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Sonntag, 28. Februar 2016





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1970. Griechenland.TB2





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Die Aufregung des ersten Fluges nach Brüssel am 3. Oktober 1968, das internationale Symposion in Mondorf (mit Caraion und Veronica Porumbacu), die Parisreise, die  Tage in Paris (Nina Cassioan, Celan u.a.). usw. - all diese ersten Eindrücke sind als Aufzeichnung verloren, sie waren in einem Notizbuch beschrieben, das ich in einer Telefonzelle in Paris/Orly in der Aufregung lioegen ließ, weil die Franzosen mich nicht abfliegen lassen wollten. Ich weiß nicht einmal mehr genau warum nicht.

 Flüchtig notiert jetzt: Hotel, nr. Onze neben der Botschaft. Salami und Rotwein. Pigalle. Die Hure Sonja. Nina Cassian.  Celan in der Heilanstalt. Der französische Germanist.
Einiges, vor allem Brüssel, Mondorf in VISA.

Die Tagebücher beginnen erst am 23. Oktober 68 mit dem Abflug aus Paris.

1.      Heft. 1968 ab 23. Oktober.
Abflug. 23. Oktober. (Eindrücke)+
Der erste Kontakt in Bonn mit Deutschland, das Hotel Mozart,
24.Fragestunde im Bundestag
26. Oktober Köln-Stuttgart. Dann Stuttgart-Aalen.(Samstag-Sonntag)
Notiert: "Unausstehlich! Bürgherlich -kalt. Steif. Für uns der Tod.
Montag/Dienstag Stuttgart.
Ulmer Dom

Dann München.
Sonntag 3. November. Gespräch Volker
Montag 4. Hans Jürgen Schmidt bei Piper kennengelernt.
Flug München-Köln.
Der Karneval bei Inter Nationes, die Begleiterin die mir für einen Nachtfick zugedacht war, Monika? Die Reisen nach Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, die lebensentscheidende Begegnung mit Linde im S. Fischer Verlag, das Hotel Kupferschmidt, die Parvisgeschichte (Lindes Maker, der wegen Drogenhandel im Knast saß! Dann rauskam und uns überfiel, wir vögelten gerade. Er die Tür eintrat.)

Flug Köln -Hamburg.
Hamburg-Frankfurt.

13. November. S. Fischer Verlag, Linde kennengelernt. Abends Konzert.
Bohrer.
Schon nach 2 Tagen zu ihr gezogen.
Dann Berlin. Wolfgang Schivelbusch.

Wieder Frankfurt. Manthey kennengelernt. HR.

November 1968, die Einladung auf den Sonnenberg, das Treffen mit der tschechischen Delegation.

Tagebücher ziemlich diffus notiert.



91 92 1.November 92MARIENBAD, EIN LETZTER TAG
Unsterblich die Geliebte, sucht ich SIE,
da sie mir fehlte, Immer, seit ich lebe,
nur wußte ich noch nicht, daß ich ererbte,
in diesem Alter, Welt, hier Niemand sei.
Nur zu verschwinden wissen,
so stärker sein; der Faden ist gerissen.
 
 
*
Mein Gott, die großen Worte waren offen,
damals mit dir, die Qual zu lösen
des langen Hierseins: Wiedersehen hoffend,
der Alte reiste fort, die Herrgottsfrühe
umgab ihn böhmisch. Die Jahre, sie verwesen.
Erst jetzt das Paradies verlassen müssen,
Der Kuckuck holt uns, den die Engel küssen.
 
 
Da kamst du noch zurück, ich dachte Später
war es die Zeit Combray, und früher dies Geschenk
Marienbad, die Alte dieser Väter, sie wurde über neunzig,
ich aber fand nur einen Gasthof: eingedenk
"Zur Traube", und suche weiter, was nicht lebbar ist,
einzig das Luftbild und ins Herz zurück, wo du noch bist.
 
 
Da läßt sich auch nach vielen vielen Jahren
dies Leben weit hinaus erhalten, du mußt dich löschen
können: mit ihr, so bist du gut gefahren, wo
du nur bist, sei alles immer kindlich, so bist du
alles wieder: unüberwindlich?
 
 
Dies gelbe Blatt im Park ist zu idyllisch, der Abfall
leuchtet gelb wie das Gesicht des Toten UND
es flattert steht im Wind, kurz dieser Augenblick,
lautloser Hall
der Abschied ist längst da, von Tag zu Tag
schmeckt bitter schon im Mund
der Tod der die Sekunden fahl macht, kein Zurück,
es ist der fade Schlag, der Nichts erlebt,
kein Frauenblick auf dieser Promenade -
und dieses Glas hebt, Sand und Glaubersalz
und in den Knochen einen Greis, papierene Gnade
dieser letzte Satz.
 
 
Die Seele wird gekränkt von einer Sucht nach Stil,
die dich nicht will, und kalt die Kunst,
wie man sie westlich meint zu müssen.
Wir können uns nur ohne uns noch wissen,
in Gegenwart des allgeliebten fernen Wesens,
das jetzt hier wortgleich niederkommt, wir
lesen`s, gebrochen nur enträtselt sich
das Ungenannte war, ließ mich sogleich
verschwinden. Wer sagt mir noch: so Stund, um Stunde
wird dir das Leben freundlich angeboten, so nimm es
hier, was einmal war ließ nur geringe Spuren und was noch
kommen wird, zu wissen ist verboten.
   
 
 
.... dann über Stuttgart, Singen, Zürich südwärts meine Italienreise: in Richtung Lucca, nach Agliano, in jene Gegend, wo ich wohne, aber nicht zu Hause bin, es sei denn als Fremder. Und keine Heimkehr mehr. Goethe in unendlicher Ferne - schon lange tot. Und welch Datum erwartet uns mit ihm? 1999!
 
 
5. November 92. Doch hier in Agliano gibt es ein anderes Zuhause. Einsamkeit befördert das Ablegen der uns von uns selbst entfernenden Masken. Dieser Ab-Grund, der Furcht und Zittern weckt, s
9*oll verdeckt werden, er ist tabu. Und alle vergangenen großen Abschiede. Der Abschied, der endgültige ist tabu. Obwohl unsere Zivilisation von einer großen Aura von Toten, von Opfern umgeben ist! Nachts meine ich die Toten in meinen Träumen zu sehen.
 
 
17. Mai 97. Draußen eine Prozession. Im Hintergrund das Radio. Ich höre Nachrichten. Einiges ist leicht ablesbar, nicht nur hier auf dem weißen Blatt, sondern schon an den gelben Blättern der toten Bäume. Ich sehe dabei über diese Zeile hinweg in einen Olivenhain und die Reihen der Reben, die mir wie längst vergangen erscheinen, und denke an Johannes 15. Benjamins Sammelband "Illuminationen" liegt vor mir: Über die "Wahlverwandtschaften", doch beim Blättern stoße ich auf den Satz: "Die Abdichtung der Information gegen Erfahrung hängt weiter daran, daß die erstere nicht in die `Tradition eingeht´." Und von Pisa rast eben ein Militärjet über den Himmel und durchkreuzt meine Gedanken. Der Tod ist immer vergessen und doch so präsent wie noch nie so greifbar und abstrakt zugleich. Und da es nichts Rätselhafteres gibt, als dieses, was JETZT eben wirklich geschieht (ein Wunder, daß ES überhaupt noch weitergeht, Sekunde für Sekunde, von wem oder von was eigentlich veranstaltet?!) Wende ich mich ihr zu... Vogelgezwitscher, das ich aber im Kopf, meinem Echolot wahrnehme; und im Auge Grün, italienische Kastanien. Goethe hatte es selbst erlebt und konnte es noch erleben. Und beschreiben. Wir sind wie blockiert. Ob wir anders, ohne tiefes Vergessen, heute nicht leben könnten - ? In der Motivgeschichte wird das brisante Thema dieses Grenzganges zum Tode meist als "Abstieg in die Unterwelt" mythisch neutralisiert. Auch Goethes "Willkommen und Abschied" wurde falsch oder ahnungslos gedeutet!
Mehrfachgleise in meinem Hirn. Multimedia simultan, samt Weinstock und Olive? Ob die Liebe fehlt? Die Fähigkeit zu ihr, die öffnet? Doch LESEN als letzter Ort möglicher Sammlung, und die Hoffnung, wenigstens Literatur könnte Erfahrung intensivieren und speichern - bleiben!? In Goethes "Dichtung und Wahrheit" steht ganz klar, welches sein Urerlebnis zu "Willkommen und Abschied" gewesen war, ausgelöst durch starke emotionale Erregung: Wie die Zeitgrenzen aufgehoben werden, sich Vergangenheit und Zukunft vermischen, wenn schockartige Erlebnisse das Zeitkorsett sprengen, und sich ein Spalt in andere Ebenen öffnet. Goethe hat es beschrieben: in der Liebe zu Friederike (in Straßburg und Sesenheim) machte ihn "die Abwesenheit... frei," und seine "ganze Zuneigung blühte erstrecht auf durch die Unterhaltung in der Ferne": "Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über die Zukunft verblenden; zerstreut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit und dringender Geschäfte. Ich hatte bisher möglich gemacht, das Mannigfaltigste zu leisten, durch immer lebhafte Teilnahme am Gegenwärtigen und Augenblicklichen; allein gegen das Ende drängte sich alles gar gewaltsam übereinander..." Und dann die Beschreibung seines letzten Besuches in Sesenheim, wo "Willkommen und Abschied" in eins fielen, und er einem Gespenst, seinem Doppelgänger begegnete: "Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zumute. Nun ritt ich auf dem Fußpfad gen Drusenheim und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist e/s jedoch, daß ich nach acht Jahren in dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friederiken noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens eine Beruhigung."
 
 
19.Mai, 1997. Schreiben ist schon Todesgenuß, sage ich mir: die Täuschung Außenwelt "in Klammer" setzen, nein, auszulöschen. Alltag ist deshalb dumm, weil er an dieser Täuschung der Tatsachen, dem "Gewesenen" festhängt. Ver-rückt ist dies Voranrücken der Augenblicke, das "Fortkommen"! Und Schreiben bringt erst den Zusammenhang der Bilder, den uns das Auge (ohne Engel) eingibt? Schuldgefühle, wenn sie nicht aufgelöst werden, das Werden, und dann das Wirkende, wenn nicht die eigentlichen Wirkkräfte im Hintergrund gesehen werden. Goethe kannte sie, fühlte sie, ging von ihnen aus! ( Wir aber "glauben" nur noch an Wahrscheinlichkeiten! Eine Art Verlegenheit; Kairos-Null und Schicksalsschwäche!)
Das Ave Maria draußen. Als wäre tatsächlich nichts geschehen und noch nichts zu spät? Zum Grüngezwitscher der Meisen - das Rauschen meines Computers, was hilft dies Scheinmanöver der Zeile, aber ich schreibe, weil ich immer noch an mein "Und" und an mein "Oder" glaube.

(unkorrigiert)
 
 
26.Oktober 91
\

ZWEIMAL
DEUTSCHLAND
 
 
Zur Lage der neuen Deutschländer am Detail beobachtet
 
 
In der Württembergischen Landesbibliuothgek Stuttgart suchte ich die ndl, "Weltbühne", "Wochenpost" oder "Freitag" vergeblich; durch zufällige Kontakte und während einer Reise durch jenes Land, das es nicht mehr geben soll, erfuhr ich von ihrer Existenz. Wenn es diese Publikationen irgendwo geben sollte, dachte
ich, dann in der ehemaligen "linken", der ehemaligen alternativen Buchhandlung von Wendelin Niedlich; ich wurde enttäuscht. Niedlich kannte diese Zeitschriften aus einem so fremdemn Land nicht. "Kein Bedarf", sagte er. Ich war auch der erste, der nach den Büchern etwa von Hans Joachim Maaz fragte.
Hermann Kant, Mischa Wolf oder freilich Honecker kannte jeder, sie waren ja auch im FERNSEHEN AUFGETRETEN UND DIE Zeitungen schrieben andauernd über sie.
Während der P.E.N.-Tagung in Hannover konnte ich an jedem Kiosk türkiche, jugoslawische oder russische Zeitungen kaufen, vom "Neuen Deutschland", der "Berliner Zeitung" oder gar der "Mitteldeutschen" hatte die Zeitungsfrau noch nichts gehört. Doch es gab sie wenigstens in der Bahnhofsbuchhandlu
ng. In Stuttgart fand ich sie daselbst bei der "intder Bahnhofsbuchhandlung. In in Stuttgart fand ich sie daselbst bei der "internationalen Presse".
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Ich bin freilich ein Deutscher der dritten Art, habe mich auf einem italienischen Berg im Niemandsland, D. NIemandsland alöso ein Pseudonym, im Zwischenraum also "aufgespart", das heißt, auch jenen Teil in mir, der im Westen abgeschafft werden sollte durch Anpassung, hab jenen behalten, den "Ossi" in mir, der in traulicher Schizophrenie neben dem "Wessi" lebt, der aber ist durch schmerhaften Umbau einer Spaltperson entstanden, denn bis hin zu den raschen Reaktionen und pawlowschen Refelexen im Verkehr, bis zum Abgewöhnen von Gefühlen und Wahrnehmungen oder sich für Menschen und Dinge zu sehr erwärmen, gabs eine neue Sozialisatiuon bei lebendigem erwachsenem Leib, anfangs mit Todesgefühlen; aber nach Jahren kaum noch im Streit, mangels Reibung und durch langsames Abblassen und Vergessen der eignen Wurzeln, die abgeschnitten wurden, und man ging zeitweilig mit zusammengebissenen Zähnen auf den Stümpfen.
Jetzt aber, seit November 89 kam er heftig wieder, der Vergessene.
Lese bei Heiner Müller eine sehr gute, weil wirklichkeitsentsprechende paradoxe Formulierung:
 
 
  +
 
Ich suche bei Heine ein Zitat und mehr davon: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht." Wieder? Bruder Heinrich? Meine Eltern waren gegen ihn, den Juden, dessen Gefühle "nicht echt" gewesen seien. Nur Deutsche haben echte Gefühle.Und sind nicht so kalt "intellektuell" und paradox. Asphaltliteraten eben, kein Heimatgefühl im Leib. Und da fällt mir eine Zeile von Marina Zwetajewa ein, von Celan zitiert: "Bce poety jidy" - alle Dichter sind Juden.
 
 
Legitimiert wurde ich ja als Deutscher der Dritten Art erst, als mich Arno Reinfrank, in MANNHEIM GEBOREN, heute auswärts und Londoner wegen des Tausendjährigen Reiches, das erst jetzt mit seinen Nachweirkungen hoffentlich langsam beginnt zu Ende zu gehen, aufforderte Mitglied des P.E.N deutschsprachiger Autoren im Ausland zu werden; schließlich wohne ich nahe den Bädern von Lucca, wo Heine versucht hatte seine Krankheit zu kurieren, auch schreibend "Die Bäder von Lucca".
 
 
Was hätte er gemacht, wäre ihm klar, eindeutig und handfest bewiesen worden, daß er total im Unrecht sei mit seinen Attacken, seiner ganzen Art, daß das große Deutsche Reich wäre er reumütig heimgekehrt an einen Fürstenhof? Alles ist eben so, wie es ist?! Und hätte sich alles genau erklären lassen, auch sein Leben?
Es ist natürlich heutzutage nicht so einfach, wie zu seiner Zeit, die Krankheit zu erkennen, obwohl sie ansatzweise, freilich nicht so massenhaft und andauernd, daß man sie gar nicht mehr spürt, schon seit langem gegeben hat.
 
 
Meine Frau, meine Andere Seite, mein Geegnteil, daher natürlich auch eine typische deutsche Westlerin, hatte schon gehofft, ich sei endlich "gesund" geworden, ich dachte es wehmütig und abschiednehmend, abschiedsfähig, jedoch nicht ganz überzeugt vom Wert meines Verschwindens, auch, ich sei ganz der Ihrige; und jetzt dies. Anfangs wie aus dem Häuschen, hoffnungsfroh, aufblühend, dann seit Sommer 90, wie so viele, verzweifelt und nieder geschlagen. Aus.
 
 
Anfangs dachte ich, aus auch mit der U-Topie, die ich hier im Zwschenraum und als eine Art "Zwischenschaftler" gesucht hatte. Nein, es stimmt nicht, nur der falsche Lack ist ab.
Utopie: Gedanken s. 1329, WBühne
 
 
 
 
 
 
 
 
Ich erlebte eine merkwürdige Denk-Übereinstimmung mit Ost- Kollegen bei einer P.E.N.-Tagung im Oktober 91 in Hannover. Nicht aber mit jenen andern, den ehemaligen Dissidenten, zu denen ich, freilich als Siebenbürger, auch einmal gehört hatte; bespitzelt und von der Securitate verfolgt, außer Landes gegangen, verurteilt zu sieben Jahren Haft durch ein Militärgericht.
Doch ich empfand keinen Haß gegen das Land, keineRessentiments gegen Kollegen oder Verfolger. Eher Schuldgefühle, nicht durchgehalten zu haben, geblieben zu sein. So lange die Diktatur dauerte, fühlte ich mich verantwortlich, erst der Dezember 89 machte mich "frei" entließ auch mich.
 
 
Ich war bestürzt über den Haß, die Gleichgüligkeit, die verborgenen Ressentiments der Autoren, die im andern Tei Deutschlands gezwungen, wie Kunze oder Biermann, mehr opderw eniger freiwillig wie Hilbig, Jentzsch oder Schädlich lebten. Nein, sie waren keine Deutschen der Dritten Art, oder sie verbargen dies geschickt.
Gespräche.
 
 
 
 
Ich hatte freilich einen Vorteil, daß es "mein" Siebenbürgen, eine Art kleien DDR, aber ohne DM, durch massenhafte Aussiedlung , also Selbst-Abschaffung meiner Herkunftsgruppe, nicht mehr gab, daß es bodenlos ist, eine Art Phantasieland, wie etwa Ostpreußen für Michel Tourniers "Erlkönig", anstatt leben, phantasieren und schreiben, ist für mich so real wie der Tod also, das Nirgendwo als tatsächliches Land und nicht nur im Lied.
Für die ehemaligen DDR-Dissdenten im Westen, also bei den Siegern, gibt es merkwürdigerweise jenes Land anscheinend noch, es gibt diesen Staat noch in ihrem Kopf, nein in ihren Frustrationen und Haßgefühlen; einer sprach von Verachtung. Jetzt möchten sie sich, wenn vielleicht auch nur in einer unbewußten Reaktion, rächen. Rache ist süß, ja, wenn man Alexander Kluge Recht gibt, ist es sogar eine "Arbeitsleistung".
 
 
Deutsche der Dritten Art, fast schon Phantome im Dazwischen, hätten eigentlich die Aufgabe, so glaubte ich, zu vermitteln, Brücken zu bauen, aus einem tieferen Wissen zwischen den Fronten.
Wir wissen, was die "Besserwessi" im Osten des nun angeblich gemeinsamen Landes anstellen. Michel Tournier, der sehr oft die DDR besucht und dort viele Freunde hatte, berichtete in dieser Zeitschrift (Nr.10/91) entsetzt von einem Bekannten, höreer Justizbeametr in Stuttgart, der nach der Pensionierung nach Dresden abkommandiert wurde, um dort "nach dem Rechten zu sehen - so als ob es sich um zu kolonisierende Bueger handele, denen man einen weißen Verwalter schickt. Das ist wohl ziemlich stark... Ich muß sagen, da bin ich doch... schockiert."
Es gibt sehr viele Beispiele dafür. ir persnlich begegnete bei einer Lesung in Minden ein westdeutscher Bauingineur, der jetzt "drüben" im Baugewerbe arbeitet, nun ehemalige Führungskräfte, die "ganz unten von vorne anfangen müssen," "einweist". Sie seien "gut", aber auf "diese Weise" völlig "verängstigt und desorientiert." Am schlimmsten sei, daß man ihnen ihr "Leben gestohlen" habe. Soll alles umsonst gewesen sein? Wir haben doch, genau wie ihr, 45 Jahre lang gerackert, sind wir denn weniger Wert als ihr? Das kann doch nicht sein?
Da antworte er ihnen: Ja, gerackert schon, aber für das falsche System.
Aha, also er hat das absolut richtige, alle Richtigen. Das Große Los längst gezogen, jetzt ziehn auch sie es und murren. Welch ein Undank. Aber man kann nicht Millionen verlorene Leben mit Millarden DM "sanieren", schloß er dann doch. Und alle Anwsenden stimmten zu.
 
 
 
 
Von Autoren, die dieses Land gut kennen, selbst ein Teil von ihm waren, ich glaube: heimlich auch jetzt noch sind, sonst würden sie sich anders verhalten: großzügig! sollte man eigentlich mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen erwarten als Spezialisten für Wahrnehmungsvorgänge, Gefühle, Lebensumstände und Lebenstragödien und Bewußtsein, die selbst unter der Diktatur gelitten haben, den Mechanismus genau kennen...
 
 
Skeptisches Zitat wider das Heldentum: Zeitung TAGESSPIEGEL
 
 
Aber im Gegenteil, einige von ihnen heizten eher die falsche Diskussion an, eine Einmischung, nun auch auf diesem heiklen und für Autoren eigentlich tabuisierte Zone geistiger Intimität von Schuld und Sühne an, angemaßte Eingriffe in die Gewissensangelegenheiten ihrer Ost-Kollegen. Sie verlangten z.B. eine Säuberungsaktion, wie zu unseligen Partei-Zeiten also, im Ost-P.E-N. an, als hätten sich nun die Vorzeichen verkehrt... ausführen! (Auch Wallmann, als hätten alle ZK-Denken, Zensur, usw. im Kopf.)
 
 
Mir kamen die Menschen im Westen von Anfang zwar informiert, jedoch so ins Private enntlassen, schrecklich naiv vor, ihre Interessen winzig und langweilig, sie redeten andauernd über Autos und Preise, Hunde und Häuser, Urlaubsreisen, Preise und bestenfalls über Beziehungskisten, eine Normalität des "alles ist so wie es ist", utopielos, trostlos und geistlos; ich war gewohnt über gefährliche Dinge zu reden, von einem andern Leben zu träumen, nächtelang zu diskutieren, uns die Köpfe heiß zu reden in einer phantastischen innern Solidarität wider einen Staat, wider den Druck der Geheimpoliue und der Zensur, wir hatten das Gefühl, zwar eingesperrt zu sein, doch Geschichte zu erleben, im Zwiespalt zu sein, auch dem Land gegenüber, so schien mir, einen unverantwortlichen Gebrauch , so schien es mir, machten sie von ihrer "Freiheit", die, erst später merkte ich es, keine war. Ich erinnere mich voller Scham, wie hier der Bruder eines Freundes, der aus Argentinien kam, wo die Junta wütete, wo Leute nachts verschwanden, und der uns entgeistert zuhörte, ich war ja nun schon zum "Westler" geworden, wie wir über unsere "Probleme" sprachen, etwa von der dringend nötigen Anschaffung einer Badeleiter für unser Boot.
Streitgespräche mit meiner eignen Frau, die keinen Bruch in ihrem Leben erlebt hatte. Keinen "Umbau" wie wir, zwei-dreimal, wie ich meinte die brutale Gewalt von Geschichte am eignen Leib mitgemacht, aber auch Erfahrungen mit ihr hatten. Am schlimmsten fand ich es in der Schweiz, die Westdeutschen hatten wenigstens den Geschichtsbruch durch den Krieg erlebt. Jetzt lese ich davon, wie schön doch solch totale Normalität, der "Frieden" in Wohlstand sei. Das Zwergen- und Banken-Musterland Schweiz also das aller-nachahmenswerteste und schönste Beispiel. So stehts da. Als ich hier ein altes kaputtes Haus kaufte, kurz nach 68 hatte ich das Gefühl eine unmoralische Tat zu begehen, es endgültig mit mir aus sei: das wichtigste, was ich im Osten erlebt hatte, meinte ich, sei die Austreibung des Bürgers und des Besitzinstinktes aus meinem Unbewußten, diese Infektion, die die Welt ruiniere. Und heute? Heute wird dies nun als das einzig Richtige bei allen, nicht nur bei einzelnen "Deserteuren" restauriert.
Und mir scheint nun, daß jener psychische Umbau, den früher nur einzelne, meist unter den größten Schwierigkeiten und Leiden mitmachen mußten, um in diesem wilden Westen zu überleben, nun unter dem gleichen Zwang von ganzen Völkern "zu Hause" im eignen Land verlangt und erpresst werden soll, am intensivsten und penetrantesten in der westdeutschen Kolonie Ostdeutschland, wo nicht nur, einmalig in der Geschichte, nicht nur Staat und grenzgeschütztes Territorium, Justiz, Armee, Polizei, Industrie, Schulwesen und die gesamte Kultur samt ihren Institutionen abgeschafft ("abgewickelt") wurden und auch die letzten Reste langsam werden sollen, die Bevölkerung also, im Gegensatz zu den andern Ostländern völlig schutzlos und in einem staatlichen und moralischen und sozialen Vakuum den friedlichen Invasoren ausgeliefert sind, sondern auch ihr bisheriges Leben zur Disposition steht, sei es durch Vernichtung eines ganzen Arbeitslebens, sei es durch Vernichtung ihrer bürgerlichen Rechte und ihrer Ehre (wenn einer nicht spurt, gibt es als letztes Mittel Stasiverdacht, Rufmord: Mitläufertum, Aufforderung zu Schuldbekenntnissen usw.), wie das ja auch früher Eroberer taten, nur nicht so heuchlerisch, sondern ehrlich die brutalen Dinge beim Namen nannten, so daß jeder wußte, woran er war.
Freilich der heutige Feind, unter anderem auch jener der ganzen Menschheit, ist nicht wie bisher gewohnt, sichtbar und personifizierbar, er steckt in logischen Abläufen, vor allem im Geld, ist und hat "System", das sich in Sachlagen und alltäglichen Notwendigkeiten verbirgt.
In mehreren hallensischen Szenenlokalen, es gibt inzwischen sechs oder sieben, diskutierte ich mit jungen Leuten bis vier Uhr früh. Alle fühlten sich unterdrückt und einem unsichtbaren "Sieger" unterworfen, doch es sei völlig ausgeschlossen sich gegen ihn zu wehren, anders als früher, der Alltag, das Geld, die Notwendigkeiten sind stärker; wir wollen nicht, aber wir müssen., heißt es da. Und ein junger Beamter des Arbeitsamtes nickte bei meiner Analyse, die ungefähr so ausfiel, wie im vorherigen Absatz hier, und sagte, ist alles richtig, nur, in der Wirklichkeit ist alles noch viel schlimmer!
 
 
Wie groß die Ohnmacht, die Lähmung und die Wut ist, könnte ich bei dieser langen und deprimierenden Reise durch das Land, im Gespräch mit vielen Leuten in Magdeburg, in Halle, in Jena, Weimar, Erfurt und Eisenach, aber auch in vielen kleinen Orten und Dörfern sehen. Die Stimmung, die Meinungen sind ziemlich einhellig, der Bruch zwischen Ost und West ist sehr groß.
 
 
Gerade für Leute, die mit Sprache umgehn, hellhörig sein müßten für falsche Töne und Worte, die zu falschem Denken und zur Lüge führen. Auch sie sprachen von "Vereinigung", gar von "Wiedervereinigung", anstatt das zu sagen, was ist: Anschluß, Sieg über den bisherigen ideologischen Gegner, der nun in Bausch und Bogen zum Verbrecher gemacht wird, wie das ja bei Siegern üblich ist. Dabei wird, wenn es um die andere Seite ging, etwa um den Ost-PEN, von "Partnern", von "Gespräch" und Gleichberechtigung" gesprochen.
Wer z.B. den im Oktober 91 mit großer Mehrheit verabschiedeten Beschluß genau liest, wird schon im Ton merken, wer hier das Sagen hat, wer am längeren Hebel sitzt, wer dem andern etwas zudiktiert, sich anmaßt, drohend in die Angelegenheiten des andern sich einzumischen: Wehe, du spurst nicht!
 
 
Aber nicht nur die Autoren sind blind, all dieses scheinen die Menschen im Westen gar nicht zu sehen, zu begreifen. Einhellig herrscht die Meinung: Die "drüben" haben es ja selbst gewollt! Verachtung schwingt mit. Uns hat man ja nicht gefragt, ich wäre dagegen gewesen, sagt eine Freundin. Die Ablehnung ist groß und das Unverständnis.
Es wird nicht nur vergessen, daß es jetzt wieder ein Deutschland gibt, ein Geschichtsprozess eingesetzt hat, der eingefrorene Status zweier Restdeutschänder aufgehoben ist, daß man aus gemeinsamer Ursache eine sehr verschiedene, aber zudiktierte Lebenssystem übergestülpt bekommen hat, der Zufall der Geburt entschied, und daß dies nun nicht mehr gilt, die gemeinsame Vergangenheit gilt wieder, und die Westdeutschen wollen sich wieder aus der Geschichte stehlen, weil sie um ihren Wohlstand, um ihren netten privaten ausgepolsterten Winkel fürchten, Obdachlose habe ich allerdings nicht gefragt, sie haben nichts zu verlieren, es wird auch vergessen, daß in der verachteten DDR, wo es angeblich nur "Prolis" gibt, die "unsere" westdeutsche Zivilisation und Kultur zerstören (welche? da muß ich lachen!) die erste siegreiche Revolution in Deutschland 1989 mit viel Zivilcourrage gelungen ist.
Und es wird weiter vergessen, daß nicht die "Freizeitrevolutionäre", sondern jene hinter den Gardinen, die nie auf die Straße demonstrierten, plötzlich, als es nicht mehr gefährlich war, auch dort waren, aber die Coca-Cola-Revolution mit "wir sind ein Volk" zelebrierten, und so dem Kanzler Kohl mit seiner CDU auf dem absteigenden Ast wieder zum Überleben verhalfen. Nicht die Ostdeutschen, nein die regierenden West- Politmanager hatten schleunigst und aus WAHLTAKTISCHEN Gründen das eilige Vaterland sehr professionell und gekonnt installiert.
 
 
Und das Paradoxe, das überall umgeht, gilt auch hier, und läßt alle Klagen angesichts der riesigen Gefahren in der Welt, die auch in Deutschland hätten auf- und ausbrechen können, und auch angesichts des viel größeren Geschichtsrahmens, verstummen: es war sogar gut so, daß es schnell und reibungslos vor sich gegangen ist, daß die kohlschen deus ex Maschinchen funktioniert haben, alles andere ist bereinigbar, braucht wohl Jahrzehnte, und geht mitten durch die Lebenschicksale, durch zwei trotz allem nach innen tiefer gespaltene Deutschländer als je vorher!
Doch die Gefahr eines Krieges oder Bürgerkrieges war gebannt. Einen Moment mußte noch der Atem angehalten werden, als in Moskau der Putsch stattfand, schließlich standen noch über zweihunderttausend Rotarmisten auf deutschem Boden.
Aber die D-Mark hat alles gerichtet und nivelliert. Besser Geld als Blut. Besser Wirtschaft als Krieg. Besser Kolonialismus als Bürgerkrieg wie in Jugoslawien oder in der ehemaligen Sowjetunion, ohne das Geld hätte die Erniedrigung von Millionen im Osten auch in Deutschland möglicherweise zum Bürgerkrieg zu blutigen Zusammenstößen geführt, man denke nur an die vielen Stasis,- Grenzpoilzei, - Partei- und NVA-Arbeitslosen, es sind mehrere Hunderttausende, dazu kommen andere Hunderttausende von Arbeitern. Die Revolten im Osten hatten alle drei Phasen: d/en eigentlichen Aufstand, die Coca-Cola-Revolution und als drittes das Ausbrechen von Gewalt und Haß, das zwar in Deutschland mit den braunen Rowdys und Asylfeindlichkeit unter einer braunen Jauche, die hochkommt, schandbar ist, aber gemessen an der Brisanz der deutschen Teilung noch relativ gering erscheint.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

DER TOD IST NICHT BEI TROST
Zeit- und Denk Bilder
 
 
RÜCKBLENDE IN DIE GEGENWART
Im Pariser Lokal "La Coupole" sagte mir ein Mann, dem ich viel zu verdanken habe, ich solle rücksichtslos die Wahrheit schreiben; dieses aber sei nicht leicht. Denn die wichtigsten Lügen seien unbewußt. Man könne dazu einiges bei den Kirchenvätern nachlesen, vor allem beim alle überragenden Tertullian. Der hatte zu seiner Zeit z.B. noch mit großer Selbstverständlichkeit ausgesprochen, was sich heute jeder hüten würde zu schreiben oder auszusprechen: " Der Himmel steht für niemanden offen... erst nach dem Verschwinden der Welt wird er sich öffnen." Es ist erstaunlich, wie zahm wir geworden sind, sagte jener Mann, ein Siebenbürger wie ich, nun eine Art Eremit in Paris. Es war E.M. Cioran, der " Die verfehlte Schöpfung" geschrieben hat. Einer, der mit dem Gefühl eines wesentlichen Fehlschlages im einzelnen Leben und in der ganzen Schöpfung die Lauheit und Leere der körperlichen Existenz, in der ein schwacher Engel eingesperrt zu sein scheint, schreibend zu ertragen versucht. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er, durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse.
 
