seien wie himmlische Vögel in dem
Augenblick des Zerbrechens der Tafel wieder davongeflogen.
Beim zweiten Gang zum Sinai, um
auf dem "tsur" (7-6-200) dem Felsen, ebenfalls FORM, die "neuen
Tafeln" durch die STIMME zu erhalten, bestanden die Tafeln diesmal aus der
Materie von "unten", auf sie gravierte Moses die zehn neuen Ur-Worte
ein, menschengerechter, während die ersten Tafeln das Schöpfungsinstrument
waren, ein zu gefährliches Geschenk.- Diesmal erhielt Moses nicht direkt die
erste Zehn, sondern die Spaltung, wie in JHWH, in zwei Tafeln : (HWH)
5-6 (und)-5. Das, was wir lesen können, ist nicht etwa das
Zahlen-Buchstaben-Geflecht des Gottes-Namens, sondern schon ein gespaltener
Name, eine Deutung dieses Namens: JHWH (10-5-6-5), so wie zum ZWEITEN MAL die
"Zehn Worte" in 2x5 - also auf zwei Tafeln erschienen. <"Alle
Deutungen sind Fehldeutungen" (George Steiner). Und das
Indeterminationsprinzip stimmt auch da: Beobachtung ist unendlicher SPIEGEL in
einer Metamorphose der Ereignisse, sie transformiert, ja, erschafft das
Beobachtete nach der eigenen Gedankenform. Die Geburt des Schöpfers, des Autors
dieser Welt wäre so erst mit dem Tod des Lesers gleichzusetzen, Hegels
"Gott ist der Tod". So hieße auch innerhalb des Bildverbots, nach
Roland Barthes, gut schreiben erst: "das Ausdrückbare unausgedrückt zu
machen."
Moses also zerbrach die erste
Tafel, so daß die Ur-Worte nicht in der "richtigen Folge gegeben
worden" waren, denn wären sie in der richtigen, göttlichen Reihenfolge
gegeben worden, "könnte jeder, der sie liest, die Toten wiederbeleben und
Wunder verrichten". Ursprünglich waren sie aus schwarzem Feuer auf weißem
Feuer, als Urlicht "gegeben", wir aber lesen sie nun nach unserem
Verstande als äußere Bilder und Geschichten und gar Gebote, Handlungen und
Anekdoten, dabei geht es um den Bauplan, die Struktur der Welt, und um Kommentare
zur Weltformel. Wobei es auch hier, ähnlich wie bei christlicher
Hermeneutik, am bekanntesten bei Dante, um einen vierfachen Deutungs-Sinn geht:
1.Um den buchstäblichen Sinn, 2.Den allegorischen Sinn, 3. Den tropologischen,
und 4. Um den anagogischen Sinn (sensus mysticus); wobei letzterer den Zugang
als intuitive Summe ermöglicht
Eigentlich also fällt auch der Thora-Leser,
ja, die schriftliche Thora selbst unter das zweite Gebot des Bilder- und
Sprachverbots.
7 Neben der mathematischen Formel
und der Musik ist das Gedicht eine Möglichkeit, dem Wirklichkeitswahn und
seinen Täuschungsmanövern zu entgehen. Jeder Poet ist durch seinen Einfall an
das Noch-Nicht-Gewußte, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine)
gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nähern, das wir schon hier
empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im
Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des
Zählbaren mit der Eins und dem Einen, nicht mehr getrennt und gespalten,
sondern "heimgekehrt" zum Grund der eigenen Sagbarkeit. - Wäre eine
Herausführung und Engführung durch WORTHÖFE und Sprach- BERÜHRUNG in
"Zustandsräumen" möglich? Aber Berührung wird ja erst möglich in
Zuständen zwischen Leben und Tod, in Sphären von denen wir durch den Körper
getrennt sind. Manchmal ist es ein Gespräch mit den Toten, die auf einer Ebne
mit mehr Bezügen erreicht werden können; das "Totengespräch", wie es
Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes
literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre. Es ist eine Wiederkehr
des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem
"exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz
anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das
frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte (
Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst
schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich mit
den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende
Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten
bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, daß wir uns
kein Bild von jener fremden Sphäre machen dürfen und es auch nicht können. Das
Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch
ihre sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff
dieser Zivilisation. Der skeptische Physiker Ernst Senkowski meint, daß es bei
diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden,
welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte
Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu
Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, daß es um höchst unheimlich
"realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht: "Aber
das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als daß wir unsere
Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und
Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen
geschlagen. Muß der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN
geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei
Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen
zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am
Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum
Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher
ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin
zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen
Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.
Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische
wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das
"Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch
noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden
werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt werden, der
selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden
kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, daß heute einiges
bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction,
Vorweggenommene aufs Unheimliche und Paradoxeste real zu werden scheint; daß
auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei
dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse
aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich
"das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung"
(Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen
ist, Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das
Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten ,
"abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas;
erstaunlich ist auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und
sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt
wieder; oft eine Wiederkehr, die Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts
scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife
und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in
primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den
"Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.