 
Sie stürzen und wir mit ihnen, Zeit der Hochdekadenz im total Beziehungslosen. Diese Beziehungslosigkeit hinterläßt eine öde Empfindung, ja, ein Todesgefühl; Menschen, die aus natürlichen Kulturen kommen, erleben es als Kulturchock. Namen, Dinge, Zahlen fallen auseinander, das führt zum Auraverlust, naive Wahrnehmung ist kaum noch möglich.
Die Literatur, auch die westdeutsche, ist davon mitgeprägt, es ist das wichtigste, was sie zu sagen hat, vor allem in der Lyrik. Im "Spiegel" gab es vor einigen Jahren einen sehr interessanten Artikel dazu. Günter Kunert hat über diese "neuen Leiden", die "tatsächlich neu sind", geschrieben: "Wir werden ständig ... auf eine Weise ums Leben gebracht, welche eine Novität darstellt. Jeder wird zum Phantom seiner selbst... den Verlust dieser unserer Ursprünglichkeit haben wir als `kleines Sterben`empfunden, vergleichbar dem innern Absterben der Kindheit in uns, von der bestenfalls Sehnsüchte oder Komplexe zurückbleiben." ("Jahrbuch für Lyrik" Athenäum, 1981).
Name und Zahl, Innen und Außen sind getrennt; ihre Verflechtung finden wir manchmal in der modernen Kunst; sie ist auch Spiegel dessen, wie die Zahl über die Physik ins Unsichtbare eingedrungen, das Sichtbare entlarvt, tiefere Gesetze gefunden und uns in eine von ihr "erfundene" neue Welt gestellt hat, die uns alle mit ihren elektronischen Haustieren, dem Auto, dem Atom bestimmt. Der Preis ist Wahrnehmungs- und Auraverlust in dieser Spätzeit der Zivilisation, das allgemeinste Zeichen aber: der "Tod Gottes" für uns, schon von Nietzsche als Epochenzeichen erkannt. Aber sowohl in der Kunst als auch in der Physik gab es, wenn wir dieses in die Tiefe der Zeit zurückverfolgen, noch in der beginnenden Neuzeit im "Concetto divino", der irreglulären Ontologie des Subjekts, der "Idea," oder in Newtons Glauben an einen letzten göttlichen Urheber der Bewegung, die Vorstellbarkeit des Gebetes, ja, es gab sie noch in der Moderne, etwa bei Kandinsky, bei Max Ernst, in Klees rührenden Kinder- und Reinheitsfiguren, wie "kryptologische Gebete" - Zeichen für das Überreale, die Vorstellbarkeit eines verborgenen Gottes; und alles war nur Suche nach diesem. Noch die großen Physiker wie Heisenberg oder Bohr, Einstein oder Max Planck zeigen, daß modernste Forschung Transzendenz einbeziehen muß, um exakt zu sein. Hans-Peter Dürr hat dieses in einem Sammelwerk "Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren" (1986) an Primärtexten überzeugend nachgewiesen.
Doch sowohl in der Kunst, als auch in der Physik hat Technokratie die Transzendenz als entbehrlich, ja, lächerlich ausgeklammert; die frühere Erschütterung, auch die der schmerzhaften Abwesenheit des Numinosen, gegen die der Manierismus und dann die Moderne ihre Signaturen und Labyrinthe stellten, ist vergessen, die Epigonen kennen nur noch die leere Methode, die abgründigen Formen nur noch als Dekorationen für das snobistische Geschäft auf dem Kunstmarkt, ja, dieser hat die Erschütterung ersetzt. Barock einer `neuen Ordnung`, wie schon im siebzehnten Jahrhundert: das Grauen, heute die Apokalypse, werden zu Kirchendekorationen für die Tempel des Kapitals, der Weltuntergang ein postmodernes Kunstwerk.
 
 
Kürzlich wurde die Decken-Restaurierung von Michelangelos Sixtina beendet, ihr schon manieristisch changierender Farbkosmos, als Widerschein jenes Lichts des undenkbaren "Einen", eines der gewaltigsten Kunst-Dokumente dieser vormodernen Melancholia und Transzendenz-Suche im ersten Zusammenbruch einer festgefügten Ordo-Welt aufgedeckt. Doch in den "wissenschaftlichen" Kommentaren heute wird nur "Technik" untersucht; es fehlt jeder Hinweis auf die eigentlichen Inhalte im Zwischen des Symbolgeflechts, das Genesis und Kabbala, Antike und Mysterien zusammenführt, um auf dem Hintergrund der florentinischen Idea- Lehre Ficinos und von Picos Pansophie den zerbrochenen kosmischen Spiegel mit kompliziertesten Mitteln (auch der Zahlenmagie der Kabbala) neu zusammenzusetzen. Noch wirkten fast zwingend die Harmonievorstellungen der Renaissance, doch das Schwanken zwischen Glauben und Unglauben, dem Selbstbewußtsein, das Absolute spiegeln zu können, und der Verzweiflung und Schwermut ausgesetzt zu sein, der unsicheren Natur von Liebe und Tod und dem brutalen Wahnsinn der Geschichte, zeigt den Übergang zu einem neuen Zeitalter. Das war 1512. Anderthalb Jahrzehnte später, 1527, der Schrecken des Sacco di Roma, plündernde, mordende Sodateska Karls V. Leichenhaufen, Leichengeruch über Rom, dann die Pest, und schließlich die Flammen der Scheiterhaufen, Gott als Tod, Alltag als gnadenloser Abgrund, Gefahr und Schmerz, lösten wie in unserem Jahrhundert den Schönheitsbegriff und jeden sichern Begriff auf. Zur Sixtina gehört die erst 1541 gemalte Altarwand des grausigen "Jüngsten Gerichts," am unteren Rand Michelangelo als Heiliger Bartholomäus mit abgezogener Haut.
Sein Endzeitwissen und sein tragisches Lebensgefühl am Beginn der Neuzeit, seine Ahnung der Katastrophen, seine künstlerische Prophetie, jene "gottlose" Epoche der Abgründe zwischen Mittelalter und Neuzeit sind heute hochaktuell.
Michelangelos Sixtina ist eine paradoxe und komplizierte Sinn- und Gottsuche. Ich habe das Glück gehabt, oben auf dem Gerüst, ganz nah den Gestalten in der Kapelle, etwas davon zu spüren. Symbole als sichtbar gewordene Wirkkräfte der Transszendenz: In Richtung Altar - Jesus und Jonah im Blick, Symbol des Untergangs als Erlösung - Zeitenende und hinter dem "Grenzstein der Welt", dem Altar, das Jüngste Gericht. Doch geht der Blick zugleich auch dem Urlicht, der Erschaffung der Welt zu, merkwürdiges Zurückstürzen nach vorn. Von da dem Ausgang, der Außenwelt Roms zu: Sündenfall, Vertreibung, Opfer, Sintflut und Trunkenheit Noahs. 9 Deckenszenen, die in der Gegenrichtung des Altars eine immer größere Entfernung vom Urlicht als Verfall und Katastrophe anzeigen. Logik und Wirklichkeit werden an der Decke auf den Kopf gestellt. Die Figuren haben den Himmel als Abgrund über sich.
 
 
Es ist auch unser, nun noch akuter gewordenes metahistorisches Bild der Geschichte, das ganz nah herangerückt ist, aber andauernd verdrängt wird.
Seit 1989 geht eine neue Zeitstimmung um. Das Aus der Utopien. Der "Sieger" in einem alten Kampf scheint festzustehen. Und auch die Kunst und Literatur scheinen ab jetzt seine leichte Beute zu sein. Als sei aller Widerstand gebrochen worden, und nichts als Vergessen gehe um.
Auch Michelangelo war gezwungen, sich und seine Kunst den Mächtigen zu verkaufen, in ihre Dienste zu stellen. Aber seine Traurigkeit, seine "terribiltà", seine kompromisslose Wahrhaftigkeit, seine Ausfälle gegen den Papst Julius II, seine verschlüsselten Symbole z.B. in der Medici-Kapelle von Florenz sind Zeichen seines Widerstandes.
Er wurde von einer Schwermut und Traurigkeit verfolgt, die wir Heutige seit einigen Jahren auch stärker spüren als bisher. Walter Benjamin schrieb in seinem Essay "Über Geschichte", daß der "Urgrund der Traurigkeit" mit der Einfühlung in "den Sieger" zusammenhänge, mit der "Trägheit des Herzens..., welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt." Und der "Engel der Geschichte", den Benjamin in Klees "Angelus Novus" zu erkennen meint, sieht dieses "Bild" nicht als Kette der Begebenheiten, sondern als "eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen", das aber sei unmöglich, denn "ein Sturm weht vom Paradiese her", die Flügel lassen sich nicht mehr schließen, so wird er in die Zukunft getrieben, ihr kehrt er aber den Rücken, vor sich so den Trümmerhaufen des Vergehenden, der vor ihm wächst.
Wir sitzen in diesem Trümmerhaufen, glauben aber nicht mehr an jenen "Sturm", verzagt angesichts der Übermacht der "Sieger", einer neuen innern Zensur ausgesetzt, und verdrängen jene "einzige Katastrophe", die dieser Sieger betreibt.
 
 
"Kunst" und Kunst der Technik gehen wie aseptisch, als müßten sie den Urheber schonen, so, als wärs ein abgehobenes Kunstwerk, das uns nichts angeht, mit diesem Ende um. Etwa die Zeitlupe des Films, der z.B. die auch im Fernsehen übertragene, Explosion der Raumsonde "Challenger" wahrnimmt, das Verglühen der Besatzung als Show, Zeit zwar entlarvt im Stillstand der Vernichtung, jedoch ohne Bewußtsein und ohne Folgen. Geräte vollziehen heute diese "Mimikry an die Ewigkeit" (Manfred Schneider). So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berührten; das metaphérein,, anderswohin Tragen, wie die Griechen noch diese Operation nannten, ist in die fühllosen Apparate gekommen, trocknet auch den Tod aus. Bei Ernst Robert Curtius oder Gustav René Hocke ist das ganze manieristische Instrumentarium der heute tätigen, damals noch geschriebenen Metapher nachzulesen; für diese neue Operation fehlt solch ein Bewußtsein. Zeit- Lupentechnik als Idee gab es schon bei Leonardo da Vinci, nämlich als ästhetisches Mittel der Deformation, um auch an den scheinbar selbstverständlichen Dingen, etwa der Bewegung einer Hand, das Unvorstellbare, nämlich unseren Blick darauf im rätselhaften Ablauf der Sekunden zu fassen; unser Bewußtsein davon ist das eigentlich Rätselhafte. Die Hand, die sich im Blick bewegt, "verändert ständig ihre Lage und ihr Aussehen," schreibt Leonardo im Faszikel III seines "Traktats von der Malerei": "In ihren Bewegungen kann man ebensoviel Aspekte wie Teilbewegungen unterscheiden. Also gibt es in dieser Hand unendliche Aspekte, die keine Vorstellungskraft fassen kann." Bei Michelangelo aber geschieht dann die Revolution der Malerei hin zum Manierismus, es wird konsequent der Blick-Punkt nach innen verlegt, nur mit dem `inneren Auge` gesehn. Man malt mit dem Kopf, nicht mit der Hand, sagt Michelangelo. Es ist die Idea-Lehre des Neoplatonikers, der das von ihm in der Sixtina imaginierte Licht, das unsichtbare Licht der "Eins" vom Altar her in Schatten und Farbe, Faltenwurf, Körper der Figuren "wirklich" werden läßt durch seine Phantasie, die daran "angeschlossen" ist. Die Manieristen nach Pontormo ersetzen das wirklich Gesehene durch die Vision. Im Gerät aber hat die Hand Übergewicht.
Dabei ist die Parallele des "Idea"- Denkens, nicht nur zur Ästhetik der Moderne, sondern auch zur Quantenphysik heute erstaunlich; so z.B. wird "Objektivität" ja überhaupt erst möglich gemacht durch "Messung", und die ist immer menschliches Wissen eines Subjekts, Kenntnis von etwas im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die immer auf einen Beobachter bezogen werden muß; Kenntnismessung im Vorhersagen eines Ereignisses macht die Welt zur Projektion des Subjekts, zum platonischen Schatten im ungedeuteten Hier und Jetzt.
Doch die "Projektion" geht viel weiter: Was früher nur Literatur oder Theorie war, ist jetzt wirklich geworden, der wirkliche Blitz als Resultat der Geschichte des Denkens. Als hätte der Dornbusch unsere Sprache gelernt. Was einst Wort Gottes war, wurde zum Gerät. Das "Ebenbild" Mensch, in der Renaissance- Zeit stolz noch, aber abstrakt, "deus in terris", "angeschlossen" an die "Idea", der Mensch also, der so in einem Inspirationsblitz kosmische Urhieroglyphen erkennen konnte, hat dann daraus ein System geschaffen, mit dem er Fragen an die Natur stellen konnte, die sie beantwortete; so ist das Gerät entstanden, durchdringt als Elektronenmikroskop das Tiefengebwebe der Natur, entfesselt Atome im Reaktor, in der Waffe; der drohende Tod der Gattung, einmal Gottes Apokalypse, erscheint wie selbstgemacht.
 
 
II
3 Historie als negative Theologie zum Ende hin wird heute zur umfassenden "Bedingung der Möglichkeit" von Denken und Leben, macht einen Schlußstrich unter alles, was bisher geschichtlich war, ist ein Einholen des schon Posthumen und Verspäteten, verändert jedes Problem radikal, auch die Frage nach Sozialutopie oder Naturrecht, wie sie noch Ernst Bloch in seinem "Prinzip Hoffnung"(II,629ff) stellte. Schon er entschied zugunsten des Naturrechts als Menschenrecht (und zwischen den Zeilen wider den totalitären Staat, der Sozialutopie furchtbar usurpiert hatte). Heute ist doppelt zu Gunsten des Naturrechts entschieden: es ist ein Zurückgehen auf "die Würde" des Einzelnen, des Subjekts als Substanz, schließlich auch im Bereich der Forschung einzige "nachweisbare" Realität, die wider das Wahnsystem der Megamaschine zu stellen wäre.
Der Aufstand vieler Millionen Einzelner im Osten wider die roten Erben der Sozialutopie ist solch ein Aufstand der Substanz in der Person, die im freien Naturrecht ausgedrückt wird, nicht etwa im "Rechtsstaat", jenem andern Erben der hedonistischen Paradiesvorstellungen materialistischer Sozialutopie. Die urkommunistischen Utopien der "Staatsromane" aus Spätrenaissance und Barock oder die von Owen, Fourier, Saint Simon im 19. Jahrhundert sind nicht nur durch die zum leeren Versprechen degenerierten totalitären Staatsexperimente, die zum GULAG führten, erledigt worden, sondern auch durch die furchtbare Erfüllung des "Wunschtraumes" im technokratischen Konsumparadies.
Heute sammelt sich merkwürdig konkret alles im Realen, was bisher nur "Geist" oder "Phantasie" war. Etwa Bacons "Nova Atlantis", ein Land jenseits der "Säulen des Herakles", jenseits unserer Vorstellung, ein vom Menschen geschaffenes Paradies, wo das Leben chemisch verlängert wurde, sogar der Vogeltraum erfüllt war, ist heute realisiert und ins Gegenteil verkehrt.
"Im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt," heißt es in Benjamins "Theologisch-politischem Fragment", denn "messianisch" sei "die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis". Und es klingt heute nach Stalin und Hitler, und nach Hiroshima fast zynisch, aber wahr, wenn Benjamin Untergang als "Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat", definiert.
 
 
4 Wie kann heute dies "Irreguläre", die wildgewordene Phantasie in der Technik, die ja unsere Realität "utopisch" konstruiert, ins Humane "reintegriert" werden? Das Irreguläre des Barock, so Gustav René Hocke in seinem Manierismus-Buch (S.305), habe damals "unter strengstem geistigen Vorzeichen" Blaise Pascal mit religiösem Impetus noch zu integrieren vermocht. Und heute?
Jene Traurigkeit, von der Benjamin sprach, ist fast schon ein Krankheitssymptom und Alarmzeichen, kein Luxus verwöhnter Seelen. Die Atrophie, die im Einzelnen spürbar wird, das, was mit ihm geschieht, ist das, was auch mit der Natur geschieht. Psychiatrie und Ökologie gehören eng zusammen. Umfassend wehrt sich die innere und äußere Natur gegen den Mißbrauch. Ein nicht verfügbarer Rest, ein Reichtum, der nicht aufgeht, sich der Berechenbarkeit und Ausnützung entzieht, beginnt sich zu zeigen, wenn auch im Negativbild zerstörerischer Kräfte, die uns übersteigen; sie entlarven das bürgerliche Konstrukt von Isolierung und Autonomie; am peinlichsten sichtbar im neuen Eisernen Vorhang, mit dem die zweite und dritte Welt ausgesperrt werden soll. Als Einzelne aber sind wir von der originären Fülle getrennt durch die Illusion restriktiver Zeit und die Hektik des Lebensstils. Dabei wird der Widerspruch immer deutlicher. Die geltende Logik im Alltag, in Wirtschaft und Gesellschaft, die für große Körper gilt, aus Zeiten der Wägen und des Wanderns stammt, widerspricht unserem Alltag mit Auto, Elektronik, Computer, Atom und Rakete, die unserer "alten" Natur einen zuwiderlaufenden Rhythmus aufzwingen. Der Widerspruch ist enorm. Das Unheil heute ist unvermeidbar, sagt Carl Friedrich von Weizsäcker, ein Lebenssystem, "das die Wirklichkeit so mißversteht, kann diese Wirklichkeit nur zerstören".
Eine ganz andere Moral wäre nötig, als die der physischen "Effizienz", des Äußeren, das bis zum Äußersten geht, der aufgeputzten und schön verpackten, in Einzelheiten zerfallenden Welt der Banalität. Der Körperfetischismus feiert seine Triumphe, dabei leben wir zunehmend in einer immaterialisierten Welt unsichtbarer Kräfte. Sollte der Mensch kein Mittel finden, die das Grundmuster der Erkenntnis, auf der ja auch sein Alltag beruht, in die alltägliche Lebensform zu übertragen, Alltag mit jenem All-Tag zu verbinden, wird er mit den aus dem Zusammenhang gerissenen Natur-Zitaten sich selbst und die Erde ruinieren.
Auch Kunst und Literatur hätten kaum die Aufgabe, als Ware zu funktionieren, sondern eine Brücke zu jenem Grundmuster zu bauen, und die von der Religion geborgte Substanz zurückzugeben. Die Wissenschaft, die unsere Welt erst möglich macht, tut es längst. - Jene Gruppen von Atom-Ereignissen nämlich, die bodenlos sind und die wir "Materie" nennen, und aus der diese Welt, in der wir leben, "gemacht" ist, rühren in der Erkenntnis der neuen Physik an einen höheren Bereich von Wahrheit; nüchterne Experimental-physiker sind gezwungen, auf alte transzendentale Erkenntnisse und Begriffe zurückzugreifen, die sich in unerwarteter Weise nun im Raum exakter Forschung bestätigen. So bestätigt sich die vereinheitlichende Auffassung der "Weltseele" oder des "Pneuma" durch die "Quantenfeldtheorie" und die neuere S-Matrix- Theorie, die von einem einheitlichen Informations- Gewebe von Energieströmen ausgehn. Dieses Gewebe durchdringt das ganze Weltall und ist immer "da", und auch der dichteste Ort des Alls, der menschliche Kopf, ist daran angeschlossen. Dieses Geschehen jenseits von Zeit und Raum, hat seine geheimnisvollste Form in den sogenannten Gravitationswellen, die immer und überall "da" sind.Dieses also ist das erwähnte universale Zusammenhangssystem, das "Ganze", das als Intuition, aber auch als Revolutionserlebnis und Zeitstillstand, blitzartig in uns durchbrechen kann.
Da erscheinen, so der Direktor des europäischen Teilchenbeschleunigers CERN in Genf, W. Thirring, die einzelnen Phänomene, Gegenstände, Menschen, Ideen, Samen, aber auch Elektronen etc. als hierarchisch gestufte und komplex zusammmengesetzte "lokale Erregungen", Wellenfronten, Wirbel eines einheitlichen kosmischen Informations-Feldes, und kein Tod kann uns bequem davon befreien, niemand und nichts kann aus der Welt fallen. Interessant ist auch, daß solch ein "Wirbel" schon das Zukünftige enthält, die Struktur dessen, was sein wird: Im DNS enthält ein einziges Molekül die Informationen über das "Wesen" eines Menschen, Tieres oder einer Pflanze.
Dieses Feld, so Thirring, habe "seine Wurzeln in den Ideen alter Denker. Es leitet sich vom Pneuma, der alles erfüllenden Weltseele ab. Diese ist als Weltäther seit Newton in die Physik eingegangen, wobei man die spirituellen Vorstellungen immer mehr entfernte und schließlich den Äther durch ein mechanisches Modell
deuten wollte. Dies ist fehlgeschlagen, doch stehen in dem heutigen Feldbegriff,durch Relativitätstheorie und Quantentheorie von naiven mechanischen Bildern gereinigt, die alten Visionen vom alles erfüllenden Urgrund des Seins in neuer Form wieder vor uns". ("Südddeutsche Zeitung",9.10.69).
Wissenschaft befindet sich heute im Raum der Kunst. Die Quanten-Logik etwa versucht, den Grund menschlicher Erfahrung zu erkunden, und stößt in dieser Untersuchung, die die Bodenlosigkeit des AtomGeschehens mit einbezieht, auf die Einheit der Erfahrung, die durch die Zeit gegeben ist, und die nur verstanden werden kann, wenn die schon immer intuitiv in Utopien bewußten Vorwegnahmen der Zukunft in das Jetzt der Gegenwart eingebracht werden; Einheit ist Einheit der Zeit, die nicht Ablauf ist, sondern Entwicklung, Teilhabe am größten Zusammenhang, an jener Informationsstruktur des Universums, die in jedem und allem wirkt und an dem, was ist, in der Menge des ihm zugeteilten Wissens, als Form Leben gibt; ein Baumsamen weiß, wie der Baum zu sein hat, der in ihm schon vorgegeben ist! Möglichkeit also als realste Kategorie dessen, was existiert.
 
 
UTOPIE ist der Umgang mit dem MÖGLICHEN, dem Überraschenden,
das alles Vorgewußte überschreitet. Es ist auch der Raum der Kunst.
 
 
DIE REVOLUTION UND DIE KUNST DES MÖGLICHEN
In den Revolten von 1989 haben Künstler eine große Rolle gespielt. Vaclav Havel in Prag. Adam Michnik in Warschau. Mircea Dinescu in Bukarest. Aber auch 1789: Voltaire, Rousseau, Beaumarchais. Die Enzyklopädisten.
Erwartung wie in einer entstehenden Liebe: REVOLUTION. Wir wissen, die Physik sagt es heute auch: Was da ist, ist schon vorbei, ist das Gewesene, es hat keine Chance mehr. Auch Politik sollte "Kunst des Möglichen" sein. Politiker aber sagen, lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Doch nicht mit dem, was ist, mit Institutionen, Parteien, Recht usw., sondern mit dem, was an Wirklichem erst im Keim da ist, geht das Mögliche um. Nicht mit der Aktualität, dem Gewußten allein ist zu rechnen, sondern mit jenem viel stärkeren Möglichen und Kommenden. Hitler hat 12 Jahre gedauert, Bismarcks Reich, 47 Jahre, Napoleon knapp 15 Jahre, der Ostblock 45 Jahre.
Kunst zehrt von der verdrängten Substanz der Religionen, re- ligio, Rückbindung an das, was noch nie war, aber immer möglich ist. Da sind die, die mit dem Zukunftsmaterial Geist bauen besser dran, als jene, die mit der Materie bauen, und so mit ihrem Tod verschwinden,Manager, Diktatoren und Politiker. Aristophanes wird immer noch aufgeführt, Platon ist so lebendig wie noch nie. Goethe oder Hölderlin sterben nicht. Es sterben jene, die mit empirischem Material des Vorhandenen arbeiten, mit Illusions- material.
 
 
"Einbrüche" aus jener Zone stehen am Ursprung der Kultur. Einfälle, Inspirationen, Träume. Aus ihnen entstand unsere "wirkliche" Menschenwelt, sie besteht aus Geister-Apparaten, vom Computer bis zur Bombe; Einfälle, notiert in Formeln, werden technisch umgesetzt: Geschichte ist Vor-Schein, Projektion des geronnenen Geistes im Gerät.
Die Macht des "Ganzen", des "Einen", des riesigen "kosmischen Informationsnetzes", ohne dessen "Wissen" kein Spatz vom Dach fällt, keine Hand bewegt, kein Gedanke gedacht werden kann, existiert wirklich. Mit diesem "Ganzen" muß heute Wissenschaft auch im strengen Bereich der Forschung rechnen. Klammerte man diese großen Zusammenhänge aus, "könnte man die Quantentheorie nicht mehr verstehen," schreibt Werner Heisenberg. Gesetzeserkenntnis sei nur möglich, weil eine Erkenntnis außerhalb sinnlicher Erfahrung möglich sei; und Entdeckungen und Eingebungen haben unmittelbar Kontakt mit dem Subjekt der Natur. Es gibt Beispiele dafür: Schon Heidegger bringt in seinem Kant- Buch "Die Frage nach dem Ding," dieses Beispiel: Newton entdeckte das Gravitationsgesetz gegen die zu seiner Zeit geltende Erfahrung, denn diese große Entdeckung war gemessen an den damals bekannten astronomischen Daten falsch. Erst Jahre danach stellte sich heraus, daß neuere Messungen der Mondentfernung, des Erdradius seine geniale Intuition bis auf di e letzte Dezimalstelle bestätigten.
Die Inspiration des Künstlers kommt aus dem gleichen Informationsnetz, hat aber nicht die praktische Wirkung von Formeln, die, umgesetzt in die Technik, Geschichte machen. Verheerend ist diese Trennung beider Kulturen, der Kultur der Zahl und der des Namens; die eine ist ohnmächtig, die andere blind.
Die Massen- und Ereignisgeschichte wird angetrieben vom Apriori der Erfindungen und Entdeckungen, sie bestimmen den
Entwicklungsgrad von Produktion, Industrie und Wirtschaft, heute mehr denn je bis hin zum Verschwinden.. Dabei wird das Sichfestklammern am Sichtbaren immer absurder. Der Blick aus dem Helikopter hinab auf die Ukraine z.B. auf den zerstörten Reaktor von Tschernobyl zeigt "Welt" so : Häuser, Mauern zerfetzt, hinweggefegt, Umgebung der Null, verstrahlt, was einmal ein Wald war, nun rosagelborange, Schemen transparent um die ehemaligen Baumkronen. Ein Röntgenbild, Negative der Erde.
 
 
OU TOPIA
Utopie war bisher immer mit Glauben, Überzeugung, Hirngespinsten und Ideologie vermischt; manchmal sogar bei Ernst Bloch. Dabei heißt ou topia (gr.) nichts anderes als Nirgend- Ort. Nimmt man dies wörtlich, befänden wir uns in so einer negativ besetzten Utopie; aber auch im alten Sinne wäre heute Utopie, als Nirgendwo ein Ort des bösen Erwachens, nach dem Chock von 1989 gewachsen. Denn "Utopie" wurde mit "Fortschritt" und "Menschheitstraum", vor allem mit einer ideologisierten Sozial-Utopie verwechselt. Verzweiflung bleibt übrig bei solch einem Fiasko des "Fortschritts" und seiner offensichtlichen Allianz mit dem politischen und ökologischen Verbrechen in Ost UND West heute. Das banal Vorfindliche rächt sich an den schönen Seelen des Terrors, der KZs und des Raubbaus an der Natur. Gesiegt hat die "Realität", doch welche Realität hat da gesiegt?
Der Konservative Joachim Fest behauptet, es zu wissen. Hier eine Probe aus seinem neuesten Buch ("Der zerstörte Traum", 1991): In der "Öffentlichkeit" finde man sich jetzt endlich mit einer "Praxis ab, die nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht, sondern vor allem Praxis ist, mehr Handwerk und Ingenieurswesen als metapolitische Fürsorge. Es wäre das Beste, was sich erwarten ließe." Die Tiefdruckbeilage der FAZ (2.Nov.91) die Fest mit herausgibt, liest sich wie ein Kommentar dazu, Erstaunliches zum neuen Zeitgeist. Hier einige Perlen: "Es gibt kein falsches Leben mehr, das nicht ins `richtige` eingeholt würde. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus..." Anstatt der Namen, nun die "Markennamen", "die Welt ist nur noch durch Markennamen zu erkennen." "Banken vertreiben Ethik-Founds genauso wie Kunst- Fonds..." Und das geht mit einem unvorstellbaren Zynismus so weiter: die Wirtschaft integriere "immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens," der "öffentliche Diskurs aber (folge) immer mehr den Spielregeln der Markenkommunikation." "Nur eine Kritik ist noch möglich: der Warentest." Es ist eben alles-eins: Wirtschaft, "Umweltschutz, Literatur, Gastronomie, Philosophie, Wissenschaft, Ethik, KRIEGSKUNST (kürzlich im Golf, D.S.) und Stadtplanung die engste Kommunikationsgemeinschaft." Und das Fazit: "Bei aller Vielfalt gibt es keine Zerrissenheit mehr. Wer da noch unzufrieden ist, dem kann niemand helfen."
Was unterscheidet uns noch von bisherigen Restaurations- zeiten, die immer eine Art "Barock" hervorbrachten, wie Krisen- und Übergangszeiten den Manierismus. Stileigentümlichkeiten des Manierismus, wie wir sie in der Sixtina so eindrucksvoll erleben können, hielten später dann den gegenreformatorischen Barock am Leben, der stand im Dienst von Kirche und Staat, wie die Moderne (unser Manierismus) heute langsam immer mehr nicht Post-, sondern Prost-Moderne nun im Dienst der Sponsoren, der Reklame und der "Markennamen" steht, ja zum Markennamen in der Bestsellerei und auf dem Kunstmarkt wird. "Barocco", "Baroque" war schon damals, etwa bei Montaigne, dann bei Diderot ein abwertender Begriff. Ich meine, er ist es bis heute geblieben, einer des Konformismus, der Hofkultur, der Starre, des status quo. "Barocke Sprachkunst will nicht das Seltene, sondern das Universal-Gültige neu auf- zwingen", so Gustav René Hocke in "Manierismus und Literatur" (1978, S. 147), mit abstrusen Allegorien und Mitteln "des Überwältigens, des kunstvoll Propagandistischen". Barock sei eine Art degenerierter Manierismus. Auch damals verlogene oder abstrus überladene Propaganda und Reklame. Heute im Dienst des Ewiggültigen (Geldes), kapitalistischer Barock.
 
 
8 Günter Kunert meint in seinem 1991 erschienen Buch "Die letzten Indianer Europas", diese "letzten Indianer", die Künstler, könnten noch zum Unbenennbaren, der "menschlichen Wahrheit" durchbrechen, "eine Ahnung" auch "der direkten Zwiesprache mit etwas Numinosem " haben.
Kunst kann dem "System" nicht auf der gleichen Ebene der Vernichtung Paroli bieten; ihre Stärke liegt auf der Ebene des nicht vernichtbaren "Ganzen". Ich muß an den verstorbenen Danilo Kis denken, der versucht hat, "geschichtliche Dokumente", die nicht nachvollziehbar sind, durch Imagination authentisch und fühlbar zu machen, wie selbst erlebt. Da sein Vater in Auschwitz umgekommen ist, kann man den Abgrund ahnen. Aber Atomphysik, ihre "Denkmuster" und Auswirkungen erlebbar zu machen, davon hinge wohl das Schicksal unserer Welt ab, ist fast unmöglich. Dabei ist die Aufgabe alt, Eliot meint, schon die "Metphysical poets" des 17. Jahrhunderts hätten wie die Modernen durch ihre Para- Rethorik und antilogischen Katachresen "Ideen in Gefühle verwandelt und Beobachtung in Bewußtseinszustände."
 
 
ERFAHRBARE KOPFGEBURTEN
Michelangelo hat die Körper in der Kunst mit Hilfe des manieristischen neuen Farbchangeants, einer Art malerischer Zwölftonmusik, aufgelöst, vor ihm Leonardo da Vinci die Flächen. Jetzt geschieht diese Auflösung wirklich.
Die Grenzen zwischen dem Gedachten, dem "Fiktiven" und dem
tatsächlich Vorhandenen waren noch nie so fließend wie heute. Die Wirklichkeit wird eine sich gewalttätig einlösende science fiction am Rande des Vergehens. Apokalypse, also "Augenöffnung," wurde immer nur als "Literatur", "Religion" und "Philosophie" in Bücher und ins "Geistige" abgeschoben, sie ist heute längst aus dem Buch herausgetreten, auch aus den alten Utopien. Wir befinden uns nicht im Zeitalter des Utopieverlustes, sondern mitten in der unfassbarsten U-Topie, die heftig ins Alltagsleben eindringt. Das Abstrakte, die Formel, die realisierte Zahl geht um. Bisher im Kopf, jetzt aber im Wald, im Garten, in den Blumen, versteckt im Essen. Die Kopfgeburten werden "erfahrbar", von allen . Die neue Epoche ist angebrochen. Die Explosion des "realen" Manierismus in der Technik: "Grenzwerte", "Nebenwirkungen" haben Stimmen, Augen, Gesichter, Tränen. Das Sichtbare ist nicht nur in die Funktion "gerutscht," wie Brecht noch meinte, das "Unsichtbare" ist auch nicht mehr nur als Malerei, als Concetto, als Gedicht erfahrbar, sondern wird wirklich, wenn sich etwa die Kühe eines Bauern neben einem Chemiewerk gelb färben. "Die Welt des Sichtbaren muß auf eine gedachte und doch in ihr versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt... werden... Wer die Dinge einfach gebraucht, so nimmt, wie sie ihm erscheinen, nur atmet, ißt... ist nicht nur naiv, er verkennt auch die ihn bedrohenden Gefährdungen." Damit aber betritt "in allen Bereichen des Alltags ein theoretisch bestimmtes Wirklichkeitsbewußtsein die Bühne der Weltgeschichte." (Ulrich Beck, Risikogesellschaft", 1986).
Sprays, Tinkturen, Medikamente, Düngemittel, auch unsere elektronischen Haustiere beruhen auf Formeln. Mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und Gesellschaft.
Diese aber klammert all dies aus. Ihr Credo: reduktive Technokratie, ihre Moral:Effizienz, ihre Religion: Materialismus.
UrGrund: überholte Begriffs- und Empiriegläubigkeit, die sich im Zauberzirkel der selbstgeschaffenen Halluzination bewegt. 1989 explodierte diese atomar abgestützte ost-westliche Biedermeierwelt, die den Abgrund weglog. So wurde es nicht fünf vor Zwölf, sondern dreivierteldrei (Wolfgang Hildesheimer).
 
 
10 Ich lese bei Heiner Müller eine paradoxe Formulierung, sie ist auf seine gegenwärtige Inszenierung dreier Texte gemünzt, Laclos "Quartett" (1782), "Mauser" (1920), "Der Findling" (nach 1968): "Die Inszenierung ist eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart, denn die Vergangenheit liegt vor uns und die Zukunft, die in der Gegenwart eingeschlosen war, hinter uns. Das ist vielleicht die Formulierung einer kollektiven Erfahrung, die jetzt von der Bevölkerung der DDR gemacht wird, auch wenn nur Intellektuelle sie reflektieren." (Sinn und Form, Juli/ August 91). - Um das zu benennen, was ist, muß der Begriff sich "manieristisch" überschlagen. Daß die naive Verwechslung der Welt mit ihrer Benennung, so der englische Philosoph George Steiner in seinem Buch "Von realer Gegenwart", aufgehört hat ihre Hypnose auszuüben, sei das Zeichen der Zeit. Nicht mehr nur subjektiv, als Literatenerfahrung, wie bei Hoffmannsthal 1902 im "Lord Chandos-Brief", sondern jetzt ist es die kollektive Schreckenserfahrung eines Zeit-Bruches, überdimensional, risikoreich, lebensgefährlich und doch auch voller Hoffnung; als hätte sich zuerst einmal das verdrängte "Ganze", die vergessene, ja, verbotene Substanz im Einzelnen gezeigt, nun als ein abgründiger Sprung: heraus aus dem Bisherigen, ja heraus aus dem Denkbaren.
Es kam immer undenkbarer und unwahrscheinlicher. Daß es z.B. die Sowjetunion nicht mehr gibt oder Rußland in die NATO eintreten möchte, sind solche "Hämmer" an der Oberfläche des "logisch" Zumutbaren im bisher Gewußten.
 
 
Wir leben seit einigen Jahren wie in einem abgründigen be- weglichen Traum. Und wie steht es in diesem "Abgrund", in dem "die Wahrheit wohnt", wie Niels Bohr einmal sagte, wie steht es in diesem Abgrund mit dem andern liegengelassenen "Pensum", der andern subjektiven Gewißheit, jener Grenze, die schmerzhaft ins Leben des Einzelnen eingreift: der Grenze Tod? Sie stellt am radikalsten bisheriges Denken in Frage. Sie ist der unerträglichste Druck, mit keinem andern vergleichbar.
Die meisten wissen es nicht - aber auch der Tod wurde durch die veränderten Erkenntnismöglichkeiten verändert, die Kopfgeburten, geronnenes Wissen im Gerät, wurden nicht nur als Zerstörung (auch der materiellen und sichtbaren Grenzen) und als Katastrophe erfahrbar, das Unsichtbare machte nicht nur negativ mit durchschlagender Evidenz WeltGeschichte, sondern auch hoffnungsvoll im Aufbrechen der geistigen Grenze. Themen, bisher von Literatur und Religion, eingeschlossen in den Büchern, trat ins Reale hinaus, zum Beispiel wurde durch die Möglichkeit, klinisch Tote mit moderner Apparatur ins Leben "zurückzuholen", Sterben zu einer mit gleichlautenden Zeugenberichten belegbaren Er-fahrungswirklichkeit. Das "geronnene Wissen," übersteigt nicht nur im historischen Grauen jede Vorstellung, etwa als Bombe und Todesfabrik, sondern reicht als Erkenntnissprung an das alte Rätsel, holt dieses ein. Im Unvorstellbaren operieren auch die sogenannten "Tonbandstimmen" oder "Totenstimmen," Sprache im schnellen Bereich der Lichtgeschwindigkeit wird durch unsere Elektronik dimensionsüberschreitend, die nun ebenfalls bisher nur metaphorischen "Totengespräche" der Literatur sind "erlebbar", auf Tonband hörbar, "Geisterphänomene" an jener Grenze der Materialität, an der sich unser wissenschaftliches Paradigma heute bewegt. - Doch solche Wunder mag unserer alter Verstand nicht.
 
 
Wenn wir dem anerkannten Theoretiker Thomas S. Kuhn folgen, ("Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", 1967) gibt es eine Abfolge von Erkenntnisnormen symbolischer Sinnwelten und "Paradigmen" in der Geschichte, die uns bestimmen. Mindestens zwei vergangene Weltbilder wirken heute hemmend, weil sie zu unserem überholten Gesellschaftssystem so gut passen: das ptolemäische und newtonsche Weltbild, das nur für große und feste Körper gilt. Die gegenwärtige MikroPhysik bestimmt unsere Wirklichkeit, die moralischen Konsequenzen aber werden verdrängt. Das ist viel dramatischer, der riesige Konflikt zugleich ungewußter als der Konflikt zur Zeit der Verurteilung Brunos oder Galileis durch den Ptolemäer im Vatikan. Dabei zeigt sich, wie wir sahen, schon die nacheinsteinsche Wirklichkeit; und die wäre, etwa nach Karl Popper ("Logik der Forschung")eine Überschreitung der sogenannten "Naturkonstanten", (wie bei jedem Paradigmawechsel); die wichtigste "Naturkonstante" unseres Weltbildes aber ist die Lichtgeschwindigkeit. Jenseits dieser 300.000 km pro Sekunde aber lösen sich alle festen Körper in Licht auf; es gibt nur noch das Imaterielle, Geistige.
Heute gibt es keine Scheiterhaufen, zumindest im Westen nicht, und trotzdem ist die Zensur gewaltig, denn sie ist Selbstzwang, von äußeren Zwängen gesteuert, wie dies schon Norbert Elias in seiner Geschichte der Zivilisation gezeigt hat.
Keine andere Epoche hat, wie die unsere, das wichtigste Problem, das uns jetzt einholt, so vergessen machen können, es gar als "Fortschritt" ausgegeben. Mit der Aufklärung hatte alles begonnen, die das Paranormale nicht nur verbot, wie die Hochreligionen, sondern es als "Hirngespinst" einfach "abzuschaffen suchte. Noch Kant hatte es abgedrängt und zum "Ding an sich" erklärt. So war z.B.seine Haltung in privaten Briefen zum Hellseher Swedenborg zustimmend, vernichtend aber, unwahr also, seine öffentliche Professorenhaltung dazu; eine Schizophrenie, die sich in seinem Traktat "Träume eines Geistersehers" an merkwürdigen grammatikalischen "Verschreib- fehlern" ablesen läßt. Das Verdrängen des Übersinnlichen aus dem Bewußtsein, so schon Freud, bringe einen "Urteilsstreit" mit sich, dem der Wissenschaftler durch einen verstärkten Positivismus auszuweichen suche. Freud selbst hatte diesen Teil seines Werkes aus Angst zur Veröffentlichung nicht freigegeben. Die- durch Einbeziehen des Nichtwissens - in der Wissenschaft längst aufgearbeitete - "Objektivitätskrise" feiert weiter Urständ in der Gesellschafts- und Machtsphäre. Jüngstes Beispiel - die Weigerung der US-Regierung, von Astronomen, Piloten, Astronauten, Wetterstationen gesammelte Ufo-Berichte der Öffentichkeit zugänglich zu machen. Doch auch die Verschränkung ganzer Industrie-Zweige, vor allem der Ärztelobby und der Pharmaindustrie mit der Regierung und den Universitäten, das Interesse von Lehrstuhlinhabern ihre alten Forschungsergebnisse nicht zum Müll deklarieren zu müssen, blockt alles ab, diskriminiert jenes Denken, das die lukrative und bequeme Konsumgesellschaft mit ihren "Grundlagen" explodieren lassen würde.
Es ist ja auch klar warum: Wenn wir nämlich die ontologische, wie es 1989 mit der politischen Zensur geschah, genau so plötzlich aufheben könnten, und den Kaiser völlig nackt sehen würden, käme dieses einer globalen Revolution gleich. Die Komplexe, die Denkbarrieren, die Ängste, ausgelacht, ja, psychiatrisiert zu werden, verhindern sie, wenn wir imstande wären alles "Gewußte" wenigstens für Stunden zu vergessen, die "reine Zeit" Prousts, das "Nichts" Celans oder Scholems, die "Idea" Michelangelos auch nur für gute Momente der Berührung zu einer Gewißheit, daß es den Tod nicht gibt, werden zu lassen, sogar danach zu leben, könnte noch ins "Kulturelle", das Reservoir der Alibis, abgeschoben werden. Doch wenn diese Gewissheit die Massen ergriffe, rührte es an den Lebensnerv eines materialistisch orientierten Zwangssystems, es würde stärker in seinen Grundfesten erschüttert als durch jede soziale Revolution.
Denn was die Welt ruiniert, sind nicht die technischen Mittel, sondern deren Einsatz aus einem falschen Bewußtsein der Zeitknappheit, das der Todesgedanke eingibt. Das Resultat: Hektik; Raffen, Besitzen, Genießen; denn es wird einmal aus und vorbeisein, eine gnadenlosen Drohung dieses Weltbildes der Panik.
 
 
Vielleicht am adäquatesten und ironischsten wird dieser
Bruch vom Joyce unserer Generation, Thomas Pynchon, erfasst: (in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981). Der Text hat bei ihm die Aufgabe, sich hinauszuwagen, ins Leben zu mischen, die Grenze zu sprengen, wo ein Herausfallen aus Namen und Begriffen möglich ist. In den "Enden der Parabel" kehrt der ineinsgleitende metonymische Schreibprozess die Wirklichkeit und unser kausal funktionierendes Bewußtsein um wie einen Handschuh. Diese Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert mit dem Wissen der Quanten-Logik. Die Lust am Text aber ist schon der Vorgeschmack der Ego-Auflösung, also auch der Erlösung von einengender Zeit, Todesangst und Verzweiflung in einer Fülle, die uns diesseits der Berechenbarkeit und Ausnützbarkeit dauernd umgibt. So ist die "Gegenmacht" literarisch am Werk und berührt die einzelnen verlorenen und verstreuten Seelen. Jener, dem mit dem Tode nicht mehr gedroht werden kann, ist unüberwindlich.


 
 
(Aus: "UTOPIE DES AUGENBLICKS. Denkbilder und Prosaessays")
 
 
RAUM DER UNGESCHÜTZTEN SEKUNDEN
Es hat sich gezeigt, daß das Überraschende, ja, Unwahr- scheinliche im Offnen des Augenblickes, das plötzlich einfällt, in den letzten zwei Jahre überfallartig Geschichte gemacht hat, unser Bewußtsein und "Wissen" kommt nicht mit, Planung wird über den Haufen geworfen, altes Denken, alte Politik, Sicherheiten sind gefallen, die Kategorie des Plötzlichen im Raum der ungeschützten Sekunde ist die neue U-Topie des Offnen.
Und die war ja immer schon da, sogar in der Eschatologie; in der Bergpredigt heißt es: "Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist DA". Bei Luther freilich steht: "Tuet Buße, denn das Himmelreich ist NAHE herangekommen".
 
 
Wenn wir annehmen, daß das östliche gescheiterte Experiment eher ein westlicher Bastard (Marx), ein Versuch am falschen Ort ist, Resultat der Aufklärung: die Geschichte zum Gott machen zu wollen wider die Natur und menschliche Natur, totale Wissbarkeit und Veränderbarkeit zu proklamieren und mit Gewalt durchzusetzen, ist im Osten vor allem der alte Westen gescheitert, die Neuzeit an ihre Anfänge zurückgenommen und vor Gericht gestellt worden.
Nicht die Intuition vom "Ganzen" war und ist falsch, im Gegenteil, diese Intuition ist das Kostbarste, was es gibt, sondern die Überzeugung, daß dieses Ganze sichtbar und irdisch werden könnte, fassbar und sogar realisierbar in Dimensionen einer idealen Gesellschaft. Dies ist die Wiederholung des alten Adam-Falls.
 
 
Es hängt eng mit der Sukzessions-Zeit zusammen, der Uhr, dem Terminkalender, dem Plan, der Bürokratie etc. die jene Offenheit, die U-Topie der Überraschungs-Zeit, in der wir gegenwärtig leben, verstellen, verhindern. Ideologie als höchstes der Schutz-Gefühle. Im Osten ist das alles vorerst weggefegt worden, im Westen tickt diese Zeit weiter, und wird nun in den Osten neu importiert!
*
Der Aufbruch im Osten ist kongruent mit jenem Aufbrechen dessen, was wir für Zeit halten - und Wissenschaft ist an diesem Punkt angelangt -, es wird deutlich, daß tatsächlich Herrschaft nicht zu brechen ist, bevor die zur Strecke gebrachte Zeit nicht durchschaut, ja außer Kraft gesetzt wurde. In den östlichen Revolten, die ihr System hinweggefegt hatten, war das für Augenblicke kollektive Realität. Es wurde dabei von "Wahnsinn" gesprochen. Daß Herrschaft eng mit jener "Zeit" zusammenhängt, kann man auch an den Strafen ablesen, die jede Gesellschaft zu vergeben hat, es sind Zeit- und Todesstrafen. (Auch Geldstrafen sind ja nichts anderes!) Ebenso die Belohnungen, die bereitgehalten werden: vom Bankscheck bis zum Ferienparadies. Doch Zeit ist nicht nur Geld, sondern in ihrer Selbstaufhebung vor allem Freiheit. Als Zeit-Dehung und "reine" Zeit scheint sie tatsächlich das Paradies zu sein, da wo es geronnene Zeit nicht mehr gibt, die ja Un-Freiheit ist. U-Topie, das Paradiesische wurde immer schon als ein In-den-Tag-Hineinleben vorgestellt, das die mütterlichen Kulturen, wie die der Naturvölker noch kennen: Eine offne, organische Zeit, die noch mit wirklichen, nicht mit simulierten Ereignissen verbunden ist.
Genau diese Ereignis-Zeit wird von der modernen Quantenphysik und ihrer Logik im historischen Erlebnisraum des Okzidents heute neu entdeckt.
Sie besagt, daß wir, um überhaupt etwas begreifen zu können, die tiefere Struktur dieses immer wieder auftauchenden "JETZT" erkennen müssen; ein ungeheures, fast unlösbares Problem. Das aber, worin das bisherige Konzept von Logik, sogenannter zweiwertiger Logik, mit dem nicht nur der Alltag, die Politik, ja, die Universitäten umgehn, ist eine Logik "ewiger" formaler Wahrheiten, die das Jetzt nur verstellen, da dessen Struktur damit nicht fassbar ist; eine neue Logik der Zeit allein könnte ihm gerecht werden. Die alte "besserwisserische" Logik des comon sense (siehe Hume und Kant) ist die einer Idiotensicherheit, die das wirkliche Jetzt nie einbezieht, nur die eigenen Phantome wie Scheuklappen und Haft-Schalen dauernd mit sich herumschleppt, das wirkliche Jetzt aber ist da, wenn die Dinge aus dem Namen fallen, dessen Struktur muß rätselhaft bleiben, um wahr zu sein; das heißt, der Zugang zu ihr muß jenes Moment des Nicht-Wissens beinhalten, das offene Zeit als ungedeutetes Jetzt voraussetzt - denn "ich kann kein Phänomen anders als `jetzt'wirklich wahrnehmen, keine Äußerung anders als `jetzt`wirklich tun. Ich wäre bereit, zuzugeben, daß wir hier dem tiefsten Rätsel der Zeit gegenüberstehen, aber ich würde hinzufügen, daß wir uns diesem Rätsel stellen müssen, wenn wir auch nur verstehen wollen, was Logik heißt, ganz zu schweigen von der Physik," bekennt Carl Friedrich von Weizsäcker. ("Einheit der Natur", München 1974).
An diesem Punkt aber treffen sich Wissenschaft und Literatur, ja, an diesem Punkt kann eigentlich nur die Kunst weiterhelfen. Besonders beeindruckend hat diese Einsicht Günter Eich formuliert. Wahrscheinlich ist die offene Zeit nichts anderes als die berühmte Differe11nz, das Geheimnis des Abwesenden, hier im Augenblick und jetzt spürbar geworden, das Fehlende, das
sich zeigt. Günther Eich, der das, was "nur" sichtbar ist, ohne die Zugabe der Absenz, ebenfalls als Illusion ansah, hat es so beschrieben: "Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß auch das Gehirn fragwürdig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dieses sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen".
Daher "übersetzte "er ein ganzes Leben lang "ohne den Urtext zu haben". In einer gelungenen Zeile hört er den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf fe$stem Boden". (Do/ppelinterpretationen, 1969, S. 47).
 
 
Daß wir durch das Schon-Gewordene immer nur im Nachbild dabei sein sollen, ist unerträglich, denn dieses macht ja schon von Anfang an jeden zum Greis, der der Erinnerung nachhängt, falls die Wahrheit sein soll, was uns der Augenschein bringt. Uns sind heute die alten Sinne besonders dafür geschärft, zivilisationsspät, daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen; ich sehe die Reben hier in meinem Garten, die schöne Landschaft, das Meer, und bin erschrocken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist "übriggeblieben".
RAUM UND ZEIT im SCHNITT
Wir müssen wieder lernen den RAUM gegen die ZEIT zu stellen, diese aufzuhalten, zu stoppen, anzuhalten, also EPOCHÉ zu erproben, bis hin zum Chock des Ungewohnten oder der Angst, Zeit "zu verlieren". Raum ist Anwesenheit, Zeit Abwesenheit, ihr Schnittpunkt muß erkannt, die Bruchstelle herausgearbeitet werden: Sprache ist ja innere Zeit, die das Bild bearbeitet, um es aus der äußern Zeit, dem mechanischen Chaos und der Qual des Sinnlosen, der empirischen und der Uhrzeit in eine Wirklichkeit zu bringen, die Lust, also auch Wahrheit möglich macht. Denn Berührung der beiden Sphären gibt eine höhere Lust, die die Sehnsucht befriedigt, ohne die wir austrocknen oder vor Selbstekel täglich mit Selbstmordgedanken umgehn.
 
 
ZEIT UND BILD. ÄSTHETIK DES SCHNITTES
Ereignisketten muß mißtraut werden. Sequenzen, Zeitschnitte sind der verborgenen Wirklichkeit viel näher, so vor allem wenn einzelne Ereignis-Szenen wie im Gedicht zu einem Gespinst von Sinn-Bildern verbunden werden. Ich arbeite seit Jahren mit der Methode des SCHNITTES, der erlebten Zeit in Tagebuchform,erlebtes Jetzt als Querschnitt, erlebte, dann strukturierte Momente im Einfall, die dann im Buch zusammengesetzt werden, ein unendliches Gedicht wäre eine Lösung. Momente in Nahaufnahme, Zeit gezoomt bis in Feinstrukturen, tief gebohrt, bis die Muster erscheinen oder der Grund. Also Ritardando, Langsamkeit oder der Sprach- und Berührungsraum bis zum WORTHOF und den Rändern, um dem unscharfen Zeitfluß Widerstand entgegenzusetzen wie ein Wehr, eine Insel, um das Strömen besser zu studieren, anzuhalten im Schwimmen, sich der persönlichen Zeitstelle Heute bewußt zu werden, wo unser Subjekt an das "Subjekt der Natur" an das große Zusammenhangs- und Informationssystem angeschlossen ist.
Bilder verhindern vorschnelle Schlüsse, lineare Sinn- und Symbolkonstrukte, zu lineares Erzählen.
Aber auch von jenen PAUSEN, dem Zwischenraum, jener "Zwischenschaft" muß hier geredet werden, wie sie Benjamin liebte. Oder auch Hölderlin. Und Celan.
 
 
ZEITPARADOX
Der Gedanke wird angehalten. Mißtrauen in die Verlaufformen der Zeit. Denn die Tiefenbbohrung der Nahaufnahme setzt den aufgesetzten Symbolen einen Widerstand entgegen. Suchbilder der eignen Voraussetzung.
Bilder, die intensiver durch Sprache werden, Sekundenquerschnitte oder Tage werden nachvollzogen, so bewußter gemacht, sie werden noch einmal in der Berührung, im Zusammensetzen zum Buch, also wieder fiktiv, in einen Verlauf gebracht oder besser - in ein Gespinst von Sinn. Aber den Zeitverlauf scheint es ja nun nicht mehr zu geben, nur die Sequenz. Das Verwirrende, wenn sich Bild und Zeitverlauf berühren, habe ich oft erlebt.
 
 
Ich "stehe" in solchen Augenblicken an der Grenze, ich bin stehengeblieben, irgendwo haperts mit der innern Zeit, man hat Schwierigkeiten, den äußern Bildern nachzukommen. Ich wundere mich dann immer wieder, wenn sie doch noch ankommen, wie in Intervallen, daß ich immer noch da bin, wo ich mich gar nicht vermutet habe. Das Bild ist fixiert in seiner statischen Vorstellung, doch die "Zeit", nein, der Außenfilm ist ein Stück weitergerückt. Man blinzelt, strengt sich an nachzukommen, denkt an möglichen Irrsinn, falls das Bewußtsein zu langsam sein sollte oder vielleicht ganz aussetzt...
 
 
Daß es ein Zusammentreffen der Ergebnisse von Zeitanalysen in Physik, Philosophie und Psycho-Analye gibt, die Nietzsches These von der "Wiederkehr des Gleichen" bestätigt, vertieft, kann nur wenig beruhigen. Wir erleben diese Entlarvung jeden Augenblick als kleinen Irrsinn im Voranrücken der Sekunden und als Zurückbleiben der Gedanken.
Ich "stehe" in solchen Augenblicken an der Grenze, ich habe Schwierigkeiten, den äußern Bildern nachzukommen.
Das Ich entzieht sich wie die Zeit, das Objekt bleibt. Das Ich ist, nach Heidegger, der "Spielraum der vierfach-einigen Offenheit", ein "Zeitfenster", das geöffnet und geschlosen wird im Augen-Blick. Derridas "Difference", wo eben etwas war, und sofort ins Jetzt übergeht, davon schon getrennt, unüberbrückbar und doch schon im Überspringen, also rätselhaft ist: Vergehen, Bote des Todes, immer Heranrücken des Unbekannten, des Zukünftigen. Da und zugleich Nicht-da. Das Bewußtsein dabei, so wurde es genannt, scheint ein Gespenst, sitzt einem Vor-Schein auf, einer Täuschung. Denn Gegenwart IST NIE. Heimat ein Niemals, wie der Zeitfluß Illusion.
 
 
Beim Schreiben geschieht dann das Zusammensetzen der BILDER in einem umgekehrten Prozess; nicht der Zeitverlauf, sondern die Sequenzen sind zuerst da. Und in einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und Sinnnähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis. Und schafft einen andern Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende Unvereinbarkeit. Er ist fiktiv, wie Einfälle und Intuitionen und kommt aus einem Bereich, der Grenze unserer Vorstellung rührt.Es ist wie eine Übung, um etwas zu erreichen, was es nicht gegeben hätte, wären wir nach an diesaer Schnittstelle, etwas Nicht- vorhandenes also, das aber sein könnte, eine Menschenmöglichkeit, die verloren gegangen wäre, hätte sich hier nicht Einfall als Weg in unsere Verständniswelt gebahnt; es ist also wie eine Stimme aus einer andern Welt, womöglich aus einer zukünftigen, wo es diese Trennungen nicht mehr gibt.
 
 
*
CHOCKMOMENTE ALS ÖFFNUNG
Alexander Kluge und Peter Weiß gehen als Filmer mit Sequenzen um. Bieten Querschnitte, keine erzählten Längsschnitte. Momente. Oft Schreckmomente, wie Weiß in seiner "Ästhetik des Widerstandes" Géricaults "Fluß der Medusa". Ein Hadesbild der Überlebenden, die wir ja sind, ein Hadesbild, das die Todestiefe im Moment des Schreckens spiegelt, ein Schrei des Untergehenden wird sichtbar, quer zum historischen Prozess. Es ist der unendliche, andauernde Moment des Entsetzens, der alle diese Momente der bisherigen Geschichte zusammenfasst. Zeit anhält, wie das Summen in einem Todesmoment.
 
 
Wie entziehen wir uns dem offnen Geschichtsverlauf, also der Zukunft, und auch der realen Zeit? Durch Geschichten (erzählen)? Doch so lange wir leben ist das unmöglich, reale Zeit, unsere, vergeht trotzdem, auch wenn wir erzählen! Das Dilemma kann nur als Dilemma gezeigt werden. Uwe Johnson löst das in seinem ersten Roman "Ingrid Babendererde" so: Die Geschichte wird mit dem Augenblick, also dem Wahrnehmungsmoment, der war, abgeschlossen, das Erzählte, als Mauer vor der Zukunft, eine erstarrte Sequenz, eliminiert, Geschichte also durch Geschichte aufgehoben. Sie tritt nur in die beruhigende Form der Vergangenheit ein, nach dem Tode.
 
 
"In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehungen keine sichtbaren Lügen. Der begrenzte Kreis ist rein." E.M Cioran möchte die Geburt rückgängig machen, auslöschen. Schreiben ist tatsächlich eine Art Sterben, wenn es wahr ist, und damit das Ich auslöscht. Die Sprache spricht in ungeheuren Dimensionen, der wir nicht gewachsen sind, wenn das Numinose wirklich einbricht, dann lösen wir uns vom Eitelkeitskarrussel, von Zeit- Vor- und Rücksicht.
Die Indianer löschen nach der Therapie ihre wunderbaren Kunstwerke, die Sandpaintings. Das hat nicht einmal Kafka geschafft, er wußte ja, daß Max Brod seine Werke nicht vernichten würde, deshalb hat er ihn damit beauftragt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
(Aus der Werkstatt: UTOPIE DES AUGENBLICKS, Essays).
 
 
 
 
(FÜR "FLUGASCHE." Februar 92)
 
 
 
 
FASSUNGS LOS
 
 
Denkbilder, Fragmente, Tagebuch
 
 
Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um ein praktischer Mensch zu sein, ist dieser Mangel...
 
 
Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe.
 
 
I
 
 
Ich lese in Ciorans "Vom Nachteil geboren zu werden": "Diese Sekunde hier ist auf ewig verschwunden, sie hat sich in der Masse des Unwiderruflichen verloren. Sie wird niemals wiederkehren. Darunter leide ich und leide ich nicht. Alles ist einzigartig und bedeutungslos."
Was soll ich ihm entgegenhalten, im Ohr klingt mir jenes "Nichts ist verloren"!
Spricht nicht dieser Augen-Blick dagegen, der sich schon verwirrt, ich habe mehrer Bücher aufgeschlagen vor mir liegen, als könnten sie mich trösten, gar erlösen. Und lese bei Günter Eich nach, der das, was "nur" sichtbar ist, ohne die Zugabe der Absenz, ebenfalls als Illusion ansah; er hat es so beschrieben: "Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß auch das Gehirn fragwürdig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen".
Daher "übersetzte" er auch ein ganzes Leben lang "ohne den Urtext zu haben". In einer gelungenen Zeile hört er den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: "Ich bin auf festem Boden".
*
Thyrrhenischer Augenblick
Ein Dreieck das Segel/leicht
angeschlagen in Aphasie -
Nichts als der Sand am Fuß.
 
 
Der Augenblick Tor meiner Sinne
zieht andere Saiten auf:
es klingt das Wasser in der Sonne
jetzt ohne Reue Die hohe Welle
rauscht im Wort./ Alles
kehrt sich um.
 
 
Ohne mich fortzubewegen
vom Schreibtisch/ verschwinde ich im Meer.
 
 
Jetzt erst
wird mir klar
daß alles schon
vergangen war
und wie gestern
geschah.
Das stand in meinem Tagebuch, jeder schrieb an jenem Tag den 13. Juli 1989. Und ich dachte: Morgen 200 Jahre Bastille, ein Revolutionsjahr also. (Oh, Himmlisher Platz, herausgeschnitten aus der Zeit, wie der Tod.) Wir lagen in einer Bucht unter einem altelbanischen Leuchtturm. Porto Azzuro. Und ich dachte an Napoleons Exil. Was in jenem Augenblick geschah, geschieht vielen: Ferien. Gegenüber ein Schweizer Hotel, Sandstrand. Nachrichten. Täglich die Zeitung. Es war klar, wir waren am Ende einer Zeit angekommen. Doch mußte ich an jenes "Unwiderbringliche" denken, es gab mir keine Ruhe; hängt mit dem Alter zusammen, als wären wir so die Erledigten.
Gegen Cioran läßt sich ein anderes Zitat finden, so eines von Louis de Broglie, dem Physiker: " In der Raum-Zeit ist alles, was für einen jeden von uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt, en bloc gegeben... Jeder Beobachter entdeckt sozusagen beim Verstreichen seiner Zeit immer neue Schnitte der Raum-Zeit, welche ihm als aufeinanderfolgende Aspekte der materiellen Welt erscheinen, obwohl in Wirklichkeit die Gesamtheit der Ereignisse...existiert, bevor er davon weiß."
Und dann las ich diese Zeilen des Zen-Meisters Dogen: "Die meisten glauben, daß die Zeit vergeht. In Wirklichkeit bleibt sie stehen, wo sie ist. Die Vorstellung des Verstreichens kann man Zeit nennen, aber es ist eine falsche Vorstellung, denn da man die Zeit nur im Verstreichen sieht, begreift man nicht, daß sie stehenbleibt, wo sie ist."
Das Alter der Zeit wenigstens hat seine Vorteile; und da sind wir angekommen.Vorteile?
 
 
*
Was wirklich wahr ist, gibts noch nicht.
Und alles andere ist vergangen.
Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages
setzt du auch morgen nicht zusammen.
 
 
Am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf.
Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub.
Sprünge und Risse im Blickfeld Und alles
eilt/ Du hältst es notdürftig zusammen
 
 
treibst wie eine Mauerblume
Synthese zum Vor-
Schein.
 
 
Und wir saßen an diesem Tag in winzigen plätschernden Wellen, es schien in ihrer Sanftheit so, als wollten sie aufhören. Vor dem Sturm ist es meist ungeheuer sanft das Wasser, kleine Seespinnen rennen dann über die glatte Fläche. Netz. Denk du an ... Arachne vielleicht. Über uns ein altes Gefängnis. - Ich las in einer gescheiten Untersuchung über den Tod, fand mich in der Beschreibung dieses Kreisens an den Rändern des Bewußtseins, das bald explodieren muß, wieder.
 
 
 
 
ALTERN DER WELT. Spürbar am Tag? Auch dieses eine Umkehrung bisheriger Erfahrung: Der Katzenjammer am Morgen; am Abend weniger, außer vor dem Fernsehen diese sogenannten "Achtuhrschmerzen", die vergehn mit dem Wein.
Leopardi hält den Abend für "traurig, entmutigt und der Hoffnungslosigkeit zugeneigt." Und am Morgen soll man angeblich ein Stück der Jugend zurückgewinnen. Aber das Altern nimmt enorm zu: So sei es auch mit dem Universum, ja, mit den Generationen, die verjüngen sich immer weniger, sagt Brancati, der alte Kollege aus Sizilien. Zwanzigjährige seien immer weniger jung. Heute ist das extrem. Naiv sind wir, die Fünfzigährigen, noch naiver unsere Eltern, aber uralt, wissend und clever die Zwanzigjährigen. Mein Gott, was wird mit deren Urenkeln sein? Die leben dann wohl auf dem Mond.
 
 
ALTERN DER WELT. Altern der Generationen. Das Altern des Universums geht durch die Generationen hindurch, so, daß vieles daraus erklärbar wäre. Zum Beispiel auch die Unfähigkeit zu erleben und zu erzählen. Ein Greis jeder, der seinen Tod überlebt hat. Heute glaubt keiner mehr, wie mein Großvater, an ein Weltgesetz, wo die Bösen ihrer Strafe zugeführt werden; wer sich dafür auch im Kleinen einsetzen könnte. Die Begeisterung, die er, die mein Vater noch hatten, fehlt völlig. Es wird alles hingenommen. Wie langweilig sind sie heute, die Achtzehnjährigen. Ich war in Florenz auf einem Geburtstag, zu dem ein Freund, ein Psychiater, zum Achtzehnten seiner Tochter eingeladen hatte. Wir Alten tanzten, tranken, lachten, die Jungen sahen zu und verabschiedeten sich müde gegen Zwölf. Wir Alten blieben bis gegen Morgen. Und sahen dann noch den Sternenhimmel an. Einer sagte Gedichte auf, andere sangen.
Aber besonders beeindruckt hat mich der Bericht eines Westberliner Freundes, der mir erzählte, wie ein Mädchen, das sich in ihn verliebt hatte, mit dem er auch schlief, oft dazu nicht fähig war, sondern wie ein Mondschein- und Nachtschattengewächs nachts stundenlang auf dem Bettrand saß und schrieb, dann aber sich an ihn drängte, als müssse ihr jemand Kraft geben, "Kitt", wie sie sagte, da ihre "Atome nicht mehr zusammenhalten", und sie fürchte auseinanderzufallen wie ein Haufen vertrockneter Lehm.
Wie sollen diese jungen Frauen Kinder großziehn, ihnen Kraft geben. Ich habe keine starken Frauen mehr gesehen, so mein Freund: Frauen, wie meine Mutter, meine Großmutter, die das Elend des Krieges und des Nachkrieges im Osten durchgehalten und die Familie zusammengehalten haben.
 
 
DIE DEUTLICHKEIT DES ZEITGEISTES IM POLIZEISTAAT. Wir sind alle Phantome geworden. Zuhause im Osten da spürten wir das seltsamerweise gar nicht. Obwohl... Wir hofften nämlich, es sei nur ein Ausnahmezustand. Anderswo ja, da gab es ein Leben. "In dem andern Land," schrieb eine Kollegin," da hab ich verstanden, was die Leute so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand." Das tat weh, sie zu sehn. Aber weh tut es auch, zu wissen, daß es in unserem Leben jetzt dafür Gründe gibt, und "es tut weh, die Gründe nicht zu sehen". Man sah die Gründe in der Diktatur und doch lag ein Schleier, ein Tabu darüber, auch Angst und Schuldgefühl, damit umzugehen. Es gab eine Art moralisches Todesurteil für "Unzufriedene", keiner durfte unglücklich sein. Von unglücklicher Liebe schreiben oder sprechen. So pervers war die aufgezwungene Gegenwart, daß sie sich für eingelöste Zukunft halten mußte, die angemaßte, mit Fahnen und Gewehren umstellte, nicht die wirkliche, denn die gab es, und die war grausig trist. Alles sollte übersprungen werden wie in jugendlichen Hirnen, die keine Erfahrung machen wollen, Überflieger, die Widerstände weggeräumt oder weggeträumt, lebten wir schon im Paradies - und litten an der Tristesse der Wirklichkeit, die es offiziell gar nicht gab. Ist das nicht eingelöste Absurdität. Die Schriftsteller denken, Romane berichten. Ja,ja, unsere Regiernden damals waren lauter gescheiterte Schriftsteller, die ihr Volk wie Figuren hin und her schoben, und wehe diese Figuren muckten auf.
 