8 Leere Ort der
"Absence", ein Vakuum kann auch so "gefüllt" werden. Das
Entscheidende aber ist, daß sich nun im Posthumen der Geschichte und der
Ideologien Neues enthüllt, überraschend hinter dem zerbrechenden falschen Bild
mehr und mehr "in der Gefahr" das einsam "Rettende" wachsen
könnte: das Negativ zur Wirklichkeit durchaus im aufbauenden, nicht nur im
zerstörerischen Sinn wie bisher in der ideologisierten Revolte. Für Thomas
Pynchon, den Joyce meiner Generation, ist es eine "höhere Sinn-Zone"
(in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981) und sie ist nur erreichbar,
wenn wir die okzidentale Ego- und Todes-Zone zum eigenen Sprungbrett machen und
so nun "hinüber" kommen, die eingebildete Todeszone, die Krankheit
dieses Ego, überwinden.
Reinald Goetz spricht in seinem
neuen dokumentarischen Monster- Roman von der "Authentizitätsfalle",
es ist die aufgebrochene Grenze zwischen Leben und Schreiben, wo die Wortwände
sowohl zum Traum als auch zur Tatsachenwelt sehr dünn werden und zu psychischen
Schäden führen können; die Gefahren einer Wiederkehr des Verdrängten sind
durchaus nicht nur sozialer, politischer und militärischer Art, sie erfassen
die Ästhetik und Kunst genauso wie die ungewohnten Grenzgänge, okkulte
Hysterie, mediumistische und andere Psychosen. Dabei scheint es so, als gäbe es
diese Gefahren gar nicht. Sie ist kaum erkennbar "im Herzen der
Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren, wo jetzt die Kluft
zwischen jener geschilderten "Ausnahme" des Todes und dem
"Leben" so groß geworden ist, die zugleich aber durch die
Immaterialisierung der Welt, das tiefe Eindringen der Geräte ins Gewebe des
Kosmos auch in den Tiefen des Unbewußten zueinander streben, wie bisher noch
nie; man könnte von einem Thanatovirus sprechen oder auch vom kollektiven
Todestrieb. Doch das Thema ist brutaler, die Veränderung des Todes ist längst
geschehen; und es gehört zu jenem Verdrängten, daß das Grauen der Geschichte,
Hiroshima, der Gulag der Holocaust etwas aufgebrochen hatten, das die bisherige
Geschichte und Gewohnheit transzendierte und andauernd transzendiert. Und nicht,
daß der Fall des ideologischen oder auch philosophischen Absoluten nun das
Zufällige, Triviale, "Einzelne, Beschränkte, Irdische" und Kleine,
wie es in einem MERKUR-Aufsatz (Anathema. Der Holocaust und das Bildverbot)
kürzlich hieß, wie es auch so bekannte Theoretiker wie Rorty oder Marquardt
verkünden, wieder Trumpf sein soll - und alles einfach so ist, wie es ist! Es
geht im Merkur-Aufsatz um Spielbergs "Schindlers Liste" und um den
gefährlichen Versuch, dem Holocaust das Unfaßbare zu nehmen, ihn zu "vermenschlichen",
ihn vergleichbar und einordenbar zu machen. Nolte läßt grüßen. Dabei geht es um
die radikalsten historischen Ereignisse, die nochmals jene auch in der
Geschichte der Wissenschaft (und Geschichte der Literatur und des Denkens seit
Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal) bekannte bildliche
und sprachliche Unfähigkeit, das was ist, darzustellen, kurz gesagt: die Sprachlosigkeit
und Unfaßbarkeit auch im historischen Raum und brutal wie bisher noch nie
in die Welt gestellt haben. "Bildverbot" ist dafür nur eine
historische Metapher, auch hier in diesem Essay. Anathema ist dabei
nicht nur das Verbot, das unfaßbare Eine, das ja in "Alles"
hineinwirkt und kein Gesicht haben kann, "Gott" in
sinnlich-stofflicher Gestalt darzustellen, wie es die byzantinische
ikonoklastische Synode vor 1200 Jahren verordnet hatte, wie es (völlig zu
Recht) der Islam und früher die Hebräer verlangt hatten, oder gar
"andere" sinnliche, also falsche Bildgötzen und Fetische einzuführen,
nein, nicht nur "Gott" oder der Holocaust als unfaßbares Ereignis,
sondern alles Existierende ohne Unterschied ist mit bisherigen Mitteln nicht
darstellbar, bis hin zum letzten Grashalm ist es nicht darstellbar, weil das
sprachgeprägte Bild und seine Logik eine Art Fiktion, Schein, Trug sind,
Begriffe möglicherweise einer bestimmten Herrschaftsform (des Äquivalentes Ware
und Geld) auf der Erde entsprechen, wie schon Adorno vermutet hat. (Absurd ist,
daß jetzt diese Lebensform als einziger Retter in der Not im Tabula-rasa-Zustand
nach 89 angesehen wird!) Dabei sind jene drei vorhin erwähnten negativen
historischen Ereignisse, für die nur noch negative Theologie oder auch negative
Poetik (wie bei Paul Celan) und das Schweigen an der Grenze unserer Vorstellung
angemessen wären, möglicherweise eine drastische Rücknahme: Folge der
mörderischen Zivilisationsmaschine, Folge einer dem Wesen der Natur und des
Menschen diametral entgegengesetzten, machtbedingten Bild- und Sprachlogik. Sie
hat sich selbst ad absurdum geführt. Ad absurdum geführt wird freilich auf
theoretischer Ebene die bildliche Anschauung und die Sprache auch in der neuen
Physik, gewohnte Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im subatomaren
Bereich auszudrücken. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer Selbstverwandlung
ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den Abgrund fähig. Die
Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben etwa, da, wo Zeit,
die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur
Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer
neuen Wissenschaft vom JETZT, die, wie auch eine neue Kunst, erst im Entstehen
ist.