 
Alles nimmt ab; ist dieser Wahrnehmunghsverlust, den ich schon am Anfang meiner Westerfahrung mit Schrecken gemacht hatte, ich war erst vierunddreißig, die Alterserscheinung, Zeichen auch dieses alten Okzidents: "alles ist so wie es ist", utopielos, real, tatsächlich: wie eine "Wüste der Vergangenheit",(Chateaubriand), damit aber wurde das Alter charakterisert. Aragon schrieb in "Le Roman inachevé":"Ich fühle mich stets wie ein fremder unter Fremden,/ Ich höre schlecht, so vieles kümmert mich nicht mehr, Der Tag entbehrt der sanften schillernden Reflexe: Der Frühling, der jetzt wiederkehrt, bringt keine Wandlung, Er trägt mir nicht den schweren Hauch des Flieders zu."
Freilich mit dem Unterschied, daß noch alles neu war wie ein fremder gläserner Planet. Umso stärker kommt dann die Oberfläche zum Zuge, wie Schopenhauer über das Altern schrieb: "Je älter man wird, mit desto weniger Bewußtsein lebt man... Allmählich aber wird, durch die lange Gewohnheit derselben Wahrnehmungen, der Intellekt so abgeschliffen, daß immer mehr alles wirkungslos darüber hingleitet." Aragon spricht mit Sehnsucht von der "vergangenen Frische der Welt".
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Die Ungeduld nimmt zu, da die Liebe abnehmen muß, das Hängen an Menschen, Dingen, LANDSCHAFTEN; denn das Bewußtsein so viel vergessen zu haben, erlebt und vergangen, entwertet jeden Augenblick, als wiederhole er sich andauern, und so nimmt das Vergeblichkeitsgefühl, damit das Ermatten zu. Auch beim Schreiben ist es so, ich wage kaum noch etwas aufzuschreiben, weil ich soviel schon aufgeschrieben, notiert habe, es unverarbeitet wie das Leben herumliegt. So schleift sich alles ab, verschleißt sich wie der Körper, wird dünner; als fehle der Nachhall, das Echo in der Sache selbst, als wäre nun alles die eigene Kopie, wie eine Konserve; so nähert sich jedes individuelle Leben dem Leben im alten Okzident ganz allgemein, als wäre die Aura, die Schattenregion verschwunden, Wüste eben, alles, so wie es ist. Schon Rousseau schreibt in seinen "Spaziergängen": "Ich war, wo ich war, ich ging, wo ich ging, nie weiter entfernt." Das Wegziel, Madame Warren, die er nicht mehr liebte, bekannt, kein Zauber also. Und Freud schrieb an Lou Andreas-Salomé:"Die Änderung dabei ist vielleicht nicht sehr auffällig, alles ist interessevoll geblieben, was früher so war, auch die Qualitäten sind nicht viel anderes, aber es fehlt irgend ein Nachhall, ich... stelle mir so den Unterschied vor, ob man das Pedal tritt oder nicht."
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SEEKARTEN, früher
Anstatt des verschütteten Turms dort
auf dem Berg/ gesehn nachträglich
heute am 20. Juli 89, auf dem Berg
der Blick zur Zeit der Römer.
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Wie weit reicht das Zeitlange Verwesen
in mir, was ich an Alter habe
Koordinaten von andern erfunden,
die mich führen, das von früher Gedachte,
längst tot die Erfinder.
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Damals war die Welt noch
junge Erfindung wie hier auf dem Blatt:
ein Loch, wo ein Mann aufersteht,
herausschaut: und das war ich,
schon jetzt vergangen und
einmal gewesen.
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Aber offen die Welt früher
für uns, jeder Kurs
stand uns frei.
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(Giannutri, 20.7.89/2.8.91)
 
 
II
Unordentliche Gedanken. Wider die männliche Begriffsgeschichte und das eingebildete Altern .
 
 
AUSSCHWEIFENDE EINSEITIGKEIT. Ich lese. Ich sammele. Diese LESE. Lesen kann Glück sein, fast wie schreiben. Merkur, 5,91. Brigitte Kronauer. Wie man aus der scharfen Beobachtung jedwelchen Dinges fast eine Dingexstase machen kann, "Lektüre des Realen", Versuch ohne Vorbehalt zu sehen, den Wahrnehmungsprozess als gelernten zu entlarven. Nicht präformierte Wirklichkeitspartikel, so daß das Wunder, der Eingang zum Augenblick, noch unscharf, als ein aus dem Namen Fallen erkannt wird, jedoch genau so die vorbedachte Hülse abgestreift und das, was geschieht, hüllernlos erlebt wird.
Dieses gleichzeitig Schreiben, während es geschieht, diese
Unmöglichkeit, wie sie auch Uwe Johnson versucht hat zum Salz und Geheimnis der Momente zu machen, wider das Altern also. So jene Beobachtung der Füße im Wasser, die plötzlich gebrochen und verschoben sind, alles an der falschen Stelle. So sah es schon ein Physiker früher, der gebrochene Stab in der Waschschüssel. Ich spürte auch meine Füsse nicht da, wo ich sie sah; genau dies muß erprobt werden. Die Raster ganz eng, aber erfahren, die Maschen.
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Solche Irrenskizzen oder AUGENBLICKE. Diese Heftigkeit, weil die vorgefasste Denkweise mich nicht ruhen läßt, das Leben raubt. Kein Interpretationsgehäuse ums Ich bilden. Die Wahrheit dann in dem, was hier gebaut wird, steckt im Zusamengetragenen, nie in der Ausage oder Erkenntnis, sondern in der Komposition.
 
 
Bleibt da nur die Lektüre im Vorhandenen, das nie
aufgehört hat zu existieren, obwohl es genau genommen immer schon vorbei ist. Und so wählte ich heute morgen lieber das Beständigste, die entsprechenden Töne des Jeremias: Vom Klagelied auf Pergament breiten sich Schwingungen aus. Auf den Wellen Klingen. Es gibt starkes und schwaches Papier, nur Geduld ihm, die wichtigste Nachricht ist ungeschrieben, und jedes Zeichen, das doch auftaucht, trägt zum Wahn bei. Starkes Papier, schwache Zeichen. Todesurteile in Havanna, in Peking, in Bukarest. Oh, süße Heimat des Verlustes, des Lebens, der Freiheit, aber dienlich der Sicherheit.
 
 
Und da kam ja schon die Nacht über das Gefängnis hinweg, Rotschichten am Himmel, Farbe nahm ab. Wir blieben zum Essen auf dem Boot, zum Schlaf. Der Sturm blieb aus. Ich sagte zu Jann, wir müssen vielleicht doch raus hier, an Land gehn, zu Menschen, vielleicht gibts auch Nachrichten im Fernsehen, ja, das Schweizer Hotel hat eins, wir sahen die Mattscheibe in der Empfangshalle, Deutsche glotzten nackt aus dem Badeanzug, gebräunt und gefettet. Jann aber wollte die lösenden Farbschichten vom Himmel eindringen lassen, wohin Jann? Meine Illusion: als wäre Leben: Leben. Lebt es nicht aus dem Selbstbewußtsein einer unmöglichen, unrealen Wahrheit in dir, die aber ist: Lektüre. Also ein Buch.
Und dann die nackte Utopie im Cockpit, die nach ihr roch, sie war. Sie?
 
 
Brandenburger Tor einmal anders. Die Geschichte hat eine Errektion.
 
 
TRAUM VON ZWEI FRAUEN, DIE MIR DAS OFFNE ZEIGEN. An einem dunkeln Tor die eine, als wärs ein verkleinertes Brandenburger Tor. Die andere im Flugzeug. Eine enorme Süße, und die Hautberührung so sanft wie Samt, nein, eine Gedankenseidenberührung, Berührung der Gedanken, alles nur ein Gespräch und gemeinsames Gehn, Annäherung, ich setzte mich im Flugzeug zur zweiten. Immer mit diesem Schuldgefühl, das ich jemandem Unrecht tue. Dem Alten. Meiner Frau Jann? Und wie ein Beispiel, diese Gewalt, das "Übergehen" von dem, was da war: auch die gemeinamen Erinnerungen: die sechste Phase der Kabbala. Da wär dies wunderbare Neue (Ufer aufbrechen) und der Schmerz, Abschied zu nehmen. Aber auch Johanna fragte mich gestern: so etwas wie Prickeln, das möchte ich wieder erleben. Prickelt es bei dir, wenn du mich anfasst? Es ist ja nur Vertrautsein und Zärtlichkeit. Der Chock, das Unerwartete fehlt nach vielen Jahren. Mit den beiden Frauen, im Flug, am Tor also versteckte ich mich im Grunde vor ihr, wie sie sich gerne mit jenem andern, dem Maler, zu dem sie eine unglückliche Liebeskrankheit entwickelt hat. Er ist das Fernweh. Die noch unausgeschöpfte Sinnlichkeit, also der Augenblick, der neue, frische? Und freilich das Chaos in ihr. Und jene Frauen in mir. Jungsein heißt also: nach Nietzsche, noch Chaos in sich haben. Unordnung und frühes Leid, heißt eine Mann-Geschichte. Frühjahrsgefühle, eine Wunde. Ostern, wehe Gefühle. Märzblut, krudes Knospen. Blasse Frühlingsmädchen aus dem Internat. März im noch winterkalten Wald von Baneasa, Auferstehungsgefühle im rauchigen Snagovkloster.
 
 
Und schrieb ins Tagebuch am 20. Juli 89: Das war Literatur gewesen. Heute erwarten wir jede Sekunde den Einbruch, daß etwas Unvorstellbares geschieht.
Wir sind getrennt von der großen Erwartung, die real schon ihre Vorzeichen auch an die Hirn Wand wirft. Große Schatten zwischen den Träumen. Wetterleuchten hieß das früher.
 
 
In Ungarn waren für die Flüchtlinge aus dem andern Deutschland die Grenzen geöfffnet worden. Eine Stunde Null, wie ein riesiger Kopf ist zu erwarten, zum Glück oder zum Wahnsinn. Die Historie hatte eine Errektion.
 
 
Ich aber saß einfach da, am Wasser. Und sagte mir: nur was da ist, bewegt die Gewissheit, die vor lauter Stille weiß, wie dieses weiche Wasser heute Abend, tauch ein: es ist ein wenig Gott, der innen wartet, ein Flüchtling darfst du sein, wozu noch so im Vor-Schein kämpfen wollen. Hau ab. Das Bild. So steigt jetzt aus jener Hand: ein wenig mehr als Blau, von dir berührt, die Kühle bei Verdursten, denk ich, alles andere war die Wüste, der Verstand. Nur was sich öffnet, feucht wie dieser Grund, erinnert wie ein Blitz: Du darfs den Namen deiner Heimat jetzt ihm nennen, drei Berge beinahe Bun wie ferne Särge, die doch stimmen. Du wirst nie dort in jenem Blick, in jenem Gras begraben sein... Und wache auf. Jann sagt, du träumst ja mit offnen Augen.
 
 
VOM GROSSEN PLAN UND DER NATUR DES NICHTS. Mein Vater sagte mir, du kannst unmöglich alles voraussehen und planen. Es wird einmal eine schwere Stunde kommen, sie kommt für jeden, da fallen Strahlen aus einer andern Welt in diese. Ich habs im Krieg erlebt. Ich lachte nur. Ich sprach vom Plan. Ja, sagte er, in jedem Leben gibt es einen, keiner kennt ihn. Ich lachte, hielt einen langen Vortrag über das lichthafte Futur, das wir eben gerade vorbereiten. Fühlte mich ihm überlegen.
Nicht nur jene Pläne, diese Lächerlichkeiten sind gescheitert. Nein, überall schlägt die Natur zu, nichts ist planbar,außer der Unplanbarkeit.
 
 
 
 
GEGENDEN DES ZUFALLS? Literatur und Kunst, vor allem die weibliche, werden zum vorgreifenden Erfahrungsfeld und Brückenbauer jenes Neuen im "Tun, was geschieht". Schon André Breton hatte vor Jahrzehnten erkannt: "In allem gilt es, den unbedingten Vorrang dessen zu befestigen, was dem weiblichen System der Welt im Gegensatz zu dem männlichen angehört; es gilt den weiblichen Kräften zu vertrauen und keinen andern."
Freilich, den weiblichen Kräften auch im Mann. Also im sorgfältigen Aufzeichnen jener Gegend des "Zufalls", des Alltags, dem, was geschieht: die eine Gegend ist, wo beide Erlebnisfelder (bewußt-unbewußt, Traum und Tag, Begriff-Metapher, Diesseits und Jenseits) nicht mehr getrennt sind. das Männliche ist durch Jahrtausende autoritärer Geschichte krank geworden. Christa Wolf spricht von den qualvollen Versuchen der Männer zur Selbstheilung: "ihr verzerrtes Verhältnis zu sich selbst, ihren Mangel an Empfindung, ihren Verlust von Unmittelbarkeit und ihr Erkalten zu beheben."
Die verheerende männliche Begriffsgeschichte beherrscht alles, auch die Sprache, die Sonde bis ins Unbewußte.
Liebe und Tod und die Revolte durchbrechen ein aufgezwungenes künstliches Ich, machen sprachlos. Widerstand gegen die Vatersprache, die abendländische. Und die Muttersprache der Gefühle, des Alltags? Und ihr mit offnen Sinnen wahrnehmbares Geheimnis? Dafür sind nicht einmal unsere Sprache, unsere Sinnkonstruktionen geeignet.
 
 
Die Lösung ist eine Subversion. Eine Wahrnehmungs-Revolution: Man unterläuft das Abstrakte, das Nur-Gedachte, den "Sinn", den falschen Kitt. Es gilt, die Gegenwart wiederzugewinnen.
"Die Bond Street faszinierte sie immer; die Bond Street an einem frühen Vormittag in der Season; die wehenden Flaggen; die Schaufenster: nichts Grelles; nichts Glitzerndes; ein einziger Tweedballen in dem Laden, wo ihr Vater sich fünfzig Jahre lang seine Anzüge hatte machen lassen; ein paar Perlen; ein Stück Lachs auf einem Eisblock. "Das ist alles", sagte sie mit einem Blick in die Fischandlung. "Das ist alles". Ein von einer Frau geschriebener Text, aus Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway". Nichts Dramatisches, und doch ein Aufblitzen des wirklichen Augenblicks.
 
 
Ja, die Substanzen. Und wenn die geschmeckten Bilder sich zusammentun, dichtes Netz von Gerüchen, sind wir im Paradies, jaja, in der Kind Zeit, aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie der Anfang, Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen in Scheiben die Lampe von der Gasse, hilft meiner Phantasie nach, alle Kinder fühlen ähnlich. Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als "Pelzkugel auf der Zunge", aber der Kopf dick/ wächst wie eine Wasserkugel, die ich im Hohlraum am Gaumen und an der Zunge schmecke, der Kopf ist auf der Zunge riesengroß, summt, er, auswärts gewachsen, ein Ozean, der Wassergeschmack. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel, den hat die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen, der Mann kommt langsam herein, die Tür knarrt, er will mich erwürgen, es ist ein Gespenst mit knotigen Fingern.
 
 
Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Eine Tante im Baumgarten, hießes im verlorenen Transsylvanien. Fetter Lehm, wer nahm uns daraus. Denk nicht zu weit, das rote Haus, nicht weit dann die Tornaz. Rauchig alles, die Armut ungewaschen, Geza hütet die Kinder, zehn in der Bretterbude, Rauch quillt aus dem improvisierten Kamin, Schnee knirscht unter den Schuhen, zehn Kinder in meinen Fußspuren, auch der Krähen, der Hasen, der Naturkundelehrer Höhr sagte als Jäger kennst du die Spur: hier ein Wolf, der Hund heult, Nacht am Mond, kalt, in den Spuren, Kinderfüße, barfuß im Schnee. In den Nacken aber rieseln von der Tanne eisig tausendfach Sterne, die Flocke.
 
 
Bei Substanzen darf keine Zeit übersprungen werden, langsam, Schritt für Schritt ziehen die Sinne ihre Zeitbahn, sonst Leere. Im Kopf falsche Gedanken Gänge.
 
 
Solch ein Wahrnehmen ist immer das Neue, der Anfang. Ganz neu und voraussetzungslos beginnen zu dürfen, Entkommen - im Augenblick der wahren Empfindung. Das Offne. Gisela von Wysocki formuliert: "Die Frau ist ... unabgeschlossene, unvollständige Form, angesichts der Monumente, Denkmäler, Grabmäler, die die Kultur des Mannes, Phallus-Kultur, sich geschaffen hat."
 
 
Nur "unordentliche" Gedanken entsprechen dem enormen Schwanken des Ich, der Stimmung, der Zeit. Sie selbst könnte, genau wie ich, nur vom Ende her, vom Tod her also "Wissen" , was geschieht. Da wir Posthume sind, kommen wir dem näher.
 
 
So wie sich Montaigne gegen das Mittelalter und das Dogma sträubte, sein Tun, was geschieht kultivierte, so ist es für mich das Parolenerlebnis. Frei sich dem Augenblick hingeben können.
"Ganz ohne Ziel leben! Ich habe diesen Zustand aufblinken gesehen und ihn oft erreicht, ohne fähig zu sein, darin zu verweilen: ich bin zu schwach für ein derartiges Glück." (E.M. Cioran.)
VOM ALLESWISSEN. Üb/erall diese Schichten der Erinnerung, nun entstehen ganz neue, überlagern die alten. Ich muß nichts erfinden, die Realität, die ich erlebe, und dann - mein Satz tut es jetzt, wie er zusammenführt. Reicht es, ihm zu folgen? Oder ist das Areal zu klein, unterbelichtet, wie es bei uns hieß? Beim polnischen Kollegen Zagajewski finde ich diesen Satz: "Selbstverständlich begeisterten mich die Ideen. Nur in der Jugend nimmt man die Philosophie sehr ernst, nur dann sucht man die definitive Lösung, die klare Antwort. Deshalb war ihre Philosophie wie für junge Leute geschaffen. Die Menschheit lebt im allgemeinen ohne Programm, und jetzt gefällt mir das, aber damals empörte und verletzte es mich." (Akzente 1/90).
 
 
III
 
 
Die falsche AUTONOMIE und das MAUERN ist wider die Natur,die TOTALITÄRE SEELE ist abendländischer Provenienz. Ihr Extrem ist im Osten gefallen, damit das ideologische Zeitalter, das Abblocken des geschichtlichen Prozesses, des offnen Augenblickes. Diese Krankheit ist durchaus auch im persönlichen Leben verheerend spürbar, dieses restriktive Ego, diese Vergiftung durch Nützlichkeitsdenken, durch PLAN, sich nicht öffnen können aus mangelndem Vertrauen in die Kräfte, die uns tragen, Kräfte, die größer sind als wir. C.F. von Weizsäcker schrieb, Heidegger habe daran gelitten, daß das Denken im "Ge-Stell" angekommen sei, die Welt nur noch als Sytemteile existiere: "Diese Wahrheit ist zugleich Unwahrheit, denn die als selbstständig vorgestellten Teile... sind selbst Produkte des Begriffs... Das Zutrauen in die Sicherheit durch Planung... ist ein Mittel der rettenden Wahrheit den Zutritt zu verwehren."
Die Nichtplanbarkeit hat sich im totalen Desaster dieser Weltschau und Politik gezeigt. Aber in diesem Raubbau ist der Osten nur ein extremer Ableger der westlichen Ideologie von der Beherrschbarkeit der Natur und des Menschen, der Geschichte und der Gesellschaft, des Nützlichkeitsdenkens, das diese Welt runiert hat, der sogenannte "Fortschritt" als Ideologie eines unendlichen materiellen Wachtums auf Kosten der Natur und der menschlichen Natur.
 
 
ÖDIPUS UND DIE MARX-UND ENGELSZUNGEN.Ich erinnere mich an meine Marx- und Engelszungen, die ich wie ein persönliches Pfingsten gegen meinen Vater einsetzte: ich wußte alles. Das war ein phantastischer Schutz. Vor Leid, Krankheit, Schicksal, Tod. Vor dem Morgen, jener Sorge, die an uns jede Nacht nagt. Nur nachts schrie ich manchmal wie ein Tier, verspürte Grauen. Aber wenn Denken einsetze, war Ich wie in einem festen unzerstörbaren Haus geborgen. Und wußte nicht, daß ich der Gegenwart so keineswegs entkommen war. Der Katzenjammer kam später, als der Bart ab war. Das war eine gestohlene Religion nach dem Aus jeder Religion in Europa, die nicht weit reichte, eine Überwelt, die nur im Hirn saß, sonst nirgends. Und in der Lüge des Staates, der uns damit fing und die wie eine Kirchenglocke, wie plausible Predigten und Lehren klang. Eine Ordnung, die alles umfasste, das ganze Leben, den Kosmos, Meere, Himmel, Sterne, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, den Tod, die Liebe, die Freundschaft und die Revolution.
 
 
DIE ÜBERSPRUNGENE ZEIT UND DIE VERSÄUMNISSE. Daß ich nicht zu leben meine, Zeit immer schon vergangen ist, als hätte ich sie übersprungen, da ich keine "Umwege" machen möchte, den kürzesten Weg, ja, den Kurzschluß wähle, wie mit einem Helikopter über die Landschaft fliege, wie über mein Leben, kulminiert im Schreiben. Das erwies sich als Irrweg, weil Erfahrung so nur mittelbar zu machen ist, wie ein Beobachter und Zuschauer des abgezogenen Lebens. So entsteht das Gefühl immer zu spät zu kommen, etwas versäumt zu haben. Lebenszeit vergeht andauernd, doch sie häuft sich, ihre Sekunden undurchlebt und undurchwachsen von mir, so daß daraus keine Kontinuität und kein geordnetes Erinnerungsbild im Zusammenhang entsteht, also auch kein Lebenslauf, nur Eindrücke, kleine Szenen. Liegt nicht auch darin die Unfähigkeit zu erzählen, Unlust daran? Und weil das zusammenhängend Erlebte nicht im Ausdruck geübt wurde, so also der Kitt zur Gedächtnisbildung vertan war, so nur Unreife,nur Persönlichkeitsfragmente, die in mir herumlagen. Mangelnde Ausstrahlung könnte daher kommen, von der auch L. manchmal redet: Du bist so blaß. Man spürt dich nicht. Durch Kopfgewächse wird das Fehlende ersetzt, Theorien anstatt lebenskonkrete Intelligenz und Legenden anstatt Lebensberichte oder LebensBeichte. Daher auch die Unaufmerksamkeit andern gegenüber (L: Du siehst mich ja nicht!)
Die Ursache dafür könnte außer in einer Charakterschwäche wohl - auch in dem zerbrochenen Lebenslauf selbst liegen, in den Brüchen, im Übergang vom bürgerlichen zum roten Leben, wo Weltläufigkeit nicht möglich war, antiwilhelmeisterlich die Waisenkinder des Klassdenkampfes nicht wachsen konnten. Und dann der Bruch durch das Exil.
Und so geht es jetzt immer weiter mit dieser Leere, die nachklingt. Dem großen Berg roher Sekunden Lebenszeit ausgesetzt, kein Wachstum. Dazu müßte ein zu großer Haufen an Lebenszeit abgetragen, verarbeitet werden. Die Rahmen sind da, die Rahmen im Rahmen im Rahmen, doch der gelebte Inhalt fehlt. Und nun auch die möglichen Reibungsflächen hier.
 
 
WER IST GOTT? WO IST ER NOCH ZU FINDEN? Ihr Gott, aber auch der Gott der Kirchen hat ausgespielt, damit aber der billige Laden, bei dem sich jeder selbst bedienen konnte. Heute ist es anstrengend einen Sinnzusammenhang zu finden.
 
 
"Er" ist der größte Zusammenhang, ein Aufblitzen, das ist das Glück, auch heute noch möglich; hast du nicht die Sprache, sagte T. Du kannst nie verlassen sein. Nein, nie verlassen, sagte ich, falls ich allein bin, nur dann. Du hast Recht, sagte er, es gibt eine gute und eine sehr, sehr böse Einsamkeit, in den Städten, unter Menschen, mit den leblosen Dingen, wie sie, sie ich, wie du. Alle Formen der Grammatik wiedersprechen dir, solange wir sie nicht heimführen in jene Gegend.
 
 
Pieve 28. September. Irrenzeichnungen kamen mir heute morgen in die Hände, aus der Waldau, aus Klosterneuburg bei Wien, wo ich mit meinen schreibenden und malenden "Kollegen" Kontakt aufgenommen hatte. Dabei finde ich auch Mandala-Malerein vom Schizophrenen Wölfli und eine Notiz: In der Waldau bei Bern lebte einmal ein wahnsinniger Maler. Er gehört zur Generation meiner Großeltern, war also gefühlvoll und naiv. Aber auch größenwahnsinnig. Sein wichtigstes Requisit - ein Vogel. Er malte. Was er hörte, in sich war außen Leere. Sein Vogel: Nah, gleitend, herrlich, fühlsam wie ein Mädchen, ein Ton, der auch durch die Blume kam, stimmte, floß ein Vögeln durch alles hindurch.
 
 
Daß wir in der Wirklichkeit mit verrücktesten Dingen, auch den unwahrscheinlichsten rechnen müssen, kommt dem Bedürfnis nach Hoffnung sehr entgegen. Eine dieser Verrücktheiten ist zum Beispiel die Grenze. Nein, nicht jene zwischen Leben und Tod nur, sondern die alltägliche Grenze: Die Grenze Spaniens zu Portugal mißt 987 km, doch Portugals Grenze zu Spanien mißt 1214 km. Ähnlich ist es bei Belgien und den Niederlande. Wie ist das möglich? Je feiner der Maßstab, umso länger die Grenze. Endliche Grenzen können unendlich lang sein. Auch in der Zeit. Das wissen Leute, die im Osten gelebt haben. Kurven gebrochener Dimensionen nennt der Chaostheoretiker Mandelbrot "Fraktale".
 
 
Wenn ich die Zeitung las, meinte ich wirklich zu träumen, und ganz gesund, erschrocken und erfreut, daß in der Welt nun etwas geschieht, was ich selbst jahrzehntelang erhofft hatte, eine Stunde der Wahrheit; offen, brutal, ungerecht und voller Überraschungen.
Gisela zeigte einen Brief von einer entfernten Verwanden aus Erfurt, diese brave Schülerinnenschrift, die ging auf dem Blatt schwerfälllig voran in den kleinen Garten, Gemüse, Obst, das vor Augen, das Häuschen, und dazu stand da, daß sie jene Leute nicht verstehen könne, die so unbedacht und für immer ihr Haus, ihren Garten vor allem verlassen. Wer erntet die Früchte, Äpfel, bitte, schön. Hinaus ins Ungewisse.
Gisela murrte und murmelte: diese blöde Kuh, soll sie doch in ihrem Stall bleiben. Gisela hat eine Wut auf die Brüder und Schwestern.
 
 
ICH HABE MICH SELBST ÜBERHOLT. Zu L. sagte ich, ich habe mich selbst überholt. Wieso, fragt sie. Ja, jener, der sich zurückgezogen hat, der im Inkognito lebte, wird von meinem neuen Bewußtsein, das langsam aber sicher gewachsen ist seit 89, ausgeschaltet. Nun kommt von außen der Zeitwirbel, dem steht mein Bewußtsein entgegen, seine Grenzen werden aber aufgelöst, und es kommt schutzlos in den Sog, vermischt sich damit, kommt da neu und völlig verändert, gewaschen, wenn du willst, wieder zum Vorschein. So tut es mir auch leid, nicht gleich nach Berlin und dann nach Bukarest gefahren zu sein. Das läßt sich nicht wieder gutmachen.
 
 
Der Versuch, Rhythmus beim Schreiben einzusetzen, wie früher, hält nicht, was es verspricht; jetzt, durch die Öffnung, sind wir auch näher am Boden, den wir bisher vermissten, dieser "Wagen des Rhythmus" war nötig, weil ich über alles hinwegflog, und wohl auch, wie Nietzsche sagte, die Gedanken, die im Gedicht so festlich daherkommen, zu schwach sind, um zu Fuß zu gehen.
 
 
IN DER ERINNERUNG IST DAS UNMÖGLICHE DA, VERGANGEN. Schichten: Wahre Augenblicke, wie ein Traum , fast vergessen ein Gebäude vor mir, das "Dampfbad", davor hohe Bäume, Bänke vom Regen ausgewaschen, die Rillen wie winzige grauschwarze Straßen im Holz, und eine Straße mit Schanzgraben vor meinen Augen, nah, wie ein Geruch nach nassem Holz, es hat aufgehört zu regnen, Nebelschwaden ziehn ins Tal IM TRAUM GLAUBT JEDER, ALLES SEI WIRKLICH. Er aber sagte, es sei genau so schwierig und sogar schmerzhaft von Köln nach Berlin zu ziehen, als von Kronstadt nach Lüneburg, und sprach die ganze Nacht, anstatt zu träumen, vom Exil. Als es aufgeschrieben war, schämte er sich sehr, es zum Besten zu geben die Bilder überlagern sich wie Wolken, kennen keinen festen Ort WENN ICH: WIR SAGE, meine ich die Sprache, die sich fortbewegt ALLES EIN MÄRCHEN, wir sind lange versteckte Kinder, keiner gibt es zu, hart ein Mann, der alles vergessen will FOLIO, RÜCKSEITE. Nachdem alle Schrecken vergangen waren, begannen wir nicht zu leben. Zu langsam, wie sich herausstellte. Nicht einmal die kürzesten Ereignisse konnten in all ihren Zusammenhängen und nur unter Strafe fest gehalten werden; es fiel aber niemandem ein. Niemandem Die Träume scheuchen nachts wieder auf. Und ich hör sie fast höhnisch lachen jetzt, spät und nachher; damals, als der Schrecken nicht vergehen wollte, fühlte ich mich als ein verdämmerndes Geräusch irgendwo im Kopf, der nie kühl war die Männer im weißen körpernahen heißen Nebel glänzende schweißnasse Haut, kein Wort, nur "türkisches Bad" fällt ein, denn als die Bilder in unseren Köpfen waren, hatten wir die Worte verloren Immer wieder kehren sie an jene Orte zurück, wo wir noch am Fluß oder an den alten Brücken wartend liegen, bis der Tod die Träume endlich vertreibt, die Orte sind ja längst tot, und warten nicht mehr. Bei meinem Begräbnis war ich nicht dabei, ich durfte die Grenze nicht überschreiten. Er, in fremder Erde, ausgewandert, also in Deutschland, unter einem Holzmal, aber siebenbürgische Eiche, ohne Kreuz, eine Art Menihr. Die Farben der Freunde waren zu grau. Musik, selbst aus fernen Ländern, gab es nicht. Diese Welt zu ändern, gaben wir darum nicht auf, es blieb uns nichts anders übrig, denn sie, nicht wahr, verändert uns nur, wenn der Druck fehlt, und wir es tun, ohne es zu wissen; wie ihr. Aus den Zellen blickten wir zu keinem Horizont. In den Ebenen längst herabgebrannte Feuerstellen, die Schlachten erinnert. Ach! ein Teil von ihr sind wir dennoch geblieben. Wir verabschieden uns, Erde. Ich sehe die andern Steine nahe am Bad, jenseits des Parks, an der Bahnhofsstraße, die Körper unter der Erde, ohne Kreuz, Steine gefallener Rotarmisten, ihre Sterne, die längst untergegangen sind auf den geraden Reihen des Grabmals in fremder Erde. Die im Gefühl so unterschiedlichen Toten über den Wolken unterhalten sich noch heute über den Unsinn und die Entfernung vom Heimweh in uns Aber, aber, was wartet denn da, was so versäumt wurde? Manchmal einsilbig Dialekt und der Kopf meines Großvaters mit großer Glatze, ein redender Mund, darüber die grauen Augen, die mich beim Schweigen dann forschend ansehn und erwartungsvoll, fast neugierig, obwohl sie lange tot sind, sagen sie. Wir saßen gefangen in der Nähe, in den Häusern, die noch fest schienen und schützten, so glaubten wir es ihnen, bis die Sprache durch die Mauern drang, und sie langsam entfernte, als wären sie nie gewesen Wir können dich noch nicht beschreiben, Zerstörung. Unsere Köpfe waren einmal voller Unruhe, jetzt hat sie die Uhr, ihr Räderwerk. Zeit, einen, diesen Augenblick lang, steh, um zu lachen über die Winzigkeit eurer Erlebnisse.
 
 


 
 
 
 
KANN MAN HISTORISCHE EREIGNISSE REKONSTRUIEREN?
Zu einem Standardwerk über die Deportation der Siebenbürger Sachsen 1945
Auch meine Erinnerungszeit reicht in jene Ereignisse vom Januar 1945 hinein, viele der Rumäniendeutschen, die heute die Sechzig überschritten haben, sind davon geprägt. Doch reichen persönliche Erinnerungen aus, sich ein Bild jener Zeit zu machen? Jeder weiß, das sie nicht ausreichen, und doch fällen die meisten ihre Urteile aufgrund ihrer persönlichen Erinnerungen! Sie sind freilich für jeden lebensprägend. Ich gehe auf dieses Dilemma ein, weil es auch das Dilemma des dreibändigen Werkes über die Deportation ist, das Oral History anwendet.
Auch ich erinnere noch genau jenen "Schwarzen Sonntag", den 13. Januar 45 in meiner Vaterstadt Schäßburg, die Tage davor und die Tage danach, den Mundfunk, die Anekdoten, sogar Witze, die Tragödien und die Angst jener Wochen, die abenteuerlichen Verstecke, etwa ein Fuchsbau, in dem sich ausgerechnet mein Naturkundelehrer versteckte, an zwei Verwandte, ein Ehepaar, das sich einmauern ließ, und denen täglich das Essen durch ein winziges Loch in ihr Verlies hineingeschoben wurde, wie bei tibetanischen Mönchen; an einen Freund meiner Eltern, der Leonhardt hieß, sich als Leon Hardt bei der Polizei meldete, wurde prompt freigelassen, ein anderer, der - schon einwaggoniert - als "unabkömmlich" freikam, aber den Rucksack vergessen hatte, nochmals zurücklief, vom russischen Bewacher zurückgehalten wurde, mitfahren mußte, und im Donetzbecken den Tod fand. An einen Onkel von mir, der säumig beim Rucksackpacken war, und von seiner Frau angetrieben wurde, "mach schnell, sonst kist tea noch ze spet" (sonst kommst du noch zu spät!)
An solchen Details und Ereignissen, so unbedeutend sie zu sein scheinen, kann viel abgelesen werden. Etwa die Obrigkeitshörigkeit und der blinde Gehorsam bei vielen Rumäniendeutschen, die auch in solchen Momenten funktionierten, wie sie im Krieg und im KZ bei Wachmannschaften funktioniert hatten, und die vielen "Freiwilligen" (ca. 65 000) taten genau zu jener Zeit (Januar 45) in den Lagern - auch in Auschwitz - "Dienst" , als in Rumänien die "Aushebungen" in vollem Gange waren! Und ganz andere Deportationen gab es noch vor wenigen Monaten, Transporte aus Siebenbürgen nach Auschwitz, zusammen mit Ungarn etwa 400000 Menschen, von denen viele vergast wurden. Wenige hatten sich vor der Freiwilligkeit "gedrückt", und einige, wie Dr. Capesius und Drk Klein aus Kronstadt begegneten ihren Bekannten bei der Selektion auf der Rampe. Und wenige drückten sich nun auch vor der eigenen Deportation, um diesen furchtbaren Geschichtsmühlen und Todesmaschinen zu entgehen, wurden aber in beiden Fällen von der Mehrheit als "Drückeberger" eingestuft, und waren fast schon "Volksverräter", wenn sie es taten! Mein Vater gehörte Gottseidank zu diesen Ausnahmen, nahm die Hilfsbereitschaft eines befreundeten rumänischen Arztes in Anspruch! Und diese Hilfsbereitschaft war generell; da gingen z.B. rumänische Offiziere Scheinehen mit Sächsinnen ein, rumänische Ärzte wiesen Gesunde in Krankenhäuser ein, Polizisten halfen bei Verstecken usw. Umso undankbarer ist die Legende, die sich hartnäckig bei den Sachsen hält: die "Walachen sind an allem schuld." Und genau diese, wie viele andere Legenden werden von diesem dreibändigen Werk über die Deportation mit genauen dokumentarischen Daten und Nachweisen zerstört.
Jeder könnte aus seinem eigenen Erleben etwas zum Stimmungsbild jener Tage beitragen; Spuren jenes Schockerlebnisses sind auch ins Werk von rumäniendeutschen Autoren eingegangen, in der biographischen Schilderung von Oskar Pastor fehlt sie ebensowenig wie bei älteren Autoren. (Pastior kommt in einem narrativen Interview sogar als "ganz reizender Junge" vor, er war damals 17, der eine Bekannte erfreute, ihr ein Tannenzweiglein schenkte.)Jene Tage haben dazu beigetragen, daß die moderne rumäniendeutsche Literatur ihr Niemandsland schon zu Hause fand, ihre Bodenlosigkeit entdeckte, ihren Schutz ausschließlich in der Sprache fand. In meinem Roman "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens" kommt die Deportation ebenso in Streiflichtern vor, dann in meinen Gedichten und Tagebüchern. Und bei einem Besuch im ehemaligen Lager Buchenwald erinnerte ich mich an zwei Tote, einen SS-Onkel., der dort im April 45 beim Häftlingsaufstand erschlagen wurde, und dann an jenen Unpünklichen, Deportierten, der von seiner Frau angetrieben wurde, - ein Opfer, der in Frankfurt an der Oder liegt, verstorben an Entkräftung auf der Heimfahrt.
In der Schäßburger Klosterkirche jedoch werden sie beide, der SS-Mann und der Deportierte, ohne Unterschied auf einer Gedenktafel, die vor kurzem enthüllt wurde, als Opfer geführt.
Das vorliegende Werk, eine großartige Fundgrube auch für Autoren, zeigt ein erschreckendes Museum des Bewußtsein meiner siebenbürgisch-sächsischen Landsleute; und vielleicht ist dieses, neben der historischen Aufklärungs- und Quellenarbeit, der eigentliche Wert dieses Gemeinschaftswerkes: die Vertiefung dieses Aspektes einer Kollektivmeinung, der Legendenbildung, die heraugearbeitet wird durch Befragung und Augenzeugenbericht, eingegrenzt auf eine bestimmte Menschengruppe. Im Vorwort von Weber wird als Motivation zu diesem Projekt auch genau von diesem Museum der Vorurteile bei den Betroffenen gesprochen, dieses sich ins Leid und die posttraumatischen Syndrome mischt, und jene noch verstärkt; nicht zu Unrecht wird dies Konglomerat: "subjektive Ehrlichkeit, Unkenntnis historisch-politischer Zusammenhänge, verfestigten Vorurteilen, existentieller Betroffenheit und Leiderfahrung ... sowohl im Einzelfall als auch im Blick auf das Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen als ethnische Gruppe" als Folge der Isolation in der Diktatur zurückgeführt, wo es keine Öffentlichkeit gab, und "wo es das Thema Deportation ... in die Sowjetunion nicht geben durfte". Ähnliches läßt sich auch in Punkto demokratisches Bewußtsein von Menschen, die unter jenen Bedingungen leben mußten, sagen, bei den Ostdeutschen genauso wie bei den Tschechen, Polen oder Rumänen.
Mit recht führt die Einleitung, die Tatsache, daß erst nach 50 Jahren dieser Schock aufgearbeitet wird, auf die außerordentliche Sensibilität des Themas zurück, wo Legenden Geschichte machen, jene Legende von der Verantwortlichkeit "der Rumänen", ihres Staates für die Deportation und damit nach vielen Jahrhunderten der Siedlung auf diesem Boden als Heimat die totale Infragestellung der ethnischen Existenz im eigenen zu Hause unter der Ägide dieses Staates. Eine Infragestellung, die somit auf einer Fiktion beruhte. Weiter muß das Schweigegebot über die Tatsache der Deportation in der Diktatur angeführt werden, die das Trauma noch verschärfte. Und drittens die sensibelste und am stärksten verdrängte Tatsache: daß nämlich die Deportationen "keineswegs isolierte Aktionen historischer Willkür waren. Die Deportation Rumäniendeutscher in die Sowjetunion ist historisch im Kontext des Angriffskrieges des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion sowie im Zusammenhang mit der z.T. nicht unerheblichen Faschisierung der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa zu betrachten." Und mit der Tatsache, daß die wehrpflichtigen Männer zur Zeit der Deportation in der SS und der Wehrmacht gegen "die Russen" kämpften oder als Wachmannschaften in den KZ eingesetzt wurden (allein in Auschwitz 300! Und der Auschwitzapotheker war ein Siebenbürger Sachse!) - im Gegensatz zu den Rumänen, die ja nach dem Frontwechsel nun Alliierte der Sowjets waren, mußten die Rumäniendeutschen zu den Feinden der Sowetjs gezählt werden! Daß der rumänische Staat also auch die im Lande lebenden Rumäniendeutschen durch seinen Frontwechsel schützte, keine Erschießungen, Plünderungen, Vergewaltigungen etc. stattfinden durften, es sogar Exekutionen gegen jene Soldaten gab, die bei Übergriffen ertappt wurden, wird von dieser kollektiven Meinung verschwiegen, die gar nicht daran denkt, solche Erwägungen zuzulassen! Daß also objektiv genau das Gegenteil von dem wahr ist, was viele Rumäniendeutsche glaubten und glauben. Das vorliegende Werk wurde aus diesem Grunde, und weil so viele lieben Legenden auf dem Spiel standen, von der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen abgelehnt, und auch bei Versammlungen boykottiert.
Es wurde in keiner Weise entsprechend gewürdigt und aufgenommen, wie es dies verdient hätte. Noch in einem kürzlich erschienen Aufsatz über die Deportation wird dieses Standardwerk nur am Rande erwähnt, gar behauptet, es verwende keine sowjetischen Quellen zur Deportationsgeschichte, was unwahr ist, und habe deshalb "keine Klärung" darüber erbringen können, wer eigentlich für die Deportation - nicht nur aus Rumänien , sondern aus ganz Südosteuropa - verantwortlich ist. Der Autor Günter Klein weist darauf hin, daß einige wieder Zweifel streuen möchten, weil die Dokumente des rumänischen Ministerrats zurückgehalten werden. Ob da dann nicht doch die Deutschen, anstatt der Rumänen, als "Sündenböcke" deportiert worden waren, bleibe für viele, die gerne an die rumänische Schuld glauben wollen, offen?! Der Aufsatz weist aber dann klipp und klar, ebenfalls anhand der Dokumente nach, daß "die Deportation von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa ... ein vom NKVD minutiös geplantes Unternehmen" war! Und daß auch in Rumänien, die Sowjets "von Anfang an auf ... Personen deutscher Nationalität" bestanden. Es ging um die Aufbauarbeit der von Deutschen in Rußland und in der Ukraine, angerichteten Schäden, Deutsche hatten dort furchtbar gehaust , gewütet, gemordet, es ging um die zerstörten Städte und Dörfer, die sie hinterließen und die verbrannte Erde. Doch - wie ich einmal von Alfred Margul Sperber hörte, der in engem Kontakt mit der russischen Stadtkommandantur in Bukarest stand - ging es auch um die Sorge der Sowjets, daß die Armee möglicherweise deutsche Partisanen zu befürchten hätte. Die Sorge war unbegründet, deutsche Partisanen hat es nie gegeben.
Leider hat auch die deutsche Presse dieses Opus kaum gewürdigt; und die FAZ hat sogar ein negatives Bild gezeichnet, ausgehend von der Behauptung, das Buch gehe ausschließlich auf die Deportation der Siebenbürger Sachsen ein, was nicht stimmt; das Buch stellt dieses Geschehen in einen breiten Rahmen, denn "die Deportation von Rumäniendeutschen bildet nur einen kleinen Ausschnitt gewaltiger Deportationsströme." Und das II. Kapitel des ersten Bandes behandelt auf über 40 Seiten "Andere Deportationen in westlicher und östlicher Richtung".
Die Konzentration dann auf ein überschaubares Feld, eine Ethnie, die Siebenbürger Sachsen, hat seine großen Vorteile, die sich auch bei der Anwendung der wissenschaftlichen Methodologie auf das sehr umfangreiche Material offenbart. Ein Werk, das vom Erlebnishintergrund und dem konkreten Erleben von betroffenen Personen aus allen Ethnien der Deportierten in Ost- und Südosteuropa ausgegangen wäre, hätte den Stoff weder zusammentragen, noch bewältigen können, es hätte alle arbeitsmäßigen und finanziellen Grenzen und jede Forschungskapazität gesprengt.
 
 
Der erste Band, der das historische Geschehen behandelt, die historisch-politische und administrative Genese, diese anhand von Quellenstudium analysiert, widerlegt so allerlei Märchen auf dieser seriösen Grundlage, etwa die falschen Darstellungen des Publizisten Hans Hartl. Hartl ist der wichtigste Exponent eines weitverbreiteten rechtsextremen Denkens bei den Sachsen. Wobei wieder eine Analyse der ethnischen Gruppe und ihrer Faschisierung in den 40 Jahren zur Beschreibung gehört, die mit Ursache für den Deportationsbefehl der Sowjets im Namen der alliiertem Kontrollkommission war. Wobei wichtig ist, daß die Proteste der Alliierten und der rumänischen Regierung und die gesamte Entwicklung im Lande im ersten Band ausführlich besprochen und dokumentiert werden; die Proteste der rumänischen Regierung auf den Deportationsbefehl wurde freilich von den Rumäniendeutschen nie zur Kenntnis genommen. Und Weber et.al. zitieren haßerfüllte Invektiven verschiedener Bücher und Monographien, etwa diese: "In Abwesenheit des größten Teils wehrfähiger Männer wurde die Lösung des deutschen Minderheitenproblems vorbereitet und dabei nach typisch rumänischer Wesensart verfahren.
 
 
Die Besprechung des statistischen und demographischen Materials im ersten Band ist genau und detailliert. Ebenso detailliert ist die Beschreibung und Rekonstruktion des Deportationsgeschehens und der Rückkehr, sowie die Rückführungsbemühungen der Kirche. Für das Deportationsgeschehen und das Lagerleben dienen Oral History- Quellen, viele Tagebücher, Briefe, Berichte, narrative Interviews, Gedichte und Bilder, die minutiös ausgewertet werden. Man erhält dabei den Eindruck, daß es im Vergleich zur Hölle der deutschen KZs hier relativ zivil und human zugegangen sein muß.
Es zeigt sich, daß Oral History-Quellen der eigentliche Schwerpunkt dieses Werkes sind; durch Authentizität und ein radikales Entgegenstellen des wirklich Erlebten gegen einen "hochselektiven Zugriff" auf die Vergangenheit entsteht ein ganz konkreter Stil, der in der Lage ist, die Ereignisse zu erfassen und auch zu verallgemeinern; und man wird an Walter Benjamins Forderung erinnert, daß Geschichte nicht aus der Sicht der Mächtigen , sondern der Besiegten gesehen werden muß; so werden offiziöse historische Darstellungen entlarvt oder zumindest die offiziellen Quellen mit Dingen ergänzt, die diese nie gewußt haben; dieses Verfahren macht den eigentlichen Wert des vorliegenden Werkes aus.
Freilich liegt in diesen "kommunikativen Erlebnisschilderungen" vom heutigem Gesichtspunkt aus, - die Befragten wurden in den neunziger Jahren interviewt - auch die Schwierigkeit, eine Differenz zwischen damals Erlebtem und heute Erinnertem genau zu erfassen; es entsteht eine Art Brille, ein Filter, die eher ein Bewußtsein ( von heute) spiegeln, als die damalige Wirklichkeit. Trotzdem, die Fakten sind ja interkommunikativ und intersubjektiv verifizierbar und als soziales Ereignis herauslesbar. "Zwischen Erleben, Text und wissenschaftlichem Verstehen" muß, das wissen auch die Autoren, "sorgfältig unterschieden werden". Aus diesem Nachteil aber erwächst hier auch ein Vorteil: nicht nur die Fakten, das Erlebnis damals können erkannt, sondern auch jenes bis heute erhaltene Bewußtseinsmuseum muß hinzugerechnet werden, das dann ein kollektives Bild der Gruppe ergibt! Ausgehen die Autoren vom "Text", auch in dem interessantesten, dem zweiten Teil des ersten Bandes: "Texte als soziale Gebilde", vor allem beim Interview. Und diese exempla können durchaus als eine Untersuchung gewertet werden, die weit über das unmittelbare Thema ins Beispielhafte reicht. Das alptraumhafte Geschehen wird nun genau und detailliert mit sehr vielen Zeugen-Zitaten rekonstruiert: Zwangsrekrutierung, Reise ins Nirgendwo, Lageralltag, Arbeit und Freizeit, Ernährung und Hunger, Entlassung.
 
 
Im 2. Band wird die Oral History als soziologische Analyse wiederaufgenommen: "Deportation als biographisches Ereignis, eine biographieanalytische Untersuchung." Vor allem anhand des narrativ-biographischen Interviews.
Was mich am meisten anregte, ist die Analyse der Literatur, die dieses Ereignis zum Thema hat. Die Analyse ist bedenkenswert und fulminant, doch die analysierten Texte stehen weit unter dem Niveau dieser Analyse, können eigentlich kaum zur Literatur gezählt werden! In Texten, die man zur rumäniendeutschen Literatur rechnen kann, wird das Thema meist nur gestreift, so bei drei verstorbenen Autoren, Franz Storch, Ludwig Schwarz, und Arnold Hauser, dann bei Heinrich Lauer und Franz Heinz. Sie werden in diesem Opus aber nicht erwähnt. Und auch das Kapitel "Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema", ist bei der Suche nach guter Literatur auch nicht fündig geworden. Neben den wichtigen Dokumenten und soziologisch-historischen Analysen in Band I "Die Deportation als historisches Geschehen" und den "Quellen und Bildern" in Band III ist sicher der zweite Band das originelle Kernstück dieser Gemeinschaftsarbeit, die übrigens in allen drei Bänden auf Zeugenberichte der "Erlebnisgeneration" zurückgreift.
 
 
Eine "radikale Differenz von Text und Leben, von erzähltem Leben und gelebtem Leben" wird betont. Der Text selbst läßt "Schlüsse auf Beschreibungen des gelebten Lebens, nicht aber auf das gelebte Leben selbst" zu. Eigentlich ist das für solch eine Recherche ein Widerspruch, soll nun die Deportation selbst oder Texte und Perspektiven, Meinungen etc. über sie analysiert werden? Können wir nie wissen, was wirklich geschehen ist? Das geht in die Tiefe und bleibt nicht beim Problem des Augenzeugen und seiner Glaubwürdigkeit stehen! Gleichzeitig wird auf die Oral-History-Bewegung, auf den Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung verwiesen. Es wäre eine extrem pessimistische Perspektive, und ließe den Schluß zu: daß Geschichte eine schmerzliche, ja, vernichtende kollektive Halluzination ist!
In den Interviews erscheinen zu erinnerten "Realitäten", das Filter der Vorurteile: "daß eben die die rumänische damalige Regierung sich entschlossen hat, also die Deutschen hinzuschicken...", heißt ist ziemlich unisono! Oder daß die Russen Untermenschen seien, z.B. Viren eingeschleppt haben sollen, womöglich wie die Juden selbst Viren seien. Oder fragwürdige "Ideale", doch in dieser bedrohten Lebenswelt, wo eine Umwertung aller Werte ins Brutale stattfindet, erscheinen nun sogar diese "Ideale" ein Halt zu geben, Werte: wo Ehrlichkeit, Anständigkeit, Sauberkeit, Pflichtbewußtsein, Sexmoral eng an den Nationalsozialismus gebunden werden. Die Interviewte, die das erklärt, war "Jungmädelführerin" und mußte "ein Beispiel" geben. Diese Perspektive, nicht die von damals, sondern die von heute, als hätte keine Veränderung des Bewußtsein stattgefunden, auch nach 50 Jahren nicht ! ist erschreckend! Dazu kommt noch ein unerträglicher Standesdünkel, der noch noch älter ist.
Entlarvend sind die Aussagen in den "literarischen" Werken, die man freilich als solche gar nicht ernst nehmen kann. Doch bei aller Rechthaberei und Verbohrtheit in alten, zum Teil noch Nazi-Auffassungen, bleiben Trauma und Leid; und Sill hat recht, darauf hinzuweisen, daß diese "weltgeschichtliche Randnotiz", die "statistische Unerheblichkeit" angesichts dieses Mörderjahrhunderts und der Millionen Opfer, "in schärfstem Kontrast zu jenem Leid" steht, das den Betroffenen widerfuhr". Und man muß die Klagen gelten lassen, daß dieses Leid deshalb nicht akzeptiert wird, weil der Einzelne mit der falschen Seite, nämlich der Naziseite identifiziert wird! Und weil die Leidenden zum Umkreis der Täter gehörten!
Doch wo es um Fälschungen geht, wo heute der Dünkel und das Bewußtseinsmuseum, ohne jedes Zulernen offenbar werden, da kennt Sill keinen Pardon und entlarvt schonungslos dieses Museum. So den Band "Verschleppt in die Sowjetunion, Aufzeichnungen von Hans Zikeli, Ursula Kaiser-Hochfeldt, Hans und Frieda Juchum", 1991 im Verlag Südostdeutsches Kulturwerk erschienen. Daß der Verlag sich eine "gezielte Irreführung des Lesers" leistet, diese Manipulation beruht ebenfalls auf einem Versuch, unbedingt recht behalten zu wollen. Sill entdeckt, daß es sich ( bei Zikeli etwa) gar nicht, wie angegeben, um Tagebücher und Texte aus jener Zeit (1945-50) handelt, sondern um heutige Rekonstruktionen. Auch B. Ohsams "Roman" "Eine Hand voll Mahorka", der bei den Sachsen einen großen Erfolg hatte, wird zu recht verrissen, wobei es bei Ohsam schon die Sprache an den Tag bringt, er von den Sprachklischees verraten wird, sich zeigt, welch Geistes Kind der Autor dieses Buches ist: "Flintenweib", "innere Sauberkeit", Pflicht etc. bei den Sachsen, diese Floskeln kommen immer wieder vor. Schlimm ist, so Sill, die versteckte "Haltung" bei den Figuren: wer Menschen an die Gestapo verrät, bleibt gut, Verrat an die Kommunisten aber ist das Böseste des Bösen! Die gutgemeinte Botschaft, daß eine unschuldige(!?) Generation zwischen die Mühlsteine zweier Diktaturen gerät, wird konterkariert durch die Figurenkonstruktion, die Perspektive und die "völkisch" duchtränkte Sprache, so das Fazit Sills.
Als ein besonderes Machwerk erweist sich "Die Mordhill"(1988!!) von Andreas Türk, der "bloß zeigen" möchte "so war es, und so sind wir..." Einige Zitate, etwa über den 23. August 44: "Damals wurden wir - verkauft! Von unserem Vaterland..." Und dazu die andauernde Wiederkehr der Floskel von der "rumänischer Skrupellosigkeit", zeigen auch bei Türk, welch Geistes Kind er ist! Grundton: - "Wir Sachsen sind keine Kriegsverbrecher" - Sill: "Beschämenderweise wissen wir heute einige Namen zu nennen!"
Doch dieses wird von Türk nicht zur Kenntnis genommen: "Ahnungslosigkeit und "verweigerte Stellungnahme", daß die Untaten der Deutschen in der Sowjetunion "uns kalt ließen", und: "ich spreche von den bösen Folgen des Krieges und davon, daß es nach so einer Katastrophe wenig Sinn habe, die Frage nach der Schuld zu verewigen - wo doch alle schuldig wurden..." All dieses charakterisiert eine bestimmte Haltung. Sill ist entsetzt, daß sich "in einem 1988 veröffentlichten Buch", "eine weitere Aussage von ungeheurem Zynismus" vorfindet: "Ich erkenne nur eines ganz deutlich, daß weder die Rumänen, noch die Juden, sondern wir Sachsen den Krieg verloren, ehe er zu Ende ist."
Wenigstens ein literarisches Werk von Niveau gibt es zum Thema: Rainer Biemels bei Erscheinen weltbekanntes Buch "Mein Freund Wassja". Und zwar gelingt dieses Buch, weil in seinem Erzählraum sowohl die Figuren, als auch der Autor angesichts des Mordgeschehens ratlos sind, und es auch sein müssen, so bleibt alles offen. Das hat einen reifen Stil zur Folge, und einen Roman, in dem es dann auch so zugehen kann, wie in der Wirklichkeit, das Unvorhergesehene seine Chance erhält, keine Ideologie, kein Vorurteil alles zudeckt! Sill: daß sich eben "Ratlosigkeit ins Produktive wenden läßt". Während alle übrigen Bücher nur übertünchte festgefahrene Ideologie enthalten, fast wie verdeckte Propagandaschriften pro domo und für eine einzige Wahrheit stehen wollen: "seht wie gut wir, wie schlecht die anderen sind!" Wir sind die eigentlichen Opfer!
Alles in allem sind diese drei Bände zum Thema Deportation ein wichtiges Buch, das mit wissenschaftlichen Methoden dieses heikle Thema in den Griff bekommt, es ins Allgemeine heben kann, ein Beitrag nicht nur für die Geschichte der Rumäniendeutschen , sondern ein mit außerordentlich viel Material fundierter Beitrag zur Deportaions- und Migrations-, ja, auch zur Mentalitätsgeschichte in unserem Jahrhundert; ein Standardwerk, dem viele Leser zu wünschen ist!
 
 
Georg Weber, Renate Weber-Schlenther, Arnim Nassehi, Oliver Sill, Georg Kneer: Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. 3 Bände. Insgesamt etwa 2184 Seiten. 170 Abbildungen. DM 198.- Böhlau Verlag Köln Weimar Wien, 1995


 
 
 
 
DER BAUM WÜRDE SICH WUNDERN, WÜSSTE ER, DASS WIR IHN "BAUM" NENNEN
Über Sprachskepsis, Bildverbot und den Begriff Zeit
 
 
1 Möglicherweise griff die Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in seiner Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Waler Benjamin war es die schon früh vorgenommene Dekonstruktion der "Fortschritts"-Teleologie im starren Blick seines "Engels"; in Louis Althussers "Selbstkritik" war es, ähnlich wie bei Walter Benjamin, der Gedanke: wie läßt sich Selbstbewußtsein erhalten, wie die Kette der Geschichtsereignisse und des status quo, in denen Bewußtsein gefangen ist, wie den "Verblendungszusammenhang" zerreißen. Beim unglücklichen Philosophen Althusser hatte die Entdeckung, daß jede Verbindung zum "Realen" "Imagination" und vereinzelt sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr geben kann, möglicherweise zum Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom radikalen "Bildverbot", ja, "Illusionsverbot" aus; er endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène in der Heilanstalt.
Die totale Entlarvung des "Realen" ist kaum zu ertragen, muß in der Selbstzerstörung oder im Zynismus enden. Heute ist die Lage noch extremer. Wer das Bild,- Sprach- und Illusionsverbot radikal anwendet, verfällt, falls er nicht zu dessen transzendenten Ursprüngen zurückfinden kann, im besten Fall der Anmaßung einer reduktiven Logik, die den großen und undenkbaren Zusammenhang, der jeder menschlichen Sprache unzugänglich bleiben muß, ausklammert. Oder er verfällt jenen populären Vorurteilen, die "Realität", die alles, was so ist, wie es ist, unbesehen akzeptieren, jenem also, was von Platon bis Kant und dem Denken bis heute als Illusion und Irrtum galt: Dem Unmittelbaren, der "Evidenz" der manuipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion.
 
 
Der Schein trügt, sagt schon das Sprichwort. Dabei ist der Wider-Schein aus dem, was wir nicht denken können, täglich im Licht, sogar im elektronischen, greifbar da: "Noch auf ihren höchsten Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches, empfängt sie vom Scheinlosen... Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene." Das Zentrum des Denkens ist heute Deutung der Poesie, ist Denken im Umkreis der Ästhetik. Der Schein trügt: Nicht die Oberflächen kollektiver, sozialer Massenexistenz, sondern der Einzelne, das Subjekt mit seiner Anschlußfähigkeit an jenes "Scheinlose" ist das Zentrum der Ästhetik und der Kunst, und in vielen grundlegenden Untersuchungen auch der Naturwissenschaft, denn auch diese muß heute erkennen, daß sie ihren eigenen Grund nicht denken kann. Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des Subjekts, Bilder und Begriffe verdekken ihn. Und unsere Bild-Inflation heute ist ein neuer Sündenfall.
Schon Kafka wußte, in einer Umkehrung des schlechten Künstlergewissens, daß sich die Realität vor der Kunst und dem Geist zu rechtfertigen habe, und nicht diese vor ihren Oberflächen, daß der Einzelne eine "ungeheure Welt im Kopfe " habe, daß das "Nichts" der Literatur, ihr unmögliches Unternehmen, ein "Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" sei.Literatur, Kunst und Meditation stehn im Zentrum des menschlichen Abgrundes - und nicht das äußere Bild eines "Wirklichen", gar dessen anämische Abstraktion. Erich Rothackers "Metaphorologie", die Hans Blumenberg übernahm, und die besagt, daß Denken ohne (inneres) Bild unmöglich sei, ist nur ein weiterer Beleg wider die weltlose Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen Logik, aber auch der äußeren Bildinflation. Das Umkreisen des Erlebnis- und Erfahrungskerns der Existenz mit Metaphern, Erzählungen, innern Bildern und Traumbildern paßt sich gerade der Sprachskepsis und dem Bildverbot an; auch die "dritte Phase" des "professionellen Vernunftgewerbes", nach der "naiven" und der "ratlosen" Phase - die Phase der Pluralität und Offenheit heute, versucht so dem entlarvten ideologieverdächtigen "Absoluten" zu entkommen, das jedoch nicht mit dem "Einen", der "Alles" ist, und begrifflich nicht faßbar sein kann, verwechselt werden darf, wie es etwa Eckard Nordhofen tut. (Die Aufhebung des Bildverbots, in: "Literaturmagazin" 25, S. 61ff) In der Archetypenlehre der Tiefenpsychologie sind die Traumbilder, Phantasiebilder, die in der Erinnerung unmittelbaren psychischen Realitäten, Zeichen des begrifflich Unsagbaren; ähnliches gilt für Bilder und Metaphern der Poesie. Das Gegenteil des Abstrakten. Besonders deutlich in der Conversio und dem An-Wesen bei der Begegnung mit großen Weisheitslehrern, die keine Schriften hinterlassen haben wie Sokrates oder Christus. Das Angleichen an den Meister und den "innern Meister" (omoisis to theo bei Platon), dieser Prozeß der Individuation ist das, was MIMESIS ursprünglich bedeutet hat, Angleichung des Ich, die Eben-Bild-Suche in einer initiatischen und schmerzhaften Metamorphose, und nicht "Mimesis", wie sie später in einer primitiven "Widerspiegelungstheorie" der nochmals verbildlichten "Realität" auf den Hund kam. Am schlimmsten im Diamat und seinem "sozialistischen Realismus", wo das Kunstwerk nicht Angleichung an "Gott" (omoisis to theo), sondern sklavisch eine "Spiegelung" der "objektiven Realität" sein mußte, und schließlich die Partei bestimmte, was objektive Realität zu sein hatte! Wir sehen also, daß nach dem Scheitern dieser Abbild- und Abgott-Ästhetik, die nur ein Bastard des auch im Okzident vorherrschenden Realitätsglaubens und vulgären Materialismus (hier des Geld-Scheins) ist, das alte "Bildverbot" der Bibel gegenüber dem Realitätsgötzen wieder zeit-gemäß wird. Und was dahinter liegt, taucht heute wie eine Wiederkehr des Verdrängten in der neueren Deutung der Kategorie des Erhabenen als paradoxe Struktur eines Nicht-Darstellbaren auf. War diese früher Ästhetik des Prunks von Herrschaft, wird heute mehr der Aspekt von Schrecken, Schauer, Grausen betont, das Unheimliche, wenn das Gewohnte, wenn Verstand und Logik nicht mehr greifen, erschüttert werden. Dabei geht es um einen Augenblick des Schreckens, ein "Now", wie Lyotard es auf Zeitbegriffe des chokartig und ekstatisch auftauchenden "Nichts" der hebräischen Kabbala zurückgreifend, genannt hat. Herrschende Raum-Zeit aber ist Projektion einer Angst, Angst vor dem Unbekannten. Nach Freud eine Verschiebung des Unheimlichen und Namenlosen zwischen den Sekunden: der Anwesenheit und Abwesenheit der Augenblicke ins Bild. Dazwischen aber der Chock des Nichts. In der nächsten Sekunde ist nämlich noch niemand gewesen, und es könnte jeden Augenblick etwas Überraschendes und Furchtbares geschehen: "... Now... eher das, was das Bewußtsein außer Fassung bringt ... was ihm nicht zu denken gelingt, und was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren." "Ästhetik des Schreckens" und der Öffnung. Peter Weiss freilich oder auch Thomas Pynchon liegen mir bei diesem Grenzgang näher.
Die hebräische Bibel verlangt, den Schrecken der in diesen Zwischenräumen auftauchenden numinosen Epiphanien auszuhalten, dies hieß, dem Bildverbot zu gehorchen, der Entlastung durchs Goldene Kalb nicht zu folgen, jede Zeit- und Bild-Konstruktion zugunsten des Un-Heimlichen, nach Freud des ursprünglich Heimischen, des zeit- und todlosen Paradieses aufzugeben.
 
 
2 Das alte Bildverbot hing ja mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis, dem Exodus, der Strafe des Todes und der Zeitangst zusammen; Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit "nützen möchte" und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die Betroffenen krank macht. Als könnte nun mit dieser neueren Selbstanalyse, die eng auch mit den durch Foto und Film und elektronische Haustiere neugewonnenen Seh-Erkenntnissen zusammenhängt, "der Tod, der Sünde Sold", die alte Erbsünde als Illusion entlarvt werden. Denn es ist eine Illusion, die eng mit dem Körper-, Bilder- und Sprach-Glauben, also der Halluzination "sichtbare Wirklichkeit" zusammenhängt, zusammenhängt vor allem mit unserem überholten Konzept "linearer Zeit", das sich in der neueren Physik als Fiktion erweist. Dieses neue Erlebnis trat vor allem in der sichselbstaufhebenden SCHRIFT und dem Verschwinden von Raum und Zeit im BILD seit dem Impressionismus zutage.
Es war wieder ein langer Umweg dahin nötig: Die alte "Gesinnungsästhetik", gar Kunst als oberflächlicher sozialer Widerstand und als Weltveränderungskonzept (einer Illusions-Realität) sind ad absurdum geführt worden; Kunst steht in dieser Späte und nach einem Ende heute allmählich (viel zu langsam reift dieses Bewußtsein!) wieder mitten in jenem Gang zum Grund. Die alte Theodizeefrage, wie in einer Welt voller Übel Kunst (wie früher Gott) noch zu rechtfertigen sei, ließe sich nun so beantworten: daß sie gerade durch die historischen Übel und Verbrechen dieses Jahrhunderts wieder und radikal an diese Grenze geführt worden ist, doch sie, die Vermittlerin zu einer grenzüberschreitenden U-Topie, muß sich selbst überschreiten, um weiterbestehen zu können! Brechts Gespräch über Bäume wurde schon durch Celans Parodie widerlegt, dieses neue Bewußtsein (das eigentlich mit der Moderne begann) verschärft ausgesprochen: "Was sind das für Zeiten,/wo ein Gespräch/ beinahe ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt." (Ein Blatt, baumlos, für Bertolt Brecht.)
 
 
3 Wenn wir an die Ursprünge des alten Bildverbotes zurückgehen, stellt sich freilich die Frage nach jenem unbekannten und unbeschreiblichen Wesen jenseits der Sprache, das unheimlich ist, im Schrecken erscheint, uns sprachlos macht. Ist das Tabu des Bildverbotes "Gott", das hier Fehlende? Ist "Gott" der Tod? Abwesenheit der sinnlichen Welt als Anwesenheit ihrer Tiefenstruktur, Anwesenheit unseres "Angeschlossenseins" an den undenkbaren größten Zusammenhang, Er dafür eine Chiffre? Hier stoßen wir auf den schwierigen Un-Begriff des Nichts. Das Nichts ist im Hebräischen identisch mit Gott. Ayin heißt Nichts. Es ist zugleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von (inneres) Auge. Jenes "Gott" genannte Eine, das immer und zugleich nie da ist, da es "Alles" ist - wirkt als treibende Absenz in allem, was existiert. Dieses "Nichts" ist als Entwicklungsspender in allem enthalten, im Menschen unbewußt als grenzüberschreitende Erwartung, Hohlform unverzichtbarer Hoffnung. Nach George Steiner bekommen wir jetzt die Rechnung dafür präsentiert, daß unsere Zivilisation, "darstellerisch orientiert", sich nur durch die Verletzung des Bildverbots entwickeln konnte, also durch den "Tod Gottes", daß sie dafür "Gott und die Welt im Wort `nachgebildet` hat," was letztlich eine Art Welt gewordene Illusion war. Diese Rückkehr zur Einsicht in die "metamorphische Bedeutung, die Willkürlichkeit von Bedeutung" und dann: "die fossilgewordene Autorität des logos", ist ein tödliches Vergessen, von dem auch die Autoren geschlagen sind: "Zeichen transportieren keine Gegenwärtigkeit", sie sind Illusion und Todesaufschub, Mallarmés Absence (das Wort "Rose" als Absenz der wirklichen Rose), die Schreibenden zum Schicksal wird. Dabei sei es nur eine traurige Imitation des andern großen Nichts ( das Wort "Gott" als seine Abwesenheit), auch die Zitate von Zwischenräumen, Rissen, Zeitspalten usw. sind Spiele mit dieser Absence; bei Mallarmé "les blancs" als Abgründe im Typoskript zwischen den Sätzen und Wörtern...
Das absolut Bildlose, Innere , die reine Absenz aber ist etwas existentiell sehr Ernstes und Lebenswichtiges, das nicht nur die Kunst angeht, es ist "der Abgrund, der in den Lücken des Seienden" sichtbar wird..."Kein Ding und Wesen kann sich verwandeln, das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker eben Nichts nennt, berührt hat", heißt es bei Gershom Scholem . Das alte Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unvorstellbaren, Unfaßbaren, das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen können, durchbricht, verbietet, ließe sich heute so ausdrücken: Worte und Bilder dienen zur Beruhigung, zur Illusionsherstellung , ohne die wir so nicht leben könnten, wie wir leben; und das, was wir mit Worten und Bildern verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese die Erde vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dieses Unheimliche ist im Christentum das totaliter aliter, das Ganz Andere genannt worden. Wobei weiter zu bedenken ist, daß die vorstellbare Grenze, die uns davon trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres gegenwärtigen (uns schützenden) BILDES von ihr, das - weiter in diesem Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie uns schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne, - ja eine An-Maßung ist.
Interessant auch der Zusammenhang dieses "Ganz Andern" mit der "Alterität" der Negativen Theologie. Adorno, nun mit seiner "negativen Dialektik", eine Art Übervater der Postmoderne, verweist auf die in der Negation wieder erreichten theologischen Wurzeln. Kierkegaards Angriff auf das Ästhetische und Ethische, die ohne das Heilige als Sündenfall des Begriffs, der Emotion, der Tat und der Ideologien erscheinen, ist nicht weit davon entfernt. Adorno geht von ihm aus. Und Robert Notziks Deutung des Holocausts als antimessianischen Zeitbruch und Einzigartigkeit der abendländischen Unheilsgeschichte ist ebenfalls damit verbunden.
Grund dieser Unheilsgeschichte ist die Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren, die Abtrennung vom Unsagbaren; so erscheint etwa das banausenhafte Kunstverständnis des Kitschs und "Volksgeschmacks" der Diktaturen rot und braun, in der "Expressonismusdebatte" oder in dem Konzept "dekadente" und "entartete Kunst" als Symptom des Realitätswahns; die Patentlösung war auch in diesem Bereich Vernichtung des Abweichenden, "Fremden" der für Diktaturen gefährlichen "Alterität" in der Kunst, im Geist.
In der Frühphase der roten Revolution dagegen blühte gerade die Avantgarde, die Darstellung des "Neuen", die Zerstörung der bisherigen falschen Realität und ihrer Unterdrückungsmechanismen. Ähnlich der Versuch im frühen Christentum, das totaliter aliter Gottes in der Ikonenkunst darzustellen, wo die normalen Licht- und Perspektiveverhältnisse, das gewohnte Seherlebnis aufgehoben wurden. Als die Fetische und Götzen dann katholisch wucherten, gab es in Florenz Savonarola und im Norden den protestantischen Bildersturm.
Das alte Hebräische, die Schöpfungssprache der Bibel, umging die direkte Benennung oder Darstellung des totaliter aliter, des Heiligen (qadosch), auf geniale Weise: geschrieben werden darf nur der Körper, das natürliche Gesetz: die Konsonanten; ihre unendliche Verbindungsmöglichkeit dagegen, in uns anwesend als "Blitz" der Assoziation, der erst den Sinn des Wortes herstellen kann: sind die nicht zu schreibenden, nur hinzuzudenkenden Vokale, dazu-"gedacht" sind sie die "Gnade Gottes", dessen NAMEN überhaupt nicht ausgesprochen und gedacht oder vorgestellt werden durfte, sondern unbekannt bleiben mußte! ER wurde daher in der jüdischen Mystik auch das Nichts genannt, weil jene "ganz andere" Dimension nur sein kann, wenn der Mensch in seinem Bilderwahn absent ist. Der Sinn aber jeder Versenkung ist diese Abwesenheit, herstellbar durch ein "Abschnüren der Sinne", Los-Lassen, Leer-Werden.
Es gibt freilich auch Bild-Meditationen, die der Absenz-Erzeugung in der Kunst ähneln, sie sind dem echten Gebet nach-gebildet , denn die Vorstellung, die im Satz erzeugt wird, ähnelt jener, und jeder kann darin eingehn und verschwinden...
Botho Strauß behauptet, es ereigne "sich ein überzeugender Gedanke überhaupt nur" im Heraufrufen "seiner Bestreitbarkeit", wenn er die "Nähe eines anderen Erkenntnismodus, in dem sich dergleichen so nicht sagen ließe", "berührt", und er bringt dazu ein sehr einleuchtendes Gedicht von Giorgio Caproni als Beispiel: "Rückkehr. Ich bin wieder da, /wo ich niemals war./ Nichts ist anders als es nicht war./ Auf dem halbierten Tisch, dem karierten/ Wachstuch das Glas,/ darin nie etwas war./ Alles ist geblieben, wie/ ich es niemals verließ." Paul Virilio schlägt vor, wir sollten uns daran gewöhnen, auch die Negativ-Kontur, das Ausgesparte zu sehen, nicht nur den Berg, sondern das Tal, am Rand eines Glases die Leere, bei einem Speichenrad die leeren Zwischenräume.
 
 
Moderne Literatur ist undenkbar ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir "Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare "Aura" und den "Chock", Joyce die "Epiphania"; und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das Fehlende also erst sage aus, was ist.
Ausgerechnet der Stotterer ( der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche Thora - oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges, das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik ist.
Das Bildverbot, ja, Aussageverbot geht auf die Einsicht zurück, daß wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und aussagen können. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen Mutationen des kosmischen Zusammenhangs, mit dem wir und alles, was wir wissen, denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich benennt, teilt, verläßt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich der Zwei über.
So beginnt auch die Bibel mit der Zwei: Bereschith bara, Im Anfang schuf: B ist die Zwei. Doch so gesehen, läßt sich Annäherung ans Eine, den "Sinn", und sei es in einem einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über unsere Intuition "angeschlossen" sind. Aber diese "Gnade Gottes" scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form als SINN gespeichert zu sein. Mit dem flash des immer besseren Verstehens der Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens sind Glücksgefühle verbunden, die sich mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose, bruchstückhaft zusammenhanglose "Unten" aber schmerzt.
 
 
4 Neben der Kausalität existiert also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und Sinn, auch Synchronizität und "sinnvoller Zufall" genannt. Die alten Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch) unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te King nennt TAO auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit ausdrückt: "Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:/ Auf dem Nichts daran beruht des Wagens Wirkung./ Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung. /Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern,/ Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung./ Darum: das Etwas schafft Wirklichkeit,/ Das Nichts schafft Wirkung."
Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das "Etwas", nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, daß er sich mit seinem Ich beim kreativen Prozeß nicht einmischen darf, sonst blockt er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Ästhetik korrespondiert damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung der äußern Sinne, um mit dem innern Auge zu sehen, dem innern Ohr zu hören. In dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden. Kunstgenuß oder Lyriklesen ist nichts anderes: Alles löst sich, z.B. in Kleists Prosa und seinen Dramen, in einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Das Bild, die Außenwelt verschwinden bei diesem PROZESS, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen. Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns voreilig ein BILD machen oder ein Gleichnis und einen "kleinen", nur alltäglichen Sinn suchen. Denn an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf etwas anderes, noch Unbekanntes bezogen; jede Handlung hat in sich schon das Zukünftige (oder gleichzeitig das Ganze), ließe sich nur von da aus begreifen. Dieses aber ist fast immer die Katastrophe, ein Untergang, das Zeichen dafür steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft ein, wiederholt das, was tödlich in ihm steckt.
 
 
5 Das Hebräische wird von den Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt, so wird auch das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher "poietisch" (alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr aussagt, als die Erzählung, etwa die naiven Geschichten von Adam und Eva, oder von Noah und der Sintflut oder von Kain und Abel aussagen können. Oder die so wichtige Geschichte von Moses auf dem Sinai und dem Bildverbot. Wir tun es lesend und wir gehn mit dieser Bibel um seit Kindertagen und wissen es nicht. Die Katastrophe der heutigen Welt hat damit zu tun. Aber auch damit, daß Zahl und Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise voneinander getrennt sind. Es paßt zu den Absurditäten des Okzidents, daß er mit einem ungeheuer wichtigen Teil seiner Kultur so umgeht, wie er mit allem, was nicht in sein rationalistisches Konzept paßt, umgeht: verdrängend, ausklammernd, hassend. Das Hebräische, das Jüdische und dessen gesamter Kosmos nahmen und nehmen in diesem Haß eine Sonderstellung ein.
 
 
Die SCHRIFT, auch die heilige, beginnt, wie wir schon sahen, mit dem Geteilten, der Zwei, mit B, dem Beth (was auch Haus heißt): "Bereschith bara" ("Im Anfang schuf", aber eigentlich im Kopf schuf) denn nach dem B steht "resch", resch heißt KOPF ( die Summe seiner Buchstabenwerte ist 200: die hundertfache 2= 200); reschith aber heißt Haupt-Sache. Die 20: Kaf (zehnfache zwei) ist die schaffende Hand. "Der Schöpfer" hat die Welt aus der schwingenden Information der "Sprache", aus den 22 Buchstaben und Zahlen ( Sephira= Zahl, Kräfte, Sphären) mit Kopf und Hand erschaffen; Kabbala heißt "Macht der 22" (Kaf=20, Beth= 2, La ist das Wort für Macht.) Lauter Zweier-Folgen aus der Eins.
Die sieben Schöpfungstage hängen ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen. 1-3 sind der sogenannte Urraum (Zimzum), der "achte Tag", jenseits von Zeit und Geschichte, doch zugleich in ihnen verwoben: 1: Null, 2: Lichtpunkt, 3: Grenze oder das Hinabgehen in Klang , Farbe und Form. Dieses Hinabgehen ins Materielle steht den Modellen der heutigen Informationstheorie sehr nah: Erst die Erscheinungsform im Kopf als Wissen des "Lichtpunktes" der Nulldimensionalität des Reschith (allerdings immer noch als berührbare Unendlichkeit) ermöglicht es dem Urlicht der Eins (En-Sof im Hebräischen), hier in der menschlichen Welt überhaupt zu erscheinen. Dieser Punkt aber braucht Laut und Klang, die Begrenzung, Umhüllung des Unmeßbaren, Verstofflichung des Gedächtnisses, das nicht von dieser Welt ist (Wissen im Samen, in den Genen, Chromosomen, dem Atom), mater materia; esist ja Geist, der nicht als Geist erscheint, aber er braucht die Form, die Grenze, um sich verkörpern zu können. BINA, die 3. Sphäre - Grenze: Hinabgehen in Klang, Farbe, Form, die Ur- Mutter ermöglicht es.
Adam, der Mensch, hat dieses Strömen der Ur-Information im Sündenfall unterbrochen, das Außen, den Augenschein, die Frucht vom Ur-Baum getrennt, das Wesen von der Erscheinung, und so kam der Tod auf die Welt, denn der abgerissene Körper stirbt ja "tatsächlich"; Formen sterben, die Information des Samens, der sie weiß, aber bleibt im Immateriellen erhalten! Essen vom Baun der Erkenntnis ist Trennung der Frucht vom Baum. Essen vom Baum des Lebens ist Osmose; "Essen" der Sinne, Aneignung der Welt heißt im Hebräischen "achol"; es verbindet A (Aleph), die Eins, mit chol, dem Vielen, dem spezifischen Schwingungsklang, der in jedem Ding als Eigenart vibriert. Liebe ist die Verbindung der fünf Sinne auf höherer Ebne der Berührung. a-chol. Das Zerreißen, Abreißen, die Spaltung aber ist die Hölle. Das Sichtbare, so vom Einen getrennt (A von chol), ist seither einem furchtbaren Ungenügen, ist den zerstörerischen Gewalten, die Macht über den Körper haben, wehrlos ausgeliefert. Heute ist dies als Riß in uns und in der Welt und als Schmerz in der sinnlosen Kontingenz zu spüren , die ja selbst nur ein Nichtwissen der Zusammenhänge, eines Zufalls etwa, ist, dessen nihilistische Verabsolutierung eine Täuschung und Selbsttäuschung im Spiegel des Empirischen, des Ausgeschlossenseins von den höheren Sphären bedeutet. Im Schmerz aber zugleich auch die Not-Wende: Denn noch nie war diese größte humane Aufgabe, den Zusammenhang des Ganzen zum Sinn wieder herzustellen, die abgerissene Verbindung wieder aufzunehmen, so lebensnotwendig und dringlich, und dies nicht nur für die menschliche Welt. Jenes Falsche der Trennung, jener Makel ist nicht nur in einem, für viele unerklärlichen Leidensdruck spürbar, sondern auch in der Falschheit des klassischen Erkenntnisansatzes, der Trennung von "Innen" und "Außen", die in sich selbst zusammengehören und untrennbar in der Ebene eines höheren Komplexitätsgrades wirken, der sich in uns als Intuition spiegelt und im Erkenntnisblitz Eins sind: letztlich hält uns die Natur den Spiegel unserer eignen Mittel und Instrumente vor, so z.B, formuliert in Heisenbergs "Unschärferelationen", die die Berechnung einer zeitbedingten kognitiven Unfähigkeit sind. Erstaunlich ist, daß sich in der Quantentheorie unser Fehlverhalten sogar durch die auf den Beobachter bezogene Wahrscheinlichkeit und die damit verbundene "unvollständige Kenntnis eines Systems" berechnen läßt..Daß nämlich die Unwägbarkeiten des Subjekts sowie die Unkenntnis vom ganzen Kosmos mit in die Imponderabilien eines Experiments als Unbekannte, um das Experiment "genau" ausdrücken und berechnen zu können, einbezogen werden müssen . Aber diese Falschheit und Störung des Ganzen durch unkontrollierbare Eingriffe ist für die gesamte Natur und für die menschliche Gattung insgesamt gefährlich geworden, sie äußert sich ökologisch, atomar und in zunehmendem Maße auch im biologischen Informationssystem als Krebs, als Aids und als Neurose und Geisteskrankheit. Und ist letztendlich in diesem festgefahrenen Glauben an "Objekte", also an den SCHEIN eines Augenbildes gebunden, also im tieferen Sinn durchaus auch an eine drastische Übertretung des BILDVERBOTES.
So wird im Hebräischen die Zahl Sechzig ( Sechs= waw, das Und, Folge, Zeichen des Menschen, in der Zehnerreihe, der Ebene des Handelns) wie ein Kreis geschrieben, das Zeichen Samech, heißt Wasserschlange; es ist das teuflisch Schlüssige, die Evidenz des Kausalen und Rationalen, seine Verführung. Der Sinai: wo der Mensch Moses die Tafeln mit den "zehn Worten" empfing, ist Verführung und Wunder zugleich: Wiederholung der Paradiesmetaphern. Zum Blitz auf dem Berg nämlich kommt das höllische Tal unten: das Goldene Kalb, hebr. egel. Und egel heißt das Runde, der geschlossene Kreis. Der Fetisch Ratio also, abgezirkeltes Oberflächen-Bewußtsein, im Osten vormals zur Ideologie geronnen, zur konsequenten Idiotie der Abbild-Theorie in der Ästhetik!
Die Warnung vom Sinai: "Du sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen, gilt auch für die menschliche Wirklichkeit. Und nun sogar total, wir leben heute in dieser alles erfassenden Herstellung von Welt in der künstlichen Bilderwut, da das Medium, das die Botschaft ist, diese Wirklichkeit nun nicht im Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt, die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle ist, sie überschwemmt die selbstgeschaffene "Wirklichkeit" mit Bildern. Alle sind bald in der gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden darin. Aber - verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in der eigenen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität? Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Wälder, Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! Diese aber ist keineswegs die "ganze Welt", und wer sie allein spiegelt und von ihr ausgeht, bleibt in ihren Irrtümern gefangen, auch wenn er behauptet, sie und ihre Resultate zu "kritisieren". "Du sollst dir kein Bildnis machen!" Wie wahr so spät. Dabei ist es doch auch hier nur kreative oder eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte schon früh den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen.
 
 
6 Das Bildverbot am Sinai ist das "zweite Ur-Wort" , - nicht Gebot (im Hebräischen ist nur von "zehn Worten" die Rede,) es wird in der Pfingstbegegnung mit Jahweh, ohne Vokale geschrieben JHWH (Lichtblitz, Strahl, Lichtmetaphysik) auf dem Sinai Moses "gegeben": "Mathan Thora" Geben, Schenken der Thora, eine Art Strukturbild der Welt, nein, eigentlich der verborgene NAME Gottes ist in diesem Buchstaben-Geflecht enthalten. Und dieses Geflecht ist tatsächlich ein Wunder. Er ist die unaussprechliche Eins, der erste Buchstabe Aleph. Aleph besteht aus zwei Jod (Zahlenwert 10) und einem Waw (Zahenwert 6), ergibt 26. 26 aber ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH (Jod: 10; He: 5; Waw: 6; He: 5). Die erste Hälfte (10, Potenz von 1) steht der zweiten gegenüber (5 UND 5, denn Waw, der Haken, heißt auch UND und ist das Zeichen des Menschen); der Mensch hat also durch seinen Fall, geteilt in Männlich und Weiblich, Gott verstümmelt und halbiert. Frei von den zur Bildprojektion gewordenen Entwicklungskräften der "Realität" war auf dem Sinai wieder Erlösung möglich: Kontakt zur "Eins". Das "Bildverbot" geht ja nicht um äußere Bildnisse nur, sondern um die Abtrennung des Sichtbaren vom Wesen, um die inneren Formkräfte, die verstellt werden. Die Urschrift, Information und "Ur-Wissen", Form als Kenntnis (eines Subjekts) vom Verhalten in jedem Ding, jedem Tier oder Stern, Form, die die Welt baut, war der Bibel nach ursprünglich mit schwarzen Feuerbuchstaben auf weißes Feuer geschrieben ( Atomfeuer, Kern und Schalen?), innerste Formung, die wirklich werden sollte. Zwei Eingrabungen: Herzschrift und Mündlichkeit, sie waren aber noch nicht sinnlich wahrnehmbar, nur als Gedankenanreger da. Das weiße Licht war der Baum des Lebens; das davon Abgespaltene, Gedeutete und menschlich Geschriebene hieß Baum der Erkenntnis, die schwarze Schrift; Moses gelang es in einer ersten, der wichtigeren Begegnung auf dem Sinai zum weißen Licht, zu der verborgenen EINEN Tafel der ZEHN Ur-Worte vorzudringen. Alles, was aufgeschrieben werden kann, auf Steintafeln, Schiefertafeln, mit Tinte auf Papier, auch in der Genesis oder der hebräischen Thora, ist nichts als Deutung, ja, nur halbwegs Wahrheit, gar Fälschung, im besten Fall Metapher und Gleichnis; der Rest aber ist Schweigen. Im kleinen Blitz der Intuition und Ekstase nichts als ein Schimmer. Aber auch dieses ist höchst aktuell. Nicht einmal die so einfachen mikrophysikalischen Vorgänge, die in unserem Bildverständnis mal als "Teilchen" , mal als "Welle" etwa "eingedeutscht" "zur Sprache kommen", lassen sich einfangen, sie sind wie Träume, die am Morgen aus dem Wachzustand verschwinden; als wären sie noch unberührt von der Erbsünde des vom Einen abgetrennten Augenscheins (ein vor Gott sich Verstecken! "Adam, wo bist du?"), dem sogar die Buchstaben der Genesis ausgesetzt waren, wie die Kabbala meint. Ihr grobmaterieller Charakter sei eine Folge des Sündenfalls. Ebenso wie Adams Lichtgestalt eine materielle Haut bekam und die Erde nicht mehr durchsichtig war wie vor dem Fall. Der Himmel war dichtgemacht, das heißt abgetrennt von der Erde. So wie das Chaos der Augenblicke Jetzt sei auch die Buchstabenkombination der niedergeschriebenen Genesis noch verkehrt, erst beim Ende der Welt werde sie lesbar sein. Ein Spiegel von Adams Fall in die dichtgemachte Götzen- "Wirklichkeit", so erscheint zwangsläufig alles gespalten und vermischt in Lüge, Wahrheit, Gut, Böse, also paradox und absurd, Sprachprozeß dessen, der ist und schon nicht mehr ist: der Mensch, der seither immer schon Abwesende. Aber auch ein paradoxes Problemhandeln im Möglichen leuchtet auf.
Moses brachte nach der ersten Begegnung die mündliche, nicht geschriebene, er brachte die noch immaterielle Thora vom Sinai. Doch als er sah, was da unten das Volk tat, um das Goldene Kalb, "egel", das Abgeschlossene, das Evidente tanzte, gab er dieses weiße Licht der ersten Thora nicht preis. Das Eine war gegenübergestellt dem Vielen, dem Volk, aber auch der Mannigfaltigkeit. 40 Tage war Moses in der Wüste gewesen, das Volk wartete, er kam nicht. Aaron, von dem das Volk endlich "ein Bild" verlangte, sichtbare Götter, nicht unsichtbare, etwas Greifbares, um aus dem Exil und der Wüste endlich ins Gelobte Land zu kommen, vertröstete, verzögerte "bis morgen"; doch als Moses nicht kam, da entstand das Goldene Kalb aus Ungeduld und Unglauben; Aaron warf zwar alles gespendete Gold (das, was den Leib der Frauen am schönsten macht, Glanz des Außen als Opfer) ins Feuer, um zu verhindern, daß daraus ein Götze entstehe, doch er war ohnmächtig, denn das Gold schmolz und die Form des Kalbes ("egel", das Runde) entstand ganz spontan, dieser fast "selbstgemachte Götze" der EVIDENZ. Eine Endzeit, wo sich Entwicklung enorm beschleunigt, war schon damals: dichtgemacht durch die Zeit, und der Ursprung verhüllt. Ein Aggregatzustand zugleich, Limit, Grenze. Der Tanz ums " Goldene Kalb" ist nicht etwa nur der Tanz um den "Mammon", erst die Tiefen- und Zahlengrammatik enthüllt, was das nur sichtbare "Kalb" wirklich IST: Festlegung nämlich im ausweglos Geschlossenen, "Runden"; Kalb "egel" (70-3-30 hat den gleichen Zahlenwert wie "agol", rund, 70-3-30. Eigentlich ein Akt der Verzweiflung). Dieses BILD als Simulation, dieser nur sichtbare und fix glänzende Ersatzgott des Eingeschlossenen, in täuschender Evidenz des "Glanzes"; bedeutet die Gefangenschaft im ausweglos Materiellen, Essen, Trinken, Schlafen, Beischlafen, "sich erfreuen" am Leben. "Erfreuen"; in diesem Kontext erscheint das sonst ungebräuchliche Wort "tsachek", 90-8-100, es bedeutet spöttisches, zynischen Lachen. An das, was geschieht, wird gar nicht mehr geglaubt, Leben wird nur ungläubig, zynisch angenommen, Freude, die keine Freude macht, Liebe, die keine Liebe sein kann, weil man an sie gar nicht glaubt, an gar nichts glaubt, in nichts Vertrauen hat, außer in die greifbare "Freiheit" und die Macht, das - "glänzende Gold". In allem, was man tut, fehlt die Tiefe, die eigene Begründung, der Grund, alles ist nur noch Schein, ohne dessen Wurzel, ohne den, der "fehlt".
Im Augenblick des tiefsten Falls kommt dann Moses mit der immateriellen Tafel, ist erschrocken, wie wenig sie hierher in dieses Umfeld des tanzenden Volkes gehört; aus Zorn zerbricht er sie, und aus der gesammelten EINS in der Zehn, wird wieder Materie, quälende Un-Zahl; und es heißt, die Buchstaben seien wie himmlische Vögel in dem Augenblick des Zerbrechens der Tafel wieder davongeflogen.
Beim zweiten Gang zum Sinai, um auf dem "tsur" (7-6-200) dem Felsen, ebenfalls FORM, die "neuen Tafeln" durch die STIMME zu erhalten, bestanden die Tafeln diesmal aus der Materie von "unten", auf sie gravierte Moses die zehn neuen Ur-Worte ein, menschengerechter, während die ersten Tafeln das Schöpfungsinstrument waren, ein zu gefährliches Geschenk.- Diesmal erhielt Moses nicht direkt die erste Zehn, sondern die Spaltung, wie in JHWH, in zwei Tafeln : (HWH) 5-6 (und)-5. Das, was wir lesen können, ist nicht etwa das Zahlen-Buchstaben-Geflecht des Gottes-Namens, sondern schon ein gespaltener Name, eine Deutung dieses Namens: JHWH (10-5-6-5), so wie zum ZWEITEN MAL die "Zehn Worte" in 2x5 - also auf zwei Tafeln erschienen. <"Alle Deutungen sind Fehldeutungen" (George Steiner). Und das Indeterminationsprinzip stimmt auch da: Beobachtung ist unendlicher SPIEGEL in einer Metamorphose der Ereignisse, sie transformiert, ja, erschafft das Beobachtete nach der eigenen Gedankenform. Die Geburt des Schöpfers, des Autors dieser Welt wäre so erst mit dem Tod des Lesers gleichzusetzen, Hegels "Gott ist der Tod". So hieße auch innerhalb des Bildverbots, nach Roland Barthes, gut schreiben erst: "das Ausdrückbare unausgedrückt zu machen."
Moses also zerbrach die erste Tafel, so daß die Ur-Worte nicht in der "richtigen Folge gegeben worden" waren, denn wären sie in der richtigen, göttlichen Reihenfolge gegeben worden, "könnte jeder, der sie liest, die Toten wiederbeleben und Wunder verrichten". Ursprünglich waren sie aus schwarzem Feuer auf weißem Feuer, als Urlicht "gegeben", wir aber lesen sie nun nach unserem Verstande als äußere Bilder und Geschichten und gar Gebote, Handlungen und Anekdoten, dabei geht es um den Bauplan, die Struktur der Welt, und um Kommentare zur Weltformel. Wobei es auch hier, ähnlich wie bei christlicher Hermeneutik, am bekanntesten bei Dante, um einen vierfachen Deutungs-Sinn geht: 1.Um den buchstäblichen Sinn, 2.Den allegorischen Sinn, 3. Den tropologischen, und 4. Um den anagogischen Sinn (sensus mysticus); wobei letzterer den Zugang als intuitive Summe ermöglicht
Eigentlich also fällt auch der Thora-Leser, ja, die schriftliche Thora selbst unter das zweite Gebot des Bilder- und Sprachverbots.
 
 
7 Neben der mathematischen Formel und der Musik ist das Gedicht eine Möglichkeit, dem Wirklichkeitswahn und seinen Täuschungsmanövern zu entgehen. Jeder Poet ist durch seinen Einfall an das Noch-Nicht-Gewußte, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine) gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nähern, das wir schon hier empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des Zählbaren mit der Eins und dem Einen, nicht mehr getrennt und gespalten, sondern "heimgekehrt" zum Grund der eigenen Sagbarkeit. - Wäre eine Herausführung und Engführung durch WORTHÖFE und Sprach- BERÜHRUNG in "Zustandsräumen" möglich? Aber Berührung wird ja erst möglich in Zuständen zwischen Leben und Tod, in Sphären von denen wir durch den Körper getrennt sind. Manchmal ist es ein Gespräch mit den Toten, die auf einer Ebne mit mehr Bezügen erreicht werden können; das "Totengespräch", wie es Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre. Es ist eine Wiederkehr des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem "exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte ( Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich mit den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, daß wir uns kein Bild von jener fremden Sphäre machen dürfen und es auch nicht können. Das Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch ihre sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff dieser Zivilisation. Der skeptische Physiker Ernst Senkowski meint, daß es bei diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden, welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, daß es um höchst unheimlich "realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht: "Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als daß wir unsere Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen geschlagen. Muß der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.
Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das "Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, daß heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene aufs Unheimliche und Paradoxeste real zu werden scheint; daß auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung" (Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen ist, Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten , "abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas; erstaunlich ist auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt wieder; oft eine Wiederkehr, die Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den "Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.
 
 
8 Leere Ort der "Absence", ein Vakuum kann auch so "gefüllt" werden. Das Entscheidende aber ist, daß sich nun im Posthumen der Geschichte und der Ideologien Neues enthüllt, überraschend hinter dem zerbrechenden falschen Bild mehr und mehr "in der Gefahr" das einsam "Rettende" wachsen könnte: das Negativ zur Wirklichkeit durchaus im aufbauenden, nicht nur im zerstörerischen Sinn wie bisher in der ideologisierten Revolte. Für Thomas Pynchon, den Joyce meiner Generation, ist es eine "höhere Sinn-Zone" (in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981) und sie ist nur erreichbar, wenn wir die okzidentale Ego- und Todes-Zone zum eigenen Sprungbrett machen und so nun "hinüber" kommen, die eingebildete Todeszone, die Krankheit dieses Ego, überwinden.
Reinald Goetz spricht in seinem neuen dokumentarischen Monster- Roman von der "Authentizitätsfalle", es ist die aufgebrochene Grenze zwischen Leben und Schreiben, wo die Wortwände sowohl zum Traum als auch zur Tatsachenwelt sehr dünn werden und zu psychischen Schäden führen können; die Gefahren einer Wiederkehr des Verdrängten sind durchaus nicht nur sozialer, politischer und militärischer Art, sie erfassen die Ästhetik und Kunst genauso wie die ungewohnten Grenzgänge, okkulte Hysterie, mediumistische und andere Psychosen. Dabei scheint es so, als gäbe es diese Gefahren gar nicht. Sie ist kaum erkennbar "im Herzen der Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren, wo jetzt die Kluft zwischen jener geschilderten "Ausnahme" des Todes und dem "Leben" so groß geworden ist, die zugleich aber durch die Immaterialisierung der Welt, das tiefe Eindringen der Geräte ins Gewebe des Kosmos auch in den Tiefen des Unbewußten zueinander streben, wie bisher noch nie; man könnte von einem Thanatovirus sprechen oder auch vom kollektiven Todestrieb. Doch das Thema ist brutaler, die Veränderung des Todes ist längst geschehen; und es gehört zu jenem Verdrängten, daß das Grauen der Geschichte, Hiroshima, der Gulag der Holocaust etwas aufgebrochen hatten, das die bisherige Geschichte und Gewohnheit transzendierte und andauernd transzendiert. Und nicht, daß der Fall des ideologischen oder auch philosophischen Absoluten nun das Zufällige, Triviale, "Einzelne, Beschränkte, Irdische" und Kleine, wie es in einem MERKUR-Aufsatz (Anathema. Der Holocaust und das Bildverbot) kürzlich hieß, wie es auch so bekannte Theoretiker wie Rorty oder Marquardt verkünden, wieder Trumpf sein soll - und alles einfach so ist, wie es ist! Es geht im Merkur-Aufsatz um Spielbergs "Schindlers Liste" und um den gefährlichen Versuch, dem Holocaust das Unfaßbare zu nehmen, ihn zu "vermenschlichen", ihn vergleichbar und einordenbar zu machen. Nolte läßt grüßen. Dabei geht es um die radikalsten historischen Ereignisse, die nochmals jene auch in der Geschichte der Wissenschaft (und Geschichte der Literatur und des Denkens seit Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal) bekannte bildliche und sprachliche Unfähigkeit, das was ist, darzustellen, kurz gesagt: die Sprachlosigkeit und Unfaßbarkeit auch im historischen Raum und brutal wie bisher noch nie in die Welt gestellt haben. "Bildverbot" ist dafür nur eine historische Metapher, auch hier in diesem Essay. Anathema ist dabei nicht nur das Verbot, das unfaßbare Eine, das ja in "Alles" hineinwirkt und kein Gesicht haben kann, "Gott" in sinnlich-stofflicher Gestalt darzustellen, wie es die byzantinische ikonoklastische Synode vor 1200 Jahren verordnet hatte, wie es (völlig zu Recht) der Islam und früher die Hebräer verlangt hatten, oder gar "andere" sinnliche, also falsche Bildgötzen und Fetische einzuführen, nein, nicht nur "Gott" oder der Holocaust als unfaßbares Ereignis, sondern alles Existierende ohne Unterschied ist mit bisherigen Mitteln nicht darstellbar, bis hin zum letzten Grashalm ist es nicht darstellbar, weil das sprachgeprägte Bild und seine Logik eine Art Fiktion, Schein, Trug sind, Begriffe möglicherweise einer bestimmten Herrschaftsform (des Äquivalentes Ware und Geld) auf der Erde entsprechen, wie schon Adorno vermutet hat. (Absurd ist, daß jetzt diese Lebensform als einziger Retter in der Not im Tabula-rasa-Zustand nach 89 angesehen wird!) Dabei sind jene drei vorhin erwähnten negativen historischen Ereignisse, für die nur noch negative Theologie oder auch negative Poetik (wie bei Paul Celan) und das Schweigen an der Grenze unserer Vorstellung angemessen wären, möglicherweise eine drastische Rücknahme: Folge der mörderischen Zivilisationsmaschine, Folge einer dem Wesen der Natur und des Menschen diametral entgegengesetzten, machtbedingten Bild- und Sprachlogik. Sie hat sich selbst ad absurdum geführt. Ad absurdum geführt wird freilich auf theoretischer Ebene die bildliche Anschauung und die Sprache auch in der neuen Physik, gewohnte Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im subatomaren Bereich auszudrücken. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer Selbstverwandlung ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den Abgrund fähig. Die Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben etwa, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die, wie auch eine neue Kunst, erst im Entstehen ist.


 
 
 
 
 
 
 
KANN MAN HISTORISCHE EREIGNISSE REKONSTRUIEREN?
Zu einem Standardwerk über die Deportation der Siebenbürger Sachsen 1945
 
 
 
 
Auch meine Erinnerungszeit reicht in jene Ereignisse vom Januar 1945 hinein, viele der Rumäniendeutschen, die heute die Sechzig überschritten haben, sind davon geprägt. Doch reichen persönliche Erinnerungen aus, sich ein Bild jener Zeit zu machen? Jeder weiß, das sie nicht ausreichen, und doch fällen die meisten ihre Urteile aufgrund ihrer persönlichen Erinnerungen! Sie sind freilich für jeden lebensprägend. Ich gehe auf dieses Dilemma ein, weil es auch das Dilemma des dreibändigen Werkes über die Deportation ist, das Oral History anwendet.
Auch ich erinnere noch genau jenen "Schwarzen Sonntag", den 13. Januar 45 in meiner Vaterstadt Schäßburg, die Tage davor und die Tage danach, den Mundfunk, die Anekdoten, sogar Witze, die Tragödien und die Angst jener Wochen, die abenteuerlichen Verstecke, etwa ein Fuchsbau, in dem sich ausgerechnet mein Naturkundelehrer versteckte, an zwei Verwandte, ein Ehepaar, das sich einmauern ließ, und denen täglich das Essen durch ein winziges Loch in ihr Verlies hineingeschoben wurde, wie bei tibetanischen Mönchen; an einen Freund meiner Eltern, der Leonhardt hieß, sich als Leon Hardt bei der Polizei meldete, wurde prompt freigelassen, ein anderer, der - schon einwaggoniert - als "unabkömmlich" freikam, aber den Rucksack vergessen hatte, nochmals zurücklief, vom russischen Bewacher zurückgehalten wurde, mitfahren mußte, und im Donetzbecken den Tod fand. An einen Onkel von mir, der säumig beim Rucksackpacken war, und von seiner Frau angetrieben wurde, "mach schnell, sonst kist tea noch ze spet" (sonst kommst du noch zu spät!)
An solchen Details und Ereignissen, so unbedeutend sie zu sein scheinen, kann viel abgelesen werden. Etwa die Obrigkeitshörigkeit und der blinde Gehorsam bei vielen Rumäniendeutschen, die auch in solchen Momenten funktionierten, wie sie im Krieg und im KZ bei Wachmannschaften funktioniert hatten, und die vielen "Freiwilligen" (ca. 65 000) taten genau zu jener Zeit (Januar 45) in den Lagern - auch in Auschwitz - "Dienst" , als in Rumänien die "Aushebungen" in vollem Gange waren! Und ganz andere Deportationen gab es noch vor wenigen Monaten, Transporte aus Siebenbürgen nach Auschwitz, zusammen mit Ungarn etwa 400000 Menschen, von denen viele vergast wurden. Wenige hatten sich vor der Freiwilligkeit "gedrückt", und einige, wie Dr. Capesius und Drk Klein aus Kronstadt begegneten ihren Bekannten bei der Selektion auf der Rampe. Und wenige drückten sich nun auch vor der eigenen Deportation, um diesen furchtbaren Geschichtsmühlen und Todesmaschinen zu entgehen, wurden aber in beiden Fällen von der Mehrheit als "Drückeberger" eingestuft, und waren fast schon "Volksverräter", wenn sie es taten! Mein Vater gehörte Gottseidank zu diesen Ausnahmen, nahm die Hilfsbereitschaft eines befreundeten rumänischen Arztes in Anspruch! Und diese Hilfsbereitschaft war generell; da gingen z.B. rumänische Offiziere Scheinehen mit Sächsinnen ein, rumänische Ärzte wiesen Gesunde in Krankenhäuser ein, Polizisten halfen bei Verstecken usw. Umso undankbarer ist die Legende, die sich hartnäckig bei den Sachsen hält: die "Walachen sind an allem schuld." Und genau diese, wie viele andere Legenden werden von diesem dreibändigen Werk über die Deportation mit genauen dokumentarischen Daten und Nachweisen zerstört.
Jeder könnte aus seinem eigenen Erleben etwas zum Stimmungsbild jener Tage beitragen; Spuren jenes Schockerlebnisses sind auch ins Werk von rumäniendeutschen Autoren eingegangen, in der biographischen Schilderung von Oskar Pastor fehlt sie ebensowenig wie bei älteren Autoren. (Pastior kommt in einem narrativen Interview sogar als "ganz reizender Junge" vor, er war damals 17, der eine Bekannte erfreute, ihr ein Tannenzweiglein schenkte.)Jene Tage haben dazu beigetragen, daß die moderne rumäniendeutsche Literatur ihr Niemandsland schon zu Hause fand, ihre Bodenlosigkeit entdeckte, ihren Schutz ausschließlich in der Sprache fand. In meinem Roman "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens" kommt die Deportation ebenso in Streiflichtern vor, dann in meinen Gedichten und Tagebüchern. Und bei einem Besuch im ehemaligen Lager Buchenwald erinnerte ich mich an zwei Tote, einen SS-Onkel., der dort im April 45 beim Häftlingsaufstand erschlagen wurde, und dann an jenen Unpünklichen, Deportierten, der von seiner Frau angetrieben wurde, - ein Opfer, der in Frankfurt an der Oder liegt, verstorben an Entkräftung auf der Heimfahrt.
In der Schäßburger Klosterkirche jedoch werden sie beide, der SS-Mann und der Deportierte, ohne Unterschied auf einer Gedenktafel, die vor kurzem enthüllt wurde, als Opfer geführt.
Das vorliegende Werk, eine großartige Fundgrube auch für Autoren, zeigt ein erschreckendes Museum des Bewußtsein meiner siebenbürgisch-sächsischen Landsleute; und vielleicht ist dieses, neben der historischen Aufklärungs- und Quellenarbeit, der eigentliche Wert dieses Gemeinschaftswerkes: die Vertiefung dieses Aspektes einer Kollektivmeinung, der Legendenbildung, die heraugearbeitet wird durch Befragung und Augenzeugenbericht, eingegrenzt auf eine bestimmte Menschengruppe. Im Vorwort von Weber wird als Motivation zu diesem Projekt auch genau von diesem Museum der Vorurteile bei den Betroffenen gesprochen, dieses sich ins Leid und die posttraumatischen Syndrome mischt, und jene noch verstärkt; nicht zu Unrecht wird dies Konglomerat: "subjektive Ehrlichkeit, Unkenntnis historisch-politischer Zusammenhänge, verfestigten Vorurteilen, existentieller Betroffenheit und Leiderfahrung ... sowohl im Einzelfall als auch im Blick auf das Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen als ethnische Gruppe" als Folge der Isolation in der Diktatur zurückgeführt, wo es keine Öffentlichkeit gab, und "wo es das Thema Deportation ... in die Sowjetunion nicht geben durfte". Ähnliches läßt sich auch in Punkto demokratisches Bewußtsein von Menschen, die unter jenen Bedingungen leben mußten, sagen, bei den Ostdeutschen genauso wie bei den Tschechen, Polen oder Rumänen.
Mit recht führt die Einleitung, die Tatsache, daß erst nach 50 Jahren dieser Schock aufgearbeitet wird, auf die außerordentliche Sensibilität des Themas zurück, wo Legenden Geschichte machen, jene Legende von der Verantwortlichkeit "der Rumänen", ihres Staates für die Deportation und damit nach vielen Jahrhunderten der Siedlung auf diesem Boden als Heimat die totale Infragestellung der ethnischen Existenz im eigenen zu Hause unter der Ägide dieses Staates. Eine Infragestellung, die somit auf einer Fiktion beruhte. Weiter muß das Schweigegebot über die Tatsache der Deportation in der Diktatur angeführt werden, die das Trauma noch verschärfte. Und drittens die sensibelste und am stärksten verdrängte Tatsache: daß nämlich die Deportationen "keineswegs isolierte Aktionen historischer Willkür waren. Die Deportation Rumäniendeutscher in die Sowjetunion ist historisch im Kontext des Angriffskrieges des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion sowie im Zusammenhang mit der z.T. nicht unerheblichen Faschisierung der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa zu betrachten." Und mit der Tatsache, daß die wehrpflichtigen Männer zur Zeit der Deportation in der SS und der Wehrmacht gegen "die Russen" kämpften oder als Wachmannschaften in den KZ eingesetzt wurden (allein in Auschwitz 300! Und der Auschwitzapotheker war ein Siebenbürger Sachse!) - im Gegensatz zu den Rumänen, die ja nach dem Frontwechsel nun Alliierte der Sowjets waren, mußten die Rumäniendeutschen zu den Feinden der Sowetjs gezählt werden! Daß der rumänische Staat also auch die im Lande lebenden Rumäniendeutschen durch seinen Frontwechsel schützte, keine Erschießungen, Plünderungen, Vergewaltigungen etc. stattfinden durften, es sogar Exekutionen gegen jene Soldaten gab, die bei Übergriffen ertappt wurden, wird von dieser kollektiven Meinung verschwiegen, die gar nicht daran denkt, solche Erwägungen zuzulassen! Daß also objektiv genau das Gegenteil von dem wahr ist, was viele Rumäniendeutsche glaubten und glauben. Das vorliegende Werk wurde aus diesem Grunde, und weil so viele lieben Legenden auf dem Spiel standen, von der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen abgelehnt, und auch bei Versammlungen boykottiert.
Es wurde in keiner Weise entsprechend gewürdigt und aufgenommen, wie es dies verdient hätte. Noch in einem kürzlich erschienen Aufsatz über die Deportation wird dieses Standardwerk nur am Rande erwähnt, gar behauptet, es verwende keine sowjetischen Quellen zur Deportationsgeschichte, was unwahr ist, und habe deshalb "keine Klärung" darüber erbringen können, wer eigentlich für die Deportation - nicht nur aus Rumänien , sondern aus ganz Südosteuropa - verantwortlich ist. Der Autor Günter Klein weist darauf hin, daß einige wieder Zweifel streuen möchten, weil die Dokumente des rumänischen Ministerrats zurückgehalten werden. Ob da dann nicht doch die Deutschen, anstatt der Rumänen, als "Sündenböcke" deportiert worden waren, bleibe für viele, die gerne an die rumänische Schuld glauben wollen, offen?! Der Aufsatz weist aber dann klipp und klar, ebenfalls anhand der Dokumente nach, daß "die Deportation von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa ... ein vom NKVD minutiös geplantes Unternehmen" war! Und daß auch in Rumänien, die Sowjets "von Anfang an auf ... Personen deutscher Nationalität" bestanden. Es ging um die Aufbauarbeit der von Deutschen in Rußland und in der Ukraine, angerichteten Schäden, Deutsche hatten dort furchtbar gehaust , gewütet, gemordet, es ging um die zerstörten Städte und Dörfer, die sie hinterließen und die verbrannte Erde. Doch - wie ich einmal von Alfred Margul Sperber hörte, der in engem Kontakt mit der russischen Stadtkommandantur in Bukarest stand - ging es auch um die Sorge der Sowjets, daß die Armee möglicherweise deutsche Partisanen zu befürchten hätte. Die Sorge war unbegründet, deutsche Partisanen hat es nie gegeben.
Leider hat auch die deutsche Presse dieses Opus kaum gewürdigt; und die FAZ hat sogar ein negatives Bild gezeichnet, ausgehend von der Behauptung, das Buch gehe ausschließlich auf die Deportation der Siebenbürger Sachsen ein, was nicht stimmt; das Buch stellt dieses Geschehen in einen breiten Rahmen, denn "die Deportation von Rumäniendeutschen bildet nur einen kleinen Ausschnitt gewaltiger Deportationsströme." Und das II. Kapitel des ersten Bandes behandelt auf über 40 Seiten "Andere Deportationen in westlicher und östlicher Richtung".
Die Konzentration dann auf ein überschaubares Feld, eine Ethnie, die Siebenbürger Sachsen, hat seine großen Vorteile, die sich auch bei der Anwendung der wissenschaftlichen Methodologie auf das sehr umfangreiche Material offenbart. Ein Werk, das vom Erlebnishintergrund und dem konkreten Erleben von betroffenen Personen aus allen Ethnien der Deportierten in Ost- und Südosteuropa ausgegangen wäre, hätte den Stoff weder zusammentragen, noch bewältigen können, es hätte alle arbeitsmäßigen und finanziellen Grenzen und jede Forschungskapazität gesprengt.
 
 
Der erste Band, der das historische Geschehen behandelt, die historisch-politische und administrative Genese, diese anhand von Quellenstudium analysiert, widerlegt so allerlei Märchen auf dieser seriösen Grundlage, etwa die falschen Darstellungen des Publizisten Hans Hartl. Hartl ist der wichtigste Exponent eines weitverbreiteten rechtsextremen Denkens bei den Sachsen. Wobei wieder eine Analyse der ethnischen Gruppe und ihrer Faschisierung in den 40 Jahren zur Beschreibung gehört, die mit Ursache für den Deportationsbefehl der Sowjets im Namen der alliiertem Kontrollkommission war. Wobei wichtig ist, daß die Proteste der Alliierten und der rumänischen Regierung und die gesamte Entwicklung im Lande im ersten Band ausführlich besprochen und dokumentiert werden; die Proteste der rumänischen Regierung auf den Deportationsbefehl wurde freilich von den Rumäniendeutschen nie zur Kenntnis genommen. Und Weber et.al. zitieren haßerfüllte Invektiven verschiedener Bücher und Monographien, etwa diese: "In Abwesenheit des größten Teils wehrfähiger Männer wurde die Lösung des deutschen Minderheitenproblems vorbereitet und dabei nach typisch rumänischer Wesensart verfahren.
 
 
Die Besprechung des statistischen und demographischen Materials im ersten Band ist genau und detailliert. Ebenso detailliert ist die Beschreibung und Rekonstruktion des Deportationsgeschehens und der Rückkehr, sowie die Rückführungsbemühungen der Kirche. Für das Deportationsgeschehen und das Lagerleben dienen Oral History- Quellen, viele Tagebücher, Briefe, Berichte, narrative Interviews, Gedichte und Bilder, die minutiös ausgewertet werden. Man erhält dabei den Eindruck, daß es im Vergleich zur Hölle der deutschen KZs hier relativ zivil und human zugegangen sein muß.
Es zeigt sich, daß Oral History-Quellen der eigentliche Schwerpunkt dieses Werkes sind; durch Authentizität und ein radikales Entgegenstellen des wirklich Erlebten gegen einen "hochselektiven Zugriff" auf die Vergangenheit entsteht ein ganz konkreter Stil, der in der Lage ist, die Ereignisse zu erfassen und auch zu verallgemeinern; und man wird an Walter Benjamins Forderung erinnert, daß Geschichte nicht aus der Sicht der Mächtigen , sondern der Besiegten gesehen werden muß; so werden offiziöse historische Darstellungen entlarvt oder zumindest die offiziellen Quellen mit Dingen ergänzt, die diese nie gewußt haben; dieses Verfahren macht den eigentlichen Wert des vorliegenden Werkes aus.
Freilich liegt in diesen "kommunikativen Erlebnisschilderungen" vom heutigem Gesichtspunkt aus, - die Befragten wurden in den neunziger Jahren interviewt - auch die Schwierigkeit, eine Differenz zwischen damals Erlebtem und heute Erinnertem genau zu erfassen; es entsteht eine Art Brille, ein Filter, die eher ein Bewußtsein ( von heute) spiegeln, als die damalige Wirklichkeit. Trotzdem, die Fakten sind ja interkommunikativ und intersubjektiv verifizierbar und als soziales Ereignis herauslesbar. "Zwischen Erleben, Text und wissenschaftlichem Verstehen" muß, das wissen auch die Autoren, "sorgfältig unterschieden werden". Aus diesem Nachteil aber erwächst hier auch ein Vorteil: nicht nur die Fakten, das Erlebnis damals können erkannt, sondern auch jenes bis heute erhaltene Bewußtseinsmuseum muß hinzugerechnet werden, das dann ein kollektives Bild der Gruppe ergibt! Ausgehen die Autoren vom "Text", auch in dem interessantesten, dem zweiten Teil des ersten Bandes: "Texte als soziale Gebilde", vor allem beim Interview. Und diese exempla können durchaus als eine Untersuchung gewertet werden, die weit über das unmittelbare Thema ins Beispielhafte reicht. Das alptraumhafte Geschehen wird nun genau und detailliert mit sehr vielen Zeugen-Zitaten rekonstruiert: Zwangsrekrutierung, Reise ins Nirgendwo, Lageralltag, Arbeit und Freizeit, Ernährung und Hunger, Entlassung.
 
 
Im 2. Band wird die Oral History als soziologische Analyse wiederaufgenommen: "Deportation als biographisches Ereignis, eine biographieanalytische Untersuchung." Vor allem anhand des narrativ-biographischen Interviews.
Was mich am meisten anregte, ist die Analyse der Literatur, die dieses Ereignis zum Thema hat. Die Analyse ist bedenkenswert und fulminant, doch die analysierten Texte stehen weit unter dem Niveau dieser Analyse, können eigentlich kaum zur Literatur gezählt werden! In Texten, die man zur rumäniendeutschen Literatur rechnen kann, wird das Thema meist nur gestreift, so bei drei verstorbenen Autoren, Franz Storch, Ludwig Schwarz, und Arnold Hauser, dann bei Heinrich Lauer und Franz Heinz. Sie werden in diesem Opus aber nicht erwähnt. Und auch das Kapitel "Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema", ist bei der Suche nach guter Literatur auch nicht fündig geworden. Neben den wichtigen Dokumenten und soziologisch-historischen Analysen in Band I "Die Deportation als historisches Geschehen" und den "Quellen und Bildern" in Band III ist sicher der zweite Band das originelle Kernstück dieser Gemeinschaftsarbeit, die übrigens in allen drei Bänden auf Zeugenberichte der "Erlebnisgeneration" zurückgreift.
 
 
Eine "radikale Differenz von Text und Leben, von erzähltem Leben und gelebtem Leben" wird betont. Der Text selbst läßt "Schlüsse auf Beschreibungen des gelebten Lebens, nicht aber auf das gelebte Leben selbst" zu. Eigentlich ist das für solch eine Recherche ein Widerspruch, soll nun die Deportation selbst oder Texte und Perspektiven, Meinungen etc. über sie analysiert werden? Können wir nie wissen, was wirklich geschehen ist? Das geht in die Tiefe und bleibt nicht beim Problem des Augenzeugen und seiner Glaubwürdigkeit stehen! Gleichzeitig wird auf die Oral-History-Bewegung, auf den Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung verwiesen. Es wäre eine extrem pessimistische Perspektive, und ließe den Schluß zu: daß Geschichte eine schmerzliche, ja, vernichtende kollektive Halluzination ist!
In den Interviews erscheinen zu erinnerten "Realitäten", das Filter der Vorurteile: "daß eben die die rumänische damalige Regierung sich entschlossen hat, also die Deutschen hinzuschicken...", heißt ist ziemlich unisono! Oder daß die Russen Untermenschen seien, z.B. Viren eingeschleppt haben sollen, womöglich wie die Juden selbst Viren seien. Oder fragwürdige "Ideale", doch in dieser bedrohten Lebenswelt, wo eine Umwertung aller Werte ins Brutale stattfindet, erscheinen nun sogar diese "Ideale" ein Halt zu geben, Werte: wo Ehrlichkeit, Anständigkeit, Sauberkeit, Pflichtbewußtsein, Sexmoral eng an den Nationalsozialismus gebunden werden. Die Interviewte, die das erklärt, war "Jungmädelführerin" und mußte "ein Beispiel" geben. Diese Perspektive, nicht die von damals, sondern die von heute, als hätte keine Veränderung des Bewußtsein stattgefunden, auch nach 50 Jahren nicht ! ist erschreckend! Dazu kommt noch ein unerträglicher Standesdünkel, der noch noch älter ist.
Entlarvend sind die Aussagen in den "literarischen" Werken, die man freilich als solche gar nicht ernst nehmen kann. Doch bei aller Rechthaberei und Verbohrtheit in alten, zum Teil noch Nazi-Auffassungen, bleiben Trauma und Leid; und Sill hat recht, darauf hinzuweisen, daß diese "weltgeschichtliche Randnotiz", die "statistische Unerheblichkeit" angesichts dieses Mörderjahrhunderts und der Millionen Opfer, "in schärfstem Kontrast zu jenem Leid" steht, das den Betroffenen widerfuhr". Und man muß die Klagen gelten lassen, daß dieses Leid deshalb nicht akzeptiert wird, weil der Einzelne mit der falschen Seite, nämlich der Naziseite identifiziert wird! Und weil die Leidenden zum Umkreis der Täter gehörten!
Doch wo es um Fälschungen geht, wo heute der Dünkel und das Bewußtseinsmuseum, ohne jedes Zulernen offenbar werden, da kennt Sill keinen Pardon und entlarvt schonungslos dieses Museum. So den Band "Verschleppt in die Sowjetunion, Aufzeichnungen von Hans Zikeli, Ursula Kaiser-Hochfeldt, Hans und Frieda Juchum", 1991 im Verlag Südostdeutsches Kulturwerk erschienen. Daß der Verlag sich eine "gezielte Irreführung des Lesers" leistet, diese Manipulation beruht ebenfalls auf einem Versuch, unbedingt recht behalten zu wollen. Sill entdeckt, daß es sich ( bei Zikeli etwa) gar nicht, wie angegeben, um Tagebücher und Texte aus jener Zeit (1945-50) handelt, sondern um heutige Rekonstruktionen. Auch B. Ohsams "Roman" "Eine Hand voll Mahorka", der bei den Sachsen einen großen Erfolg hatte, wird zu recht verrissen, wobei es bei Ohsam schon die Sprache an den Tag bringt, er von den Sprachklischees verraten wird, sich zeigt, welch Geistes Kind der Autor dieses Buches ist: "Flintenweib", "innere Sauberkeit", Pflicht etc. bei den Sachsen, diese Floskeln kommen immer wieder vor. Schlimm ist, so Sill, die versteckte "Haltung" bei den Figuren: wer Menschen an die Gestapo verrät, bleibt gut, Verrat an die Kommunisten aber ist das Böseste des Bösen! Die gutgemeinte Botschaft, daß eine unschuldige(!?) Generation zwischen die Mühlsteine zweier Diktaturen gerät, wird konterkariert durch die Figurenkonstruktion, die Perspektive und die "völkisch" duchtränkte Sprache, so das Fazit Sills.
Als ein besonderes Machwerk erweist sich "Die Mordhill"(1988!!) von Andreas Türk, der "bloß zeigen" möchte "so war es, und so sind wir..." Einige Zitate, etwa über den 23. August 44: "Damals wurden wir - verkauft! Von unserem Vaterland..." Und dazu die andauernde Wiederkehr der Floskel von der "rumänischer Skrupellosigkeit", zeigen auch bei Türk, welch Geistes Kind er ist! Grundton: - "Wir Sachsen sind keine Kriegsverbrecher" - Sill: "Beschämenderweise wissen wir heute einige Namen zu nennen!"
Doch dieses wird von Türk nicht zur Kenntnis genommen: "Ahnungslosigkeit und "verweigerte Stellungnahme", daß die Untaten der Deutschen in der Sowjetunion "uns kalt ließen", und: "ich spreche von den bösen Folgen des Krieges und davon, daß es nach so einer Katastrophe wenig Sinn habe, die Frage nach der Schuld zu verewigen - wo doch alle schuldig wurden..." All dieses charakterisiert eine bestimmte Haltung. Sill ist entsetzt, daß sich "in einem 1988 veröffentlichten Buch", "eine weitere Aussage von ungeheurem Zynismus" vorfindet: "Ich erkenne nur eines ganz deutlich, daß weder die Rumänen, noch die Juden, sondern wir Sachsen den Krieg verloren, ehe er zu Ende ist."
Wenigstens ein literarisches Werk von Niveau gibt es zum Thema: Rainer Biemels bei Erscheinen weltbekanntes Buch "Mein Freund Wassja". Und zwar gelingt dieses Buch, weil in seinem Erzählraum sowohl die Figuren, als auch der Autor angesichts des Mordgeschehens ratlos sind, und es auch sein müssen, so bleibt alles offen. Das hat einen reifen Stil zur Folge, und einen Roman, in dem es dann auch so zugehen kann, wie in der Wirklichkeit, das Unvorhergesehene seine Chance erhält, keine Ideologie, kein Vorurteil alles zudeckt! Sill: daß sich eben "Ratlosigkeit ins Produktive wenden läßt". Während alle übrigen Bücher nur übertünchte festgefahrene Ideologie enthalten, fast wie verdeckte Propagandaschriften pro domo und für eine einzige Wahrheit stehen wollen: "seht wie gut wir, wie schlecht die anderen sind!" Wir sind die eigentlichen Opfer!
Alles in allem sind diese drei Bände zum Thema Deportation ein wichtiges /Buch, das mit wissenschaftlichen Methoden dieses heikle Thema in den Griff bekommt, es ins Allgemeine heben kann, ein Beitrag nicht nur für die Geschichte der Rumäniendeutschen , sondern ein mit außerordentlich viel Material fundierter Beitrag zur Deportaions- und Migrations-, ja, auch zur Mentalitätsgeschichte in unserem Jahrhundert; ein Standardwerk, dem viele Leser zu wünschen ist!
 
 
Georg Weber, Renate Weber-Schlenther, Arnim Nassehi, Oliver Sill, Georg Kneer: Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. 3 Bände. Insgesamt etwa 2184 Seiten. 170 Abbildungen. DM 198.- Böhlau Verlag Köln Weimar Wien, 1995
 
 


 
 
DER BAUM WÜRDE SICH WUNDERN, WÜSSTE ER, DASS WIR IHN "BAUM" NENNEN
Über Sprachskepsis, Bildverbot und den Begriff Zeit
 
 
1 Möglicherweise griff die Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in seine.r Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Walter Benjamin war es die schon früh vorgenommene Dekonstruktion. der "Fortschritts"-Teleologie im starren Blick seines "Engels"; in Louis Althussers "Selbstkritik" war es, ähnlich wie bei Walter Benjamin, der Gedanke: wie läßt sich Selbstbewußtsein erhalten, wie die Kette der Geschichtsereignisse und des status quo, in denen Bewußtsein gefangen ist, wie den "Verblendungszusammenhang" zerreißen. Beim unglücklichen Philosophen Althusser hatte die Entdeckung, daß jede Verbindung zum "Realen" "Imagination" und vereinzelt sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr geben kann, möglicherweise zum Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom radikalen "Bildverbot", ja, "Illusionsverbot" aus; er endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène in der Heilanstalt.
Die totale Entlarvung des "Realen" ist kaum zu ertragen, muß in der Selbstzerstörung oder im Zynismus enden. Heute ist die Lage noch extremer. Wer das Bild,- Sprach- und Illusionsverbot radikal anwendet, verfällt, falls er nicht zu dessen transzendenten Ursprüngen zurückfinden kann, im besten Fall der Anmaßung einer reduktiven Logik, die den großen und undenkbaren Zusammenhang, der jeder menschlichen Sprache unzugänglich bleiben muß, ausklammert. Oder er verfällt jenen populären Vorurteilen, die "Realität", die alles, was so ist, wie es ist, unbesehen akzeptieren, jenem also, was von Platon bis Kant und dem Denken bis heute als Illusion und Irrtum galt: Dem Unmittelbaren, der "Evidenz" der manuipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion.
 
 
Der Schein trügt, sagt schon das Sprichwort. Dabei ist der Wider-Schein aus dem, was wir nicht denken können, täglich im Licht, sogar im elektronischen, greifbar da: "Noch auf ihren höchsten Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches, empfängt sie vom Scheinlosen... Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene." Das Zentrum des Denkens ist heute Deutung der Poesie, ist Denken im Umkreis der Ästhetik. Der Schein trügt: Nicht die Oberflächen kollektiver, sozialer Massenexistenz, sondern der Einzelne, das Subjekt mit seiner Anschlußfähigkeit an jenes "Scheinlose" ist das Zentrum der Ästhetik und der Kunst, und in vielen grundlegenden Untersuchungen auch der Naturwissenschaft, denn auch diese muß heute erkennen, daß sie ihren eigenen Grund nicht denken kann. Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des Subjekts, Bilder und Begriffe verdekken ihn. Und unsere Bild-Inflation heute ist ein neuer Sündenfall.
Schon Kafka wußte, in einer Umkehrung des schlechten Künstlergewissens, daß sich die Realität vor der Kunst und dem Geist zu rechtfertigen habe, und nicht diese vor ihren Oberflächen, daß der Einzelne eine "ungeheure Welt im Kopfe " habe, daß das "Nichts" der Literatur, ihr unmögliches Unternehmen, ein "Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" sei.Literatur, Kunst und Meditation stehn im Zentrum des menschlichen Abgrundes - und nicht das äußere Bild eines "Wirklichen", gar dessen anämische Abstraktion. Erich Rothackers "Metaphorologie", die Hans Blumenberg übernahm, und die besagt, daß Denken ohne (inneres) Bild unmöglich sei, ist nur ein weiterer Beleg wider die weltlose Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen Logik, aber auch der äußeren Bildinflation. Das Umkreisen des Erlebnis- und Erfahrungskerns der Existenz mit Metaphern, Erzählungen, innern Bildern und Traumbildern paßt sich gerade der Sprachskepsis und dem Bildverbot an; auch die "dritte Phase" des "professionellen Vernunftgewerbes", nach der "naiven" und der "ratlosen" Phase - die Phase der Pluralität und Offenheit heute, versucht so dem entlarvten ideologieverdächtigen "Absoluten" zu entkommen, das jedoch nicht mit dem "Einen", der "Alles" ist, und begrifflich nicht faßbar sein kann, verwechselt werden darf, wie es etwa Eckard Nordhofen tut. (Die Aufhebung des Bildverbots, in: "Literaturmagazin" 25, S. 61ff) In der Archetypenlehre der Tiefenpsychologie sind die Traumbilder, Phantasiebilder, die in der Erinnerung unmittelbaren psychischen Realitäten, Zeichen des begrifflich Unsagbaren; ähnliches gilt für Bilder und Metaphern der Poesie. Das Gegenteil des Abstrakten. Besonders deutlich in der Conversio und dem An-Wesen bei der Begegnung mit großen Weisheitslehrern, die keine Schriften hinterlassen haben wie Sokrates oder Christus. Das Angleichen an den Meister und den "innern Meister" (omoisis to theo bei Platon), dieser Prozeß der Individuation ist das, was MIMESIS ursprünglich bedeutet hat, Angleichung des Ich, die Eben-Bild-Suche in einer initiatischen und schmerzhaften Metamorphose, und nicht "Mimesis", wie sie später in einer primitiven "Widerspiegelungstheorie" der nochmals verbildlichten "Realität" auf den Hund kam. Am schlimmsten im Diamat und seinem "sozialistischen Realismus", wo das Kunstwerk nicht Angleichung an "Gott" (omoisis to theo), sondern sklavisch eine "Spiegelung" der "objektiven Realität" sein mußte, und schließlich die Partei bestimmte, was objektive Realität zu sein hatte! Wir sehen also, daß nach dem Scheitern dieser Abbild- und Abgott-Ästhetik, die nur ein Bastard des auch im Okzident vorherrschenden Realitätsglaubens und vulgären Materialismus (hier des Geld-Scheins) ist, das alte "Bildverbot" der Bibel gegenüber dem Realitätsgötzen wieder zeit-gemäß wird. Und was dahinter liegt, taucht heute wie eine Wiederkehr des Verdrängten in der neueren Deutung der Kategorie des Erhabenen als paradoxe Struktur eines Nicht-Darstellbaren auf. War diese früher Ästhetik des Prunks von Herrschaft, wird heute mehr der Aspekt von Schrecken, Schauer, Grausen betont, das Unheimliche, wenn das Gewohnte, wenn Verstand und Logik nicht mehr greifen, erschüttert werden. Dabei geht es um einen Augenblick des Schreckens, ein "Now", wie Lyotard es auf Zeitbegriffe des chokartig und ekstatisch auftauchenden "Nichts" der hebräischen Kabbala zurückgreifend, genannt hat. Herrschende Raum-Zeit aber ist Projektion einer Angst, Angst vor dem Unbekannten. Nach Freud eine Verschiebung des Unheimlichen und Namenlosen zwischen den Sekunden: der Anwesenheit und Abwesenheit der Augenblicke ins Bild. Dazwischen aber der Chock des Nichts. In der nächsten Sekunde ist nämlich noch niemand gewesen, und es könnte jeden Augenblick etwas Überraschendes und Furchtbares geschehen: "... Now... eher das, was das Bewußtsein außer Fassung bringt ... was ihm nicht zu denken gelingt, und was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren." "Ästhetik des Schreckens" und der Öffnung. Peter Weiss freilich oder auch Thomas Pynchon liegen mir bei diesem Grenzgang näher.
Die hebräische Bibel verlangt, den Schrecken der in diesen Zwischenräumen auftauchenden numinosen Epiphanien auszuhalten, dies hieß, dem Bildverbot zu gehorchen, der Entlastung durchs Goldene Kalb nicht zu folgen, jede Zeit- und Bild-Konstruktion zugunsten des Un-Heimlichen, nach Freud des ursprünglich Heimischen, des zeit- und todlosen Paradieses aufzugeben.
 
 
2 Das alte Bildverbot hing ja mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis, dem Exodus, der Strafe des Todes und der Zeitangst zusammen; Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit "nützen möchte" und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die Betroffenen krank macht. Als könnte nun mit dieser neueren Selbstanalyse, die eng auch mit den durch Foto und Film und elektronische Haustiere neugewonnenen Seh-Erkenntnissen zusammenhängt, "der Tod, der Sünde Sold", die alte Erbsünde als Illusion entlarvt werden. Denn es ist eine Illusion, die eng mit dem Körper-, Bilder- und Sprach-Glauben, also der Halluzination "sichtbare Wirklichkeit" zusammenhängt, zusammenhängt vor allem mit unserem überholten Konzept "linearer Zeit", das sich in der neueren Physik als Fiktion erweist. Dieses neue Erlebnis trat vor allem in der sichselbstaufhebenden SCHRIFT und dem Verschwinden von Raum und Zeit im BILD seit dem Impressionismus zutage.
Es war wieder ein langer Umweg dahin nötig: Die alte "Gesinnungsästhetik", gar Kunst als oberflächlicher sozialer Widerstand und als Weltveränderungskonzept (einer Illusions-Realität) sind ad absurdum geführt worden; Kunst steht in dieser Späte und nach einem Ende heute allmählich (viel zu langsam reift dieses Bewußtsein!) wieder mitten in jenem Gang zum Grund. Die alte Theodizeefrage, wie in einer Welt voller Übel Kunst (wie früher Gott) noch zu rechtfertigen sei, ließe sich nun so beantworten: daß sie gerade durch die historischen Übel und Verbrechen dieses Jahrhunderts wieder und radikal an diese Grenze geführt worden ist, doch sie, die Vermittlerin zu einer grenzüberschreitenden U-Topie, muß sich selbst überschreiten, um weiterbestehen zu können! Brechts Gespräch über Bäume wurde schon durch Celans Parodie widerlegt, dieses neue Bewußtsein (das eigentlich mit der Moderne begann) verschärft ausgesprochen: "Was sind das für Zeiten,/wo ein Gespräch/ beinahe ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt." (Ein Blatt, baumlos, für Bertolt Brecht.)
 
 
3 Wenn wir an die Ursprünge des alten Bildverbotes zurückgehen, stellt sich freilich die Frage nach jenem unbekannten und unbeschreiblichen Wesen jenseits der Sprache, das unheimlich ist, im Schrecken erscheint, uns sprachlos macht. Ist das Tabu des Bildverbotes "Gott", das hier Fehlende? Ist "Gott" der Tod? Abwesenheit der sinnlichen Welt als Anwesenheit ihrer Tiefenstruktur, Anwesenheit unseres "Angeschlossenseins" an den undenkbaren größten Zusammenhang, Er dafür eine Chiffre? Hier stoßen wir auf den schwierigen Un-Begriff des Nichts. Das Nichts ist im Hebräischen identisch mit Gott. Ayin heißt Nichts. Es ist zugleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von (inneres) Auge. Jenes "Gott" genannte Eine, das immer und zugleich nie da ist, da es "Alles" ist - wirkt als treibende Absenz in allem, was existiert. Dieses "Nichts" ist als Entwicklungsspender in allem enthalten, im Menschen unbewußt als grenzüberschreitende Erwartung, Hohlform unverzichtbarer Hoffnung. Nach George Steiner bekommen wir jetzt die Rechnung dafür präsentiert, daß unsere Zivilisation, "darstellerisch orientiert", sich nur durch die Verletzung des Bildverbots entwickeln konnte, also durch den "Tod Gottes", daß sie dafür "Gott und die Welt im Wort `nachgebildet` hat," was letztlich eine Art Welt gewordene Illusion war. Diese Rückkehr zur Einsicht in die "metamorphische Bedeutung, die Willkürlichkeit von Bedeutung" und dann: "die fossilgewordene Autorität des logos", ist ein tödliches Vergessen, von dem auch die Autoren geschlagen sind: "Zeichen transportieren keine Gegenwärtigkeit", sie sind Illusion und Todesaufschub, Mallarmés Absence (das Wort "Rose" als Absenz der wirklichen Rose), die Schreibenden zum Schicksal wird. Dabei sei es nur eine traurige Imitation des andern großen Nichts ( das Wort "Gott" als seine Abwesenheit), auch die Zitate von Zwischenräumen, Rissen, Zeitspalten usw. sind Spiele mit dieser Absence; bei Mallarmé "les blancs" als Abgründe im Typoskript zwischen den Sätzen und Wörtern...
Das absolut Bildlose, Innere , die reine Absenz aber ist etwas existentiell sehr Ernstes und Lebenswichtiges, das nicht nur die Kunst angeht, es ist "der Abgrund, der in den Lücken des Seienden" sichtbar wird..."Kein Ding und Wesen kann sich verwandeln, das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker eben Nichts nennt, berührt hat", heißt es bei Gershom Scholem . Das alte Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unvorstellbaren, Unfaßbaren, das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen können, durchbricht, verbietet, ließe sich heute so ausdrücken: Worte und Bilder dienen zur Beruhigung, zur Illusionsherstellung , ohne die wir so nicht leben könnten, wie wir leben; und das, was wir mit Worten und Bildern verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese die Erde vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dieses Unheimliche ist im Christentum das totaliter aliter, das Ganz Andere genannt worden. Wobei weiter zu bedenken ist, daß die vorstellbare Grenze, die uns davon trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres gegenwärtigen (uns schützenden) BILDES von ihr, das - weiter in diesem Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie uns schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne, - ja eine An-Maßung ist.
Interessant auch der Zusammenhang dieses "Ganz Andern" mit der "Alterität" der Negativen Theologie. Adorno, nun mit seiner "negativen Dialektik", eine Art Übervater der Postmoderne, verweist auf die in der Negation wieder erreichten theologischen Wurzeln. Kierkegaards Angriff auf das Ästhetische und Ethische, die ohne das Heilige als Sündenfall des Begriffs, der Emotion, der Tat und der Ideologien erscheinen, ist nicht weit davon entfernt. Adorno geht von ihm aus. Und Robert Notziks Deutung des Holocausts als antimessianischen Zeitbruch und Einzigartigkeit der abendländischen Unheilsgeschichte ist ebenfalls damit verbunden.
Grund dieser Unheilsgeschichte ist die Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren, die Abtrennung vom Unsagbaren; so erscheint etwa das banausenhafte Kunstverständnis des Kitschs und "Volksgeschmacks" der Diktaturen rot und braun, in der "Expressonismusdebatte" oder in dem Konzept "dekadente" und "entartete Kunst" als Symptom des Realitätswahns; die Patentlösung war auch in diesem Bereich Vernichtung des Abweichenden, "Fremden" der für Diktaturen gefährlichen "Alterität" in der Kunst, im Geist.
In der Frühphase der roten Revolution dagegen blühte gerade die Avantgarde, die Darstellung des "Neuen", die Zerstörung der bisherigen falschen Realität und ihrer Unterdrückungsmechanismen. Ähnlich der Versuch im frühen Christentum, das totaliter aliter Gottes in der Ikonenkunst darzustellen, wo die normalen Licht- und Perspektiveverhältnisse, das gewohnte Seherlebnis aufgehoben wurden. Als die Fetische und Götzen dann katholisch wucherten, gab es in Florenz Savonarola und im Norden den protestantischen Bildersturm.
Das alte Hebräische, die Schöpfungssprache der Bibel, umging die direkte Benennung oder Darstellung des totaliter aliter, des Heiligen (qadosch), auf geniale Weise: geschrieben werden darf nur der Körper, das natürliche Gesetz: die Konsonanten; ihre unendliche Verbindungsmöglichkeit dagegen, in uns anwesend als "Blitz" der Assoziation, der erst den Sinn des Wortes herstellen kann: sind die nicht zu schreibenden, nur hinzuzudenkenden Vokale, dazu-"gedacht" sind sie die "Gnade Gottes", dessen NAMEN überhaupt nicht ausgesprochen und gedacht oder vorgestellt werden durfte, sondern unbekannt bleiben mußte! ER wurde daher in der jüdischen Mystik auch das Nichts genannt, weil jene "ganz andere" Dimension nur sein kann, wenn der Mensch in seinem Bilderwahn absent ist. Der Sinn aber jeder Versenkung ist diese Abwesenheit, herstellbar durch ein "Abschnüren der Sinne", Los-Lassen, Leer-Werden.
Es gibt freilich auch Bild-Meditationen, die der Absenz-Erzeugung in der Kunst ähneln, sie sind dem echten Gebet nach-gebildet , denn die Vorstellung, die im Satz erzeugt wird, ähnelt jener, und jeder kann darin eingehn und verschwinden...
Botho Strauß behauptet, es ereigne "sich ein überzeugender Gedanke überhaupt nur" im Heraufrufen "seiner Bestreitbarkeit", wenn er die "Nähe eines anderen Erkenntnismodus, in dem sich dergleichen so nicht sagen ließe", "berührt", und er bringt dazu ein sehr einleuchtendes Gedicht von Giorgio Caproni als Beispiel: "Rückkehr. Ich bin wieder da, /wo ich niemals war./ Nichts ist anders als es nicht war./ Auf dem halbierten Tisch, dem karierten/ Wachstuch das Glas,/ darin nie etwas war./ Alles ist geblieben, wie/ ich es niemals verließ." Paul Virilio schlägt vor, wir sollten uns daran gewöhnen, auch die Negativ-Kontur, das Ausgesparte zu sehen, nicht nur den Berg, sondern das Tal, am Rand eines Glases die Leere, bei einem Speichenrad die leeren Zwischenräume.
 
 
Moderne Literatur ist undenkbar ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir "Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare "Aura" und den "Chock", Joyce die "Epiphania"; und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das Fehlende also erst sage aus, was ist.
Ausgerechnet der Stotterer ( der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche Thora - oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges, das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik ist.
Das Bildverbot, ja, Aussageverbot geht auf die Einsicht zurück, daß wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und aussagen können. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen Mutationen des kosmischen Zusammenhangs, mit dem wir und alles, was wir wissen, denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich benennt, teilt, verläßt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich der Zwei über.
So beginnt auch die Bibel mit der Zwei: Bereschith bara, Im Anfang schuf: B ist die Zwei. Doch so gesehen, läßt sich Annäherung ans Eine, den "Sinn", und sei es in einem einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über unsere Intuition "angeschlossen" sind. Aber diese "Gnade Gottes" scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form als SINN gespeichert zu sein. Mit dem flash des immer besseren Verstehens der Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens sind Glücksgefühle verbunden, die sich mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose, bruchstückhaft zusammenhanglose "Unten" aber schmerzt.
 
 
4 Neben der Kausalität existiert also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und Sinn, auch Synchronizität und "sinnvoller Zufall" genannt. Die alten Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch) unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te King nennt TAO auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit ausdrückt: "Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:/ Auf dem Nichts daran beruht des Wagens Wirkung./ Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung. /Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern,/ Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung./ Darum: das Etwas schafft Wirklichkeit,/ Das Nichts schafft Wirkung."
Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das "Etwas", nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, daß er sich mit seinem Ich beim kreativen Prozeß nicht einmischen darf, sonst blockt er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Ästhetik korrespondiert damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung der äußern Sinne, um mit dem innern Auge zu sehen, dem innern Ohr zu hören. In dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden. Kunstgenuß oder Lyriklesen ist nichts anderes: Alles löst sich, z.B. in Kleists Prosa und seinen Dramen, in einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Das Bild, die Außenwelt verschwinden bei diesem PROZESS, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen. Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns voreilig ein BILD machen oder ein Gleichnis und einen "kleinen", nur alltäglichen Sinn suchen. Denn an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf etwas anderes, noch Unbekanntes bezogen; jede Handlung hat in sich schon das Zukünftige (oder gleichzeitig das Ganze), ließe sich nur von da aus begreifen. Dieses aber ist fast immer die Katastrophe, ein Untergang, das Zeichen dafür steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft ein, wiederholt das, was tödlich in ihm steckt.
 
 
5 Das Hebräische wird von den Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt, so wird auch das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher "poietisch" (alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr aussagt, als die Erzählung, etwa die naiven Geschichten von Adam und Eva, oder von Noah und der Sintflut oder von Kain und Abel aussagen können. Oder die so wichtige Geschichte von Moses auf dem Sinai und dem Bildverbot. Wir tun es lesend und wir gehn mit dieser Bibel um seit Kindertagen und wissen es nicht. Die Katastrophe der heutigen Welt hat damit zu tun. Aber auch damit, daß Zahl und Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise voneinander getrennt sind. Es paßt zu den Absurditäten des Okzidents, daß er mit einem ungeheuer wichtigen Teil seiner Kultur so umgeht, wie er mit allem, was nicht in sein rationalistisches Konzept paßt, umgeht: verdrängend, ausklammernd, hassend. Das Hebräische, das Jüdische und dessen gesamter Kosmos nahmen und nehmen in diesem Haß eine Sonderstellung ein.
 
 
Die SCHRIFT, auch die heilige, beginnt, wie wir schon sahen, mit dem Geteilten, der Zwei, mit B, dem Beth (was auch Haus heißt): "Bereschith bara" ("Im Anfang schuf", aber eigentlich im Kopf schuf) denn nach dem B steht "resch", resch heißt KOPF ( die Summe seiner Buchstabenwerte ist 200: die hundertfache 2= 200); reschith aber heißt Haupt-Sache. Die 20: Kaf (zehnfache zwei) ist die schaffende Hand. "Der Schöpfer" hat die Welt aus der schwingenden Information der "Sprache", aus den 22 Buchstaben und Zahlen ( Sephira= Zahl, Kräfte, Sphären) mit Kopf und Hand erschaffen; Kabbala heißt "Macht der 22" (Kaf=20, Beth= 2, La ist das Wort für Macht.) Lauter Zweier-Folgen aus der Eins.
Die sieben Schöpfungstage hängen ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen. 1-3 sind der sogenannte Urraum (Zimzum), der "achte Tag", jenseits von Zeit und Geschichte, doch zugleich in ihnen verwoben: 1: Null, 2: Lichtpunkt, 3: Grenze oder das Hinabgehen in Klang , Farbe und Form. Dieses Hinabgehen ins Materielle steht den Modellen der heutigen Informationstheorie sehr nah: Erst die Erscheinungsform im Kopf als Wissen des "Lichtpunktes" der Nulldimensionalität des Reschith (allerdings immer noch als berührbare Unendlichkeit) ermöglicht es dem Urlicht der Eins (En-Sof im Hebräischen), hier in der menschlichen Welt überhaupt zu erscheinen. Dieser Punkt aber braucht Laut und Klang, die Begrenzung, Umhüllung des Unmeßbaren, Verstofflichung des Gedächtnisses, das nicht von dieser Welt ist (Wissen im Samen, in den Genen, Chromosomen, dem Atom), mater materia; esist ja Geist, der nicht als Geist erscheint, aber er braucht die Form, die Grenze, um sich verkörpern zu können. BINA, die 3. Sphäre - Grenze: Hinabgehen in Klang, Farbe, Form, die Ur- Mutter ermöglicht es.
Adam, der Mensch, hat dieses Strömen der Ur-Information im Sündenfall unterbrochen, das Außen, den Augenschein, die Frucht vom Ur-Baum getrennt, das Wesen von der Erscheinung, und so kam der Tod auf die Welt, denn der abgerissene Körper stirbt ja "tatsächlich"; Formen sterben, die Information des Samens, der sie weiß, aber bleibt im Immateriellen erhalten! Essen vom Baun der Erkenntnis ist Trennung der Frucht vom Baum. Essen vom Baum des Lebens ist Osmose; "Essen" der Sinne, Aneignung der Welt heißt im Hebräischen "achol"; es verbindet A (Aleph), die Eins, mit chol, dem Vielen, dem spezifischen Schwingungsklang, der in jedem Ding als Eigenart vibriert. Liebe ist die Verbind.ung der fünf Sinne auf höherer Ebne der Berührung. a-chol. Das Zerreißen, Abreißen, die Spaltung aber ist die Hölle. Das Sichtbare, so vom Einen getrennt (A von chol), ist seither einem furchtbaren Ungenügen, ist den zerstörerischen Gewalten, die Macht über den Körper haben, wehrlos ausgeliefert. Heute ist dies als Riß in uns und in der Welt und als Schmerz in der sinnlosen Kontingenz zu spüren , die ja selbst nur ein Nichtwissen der Zusammenhänge, eines Zufalls etwa, ist, dessen nihilistische Verabsolutierung eine Täuschung und Selbsttäuschung im Spiegel des Empirischen, des Ausgeschlossenseins von den höheren Sphären bedeutet. Im Schmerz aber zugleich auch die Not-Wende: Denn noch nie war diese größte humane Aufgabe, den Zusammenhang des Ganzen zum Sinn wieder herzustellen, die abgerissene Verbindung wieder aufzunehmen, so lebensnotwendig und dringlich, und dies nicht nur für die menschliche Welt. Jenes Falsche der Trennung, jener Makel ist nicht nur in einem, für viele unerklärlichen Leidensdruck spürbar, sondern auch in der Falschheit des klassischen Erkenntnisansatzes, der Trennung von "Innen" und "Außen", die in sich selbst zusammengehören und untrennbar in der Ebene eines höheren Komplexitätsgrades wirken, der sich in uns als Intuition spiegelt und im Erkenntnisblitz Eins sind: letztlich hält uns die Natur den Spiegel unserer eignen Mittel und Instrumente vor, so z.B, formuliert in Heisenbergs "Unschärferelationen", die die Berechnung einer zeitbedingten kognitiven Unfähigkeit sind. Erstaunlich ist, daß sich in der Quantentheorie unser Fehlverhalten sogar durch die auf den Beobachter bezogene Wahrscheinlichkeit und die damit verbundene "unvollständige Kenntnis eines Systems" berechnen läßt..Daß nämlich die Unwägbarkeiten des Subjekts sowie die Unkenntnis vom ganzen Kosmos mit in die Imponderabilien eines Experiments als Unbekannte, um das Experiment "genau" ausdrücken und berechnen zu können, einbezogen werden müssen . Aber diese Falschheit und Störung des Ganzen durch unkontrollierbare Eingriffe ist für die gesamte Natur und für die menschliche Gattung insgesamt gefährlich geworden, sie äußert sich ökologisch, atomar und in zunehmendem Maße auch im biologischen Informationssystem als Krebs, als Aids und als Neurose und Geisteskrankheit. Und ist letztendlich in diesem festgefahrenen Glauben an "Objekte", also an den SCHEIN eines Augenbildes gebunden, also im tieferen Sinn durchaus auch an eine drastische Übertretung des BILDVERBOTES.
So wird im Hebräischen die Zahl Sechzig ( Sechs= waw, das Und, Folge, Zeichen des Menschen, in der Zehnerreihe, der Ebene des Handelns) wie ein Kreis geschrieben, das Zeichen Samech, heißt Wasserschlange; es ist das teuflisch Schlüssige, die Evidenz des Kausalen und Rationalen, seine Verführung. Der Sinai: wo der Mensch Moses die Tafeln mit den "zehn Worten" empfing, ist Verführung und Wunder zugleich: Wiederholung der Paradiesmetaphern. Zum Blitz auf dem Berg nämlich kommt das höllische Tal unten: das Goldene Kalb, hebr. egel. Und egel heißt das Runde, der geschlossene Kreis. Der Fetisch Ratio also, abgezirkeltes Oberflächen-Bewußtsein, im Osten vormals zur Ideologie geronnen, zur konsequenten Idiotie der Abbild-Theorie in der Ästhetik!
Die Warnung vom Sinai: "Du sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen, gilt auch für die menschliche Wirklichkeit. Und nun sogar total, wir leben heute in dieser alles erfassenden Herstellung von Welt in der künstlichen Bilderwut, da das Medium, das die Botschaft ist, diese Wirklichkeit nun nicht im Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt, die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle ist, sie überschwemmt die selbstgeschaffene "Wirklichkeit" mit Bildern. Alle sind bald in der gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden darin. Aber - verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in der eigenen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität? Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Wälder, Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! Diese aber ist keineswegs die "ganze Welt", und wer sie allein spiegelt und von ihr ausgeht, bleibt in ihren Irrtümern gefangen, auch wenn er behauptet, sie und ihre Resultate zu "kritisieren". "Du sollst dir kein Bildnis machen!" Wie wahr so spät. Dabei ist es doch auch hier nur kreative oder eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte schon früh den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen.
 
 
6 Das Bildverbot am Sinai ist das "zweite Ur-Wort" , - nicht Gebot (im Hebräischen ist nur von "zehn Worten" die Rede,) es wird in der Pfingstbegegnung mit Jahweh, ohne Vokale geschrieben JHWH (Lichtblitz, Strahl, Lichtmetaphysik) auf dem Sinai Moses "gegeben": "Mathan Thora" Geben, Schenken der Thora, eine Art Strukturbild der Welt, nein, eigentlich der verborgene NAME Gottes ist in diesem Buchstaben-Geflecht enthalten. Und dieses Geflecht ist tatsächlich ein Wunder. Er ist die unaussprechliche Eins, der erste Buchstabe Aleph. Aleph besteht aus zwei Jod (Zahlenwert 10) und einem Waw (Zahenwert 6), ergibt 26. 26 aber ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH (Jod: 10; He: 5; Waw: 6; He: 5). Die erste Hälfte (10, Potenz von 1) steht der zweiten gegenüber (5 UND 5, denn Waw, der Haken, heißt auch UND und ist das Zeichen des Menschen); der Mensch hat also durch seinen Fall, geteilt in Männlich und Weiblich, Gott verstümmelt und halbiert. Frei von den zur Bildprojektion gewordenen Entwicklungskräften der "Realität" war auf dem Sinai wieder Erlösung möglich: Kontakt zur "Eins". Das "Bildverbot" geht ja nicht um äußere Bildnisse nur, sondern um die Abtrennung des Sichtbaren vom Wesen, um die inneren Formkräfte, die verstellt werden. Die Urschrift, Information und "Ur-Wissen", Form als Kenntnis (eines Subjekts) vom Verhalten in jedem Ding, jedem Tier oder Stern, Form, die die Welt baut, war der Bibel nach ursprünglich mit schwarzen Feuerbuchstaben auf weißes Feuer geschrieben ( Atomfeuer, Kern und Schalen?), innerste Formung, die wirklich werden sollte. Zwei Eingrabungen: Herzschrift und Mündlichkeit, sie waren aber noch nicht sinnlich wahrnehmbar, nur als Gedankenanreger da. Das weiße Licht war der Baum des Lebens; das davon Abgespaltene, Gedeutete und menschlich Geschriebene hieß Baum der Erkenntnis, die schwarze Schrift; Moses gelang es in einer ersten, der wichtigeren Begegnung auf dem Sinai zum weißen Licht, zu der verborgenen EINEN Tafel der ZEHN Ur-Worte vorzudringen. Alles, was aufgeschrieben werden kann, auf Steintafeln, Schiefertafeln, mit Tinte auf Papier, auch in der Genesis oder der hebräischen Thora, ist nichts als Deutung, ja, nur halbwegs Wahrheit, gar Fälschung, im besten Fall Metapher und Gleichnis; der Rest aber ist Schweigen. Im kleinen Blitz der Intuition und Ekstase nichts als ein Schimmer. Aber auch dieses ist höchst aktuell. Nicht einmal die so einfachen mikrophysikalischen Vorgänge, die in unserem Bildverständnis mal als "Teilchen" , mal als "Welle" etwa "eingedeutscht" "zur Sprache kommen", lassen sich einfangen, sie sind wie Träume, die am Morgen aus dem Wachzustand verschwinden; als wären sie noch unberührt von der Erbsünde des vom Einen abgetrennten Augenscheins (ein vor Gott sich Verstecken! "Adam, wo bist du?"), dem sogar die Buchstaben der Genesis ausgesetzt waren, wie die Kabbala meint. Ihr grobmaterieller Charakter sei eine Folge des Sündenfalls. Ebenso wie Adams Lichtgestalt eine materielle Haut bekam und die Erde nicht mehr durchsichtig war wie vor dem Fall. Der Himmel war dichtgemacht, das heißt abgetrennt von der Erde. So wie das Chaos der Augenblicke Jetzt sei auch die Buchstabenkombination der niedergeschriebenen Genesis noch verkehrt, erst beim Ende der Welt werde sie lesbar sein. Ein Spiegel von Adams Fall in die dichtgemachte Götzen- "Wirklichkeit", so erscheint zwangsläufig alles gespalten und vermischt in Lüge, Wahrheit, Gut, Böse, also paradox und absurd, Sprachprozeß dessen, der ist und schon nicht mehr ist: der Mensch, der seither immer schon Abwesende. Aber auch ein paradoxes Problemhandeln im Möglichen leuchtet auf.
Moses brachte nach der ersten Begegnung die mündliche, nicht geschriebene, er brachte die noch immaterielle Thora vom Sinai. Doch als er sah, was da unten das Volk tat, um das Goldene Kalb, "egel", das Abgeschlossene, das Evidente tanzte, gab er dieses weiße Licht der ersten Thora nicht preis. Das Eine war gegenübergestellt dem Vielen, dem Volk, aber auch der Mannigfaltigkeit. 40 Tage war Moses in der Wüste gewesen, das Volk wartete, er kam nicht. Aaron, von dem das Volk endlich "ein Bild" verlangte, sichtbare Götter, nicht unsichtbare, etwas Greifbares, um aus dem Exil und der Wüste endlich ins Gelobte Land zu kommen, vertröstete, verzögerte "bis morgen"; doch als Moses nicht kam, da entstand das Goldene Kalb aus Ungeduld und Unglauben; Aaron warf zwar alles gespendete Gold (das, was den Leib der Frauen am schönsten macht, Glanz des Außen als Opfer) ins Feuer, um zu verhindern, daß daraus ein Götze entstehe, doch er war ohnmächtig, denn das Gold schmolz und die Form des Kalbes ("egel", das Runde) entstand ganz spontan, dieser fast "selbstgemachte Götze" der EVIDENZ. Eine Endzeit, wo sich Entwicklung enorm beschleunigt, war schon damals: dichtgemacht durch die Zeit, und der Ursprung verhüllt. Ein Aggregatzustand zugleich, Limit, Grenze. Der Tanz ums " Goldene Kalb" ist nicht etwa nur der Tanz um den "Mammon", erst die Tiefen- und Zahlengrammatik enthüllt, was das nur sichtbare "Kalb" wirklich IST: Festlegung nämlich im ausweglos Geschlossenen, "Runden"; Kalb "egel" (70-3-30 hat den gleichen Zahlenwert wie "agol", rund, 70-3-30. Eigentlich ein Akt der Verzweiflung). Dieses BILD als Simulation, dieser nur sichtbare und fix glänzende Ersatzgott des Eingeschlossenen, in täuschender Evidenz des "Glanzes"; bedeutet die Gefangenschaft im ausweglos Materiellen, Essen, Trinken, Schlafen, Beischlafen, "sich erfreuen" am Leben. "Erfreuen"; in diesem Kontext erscheint das sonst ungebräuchliche Wort "tsachek", 90-8-100, es bedeutet spöttisches, zynischen Lachen. An das, was geschieht, wird gar nicht mehr geglaubt, Leben wird nur ungläubig, zynisch angenommen, Freude, die keine Freude macht, Liebe, die keine Liebe sein kann, weil man an sie gar nicht glaubt, an gar nichts glaubt, in nichts Vertrauen hat, außer in die greifbare "Freiheit" und die Macht, das - "glänzende Gold". In allem, was man tut, fehlt die Tiefe, die eigene Begründung, der Grund, alles ist nur noch Schein, ohne dessen Wurzel, ohne den, der "fehlt".
Im Augenblick des tiefsten Falls kommt dann Moses mit der immateriellen Tafel, ist erschrocken, wie wenig sie hierher in dieses Umfeld des tanzenden Volkes gehört; aus Zorn zerbricht er sie, und aus der gesammelten EINS in der Zehn, wird wieder Materie, quälende Un-Zahl; und es heißt, die Buchstaben seien wie himmlische Vögel in dem Augenblick des Zerbrechens der Tafel wieder davongeflogen.
Beim zweiten Gang zum Sinai, um auf dem "tsur" (7-6-200) dem Felsen, ebenfalls FORM, die "neuen Tafeln" durch die STIMME zu erhalten, bestanden die Tafeln diesmal aus der Materie von "unten", auf sie gravierte Moses die zehn neuen Ur-Worte ein, menschengerechter, während die ersten Tafeln das Schöpfungsinstrument waren, ein zu gefährliches Geschenk.- Diesmal erhielt Moses nicht direkt die erste Zehn, sondern die Spaltung, wie in JHWH, in zwei Tafeln : (HWH) 5-6 (und)-5. Das, was wir lesen können, ist nicht etwa das Zahlen-Buchstaben-Geflecht des Gottes-Namens, sondern schon ein gespaltener Name, eine Deutung dieses Namens: JHWH (10-5-6-5), so wie zum ZWEITEN MAL die "Zehn Worte" in 2x5 - also auf zwei Tafeln erschienen. <"Alle Deutungen sind Fehldeutungen" (George Steiner). Und das Indeterminationsprinzip stimmt auch da: Beobachtung ist unendlicher SPIEGEL in einer Metamorphose der Ereignisse, sie transformiert, ja, erschafft das Beobachtete nach der eigenen Gedankenform. Die Geburt des Schöpfers, des Autors dieser Welt wäre so erst mit dem Tod des Lesers gleichzusetzen, Hegels "Gott ist der Tod". So hieße auch innerhalb des Bildverbots, nach Roland Barthes, gut schreiben erst: "das Ausdrückbare unausgedrückt zu machen."
Moses also zerbrach die erste Tafel, so daß die Ur-Worte nicht in der "richtigen Folge gegeben worden" waren, denn wären sie in der richtigen, göttlichen Reihenfolge gegeben worden, "könnte jeder, der sie liest, die Toten wiederbeleben und Wunder verrichten". Ursprünglich waren sie aus schwarzem Feuer auf weißem Feuer, als Urlicht "gegeben", wir aber lesen sie nun nach unserem Verstande als äußere Bilder und Geschichten und gar Gebote, Handlungen und Anekdoten, dabei geht es um den Bauplan, die Struktur der Welt, und um Kommentare zur Weltformel. Wobei es auch hier, ähnlich wie bei christlicher Hermeneutik, am bekanntesten bei Dante, um einen vierfachen Deutungs-Sinn geht: 1.Um den buchstäblichen Sinn, 2.Den allegorischen Sinn, 3. Den tropologischen, und 4. Um den anagogischen Sinn (sensus mysticus); wobei letzterer den Zugang als intuitive Summe ermöglicht
Eigentlich also fällt auch der Thora-Leser, ja, die schriftliche Thora selbst unter das zweite Gebot des Bilder- und Sprachverbots.
 
 
7 Neben der mathematischen Formel und der Musik ist das Gedicht eine Möglichkeit, dem Wirklichkeitswahn und seinen Täuschungsmanövern zu entgehen. Jeder Poet ist durch seinen Einfall an das Noch-Nicht-Gewußte, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine) gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nähern, das wir schon hier empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des Zählbaren mit der Eins und dem Einen, nicht mehr getrennt und gespalten, sondern "heimgekehrt" zum Grund der eigenen Sagbarkeit. - Wäre eine Herausführung und Engführung durch WORTHÖFE und Sprach- BERÜHRUNG in "Zustandsräumen" möglich? Aber Berührung wird ja erst möglich in Zuständen zwischen Leben und Tod, in Sphären von denen wir durch den Körper getrennt sind. Manchmal ist es ein Gespräch mit den Toten, die auf einer Ebne mit mehr Bezügen erreicht werden können; das "Totengespräch", wie es Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre. Es ist eine Wiederkehr des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem "exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte ( Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich mit den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, daß wir uns kein Bild von jener fremden Sphäre machen dürfen und es auch nicht können. Das Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch ihre sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff dieser Zivilisation. Der skeptische Physiker Ernst Senkowski meint, daß es bei diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden, welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, daß es um höchst unheimlich "realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht: "Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als daß wir unsere Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen geschlagen. Muß der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.
Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das "Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, daß heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene aufs Unheimliche und Paradoxeste real zu werden scheint; daß auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung" (Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen ist, Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten , "abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas; erstaunlich ist auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt wieder; oft eine Wiederkehr, die Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den "Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.
 
 
8 Leere Ort der "Absence", ein Vakuum kann auch so "gefüllt" werden. Das Entscheidende aber ist, daß sich nun im Posthumen der Geschichte und der Ideologien Neues enthüllt, überraschend hinter dem zerbrechenden falschen Bild mehr und mehr "in der Gefahr" das einsam "Rettende" wachsen könnte: das Negativ zur Wirklichkeit durchaus im aufbauenden, nicht nur im zerstörerischen Sinn wie bisher in der ideologisierten Revolte. Für Thomas Pynchon, den Joyce meiner Generation, ist es eine "höhere Sinn-Zone" (in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981) und sie ist nur erreichbar, wenn wir die okzidentale Ego- und Todes-Zone zum eigenen Sprungbrett machen und so nun "hinüber" kommen, die eingebildete Todeszone, die Krankheit dieses Ego, überwinden.
Reinald Goetz spricht in seinem neuen dokumentarischen Monster- Roman von der "Authentizitätsfalle", es ist die aufgebrochene Grenze zwischen Leben und Schreiben, wo die Wortwände sowohl zum Traum als auch zur Tatsachenwelt sehr dünn werden und zu psychischen Schäden führen können; die Gefahren einer Wiederkehr des Verdrängten sind durchaus nicht nur sozialer, politischer und militärischer Art, sie erfassen die Ästhetik und Kunst genauso wie die ungewohnten Grenzgänge, okkulte Hysterie, mediumistische und andere Psychosen. Dabei scheint es so, als gäbe es diese Gefahren gar nicht. Sie ist kaum erkennbar "im Herzen der Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren, wo jetzt die Kluft zwischen jener geschilderten "Ausnahme" des Todes und dem "Leben" so groß geworden ist, die zugleich aber durch die Immaterialisierung der Welt, das tiefe Eindringen der Geräte ins Gewebe des Kosmos auch in den Tiefen des Unbewußten zueinander streben, wie bisher noch nie; man könnte von einem Thanatovirus sprechen oder auch vom kollektiven Todestrieb. Doch das Thema ist brutaler, die Veränderung des Todes ist längst geschehen; und es gehört zu jenem Verdrängten, daß das Grauen der Geschichte, Hiroshima, der Gulag der Holocaust etwas aufgebrochen hatten, das die bisherige Geschichte und Gewohnheit transzendierte und andauernd transzendiert. Und nicht, daß der Fall des ideologischen oder auch philosophischen Absoluten nun das Zufällige, Triviale, "Einzelne, Beschränkte, Irdische" und Kleine, wie es in einem MERKUR-Aufsatz (Anathema. Der Holocaust und das Bildverbot) kürzlich hieß, wie es auch so bekannte Theoretiker wie Rorty oder Marquardt verkünden, wieder Trumpf sein soll - und alles einfach so ist, wie es ist! Es geht im Merkur-Aufsatz um Spielbergs "Schindlers Liste" und um den gefährlichen Versuch, dem Holocaust das Unfaßbare zu nehmen, ihn zu "vermenschlichen", ihn vergleichbar und einordenbar zu machen. Nolte läßt grüßen. Dabei geht es um die radikalsten historischen Ereignisse, die nochmals jene auch in der Geschichte der Wissenschaft (und Geschichte der Literatur und des Denkens seit Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal) bekannte bildliche und sprachliche Unfähigkeit, das was ist, darzustellen, kurz gesagt: die Sprachlosigkeit und Unfaßbarkeit auch im historischen Raum und brutal wie bisher noch nie in die Welt gestellt haben. "Bildverbot" ist dafür nur eine historische Metapher, auch hier in diesem Essay. Anathema ist dabei nicht nur das Verbot, das unfaßbare Eine, das ja in "Alles" hineinwirkt und kein Gesicht haben kann, "Gott" in sinnlich-stofflicher Gestalt darzustellen, wie es die byzantinische ikonoklastische Synode vor 1200 Jahren verordnet hatte, wie es (völlig zu Recht) der Islam und früher die Hebräer verlangt hatten, oder gar "andere" sinnliche, also falsche Bildgötzen und Fetische einzuführen, nein, nicht nur "Gott" oder der Holocaust als unfaßbares Ereignis, sondern alles Existierende ohne Unterschied ist mit bisherigen Mitteln nicht darstellbar, bis hin zum letzten Grashalm ist es nicht darstellbar, weil das sprachgeprägte Bild und seine Logik eine Art Fiktion, Schein, Trug sind, Begriffe möglicherweise einer bestimmten Herrschaftsform (des Äquivalentes Ware und Geld) auf der Erde entsprechen, wie schon Adorno vermutet hat. (Absurd ist, daß jetzt diese Lebensform als einziger Retter in der Not im Tabula-rasa-Zustand nach 89 angesehen wird!) Dabei sind jene drei vorhin erwähnten negativen historischen Ereignisse, für die nur noch negative Theologie oder auch negative Poetik (wie bei Paul Celan) und das Schweigen an der Grenze unserer Vorstellung angemessen wären, möglicherweise eine drastische Rücknahme: Folge der mörderischen Zivilisationsmaschine, Folge einer dem Wesen der Natur und des Menschen diametral entgegengesetzten, machtbedingten Bild- und Sprachlogik. Sie hat sich selbst ad absurdum geführt. Ad absurdum geführt wird freilich auf theoretischer Ebene die bildliche Anschauung und die Sprache auch in der neuen Physik, gewohnte Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im subatomaren Bereich auszudrücken. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer Selbstverwandlung ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den Abgrund fähig. Die Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben etwa, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die, wie auch eine neue Kunst, erst im Entstehen ist.
 
 
 
 
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